Kullmann auf der Jagd - Elke Schwab - E-Book
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Kullmann auf der Jagd E-Book

Elke Schwab

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Beschreibung

Der Förster Harald Steiner stößt in seinem Jagdrevier auf eine enthauptete Leiche. Früher selbst Leiter des SEK will Steiner im Wald von seiner Polizeiarbeit Abstand gewinnen. Doch mit diesem Fall holt ihn die Vergangenheit wieder ein. Der Tote hatte in Steiners letztem Fall eine wichtige Rolle gespielt. Hauptkommissar Jürgen Schnur leitet die Ermittlungen. Für ihn ist Harald Steiner kein Unbekannter. Während er gegen ihn ermittelt, geschehen im Wald weitere Bluttaten. Je tiefer Schnur in die Welt des Waldes und der Jagd vordringt, umso rätselhafter erscheinen ihm auch diese Menschen. Dabei beschleicht ihn der Verdacht, dass alle Ermittlungsergebnisse auf eine Treibjagd zum Ende der Jagdsaison hinauslaufen. Zum Glück kann er den Altmeister Norbert Kullmann, Hauptkommissar a.D. zu Rate ziehen. Doch der wühlt sich durch alte Akten – in der Hoffnung, dort auf die Lösung des Falles zu stoßen. Originaltitel: Hetzjagd am Grünen See Band 1: Ein ganz klarer Fall Band 2. Kullmann jagt einen Polizistenmörder Band 3: Kullmann kann's nicht lassen Band 4: Kullmann stolpert über eine Leiche Band 5: Kullmann und die Schatten der Vergangenheit Band 6: Kullmann in Kroatien Band 7: Kullmann auf der Jagd Band 8: Kullmann ermittelt in Schriftstellerkreisen Band 9: Kullmann und das Lehrersterben Band 10: Kullmann unter Tage Band 11: Kullmann ist auf den Hund gekommen

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Seitenzahl: 436

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Elke Schwab

Kullmann auf der Jagd

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kommissar Norbert Kullmann & Co.

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Impressum neobooks

Kapitel 1

Elke Schwab

Kullmann auf der Jagd

Kullmann-Reihe 7

Impressum

Texte: © Copyright by Elke Schwab

Umschlag: © Copyright by Elke Schwab und Manfred Rother

2. überarbeitete Auflage 2020

Cover-Foto: Manfred Rother

Autoren-Foto: Manfred Rother

www.elkeschwab.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand, Norderstedt

Printed in Germany

Dieser Krimi ist die überarbeitete Auflage des Originals:

Hetzjagd am Grünen See

Blut ist der Kuss zwischen Tod und Leben,

aus ihm fließt das Sein von Gut und Böse.

In nahezu jeder Kultur und jeder Religion

hat Blut eine besondere Bedeutung.

Das beginnt in der Kinderstube der Menschheit,

in welcher sich die urzeitlichen Jäger das Blut des getöteten Tieres über den eigenen Körper verteilten.

»Moritz! Moritz!«

Laut schallte der Schrei durch den leeren Raum, traf mitten ins Nervenzentrum, öffnete sämtliche Schweißporen und ließ der Hitze seines Körpers freien Lauf.

Hastig richtete sich Harald Steiner auf. Es war stockdunkel, er fand keine Orientierung. Die Leuchtziffern auf seinem Radiowecker zeigten fünf Uhr fünfzig an. Schon fast seine normale Zeit aufzustehen. Trotzdem fühlte er sich gerädert – als habe er kaum ein Auge zugemacht.

Er hörte ein Geräusch.

Erschrocken fuhr er herum. Doch schon im gleichen Augenblick ließ die Anspannung nach, wich großer Freude. Es war das Hecheln seines Hundes, das ihm so vertraut war wie sein eigener Atem. Erleichtert schaltete er die Nachttischlampe ein und schaute seinem Deutschen Münsterländer in die dunklen Augen, die in all den Jahren nichts von ihrem Ausdruck, ihrer Wachsamkeit und Treue verloren hatten. Schwanzwedelnd stand er am Bett und versuchte sein Herrchen mit seiner Zunge abzuschlecken, was Steiner aber zu verhindern wusste. Als er sich in sein Bett zurücksinken lassen wollte, spürte er, dass sein Laken nass war – vom Schweiß.

Es war eine von vielen Nächten, in denen er von seinem immer wiederkehrenden Traum geweckt wurde. Konnten ihn die Bilder seiner Vergangenheit nicht loslassen? Wie viele Jahre waren seitdem vergangen? Er wollte lieber nicht darüber grübeln, denn dann wäre an Schlaf überhaupt nicht mehr zu denken. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihm, dass die Nacht noch pechschwarz war. Er beschloss aufzustehen, etwas zu trinken und sich auf der Couch niederzulassen, wo er den restlichen Schlaf nachholen konnte, bevor ein neuer Tag begann. Er stieg aus dem Bett und schlurfte durch einen langen, schmalen Gang in Richtung Küche.

Plötzlich hörte er einen Schuss.

Seine Müdigkeit war schlagartig verflogen. Auch Moritz zeigte mit seinem aufgeregten Bellen, dass er einsatzbereit war.

Schon wieder ein Wilderer!

Wie viel Wild war in den letzten Monaten stümperhaft angeschossen und in seinem Wald zum elenden Sterben zurückgelassen worden?

Wie so oft musste er mit seinem Hund rausgehen und die Schweißsuche nach solch einem Tier durchführen. Obwohl Moritz schon alt war, funktionierte seine Nase tadellos. Bisher war ihm kein angeschossenes Stück entgangen, ob bei Tag oder bei Nacht.

Rasch zog sich Steiner eine schwarze Hose, einen Pullover und eine wetterfeste Jacke an. Seinen Kopf bedeckte er mit einer schwarzen Mütze. So leuchtete seine Glatze nicht verräterisch; außerdem schützte sie seinen kahlen Kopf vor der Kälte.

Steiner wohnte mitten in dem Wald, der sein Arbeitsplatz war. Der Limberg hatte bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts über den doppelten Umfang verfügt.

Dann wurde er aufgeteilt in heute Limberg und Hessmühle.

Das Hofgut Limberg befand sich seit seiner Erbauung im Jahr 1812 im Familienbesitz von Villeroy. Deren Verwalter, Ernst Barbian, war mit sämtlichen personellen Belangen betraut. Ihm oblag auch die Vollmacht, das Haus an den amtierenden Förster zu vermieten. Nur so war es Steiner möglich, in einem derart feudalen Domizil zu leben.

Sein vergangenes Leben – die Zeit vor seinem Dienst als Revierjäger auf dem Limberg – wollte er mit allem Hab und Gut hinter sich lassen. Nach vorne schauen, das versuchte er seit fünfzehn Jahren. Rein äußerlich betrachtet war ihm das sogar gelungen. Wären da nicht die Alpträume, die ihn hartnäckig verfolgten.

Die Luft war feucht, es hatte geregnet. Zu der Dunkelheit kam Nebel, also ungünstige Bedingungen zum Jagen. Da war es unmöglich, Wild waidgerecht zu erlegen.

Wut kroch in ihm hoch. Er hatte sich der Jagd und der Verantwortung für das Wild verschrieben, weil er im Polizeidienst versagt hatte. Nun erlebte er, dass ihn sogar diese Aufgabe an seine Grenzen brachte. Menschen töteten aus purer Lust wehrlose Tiere. Dieses Phänomen war ihm nicht bewusst gewesen, als er die Stelle als Revierförster angetreten hatte. Vor seinem geistigen Auge hatte er nur Natur, Schönheit und Ruhe gesehen und sich deshalb mit Freude auf die neue Aufgabe gestürzt. Leider verfolgte ihn das Unrecht auch in die versteckten Winkel des Waldes. Sein Vorhaben, von seinem früheren Leben Abstand zu gewinnen, wurde auf eine harte Probe gestellt.

Zunächst versuchte Steiner zu lokalisieren, wo der Schuss gefallen war. Es musste in unmittelbarer Nähe geschehen sein. Der Limberg bestand aus Bergen und Tälern, Steilhängen und Gräben, Wällen und Schluchten, also aus vielen Hindernissen, die einen Knall aus einer Waffe schluckten, sobald er sich in einem entfernten Winkel ereignete. Seine Wohnstätte befand sich zwischen Oberlimberg und St. Barbara – direkt am Bambetter Kessel. Hinter ihm ging es nur noch bergauf, dahinter lagen Schluchten und Täler. So konnte er den Radius einkreisen, in dem der Schuss abgefeuert worden war. Sein Jeep würde nicht vonnöten sein.

Mit Moritz an der Leine und dem Revolver im Holster trat er durch den kalten Morgen. Nächtliche Schwärze und Stille umgaben ihn. Der Nebel schluckte sämtliche Geräusche. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, sodass es ihm leichter fiel, mit dem Tempo seines Hundes Schritt zu halten. Moritz hechelte und zog an der Leine, als wüsste er genau, welche Richtung er einschlagen musste. Steiner ließ ihn gewähren. Die Sinnesorgane seines Hundes waren unübertrefflich, was seine Erfolge bei der Nachtsuche immer wieder bezeugten.

Es wurde ein anstrengender Marsch.

Der Weg führte steil bergauf. Trotz Dunkelheit erkannte Steiner, dass sie sich zielstrebig auf die höchste Stelle des Limbergs zubewegten. Sein Hund war trainierter als er selbst, denn Steiner begann laut zu schnaufen.

Lange dauerte es, bis Moritz endlich eine Fährte aufnahm. Die Morgendämmerung brach schon herein, der Nebel blieb hartnäckig. Moritz’ Aufregung steigerte sich, er beschleunigte sein Tempo. Steiner hatte immer größere Mühe, ihm zu folgen. Aber von der Leine lassen durfte er seinen Hund noch nicht, weil er ihn sonst aus den Augen verlor. Lange liefen sie, Steiners Luft wurde immer knapper, bis Moritz stehenblieb und sein Herrchen anschaute. Das war der Hinweis, dass er abgeschnallt werden wollte. Wie ein Pfeil schoss der braun-weiße Hund davon. Zurück blieben der Nebel und das Geräusch, das Moritz hinterließ, während er durch das Gestrüpp hechtete. Dann ertönte sein tiefes, grollendes Bellen, der Standlaut. Damit zeigte er an, dass er das Wild gefunden hatte. Von nun an bestand Steiners Aufgabe darin, dem Bellen seines Hundes zu folgen. Mühelos gelang es ihm, das Wundbett des verletzten Tieres auszumachen. Das Bild, das der angeschossene Bock ihm bot, war erschreckend. Auf dem Rücken klaffte eine große Wunde. Sein Rückgrat war verletzt worden, weshalb er sich nur noch auf den Vorderläufen fortbewegen konnte. Auf dem Kopf trug er noch sein Gehörn, fast schwarz, mit starker Perlung, hohen Kranzrosen, und messerscharfen Spitzen. Es war ein drei- bis vierjähriger Bock, also ein starkes Tier, das ein Waidmann niemals zum Abschuss freigegeben hätte, da seine Merkmale repräsentabel zum Weitervererben waren. Hinzu kam die noch andauernde Schonzeit. Dieser Bock war auf keinen Fall mit einer Ricke zu verwechseln, da er seine starke Gehörnmasse noch nicht abgelegt hatte. Das Abschlachten durch Wilderer wuchs zu Steiners größter Sorge heran, einer Herausforderung, die nichts mit seiner ursprünglichen Vorstellung einer Tätigkeit als Förster gemein hatte. Zum Jahresende sollte eine groß angelegte Treibjagd mit Gästen aus ganz Deutschland und Frankreich organisiert werden – der Höhepunkt des Jahres – und Steiner befürchtete bis dahin weitere brutale Wilderei.

Mit zitternden Flanken und weit aufgerissenen Augen schaute der angeschossene Bock ihn an, als wolle er ihn anflehen, von seinem Leid erlöst zu werden. Gewissenhaft setzte Steiner seinen Revolver zum Fangschuss auf den Träger an und drückte ab. In derselben Sekunde war das Tier verendet.

Inzwischen war es fast taghell geworden. Der Nebel lichtete sich, blauer Himmel lugte zwischen den weißen Schwaden hindurch. Es kündigte sich ein sonniger Tag an. Das war das Einzige, was Steiner in diesem Augenblick den nötigen Auftrieb gab, den langen Rückweg anzutreten. Einen erlegten Bock während der Schonzeit in der Wildkammer abzulegen, schadete seinem Ruf. Bei der Verbreitung von Gerüchten spielten die genauen Umstände keine Rolle. Sein Arbeitgeber hatte auf seine Fähigkeiten vertraut, obwohl er als Förster keinerlei Referenzen hatte vorweisen können. Nun gelang es ihm nicht, seinen Aufgaben gerecht zu werden.

Leise knirschten die Kieselsteine unter seinen Sohlen. Sein Atem zeichnete sich in kleinen Wölkchen vor seinem Mund ab. Moritz ging lautlos bei Fuß.

Er marschierte auf den großen Holzspalter zu, ein nützliches, aber bedrohlich aussehendes Arbeitsgerät. Das stählerne Monstrum wirkte be­unruhigend auf Steiner. Heute ganz besonders. An den Umrissen konnte er sofort erkennen, dass etwas anders war.

Plötzlich knallte ein Schuss durch die Stille – begleitet von einem unmittelbaren zweiten Donnern, dem Kugelschlag.

Ein Schuss mit Treffer.

Erschrocken schaute Steiner auf seinen Hund. Moritz hechelte aufgeregt neben ihm. Für ihn gab es keinen Zweifel.

Steiners Blick fiel wieder auf die Holzspaltmaschine. Im Nebel wirkte alles unwirklich. Und doch wusste Steiner, dass er gerade mit der Wirklichkeit konfrontiert wurde.

Gab es ein Zurück? Konnte er sich einfach umdrehen, und nachsehen, welchen Schaden der zweite Schuss angerichtet hatte? Moritz zog ihn in diese Richtung; sein Unterbewusstsein in die andere. Schließlich stand er unmittelbar vor dem stählernen Monster und sah, was er nach seinem Rücktritt aus dem Polizeidienst nicht mehr sehen wollte.

Dort lag ein menschlicher Körper.

Der Spalter, ein schwerer messerscharfer Stahlblock, war heruntergesaust und hatte den Kopf vom Körper getrennt – wie eine Guillotine aus dem achtzehnten Jahrhundert.

Moritz bellte. Steiner befahl ihm, ruhig zu sein und sich zu setzen. Dann besah er sich den Toten genauer. Er waren die Reste eines Mannes in Jägerkleidung; grüne Hose, Lodenjacke, festes Schuhwerk.

Vom Kopf keine Spur.

Er suchte die Umgebung ab, fand aber nichts Auffälliges. Blutschlieren an dem Stahlblock gaben einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Enthauptung an diesem Gerät durchgeführt wurde. Zu Steiners Überraschung gab es keine Blutlache unterhalb des Rumpfes. Bei dieser Tötungsart müsste eine große Menge Blut geflossen sein.

Er hörte Schritte.

Moritz stellte die Ohren auf, zog die Zunge ins Maul zurück und verharrte wie aus Stein gemeißelt. Ein Zeichen äußerster Wachsamkeit.

Steiner spürte, wie sich ihm die Nackenhaare stellten. Wer kam da durch den undurchsichtigen Nebel? Kehrte der Täter etwa an den Tatort zurück?

Er nahm seinen Revolver aus dem Holster, entsicherte ihn. Unvermindert setzte sich das leise Tack, Tack, Tack fort. Steiner stutzte. Nur ein unbedarfter Spaziergänger ignorierte das Geräusch einer Waffe, die zum Abschuss entsichert wird. Aber in dem Fall war seine Situation auch nicht viel besser. Steiner direkt vor einer enthaupteten Leiche zu finden, würde seine Rolle als Zeuge in Frage stellen. Also musste er zusehen, dass außer ihm niemand bis an den Holzspalter herankam, bevor er nicht selbst die ehemaligen Kollegen über seinen Fund informieren konnte.

Kaum hatte er diese Überlegung angestellt, zeichnete sich aus dem Nebel eine zarte, weibliche Gestalt ab. Erleichtert verstaute er seine Smith & Wesson und trat auf die junge Frau zu. Sie war in einen langen schwarzen Mantel gehüllt, darunter trug sie eine schwarze Hose, die mit Silber glitzernden Abzeichen bestickt war. Steiner erkannte umgedrehte Kreuze. Ihre Haare waren schwarz gefärbt, die Fingernägel schwarz lackiert, die Umrandung um die Augen ebenfalls schwarz, sogar die Lippen. Piercings an Augenbrauen, Ohren und Unterlippe durften bei der Maskerade nicht fehlen. Ihre Haut schimmerte leichenblass.

Diese Erscheinung erinnerte ihn sofort an mehrere Diensteinsätze. Mit wie vielen Menschen, die sich auf diese Art und Weise vom Leben abschotten wollten, war er in Berührung gekommen? Die schlimmsten von Ihnen bekannten sich zu Satan, hielten Schwarze Messen ab und behaupteten, sich durch Alkohol- und Sexualexzesse innerlich zu befreien. Er hatte seine Arbeit als Förster des Limbergs in der Hoffnung angetreten, von den psychisch Degenerierten genügend Abstand zu gewinnen. Aber das Gegenteil war der Fall. Um verbotenen Ritualen zu frönen, suchten Menschen gerade diese verlassene Gegend auf. Die Scheune, direkt neben der Kapelle auf dem Berg, war der Ort, den sie für ihre perversen Spiele auswählten. Bisher war niemand erwischt worden. Sie ließen nur die Spuren der Verwüstung zurück, vermutlich weil es ihnen Spaß machte, vorbeispazierende Menschen zu schockieren.

Und nun kam eine schwarz gekleidete Frau in aller Frühe auf ihn zu. Dazu noch in der Nähe einer enthaupteten Leiche. Gehörte sie zu den Sata­nisten? War sie vergessen worden? Oder wollte sie sich an den Früchten der letzten Messe erfreuen?

Er durfte sie nicht zu nah an den Toten heranlassen. Sie war für ihn sofort verdächtig.

»Wer sind Sie und was wollen Sie hier?«

»Das geht Sie nichts an«, kam es unfreundlich zurück.

»Es ist heute Nacht nicht sicher hier im Wald«, gab Steiner gereizt zurück. »Am besten ist es, Sie gehen schnell wieder nach Hause!«

Die Frau machte keine Anstalten zu gehen. Er ahnte, dass sie Probleme bereiten würde. Da lag ein Toter, den er der Polizei melden musste, und vor ihm verharrte eine Fremde, die er von dem Toten fernhalten musste.

»Ich gehe jetzt weiter«, verkündete sie und wollte tatsächlich an ihm vorbei.

Steiner stellte sich breitbeinig in den Weg, streckte seinen rechten Arm aus und versuchte nach ihr zu greifen, als sie sofort los schrie: »Lass mich los! Oder bist du ein Perverser?«

Entsetzt wich er zurück, was sie ausnützte und einen weiteren Schritt auf ihn zu machte.

»Bis hierhin und nicht weiter«, befahl er.

»Hast du mir was zu sagen?«

»Erstens sind wir nicht per du, zweitens bin ich hier der Revierförster.«

»Ich bin beeindruckt.« Ironie zeichnete sich auf ihrem blassen Gesicht.

»Hören Sie, hier ist es gefährlich. Es gibt Wilderer in diesem Wald und ich weiß nicht, ob die immer erkennen, auf wen oder was sie schießen. Deshalb rate ich Ihnen noch mal, den Wald zu dieser frühen Stunde zu verlassen.«

»Leck mich, du A…«

»Jetzt reicht es«, unterbrach Steiner die junge Frau. »Sie werden umkehren, wie ich es gesagt habe!«

Steiner hatte keine Zeit, sich mit ihr herumzuschlagen. Er musste zusehen, dass er den Leichenfund meldete. Da er selbst einmal bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte, wusste er genau, wie es auf die ehemaligen Kollegen wirken musste, wenn er dieser Pflicht nicht sofort nachkam. Die Zeit, die bereits verstrichen war, könnte schon zu lange sein.

Das war sie bereits.

Ein Polizeiauto mit Blaulicht kam angerollt, gefolgt von einer ganzen Autokolonne – wie er zu genau wusste, von einer Tatortgruppe, der Spurensicherung, dem Gerichtsmediziner und der Staatsanwaltschaft.

Schlimmer hätte es nicht kommen können.

Das erste Auto hielt vor ihm an. Aus dem Wagen stieg Theo Barthels, der Leiter der Spurensicherung.

»Harald Steiner«, kam er auf ihn zu. »Was machst du denn hier?«

»Ich bin gerade über eine Leiche gestolpert, was ich euch schon gemeldet hätte, wäre diese aufdringliche Dame nicht ausgerechnet jetzt hier aufgekreuzt!«

»Wir sind bereits informiert worden«, bemerkte Barthels. »Aber nicht von dir.«

»Von wem?«

»Was heißt hier Leiche?«, funkte die schwarz gekleidete Frau dazwischen. »Deshalb hast du mich nicht durchgelassen?«

»Ihr kennt euch?«, schlussfolgerte Barthels sofort.

»Nein!«

In der Zwischenzeit waren auch die anderen Wagen stehen geblieben. Allen voran kam Jürgen Schnur. Als er Harald Steiner erblickte, fragte er überrascht: »Was tust du denn hier?«

»Ich arbeite hier als Förster für das Forstunternehmen von Monsieur Villeroy«, erklärte Steiner.

Jürgen Schnur lachte: »Der Wald ist die Heimat der Jäger! Dann ist es ja kein Wunder, dass ich dich hier antreffe. Ich wusste nicht, dass du unter die Naturburschen gegangen bist.«

»Und was machst du hier?«, stutzte Steiner.

»Ich bin jetzt Kommissariatsleiter der Dienststelle für Kapital- und Sexual­delikte. Das ist mein erster Fall in meiner neuen Funktion.«

»Gratuliere! Ich erinnere mich noch, wie du bei der Kriminalpolizei angefangen hast. Mit dir haben sie einen guten Mann auf den Posten gesetzt.«

»Danke für die Blumen. Hoffentlich bereust du das Kompliment nicht sofort wieder. Wer ist die Frau an deiner Seite?«

»Nimm sie dir genau vor«, flüsterte Steiner statt einer Antwort. »Sie scheint eine der Satanisten zu sein, die hier oben ihre Spiele treiben.«

»Ich nehme mir jeden vor, den ich in der Nähe einer Leiche finde«, entgegnete Jürgen Schnur bestimmt. »Oder meinst du, ich glaube an das Gute im Menschen?«

»Ich bin Anne Richter«, stellte sich die schwarz gekleidete Frau vor.

Sofort kam eine schlanke Frau mit goldblonden Locken auf die Fremde zu und bat sie, ihr zu folgen. Zu Steiners großer Überraschung tat sie das auch.

»Wer ist die schöne Blonde?«, fragte Steiner.

»Das ist Esther Weis, Mitarbeiterin meiner Dienststelle.«

»Es hat sich in den letzten Jahren wohl einiges verändert. Zu meiner Zeit waren keine Polizeibeamtinnen im Außendienst.«

Er bekam keine Gelegenheit, sich lange mit diesem Thema zu beschäftigen, da trat ein untersetzter Mann in fleckiger Hose und abgewetztem Parka auf ihn zu, zeigte mit den Zeigefinger auf ihn und sprach mit gehetzter Stimme und hektischen Bewegungen: »Jetzt haben wir dich! Du bist fertig! Ich wusste von Anfang an, dass du nicht sauber bist. Aber keiner hat auf mich gehört. Hier haben wir die Bestätigung!«

»Was soll das, Rolf?«, rief Schnur, um den Redefluss zu stoppen.

»Du kennst diesen Choleriker?«, staunte Steiner.

»Ja! Ich bin hier aufgewachsen. Da kommt man nicht umhin, Subito-Rolf zu kennen!«

»Dann weißt du ja, was du von diesem Redeschwall zu halten hast«, gab Steiner von sich. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, etwas von den Worten, die der aufgebrachte Mann ihm entgegengeschleudert hatte, zu widerlegen.

»Nein, das weiß ich nicht«, gab Schnur scharf zurück. »Ich kenne Rolf West, weiß, dass er seinen Spitznamen nicht zu Unrecht bekommen hat, weil er äußerst impulsiv ist. Was ich aber auch weiß, ist, dass du hier vor einer Leiche stehst, sie aber mit keinem Wort bei uns gemeldet hast.«

»Das habe ich dir doch erklärt.«

»Hast du nicht! Rolf hat schon vor einer Stunde bei uns den Fund eines Kopfes gemeldet. Und dich treffe ich genau am Fundort, an dem der Rest der Leiche liegt. Was soll ich davon halten?«

Zweifelnd schaute Schnur den ehemaligen Einsatzleiter an.

Steiner zog seine Schirmmütze ab und rieb sich über die Glatze. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. In seinen Augenwinkeln sah er die schwarz gekleidete Frau wild gestikulierend mit der hübschen Polizeibeamtin sprechen. Ihr verdankte er, dass er nicht rechtzeitig seinen Anruf tätigen konnte. Nun stand er in Erklärungsnot.

Moritz, sein Hund schaute unentwegt auf sein Herrchen. Sein Schwanz war eingezogen, sein Maul geschlossen, die Ohren gespitzt. So als spürte er die unsichtbare Gefahr, in der Steiner schwebte.

Die kurze Stille wurde von einem lauten »Steiner, Steiner« unterbrochen, das begleitet vom hektischen Durcheinanderrufen der Polizeibeamten zwischen den Polizeifahrzeugen erschallte.

Steiner erkannte diese krächzende Stimme unter tausenden. Es war Micky, der jüngste Sohn von Rolf West.

Sein rundes Gesicht strahlte vor Glück, als er auf Steiner zulief. Das Ausmaß der Situation hatte er nicht begriffen, er sah nur ein Ziel vor Augen, nämlich seinem Freund Steiner mitzuteilen, was er an diesem Morgen erlebt hatte.

»Ich habe den Kopf gefunden«, begann er. »Ich wollte ihn begraben, wie ich das mit toten Tieren auch immer mache. Das war doch richtig, oder?«

Er schaute mit seinem gewinnenden Lächeln zu Steiner hinauf und hoffte auf Bestätigung.

Der Jäger stand ganz betroffen da, ahnte, dass der Junge in seiner Naivi­tät das Schlimmste angerichtet hatte, nämlich den Verdacht zu erregen, Spuren zu beseitigen. Aber was sollte er ihm sagen? In seiner Unbedarftheit hatte Micky nur das getan, was er schon lange tat.

Also strich er ihm über das dunkle Haar, lächelte ihn an und meinte: »Das war richtig, Micky.«

»Da haben wir’s«, brüllte Rolf West sofort los. »Er nutzt die Einfältigkeit meines Sohnes aus, um seine Schandtaten zu vertuschen.«

Mit einem Satz war der hypernervöse Mann dicht vor Steiner. »Wie lange geht das schon so?«

Plötzlich stand sein Sohn zwischen den beiden Männern. Wild entschlossen trommelte er mit seinen kleinen Fäusten auf seinen Vater ein und schrie: »Er ist mein Freund! Er ist mein Freund!«

Schnur musste eingreifen, um Handgreiflichkeiten zu verhindern. Mit einer Hand zog er Rolf West von Steiner weg und übertönte Mickys Gezeter mit den Worten: »Schluss mit deinen Eigenmächtigkeiten. Du gehst zu weit. Die Polizeiarbeit macht immer noch die Polizei.«

»Ihr macht ja nichts!«

»Halt endlich die Klappe, Rolf«, befahl Schnur, während er den Jungen genauer beobachtete.

Vor Schreck über den strengen Tonfall, blieb der Angesprochene tatsächlich ruhig.

Auch Micky wurde still. Er suchte sich einen sicheren Platz, ganz dicht hinter Steiner.

»Wie heißt dein Sohn Micky richtig?«, fragte Schnur.

»Michael!«

Der Junge hatte das Down-Syndrom. Das entging Schnur nicht. Wie es wohl zu der Freundschaft zwischen Steiner und dem Jungen gekommen war?

Es war der Gerichtsmediziner Dr. Thomas Wolbert, der Schnur aus seinen Gedanken riss. Während des ganzen Gespräches hatte er gebückt über dem Körper des Toten gestanden. Nun richtete er sich auf und berichtete: »Der Tod trat erst vor wenigen Stunden ein. Die Todesursache ist auf den ersten Blick eindeutig, es sei denn, er wurde post mortem geköpft.«

»Besteht die Möglichkeit?«

»Ja! Die Kollegen der Spurensicherung konnten bisher nur wenig Blut finden, was dafür spricht.«

»Gut, dann warten wir ab, bis wir ganz sicher sind«, meinte Schnur.

»Wir werden die Leiche jetzt mitnehmen«, verkündete der Gerichtsmediziner, was Schnur mit einem Nicken quittierte.

»Jetzt haben wir dich«, nutzte Rolf West den Moment, um sich wieder auf Steiner zu stürzen. »Schrecklich, wenn man den abgetrennten Kopf eines nahe stehenden Menschen sehen muss. Bernd Schumacher war einer von uns. Du hast wohl geglaubt, wenn sein Kopf verschwindet, kommt niemand dahinter, wer dort in der Spaltmaschine steckt! Für die Drecks­arbeit ist mein Sohn gerade gut genug!«

Aber Steiner hörte nicht mehr zu. Ihm ging nur noch der Name durch den Kopf.

»Bernd Schumacher?«

»So heißt der Tote«, erklärte Schnur. »Wie ich erwartet habe, geht dir bei dem Namen ein Licht auf.«

»Wie kommt Bernd Schumacher hierher? Ich dachte, der sitzt.«

»Er wurde vor einigen Monaten entlassen – wegen guter Führung.«

Steiner war so überrascht, dass ihm die Worte fehlten.

»Du weißt, was das bedeutet?«, fragte Schnur. »Ich muss dich auf die Kriminalpolizeiinspektion nach Saarbrücken mitnehmen. Dort wirst du erkennungsdienstlich behandelt, danach stelle ich dir einige Fragen.«

»Darf ich mir wenigstens Kleider zum Wechseln mitnehmen?«

»Natürlich, aber es bleibt immer jemand in deiner Nähe«, bestimmte Schnur.

»Meine Güte! Soviel Misstrauen. Du weißt doch, wer ich bin und auf welcher Seite ich stehe.«

»Ich kann nur von dem ausgehen, was ich sehe. Und das sieht nicht gut für dich aus.«

Steiner gab sich geschlagen.

»Oben auf dem Berg liegt ein Rehkadaver«, erklärte er, während sie auf das Auto zugingen. »Der Bock muss in die Wildkammer gebracht werden.«

»Einen Bock in der Schonzeit schießen«, blaffte Rolf West sofort los. »Das bringst nur du fertig! Aber jetzt bist du erledigt. Deine Zeit als Förster ist vorbei. Ernst Barbian wird Augen machen, wenn er hört, was du dir neben der Wilderei noch alles erlaubt hast.«

»Nicht so hastig, Subito-Rolf«, funkte Schnur dazwischen. »Wir werden Harald Steiner nur befragen. Er ist nicht verhaftet. Ich hoffe, das ist in deinem überreizten Hirn angekommen und du redest keinen Unsinn im Dorf.«

»Das wird nicht zu vermeiden sein«, resignierte Steiner. »Rolf lässt nichts aus, was mir schaden könnte.«

»Richtig erkannt! Warum sollte ich dir helfen? Wie du mir, so ich dir«, zischte Rolf West.

Steiner überhörte seine letzte Bemerkung. Stattdessen sprach er zu Schnur: »Bevor ich auf die Leiche im Holzspalter gestoßen bin, ist noch ein Schuss oben auf dem Berg gefallen.«

»Wo?«

»Es hörte sich an, als habe der Schütze in der Umgebung der Kapelle gestanden. Genauer weiß ich es nicht.«

Eine Weile schaute Jürgen Schnur Harald Steiner an, überlegte, was in seiner Situation zu tun sei, bis er sich entschied: »Ich werde einige Kollegen dorthin schicken. Sie sollen nachsehen. Denn, sollte dort ein weiterer Toter liegen, wäre es fatal, wenn ich deinen Hinweis übergehe.«

»Stimmt«, nickte Steiner. »Vor allem, weil es ein Schuss mit Treffer war.«

»Was macht dich so sicher?«

»Der Kugelschlag war deutlich zu hören.«

Als sie vor dem Wagen standen, kam die schwarz gekleidete Frau wieder auf Steiner zu. Er war frustriert, als in seiner ohnehin miserablen Gemütsverfassung auch noch ihre Hetzparolen an sein Ohr drangen: »Jetzt verstehe ich, warum du mich nicht vorbei gelassen hast. Das war natürlich schön blöd, dass ich genau in dem Augenblick aufkreuzte, als du mit deiner Tat noch nicht fertig warst. Was wolltest du noch machen? Den Toten ausnehmen, die Lieblingsbeschäftigung der Jäger?«

»Frau Richter!« Esther eilte dazwischen. »Mischen Sie sich hier nicht ein. Das geht Sie nichts an. Ein Kollege wird sie jetzt zur Polizeiinspektion mitnehmen, damit Sie dort Ihre Aussage machen.«

»Dumm was, dass ich dazwischen kam«, rief sie trotzig weiter. »Hab ich dich um dein Vergnügen gebracht?«

Steiner spürte, wie in ihm Wut hoch kroch. Sie wollte den Verdacht von sich auf ihn ablenken, was ihr auch glänzend gelang.

Aber Esther ließ sie nicht weiterreden, sondern schob sie gegen ihren Willen ins Polizeifahrzeug.

»Esther, du wirst jetzt mit Harald Steiner zu seinem Haus fahren, ihm gestatten, dort einige Kleider zum Wechseln zu packen und mit ihm nach Saarbrücken kommen«, wies Schnur seine Mitarbeiterin an. »Ein Kollege wird dich begleiten.«

»Und was passiert mit meinem Hund?«, fragte Steiner.

Moritz stand ganz aufgeregt neben ihm und wedelte mit dem Schwanz, als das Thema endlich auf ihn kam.

Esther trat auf das schöne Tier zu und überlegte, es zu streicheln. Aber die Vorsicht siegte. Sie schaute auf den Besitzer und fragte: »Ist er gefährlich?«

Steiners Gesicht verzog sich zu einer todernsten Miene und antwortete: »Oh ja!«

Erschrocken wich sie zurück.

Steiner fügte an: »Das ist ein Kampfschleckhund. Jeder, der ihn streichelt, bekommt es unweigerlich mit seiner langen, nassen Zunge zu tun.«

Erleichtert lachte Esther , setzte sich in die Hocke und streichelte Moritz über das samtweiche Fell. Einige Sekunden verstrichen, bis der Hund tatsächlich genau das tat, was Steiner angekündigt hatte. Er begann ihre Hand abzulecken.

»Ist der süß«, jubelte sie. »Wir nehmen ihn mit. So einen treuen Kerl kann man nicht allein zurücklassen.«

»Okay, bringt ihn mit! Aber macht euch auf den Weg. Ich will hier keine Wurzeln schlagen«, stimmte Schnur zu.

»Das heißt ja, dass du ihn wieder laufen lässt?«, ertönte die Stimme von Rolf West.

»Du warst ja schon immer schnell mit deinem Mundwerk, aber langsam mit dem Hirn. Wie ich sehe, hat sich im Laufe der Jahre nicht viel daran geändert«, gab Schnur dem hitzköpfigen Mann zu verstehen.

Erstaunt schauten alle Kollegen auf Jürgen Schnur, die ihn so zynisch gar nicht kannten. Aber Schnur ließ sich nicht beirren. »Sieh zu, dass der Rehkadaver in die Wildkammer gebracht wird! Das ist das Einzige, was du im Augenblick richtig machen kannst.«

Sogar Rolf West war durch diesen Ton so erschrocken, dass er nur noch ein Nicken zustande brachte. Er suchte nach Micky, um mit ihm zum Polizeifahrzeug zu gehen. Der Junge versteckte sich immer noch hinter Steiner.

Das veranlasste Steiner, sich zu Micky umzudrehen und einige Worte mit ihm zu sprechen. Das Lächeln verschwand aus dem rundlichen Gesicht und wich einer trotzigen Miene. Aber er widersprach Steiner nicht und folgte widerstrebend seinem Vater.

Nach und nach entfernten sich die Fahrzeuge vom Tatort. Zurück blieben nur noch wenige Beamte, die den Tatort mit Absperrband absicherten.

Esther begleitete Steiner nach Hause. Sie saß auf dem Beifahrersitz, ein Polizeibeamter vom Polizeibezirk Saarlouis hatte das Steuer übernommen. Ständig fiel ihr Blick in den Rückspiegel, um Steiner zu beobachten. Sein Hund lag auf seinem Schoß, sein Gesicht wirkte entspannt, während er das braun-weiß gefleckte Fell streichelte.

Der Fahrer des Wagens folgte Steiners Wegbeschreibung, bis er ein gusseisernes Tor passierte und an einem gut gepflegten Rasen vorbei auf ein Gebäude im Stil des Klassizismus zurollte. Die geraden Formen bestachen durch die hohen Sprossenfenster, dekoriert von dunklen Klappläden auf der hellen Fassade. Vollendet wurde das Gesamtbild durch das Mansardendach aus schwarzem Schiefer. Ein kleines Haus in neuzeitlicher Bauweise und ein flaches Gebäude flankierten das Herrenhaus, eingeschlossen von üppigen bunten Blättern wilden Weins. In der Mitte des Hofes prangten ein moderner Pavillon und ein rustikales Brunnenhaus. Dunkelrote Rosen, weiße Margeriten und gelbe Dahlien stachen von dem saftigen grünen Rasen ab, eine kleine Oase zwischen Sandsteinwänden, wo der Berg für dieses Fleckchen Erde abgetragen worden war. Der Anblick verschlug ihnen den Atem.

Als Steiner die erstaunten Gesichter bemerkte, erklärte er: »Durch meinen Arbeitsvertrag mit Monsieur Villeroy habe ich hier nur Wohnrecht. Das Haus gehört mir nicht.«

»Aber allein dort zu wohnen muss doch schön sein«, überlegte Esther laut.

»Das dachte ich auch, als ich hierher zog – ein Vorzug meiner neuen Arbeit. Ein ruhiges Leben, fernab von allem.«

»Wovor flüchten Sie?«

Mit dieser Frage brachte die Kommissarin Steiner aus dem Konzept.

»Ich sollte Kleider zum Wechseln holen«, lenkte er ab.

Sie stiegen aus. Wieder ließ Esther ihren Blick über das Haus wandern. Doch zu ihrem Erstaunen steuerte Steiner nicht das Schmuckstück des Hofes an, sondern die zum Wohnhaus umgebaute Remise. Zwischen den Blättern des wilden Weins war die Eingangstür nur zu vermuten.

Sie betraten eine große Diele mit Parkettboden. Eine Glastür trennte den Eingangsbereich vom Wohnbereich ab. Von allen Seiten fiel Tageslicht herein. Steiner ging voraus. Aus einem der Räume strömte Kaffeeduft, dem Esther Weis am liebsten gefolgt wäre. Steiner ging mit Esther Weis durch ein gemütliches Kaminzimmer und steuerte einen Raum an, der eindeutig sein Schlafzimmer war. Dort zog er Kleidungsstücke aus dem Schrank, eilte ins Nachbarzimmer, wo er Vorräte für seinen Hund einpackte. Moritz verhielt sich still und gehorsam. Esther Weis entwickelte in der kurzen Zeit eine große Freude an dem Tier und streichelte bei jeder Gelegenheit über sein Fell, was Moritz sich gern gefallen ließ.

Kapitel 2

Im Flur der Kriminalpolizeiinspektion stellten sie fest, wie still es dort war.

»Wo sind die Kollegen?«, fragte Esther ihren Vorgesetzen.

»Anke ist krank«, kam es mürrisch zur Antwort.

»Was hat sie denn?«

»Windpocken!« Schnurs Tonfall ließ keinen Zweifel an seinem Frust. »Wenn man ein Kind hat, das in den Kindergarten geht, kommt so etwas leider vor. Und wir haben das Nachsehen.«

»Da fehlen aber noch ein paar«, erinnerte Esther Weis. »Ausgerechnet an dem Tag, an dem sich die neue Staatsanwältin vorstellen will, ist keiner da.«

»Erik Tenes ist auf dem Weg hierher. Er wird zusammen mit ein paar Beamten der Polizeidienststelle Saarlouis morgen früh die Suche auf dem Limberg fortsetzen.«

»Nach was suchen wir denn?«, fragte Esther.

»Nach einem Projektil oder nach einem angeschossenen Wild – was weiß ich, was sie dort finden werden«, brummte Schnur. »Nach Steiners Angaben ist dort ein Schuss mit Treffer gefallen – dem müssen wir nachgehen …«

Steiner stand mit Moritz an der Leine im Flur und wartete geduldig.

»Wer übernimmt Harald Steiner?«, stellte Esther die Frage, die sie noch viel mehr beschäftigte.

»Er muss seine Kleider für den Erkennungsdienst abgeben, was mir ungelegen kommt«, gab Schnur mürrisch zu verstehen. »Du weißt, dass ich einen Termin mit der neuen Staatsanwältin habe. So glänze ich schon bei unserer ersten Begegnung mit Verspätung. Na toll!«

»Ich würde dir Steiner abnehmen, aber ich glaube nicht, dass er damit einverstanden wäre.«

Steiner hatte das Gespräch mitgehört. Er trat auf Esther zu und meinte: »Warum sollte ich nicht damit einverstanden sein, mich vor Ihnen zu entkleiden? Sie sind mir bedeutend lieber als Jürgen Schnur, der alte Diener.«

Er folgte Esther in einen kahlen und unpersönlichen Raum.

»Hier?«

Esther zuckte mit den Schultern. Ihre Verlegenheit war größer als Steiners, was sie selbst überraschte.

»Sie wissen, dass ich Sie im Auge behalten muss, für den Fall …«

»Das ist mir sogar recht«, kam es zurück. »Ich will schließlich nicht, dass Sie nachher für einen Fehler haftbar gemacht werden.«

»Danke. Sie machen es mir leicht.«

Er schaute sie lange an. Sie hielt seinem Blick stand. Seine dunkelbraunen Augen wirkten klug und undurchdringlich. Sein Kopf glänzte kahl, bis auf wenige graue Stoppeln, die einen Kranz am Hinterkopf bildeten. Seine Gesichtszüge waren markant, seine Falten tief, was draufgängerisch an ihm wirkte. Nicht das kleinste Anzeichen von Unsicherheit erkannte sie an ihm, während er begann, sich seiner Kleider zu entledigen.

Nach und nach legte er die Stücke auf den Tisch, bis er völlig nackt vor ihr stand.

Sein Oberkörper war muskulös, seine Schultern breit. Er hatte einen Waschbrettbauch, wie Esther es nur von Reklameschildern kannte, und kräftige Oberschenkel. Obwohl sie wusste, dass es unhöflich war, ihn anzustarren, gelang es ihr nicht, ihren Blick abzuwenden.

»Darf ich mich wieder anziehen?«

Mit dieser Frage brachte er sie aus dem Konzept. Verwirrt nickte sie, stammelte ein »Natürlich« und merkte, wie sie augenblicklich rot im Gesicht wurde. Steiner dagegen war die Selbstsicherheit in Person.

Innerlich ärgerte sich Esther über ihr Verhalten. Hastig packte sie die Kleidungsstücke in eine Tüte und wollte das Zimmer verlassen, als ihr eine Frage einfiel: »Wer ist Bernd Schumacher?«

Anstatt zu antworteten, stellte ihr Steiner eine Gegenfrage: »Seit wann arbeiten Sie hier im Polizeidienst?«

»Seit sieben Jahren.«

»Dann wissen Sie natürlich nicht, wer Bernd Schumacher ist«, folgerte Steiner. Er zögerte eine Weile, bis er endlich weiter sprach: »Ich war bis vor fünfzehn Jahren Einsatzleiter des Sondereinsatzkommandos des Saarlandes. Mein letzter Einsatz galt Bernd Schumacher. Der Einsatz scheiterte, weshalb ich meinen Rücktritt erklärte.«

An diesen Worten erkannte Esther, dass der Fall interessant zu werden versprach. Steiner tat nichts, um den Verdacht von sich abzulenken, dabei drückten seine eigenen Worte schon ein Motiv aus, Bernd Schumacher zu töten.

Leise schloss sie die Tür hinter sich.

Ein paar Türen weiter breitete sich Aufregung im Büro aus. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: »Gleich kommt die neue Staatsanwältin.«

Erwartungsvoll lauschten sie den Schritten auf dem Flur, die immer näher kamen.

Dieter Forseti zupfte nervös an seiner Krawatte. Nach seinem Sprung vom Hauptkommissar zum Ersten Hauptkommissar war seine Karriere nicht mehr zu stoppen. Kurt Wollnys vorzeitiger Abschied in den Ruhestand hatte ihn unverhofft schnell zum Kriminalrat befördert. Hier stand er nun vor seinem ersten offiziellen Auftreten als Amtsleiter.

Die Tür ging auf.

Vor ihnen stand eine große, schlanke Frau mit roten Haaren, die in wilden Locken ihr schmales Gesicht umrahmten. Sie trug einen grünen, figurbetonten Hosenanzug, dazu Goldschmuck an Hals und Ohren. Überrascht und belustigt zugleich blickte sie in die Runde, bevor sie mit einer angenehm tiefen Stimme sprach: »Ein Begrüßungskomitee hatte ich nicht erwartet.«

Alle waren gefesselt von ihrem Anblick. Ihr Gesicht war blass und ungeschminkt. Hohe Wangenknochen und die lange, gerade Nase wirkten aristokratisch.

Es war Forseti, der sich wie immer am besten im Griff hatte. Er trat auf sie zu mit den Worten: »Ich bin Kriminalrat Forseti.«

»Ich bin Staatsanwältin Ann-Kathrin Reichert.« Sie reichte ihm ihre Hand.

Schnur gesellte sich dazu. »Jürgen Schnur. Dienststellenleiter. Ich freue mich, Sie als Nachfolgerin von Emil Foster begrüßen zu können.«

»Ich hoffe auf eine gute Zusammenarbeit«, antwortete die Staatsanwältin mit ihrer auffallend dunklen Stimme.

»Da habe ich keine Bedenken«, gab Jürgen Schnur galant zurück.

Forseti übernahm den nächsten Teil der Empfangszeremonie. Er stellte alle Mitarbeiter vor. Ann-Kathrin Reichert begrüßte jeden mit Handschlag.

»Zum Einstand laden wir Sie zu einer Besprechung ein«, kam Schnur sofort zum Thema. »Leider müssen wir Sie gleich mit einer unangenehmen Angelegenheit überfallen und haben zu unserer Verteidigung noch wenig vorzubringen. Wir stehen ganz am Anfang.«

Ann-Kathrin Reichert lachte. Amüsiert schaute sie sich Schnur genauer an, bevor sie sagte: »Sie halten es nicht für möglich: Aber zum Arbeiten bin ich hier – nicht zum Vergnügen.«

Leises Gelächter ertönte.

Es war Forseti, der alle in Staunen versetzte. »Sicherlich! Aber ein wenig Vergnügen während der Arbeit hat noch keinem geschadet.«

War das der Forseti, den sie kannten?

Höflich zeigte er der Staatsanwältin den Weg zum Besprechungsraum. Gläser und Getränke standen bereit. Alles war bestens vorbereitet.

Die Staatsanwältin setzte sich neben Jürgen Schnur, der ihr den Stuhl hervorzog, um ihr Platz anzubieten.

Nach seinem kurzen Bericht forderte Schnur seinen Mitarbeiter Erik Tenes auf, das Ergebnis der Suche auf dem Limberg zu schildern. Es wurde weder ein angeschossenes Tier noch ein angeschossener Mensch dort gefunden.

Steiners Aussage, einen Schuss auf dem Berg gehört zu haben, stand somit in Frage.

Kapitel 3

Die Zeit, die Steiner mit seinem Hund allein in dem kargen Raum saß, nutzte er, um nachzudenken. Der Einsatz vor fünfzehn Jahren hatte sein Leben entscheidend verändert. Lange hatte er sich eingeredet, dass er so besser dran war. Aber wenn er ehrlich blieb, hatte er sein Ziel verfehlt. Der Gang in das neue Gebäude der Kriminalpolizeiinspektion hatte ihm verdeutlicht, dass es ein notgedrungener Schritt gewesen war und keine freiwillige Entscheidung. Er arbeitete Tag und Nacht allein im Wald, erstellte Abschusspläne für das Wild, das in einem Jahr geschossen werden durfte, organisierte den Holzeinschlag für den Herbst, damit der Baum­bestand des Waldes im Gleichgewicht blieb. Nichts davon entsprach seiner ursprünglichen Berufung, Menschen in Notsituationen zu helfen. Seine einzigen menschlichen Kontakte galten dem Kampf gegen die Wilderer, die seine Arbeit in Frage stellten, den Komplikationen mit den Leuten aus dem Dorf, deren Ziel es war, ihn um seinen Arbeitsplatz zu bringen, und einem Jungen mit Down-Syndrom. Die meisten Gespräche beschränkten sich auf die Monologe mit seinem Hund Moritz.

Er schaute hinab auf den Münsterländer. Sogar der Hund war ein Erinnerungsstück an den gescheiterten Einsatz. Damit hatte er so etwas wie eine Wiedergutmachung bezweckt, wobei er sich immer noch nicht sicher war für wen: für den Hund oder sich selbst?

»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.« Mit diesen Worten stürmte Schnur in das Vernehmungszimmer.

Moritz setzte sich wachsam auf und behielt Schnur genau im Auge.

»Nicht schlimm.« Steiner lächelte schwach. »Ich habe die Zeit genutzt, um nachzudenken.«

»Was kam dabei heraus?«

»Dass die Vergangenheit mich wieder eingeholt hat.«

»Stimmt. Du befindest dich in einer äußerst unglücklichen Situation«, gab Schnur zu bedenken. »Bernd Schumacher hat dir vor fünfzehn Jahren schon einmal geschadet.«

»Und deshalb begebe ich mich auf das Niveau eines Verbrechers?«

Jürgen Schnur ging nicht auf die Bemerkung ein. »Wie wir inzwischen vom Gefängnis Lerchesflur erfahren haben, sprach er über die ganzen Jahre hinweg immer nur von Bezahlen. Was meinte er damit?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Du warst doch regelmäßig auf dem Lerchesflur.«

Steiner bewegte sich unruhig hin und her. »Aber nicht bei Bernd Schumacher.«

»Das wissen wir auch. Die Angestellte der Gefängnisverwaltung war sehr gesprächig. Einen guten Geschmack hast du«, reagierte Schnur süffisant.

Steiner fühlte sich unbehaglich. Er wusste, dass sein Privatleben nicht mehr existierte, wenn er der einzige Verdächtige in diesem Fall bleiben würde. Er bekam jetzt schon einen Vorgeschmack auf die Scham, die dann auf ihn zukam.

»Trotzdem besteht die Möglichkeit, dass du dort etwas über ihn in Erfahrung gebracht hast – ob gewollt oder ungewollt.«

Steiner rieb sich über die Glatze, sagte aber nichts.

»Du weißt doch selbst aus deinen Erfahrungen als Polizeibeamter, wie so etwas für einen Verdächtigen aussieht«, hakte Schnur nach.

»Ja! Das ist das Ärgerliche. Ich wusste nichts von Bernd Schumachers Plänen. Damals bin ich nach Wallerfangen gegangen, weil ich dachte, dort bin ich weit weg und komme nie mehr mit diesem Fall in Berührung.«

»Die Absicht ist aber sehr undurchsichtig.«

»Warum?« Steiner horchte auf.

Eine Weile schwiegen sich beide an, bis Schnur endlich die Bombe platzen ließ: »Bernd Schumacher ist in Wallerfangen geboren und aufgewachsen.«

Steiner starrte Schnur fassungslos an.

»Warum kehrt er ausgerechnet in das Dorf zurück, wo der Mann arbeitet, der ihn vor Jahren ins Gefängnis gebracht hat?«

»Heimattreue?«, rätselte Steiner ironisch.

Jürgen Schnur schaute Steiner eindringlich an, bis dieser sich auf seinem Platz wand wie ein Aal. »Wallerfangen ist nicht gerade der Nabel der Welt. Du lebst und arbeitest in diesem Dorf, ohne auch nur das Geringste mitzubekommen. Wie geht das?«

»Ich kam als Fremder und bin die ganzen fünfzehn Jahre ein Fremder geblieben«, gestand Steiner.

»Und wie bist du an den Job gekommen, auf den auch Einheimische scharf waren?

»Otto Siebert hat mir die Arbeitsstelle vermittelt.«

»Natürlich! Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Alle Eltern, deren Kinder einem Verbrechen zum Opfer gefallen sind, rennen mir heute noch die Türen ein, um sich bei mir zu bedanken«, kam es ironisch von Schnur zurück.

»Otto Sieberts Kind hat die Entführung überlebt.«

»Aber wie?«

»Was soll das heißen?«

»Das Kind ist psychisch krank.«

»Aber es lebt«, konterte Steiner. »Heute machen viele Menschen Psychotherapien. Sogar solche, die nicht entführt wurden.«

»Trotzdem staune ich über die Hilfsbereitschaft von Otto Siebert.«

»Er war damals Staatssekretär im Innenministerium und für die Polizeiangelegenheiten zuständig. Also war er über den Einsatz und meinen Rücktritt bestens informiert.«

»Willst du mir jetzt den Geschäftsverteilungsplan des Innenministeriums aus dem Jahr 1991 erklären?«

»Nein!«

»Dann rede endlich Klartext!« Schnur wurde ungehalten. »Zufällig weiß ich, wem der Limberg gehört – nämlich der Familie Villeroy. Damals, bevor ich Wallerfangen verlassen hatte, hieß deren Verwalter Ernst Barbian. Ob er heute noch in seinem Amt ist, weiß ich nicht …«

»Er ist«, unterbrach Steiner. »Er traf letztendlich die Entscheidung, wer den Posten des Revierförsters auf dem Limberg bekommt.«

»Welche Rolle spielte Otto Siebert dabei?«

»Ihm gehört das Nachbarrevier Hessmühle.«

»Weiß ich.«

»Otto Siebert hatte ständig Ärger mit Eduard Zimmer. Mein Vorgänger hatte das Wild der Hessmühle auf den Limberg treiben lassen, um es dort zu schießen. Otto Siebert wollte nach Zimmers Tod einen Jäger auf dem Posten haben, der mit waidgerechten Methoden arbeitet. Deshalb gab er bei Ernst Barbian einen guten Leumund für mich ab.«

»Und Ernst Barbian macht, was Otto Siebert verlangt?« Schnur schaute ungläubig drein. »Gibt es etwas, womit sich Barbian erpressbar gemacht hat?«

»Keine Ahnung«, wehrte Steiner ab. »Wenn ja, will ich nichts damit zu tun haben. Ich habe schon Ärger genug. In diesem Nest gibt es viele bornierte Unheilstifter, die nichts Besseres zu tun haben, als mich in Miss­kredit zu bringen.«

»Ich stamme auch aus Wallerfangen – falls du es vergessen hast. Sei mit deiner Wortwahl vorsichtiger«, riet Schnur.

»Wie ich oben auf dem Berg mitbekommen habe, kennst du Rolf West, den ewigen Choleriker«, überging Steiner die Warnung.

Schnur nickte.

»Er hatte sich gute Chancen ausgerechnet, diese Stelle zu bekommen, weil er mit dem Verwalter verwandt ist.«

»Leider hat ihm die Verwandtschaft nichts genützt – deine Beziehungen waren besser.« Schnur feixte.

»Dass ich plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht bin, traf ihn wie ein Schlag. Er blieb arbeitslos – was er heute noch ist.«

»Willst du damit den Verdacht auf Subito-Rolf lenken?«

»Den halte ich mit seinem hitzigen Gemüt durchaus für eine solche Tat fähig« antwortete Steiner. »Als Polizist habe ich meinen Eid auf die saarländische Verfassung abgelegt. Daran halte ich mich heute noch.«

»Auch das soll ich dir jetzt glauben? Meine Güte, seit ich diesen Fall bearbeite, muss ich ganz urplötzlich zu einem glaubensstarken Menschen mutieren.«

»Hör auf, so mit mir zu reden«, wurde Steiner plötzlich laut. »Du kennst mich schon seit wir beide bei der Polizei angefangen haben und weißt genau, dass du mir vertrauen kannst.«

»Wirklich?« Schnurs Miene blieb ausdruckslos.

»Was soll das jetzt?« Steiner reagierte gereizt.

»Warum ließ sich Odysseus mit verbundenen Augen und Ohren an den Mast fesseln, als er an den Sirenen vorbeifuhr?«

Ohne zu überlegen antwortete Steiner: »Weil er sich selbst nicht traute.«

»Gut erkannt«, nickte Schnur.

Steiner merkte zu spät, was seine Antwort für ihn bedeutete.

Moritz spürte die Anspannung und begann leise zu knurren.

»Moritz! Aus!«, befahl Steiner. Der Hund gehorchte sofort.

»Was soll das, den Hund Moritz zu nennen?«, reagierte Schnur auf den kleinen Zwischenfall. »Für einen Menschen, der seine Vergangenheit weit hinter sich lassen will, tust du merkwürdige Dinge.«

Steiners Gesichtszüge wurden hart, als er grollte: »Was wird das hier? Willst du mit deiner Beförderung gleichzeitig einen Weltrekord im Aufklären von Fällen aufstellen?« Er schnappte kurz nach Luft und fügte in einem Tonfall an, als würde er einen Sensationsbericht abgeben: »Schon nach einer Stunde Fall gelöst, Jürgen Schnurs Karriereleiter nicht mehr zu stoppen!«

»Hieß nicht das entführte Kind Moritz?« Mit dieser Frage überging er Steiners affektierte Kundgebung.

»Ja.« Steiners Tonfall wurde wieder normal. »Aber nicht nur das Kind, wie du wohl weißt.«

Schnur lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, verschränkte seine Arme vor seinem Bauch und wartete.

»Da war außerdem der Hund namens Moritz«, sprach Steiner weiter.

»Richtig! Durch das unverhoffte Auftauchen dieses Hundes wurde dein Einsatz in den Sand gesetzt«, stimmte Schnur zu. »Und was willst du damit bezwecken, deinen Hund Moritz zu nennen. Ist das eine Art der Selbst­bezichtigung, weil du damals den Tod einer unschuldigen Frau verschuldet hast?«

Die Luft war zum Zerreißen gespannt.

Es dauerte lange, bis Steiner endlich antwortete: »Mein Moritz ist der Hund von damals.«

Nun war es an Schnur zu staunen. Er stand auf, ging um den Tisch herum und schaute sich das Tier näher an.

»Dann muss er schon fünfzehn Jahre alt sein?«

»Rechnen kannst du.«

Beide blickten auf den braun-weißen Hund, der abwechselnd von Schnur zu Steiner schaute.

»Was hätte ich damals tun sollen? Auch noch das arme Tier ins Tierheim bringen? Das habe ich einfach nicht übers Herz gebracht. Es war schon genug passiert.«

»Du hast den Fall nicht vergessen können«, erkannte Schnur. »Im Gegenteil, du siehst ihn vor dir, als wäre alles erst gestern passiert.«

Steiner sagte nichts dazu.

»Und dann willst du mir weismachen, dass ausgerechnet du Bernd Schumacher, dem Entführer, keinerlei Beachtung mehr geschenkt hast. Er war der Auslöser für alles.«

»Sieh es, wie du willst. Ich habe den Hund mitgenommen und als Jagdhund ausgebildet. So konnte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.«

»Aber der Hund erinnert dich doch täglich daran.«

»Nein. Der Hund ist das Beste, was mir passieren konnte. Er hat mich nicht herunterzogen, sondern aufgebaut. Hast du ein Haustier?«

Schnur schüttelte den Kopf und meinte: »Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Das reicht.«

»Ich hatte auch einmal Frau und Kind. Beide habe ich nach dem Einsatz verloren. Was mir geblieben ist, ist der Hund.«

Schnur legte seine angriffslustige Haltung ab, weil er erkannte, dass er auf einen wunden Punkt bei Steiner gestoßen war. Keinem auf der Polizei­dienststelle war damals entgangen, wie dieser Einsatz Steiners Leben verändert hatte. Es gab niemanden, den es kalt gelassen hätte.

»Okay«, lenkte Schnur nach einer kurzen Bedenkzeit ein. »Du hältst dich zur Verfügung.«

Steiner nickte, erhob sich von seinem Platz und steuerte auf den Ausgang zu. Moritz folgte ihm aufgeregt hechelnd, ein Zeichen dafür, dass er froh war, endlich dort raus zu kommen.

Kapitel 4

Die Temperaturen stiegen an, der Nebel lichtete sich, wich der Novembersonne, die sich in diesem Herbst von ihrer schönsten Seite zeigte. Beste Arbeitsbedingungen – wäre da nicht der beunruhigende Gedanke an den zweiten Schuss. Bevor Steiner zu seiner Routine überging, musste er sich an der Kapelle umsehen.

Er schulterte sein Gewehr und trat hinaus. Die Haustür fiel hinter ihm leise ins Schloss. Ganz tief atmete er die kühle Luft ein, sortierte in Gedanken die Gerüche der Bäume, des nassen Laubs und der Herbstblumen, die immer noch den Brunnen zierten und etwas, das den Gesamteindruck von Harmonie jäh unterbrach. Von einer Vorahnung geplagt richtete er seinen Blick auf den Boden direkt neben der Haustür.

Dort lag ein angefahrener Fuchs.

Sein Deckhaar schimmerte unter dem dunklen, verkrusteten Blut rötlich­braun. Weit aufgerissene Augen starrten ihn an, seine Flanken zitterten, seine Nasenflügel bebten. Mit letzter Kraft fletschte er seine Zähne.

Wieder ein Opfer der rachsüchtigen Wildvernichter?

Er nahm seine Repetierbüchse von der Schulter. Auch wenn die Waffe dafür ungeeignet war, so wollte er doch keine Zeit vergeuden, sondern das Tier so schnell wie möglich erlösen.

Wo war Micky?

Vermutlich hatte ihm sein Vater nach der verhängnisvollen Begegnung am Morgen untersagt, das Haus zu verlassen. Jetzt erst erkannte er, welche Dienste ihm der Junge bot. Steiners schlechtes Gewissen meldete sich sofort, denn was jetzt kam war eine unangenehme Schinderei.

Nachdem der Kadaver vergraben war, trat die Haushälterin vor die Tür, stemmte beide Hände in die Hüften und sprach mit Steiner wie mit einem ungehorsamen Kind: »Das wurde auch Zeit. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertragen kann. Meine Vorräte liegen im Keller, in den ich nur gelange, indem ich durch den Hof gehe. Wenn dort ein halbtotes Tier liegt, kann ich das nicht. Ich ekle mich davor.«

»Das tut mir wirklich leid«, mehr konnte Steiner nicht dazu sagen. Er ahnte, dass die Attacken so schnell nicht aufhörten – im Gegenteil: Der Leichenfund am Morgen würde die Leute im Dorf noch mehr gegen ihn aufbringen.

Er nahm seinen Feldstecher, pfiff nach Moritz und marschierte den Berg hinauf.

An der Kapelle war alles still, kein Spaziergänger, keine Fahrradfahrer, nichts. Er gab Moritz die lange Leine, damit der Hund den Boden absuchen konnte. An einigen Stellen zeigte der Hund große Aufregung, aber eine Spur fand er nicht. Mehrere Male suchte er den Platz ab, wobei er seinen Radius vergrößerte, nichts. Er umrundete das ehemalige Kloster, das für die Treibjagd im Dezember hergerichtet werden musste. Die Bauarbeiter waren bestellt, aber bisher war noch niemand eingetroffen. Verlassen lag die Ruine da.

An der Seite klaffte ein Mauerdurchbruch. Steine waren aus dem alten Gemäuer herausgeschlagen worden. Verstreut lagen sie im Gestrüpp. Verärgert sammelte er sie auf und verbarrikadierte damit notdürftig den Durchgang.

Sein Hund verhielt sich weiterhin ruhig. Also konnte er seine Suche nach einem angeschossenen Tier einstellen.

Für Steiner galt, sich um den Kirrplatz für das Schwarzwild zu kümmern, den er rechtzeitig herrichten musste. Auf dem Limberg konnte der Winter hartnäckig werden, weil die Höhenlage und der dichte Baumbestand dafür sorgten, dass der Schnee nicht so schnell schmolz. Diese Bedingungen machten die Versorgung des Wildes unumgänglich.

Er gelangte auf die Lichtung Sonnenkupp. Dort stand sein Hochsitz. Er hatte ihn selbst aufgestellt, direkt neben dem Gedenkstein, der für den Revierförster Eduard Zimmer errichtet worden war. Genau an dieser Stelle hatte sich sein Vorgänger erschossen. Durch das ungewöhnliche Monument geriet er niemals in Vergessenheit.

Moritz bellte und wedelte voller Vorfreude mit dem Schwanz, weil er auf den Hochsitz wollte. Mit einem Ruck nahm Steiner den Hund Huckepack und kletterte mit seiner Last die Leiter hinauf. Der Anblick, der sich von oben bot, war sogar für einen Jäger wie Steiner, der schon seit fünfzehn Jahren in diesem Revier arbeitete, eine Augenweide. Rechts von ihm gähnte eine Schlucht fast zweihundert Meter tief. Der Grund war nicht zu erkennen, der Nebel versperrte die Sicht. Auf der anderen Seite des Abgrunds lag Laubwald, dessen Blätter wie Farbtupfer zwischen den immergrünen Nadelbäumen abstachen. Kiefern ragten majestätisch in die Höhe, Bäume im Alter von über dreihundert Jahren. Stufenweise abgesetzte Berghänge auf der Südseite erinnerten an den Weinanbau aus vergangenen Zeiten. Beschädigte Steinkreuze und Heiligenfiguren des alten Kreuzwegs des Bildhauers Corail aus dem siebzehnten Jahrhundert, bildeten die kläglichen Überreste einer Ölbergszene. Von den acht Skulpturen konnten lediglich die Fußsockel und wenige Figuren ohne Köpfe den französischen Revolutionsstürmen trotzen.

Links von ihm lag eine Wiese zwischen vereinzelten Kiefern, auf die sich die Sonnenstrahlen hin verirrten. Durch den plötzlichen Wärmeeinfall stiegen weiße Nebelschwaden wie Dampf auf. Besser konnte der Zeitpunkt nicht gewählt sein, um den Wildbestand zu beobachten. Schon nach kurzer Zeit kamen die ersten Schmalrehe, dann die Ricken und zum Schluss ein Bock aus ihrem sicheren Schutz, um zu äsen. Ein Anblick, der Steiner in innere Ruhe versetzte.

Die Stille wurde durch Schritte unterbrochen.

Vorbei war der Augenblick der Muße.

Moritz horchte auf, zog seine Zunge ein und richtete seine langen Schlappohren auf. Steiner schaute in dieselbe Richtung wie sein Hund. Da sah er ihn auch schon. Der Störenfried war ein Jogger. Der kleine Sprung von Ricken und Schmalrehen mit Bock war blitzschnell im Dickicht verschwunden. Vorbei das trügerische Bild von Vollkommenheit.

Der Jogger kam näher, bis Steiner ihn erkennen konnte. Es war Helmut Brack, der Dorfpolizist. Er war der einzige der Trinkbrüder im Gasthof Donze, der stets gepflegt und sportlich wirkte. Hier sah Steiner, dass er mehr für seine Gesundheit tat, als er dem trinkfreudigen Gesellen zugetraut hätte.