Kundenbeschwerden im Web 2.0 - Melanie Kunkel - E-Book

Kundenbeschwerden im Web 2.0 E-Book

Melanie Kunkel

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Beschreibung

Die Kommunikation in sozialen Netzwerken ist in den letzten Jahren zunehmend ins Interesse der (Im)politeness-Forschung gerückt. Die Arbeit untersucht einen Korpus aus jeweils 400 Kundenbeschwerden auf deutschen und italienischen Facebook-Seiten, insbesondere hinsichtlich inhaltlicher Strukturen, Modifikation sowie Selbstdarstellung und Referenzen. Die Ergebnisse werden vor zentralen (Im)politenessTheorien diskutiert und mögliche Ursachen für die Unterschiede zwischen deutsch- und italienischsprachigen Beschwerden aufgezeigt.

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Seitenzahl: 449

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Melanie Kunkel

Kundenbeschwerden im Web 2.0

Eine korpusbasierte Untersuchung zur Pragmatik von Beschwerden im Deutschen und Italienischen

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.narr.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

ISBN 978-3-8233-8364-2 (Print)

ISBN 978-3-8233-0197-4 (ePub)

Inhalt

Danksagung1 Einleitung1.1 Thema der Arbeit und Begründung1.2 Forschungsfragen und Aufbau der Arbeit2 Forschungsüberblick I: (Im)politeness-Theorien2.1 Politeness als Face-saving-Strategie: Kritik und Grenzen2.2 (Im)politeness1 und (im)politeness22.3 Postmoderne Ansätze: relational work, rapport management, genre approach2.3.1 Relational work (LOCHER/WATTS)2.3.2 Rapport management (SPENCER-OATEY)2.3.3 Genre approach (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH)2.4 Impoliteness: Intention und (Un-)Angemessenheit2.4.1 Impoliteness und Intention2.4.2 Impoliteness und (Un-)Angemessenheit2.5 (Im)politeness in computervermittelter Kommunikation2.6 Kulturabhängigkeit von (im)politeness2.7 Zwischenfazit: Positionierung dieser Studie3 Forschungsüberblick II: Sprachwissenschaftliche Beschwerdeforschung3.1 Ansätze der sprachwissenschaftlichen Beschwerdeforschung3.1.1 Die wichtigsten Perspektiven: Sprechakt-, Konversations- und Textsorten-(Genre-)Analyse3.1.2 Kontrastive Ansätze3.2 Beschwerden: Versuch(e) einer Definition und Charakterisierung3.2.1 Klassifikation als expressive, face-threatening acts3.2.2 Schwierigkeit der Definition von Beschwerden3.2.3 Unterscheidung in direkte/indirekte Beschwerden3.3 Sprachwissenschaftliche Studien zu Beschwerden3.3.1 Elizitierte Daten3.3.2 Authentische mündliche Daten3.3.3 Authentische schriftliche Daten: Beschwerdebriefe3.3.4 Authentische Daten in CvK3.4 Zwischenfazit: Desiderate und Hypothesen4 Facebook-Beschwerden: Kommunikationssituation und Teilnehmerkonstellation4.1 Institutionelle Kommunikation und kontrastive Pragmatik4.2 Unternehmenskommunikation im Zeitalter des Electronic Word-of-Mouth4.3 Aufbau der untersuchten Facebook-Seiten4.4 Technologische Einflussfaktoren4.5 Soziale Einflussfaktoren4.6 Kommunikationstheoretische Einordnung4.7 Der Kontext: Aufbau der Threads4.8 Facebook-Beschwerden als Textsorte (genre)?4.9 Zwischenfazit und Hypothesen5 Korpus und Forschungsfragen5.1 Korpuserstellung5.1.1 Auswahl der Facebook-Seiten und Fokussierung auf die initiale Beschwerde5.1.2 Auswahl der Beschwerdeposts: Arbeitsdefinition5.1.3 Erhebung und Auswertung des Probekorpus: Implikationen für die Studie5.1.4 Technische Aufbereitung und Taggen des endgültigen Datenkorpus5.1.5 Vor- und Nachteile des gewählten Korpus5.1.6 Ethische Fragen der Korpuszusammenstellung5.2 Korpusaufbau: statistische Eckdaten5.3 Forschungsfragen der korpusbasierten Untersuchung6 Der Aufbau der Beschwerdeposts: moves6.1 Einleitung und methodisches Vorgehen6.2 Erläuterung der moves6.3 Überblick: Aufbau der Beschwerdeposts6.3.1 Häufigkeit der einzelnen moves in den Beschwerdeposts6.3.2 Zahl der Move-Typen in den Beschwerdeposts6.3.3 Reihenfolge der einzelnen moves in den Beschwerdeposts6.4 Vorkommen und sprachliche Realisierung einzelner moves6.4.1 Briefrahmen6.4.2 Buffer6.4.3 Beschwerdegrund6.4.4 Forderung6.5 Beispiele: Zusammenwirken der moves6.6 Direktheitsgrad der Beschwerde als Ganzes6.7 Zusammenfassung und Diskussion7 Interne und externe Modifikation: supportive moves, upgraders und downgraders7.1 Einleitung7.2 Strategien des Verstärkens – externe Modifikation: supportive moves7.2.1 Beweise7.2.2 Rolle als Kunde7.2.3 Persönliche negative Konsequenzen7.2.4 Unterstellung von Vorsatz7.2.5 Wiederholung des Beschwerdegrunds oder der Beschwerde7.2.6 Zeitangabe zum Auftreten des Beschwerdegrunds7.2.7 Solidaritätsbekundungen unter Kunden7.3 Strategien des Verstärkens – interne Modifikation: upgraders7.4 CvK-spezifische typografische Hervorhebungsverfahren7.5 Strategien des Abschwächens: downgraders7.6 Ironie7.7 Metakommunikative Äußerungen von Kunden I: (Im)politeness-Strategien7.8 Zusammenfassung und Diskussion8 Selbstdarstellung und Referenzen zwischen privater und öffentlicher Kommunikation8.1 Einleitung8.2 Selbstdarstellung und self-reference8.2.1 Strategien der Selbstdarstellung8.2.2 Formen der self-reference8.3 Other-reference8.3.1 Formen der Referenz auf das Unternehmen8.3.2 Formen der Referenz auf andere Kunden, Bekannte etc.8.3.3 Direkte und indirekte Beschwerden8.4 Metakommunikative Äußerungen von Kunden II: Kommunikationssituation8.5 Zusammenfassung und Diskussion9 Ergebnisse und Ausblick9.1 Zusammenfassung der Ergebnisse9.2 Facework in Facebook-Beschwerden: Diskussion vor (Im)politeness-Modellen9.3 Beschwerden im deutsch-italienischen Vergleich9.4 Desiderate und AusblickLiteraturverzeichnis

Danksagung

Bedanken möchte ich mich bei allen, die mich während der Entstehung der vorliegenden Arbeit und bei ihrer Publikation unterstützt haben.

 

Mein besonderer Dank gilt meiner Doktormutter, Prof. Dr. Christiane Maaß, die die Arbeit durch zahlreiche Hinweise, kritische Fragen und schnelle Rückmeldungen überaus konstruktiv und engagiert begleitet hat. Ebenso herzlich gedankt sei Prof. Dr. Sabine Koesters Gensini für wichtige Impulse und Anregungen, ganz besonders in der Anfangszeit, und die Übernahme des Zweitgutachtens.

 

Außerdem danke ich allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des sprach- und kulturwissenschaftlichen Forschungskolloquiums an der Universität Hannover, geleitet von Prof. Dr. Lidia Becker, Prof. Dr. Bettina Kluge und Prof. Dr. Christiane Maaß, für inspirierende und fruchtbare Diskussionen, von denen die Arbeit in ihren verschiedenen Phasen sehr profitiert hat. Prof. Dr. Gudrun Held danke ich für den anregenden Austausch und die Möglichkeit, das Projekt in ihrem Salzburger Kolloquium vorzustellen. Für wertvolle Hinweise, ihre Hilfe und Unterstützung gebührt mein Dank Dr. Stefania De Lucia, Dr. Till Keyling, Pierre Krügel, Dr. Gregorio Moppi, Prof. Dr. Nadine Rentel, Dr. Goranka Rocco und Dr. Jonas Rumpf.

 

Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) hat es mir durch ein neunmonatiges Stipendium ermöglicht, die Arbeit entscheidend voranzubringen. Corina Popp und Dr. Valeska Lembke vom Narr Franck Attempto Verlag GmbH + Co. KG danke ich für die freundliche Zusammenarbeit und engagierte redaktionelle Betreuung. Für den großzügigen Druckkostenzuschuss bin ich dem Promotionsausschuss des Fachbereichs 3 der Universität Hildesheim zu besonderem Dank verpflichtet.

 

Herzlich danken möchte ich auch meinen Eltern, meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden für ihre vielfältige Unterstützung und ihr Interesse an meinem Projekt.

1Einleitung

1.1Thema der Arbeit und Begründung

Beschwerden werden alltäglich in vielerlei Zusammenhängen und Konstellationen geäußert: mündlich, schriftlich, postalisch oder in elektronischer Form, an Adressaten wie Unternehmen, Behörden, Organisationen, Vorgesetzte, die Familie oder Freunde1. Wir beschweren uns direkt beim Verursacher der Beschwerde oder dem Verantwortlichen, aber auch bei Menschen, die nichts damit zu tun haben. Wir wollen mit unseren Beschwerden Wiedergutmachung erreichen – vielleicht aber auch nur unserem Ärger Luft verschaffen.

Die vorliegende Studie befasst sich mit Kundenbeschwerden an Unternehmen. Während sich zahlreiche kommunikations- und wirtschaftswissenschaftliche Studien, Lehrbücher und Leitfäden mit der Analyse von Kundenbeschwerden und der Ausgestaltung des Complaint-Handlings seitens des Unternehmens beschäftigen (STAUSS/SEIDEL 2014), gibt es aus sprachwissenschaftlicher Sicht bislang vergleichsweise wenige Arbeiten zu diesem Untersuchungsgegenstand, beispielsweise zur Beschwerdekommunikation in Telefonhotlines (u. a. MÁRQUEZ REITER 2005; ORTHABER/MÁRQUEZ REITER 2011) oder zu Reklamationsgesprächen (SCHNIEDERS 2005).

In einer Online-Kultur, die Konsumenten zum Teilen ihrer Erfahrungen über Bewertungen und Rezensionen sowie zur Weitergabe ihres Feedbacks an die Unternehmen selbst ermutigt, spielt aber auch das Internet als Plattform für Kundenbeschwerden eine immer größere Rolle (HENNIG-THURAU ET AL. 2010). Das gilt auch für Social Media wie Facebook oder Twitter. Damit gerät eine Kommunikation in die Öffentlichkeit, die bislang weitgehend in geschlossenen Kanälen zwischen Unternehmen und Kunden stattfand. Die vorliegende Studie nimmt diese Entwicklung zum Anlass, einen Ausschnitt aus dieser Kommunikation aus linguistischer Sicht zu beschreiben: Kundenbeschwerden auf dem sozialen Netzwerk Facebook.

Hierfür wurden Facebook-Seiten von Telekommunikationsunternehmen ausgewählt, weil sich Kundenbeschwerden dort in außergewöhnlich großer Dichte finden (EINWILLER/STEILEN 2015: 199). Häufige Themen sind beispielsweise mangelnde Netzabdeckung, überhöhte Rechnungen, unerwünschte Leistungen oder das lange Warten auf einen Techniker.

Das folgende Beispiel illustriert eine Kundenbeschwerde, wie sie Gegenstand der vorliegenden Arbeit sind.

(DE124)2

 

Was ist bei Vodafone los? Bin bzw. war jahrelang zufriedener Kunde. Bei meiner jetzigen Vertragsverlängerung klappt absolut nichts mehr!!! Mein neues Handy sollte mir 3–4 Tage später geliefert werden.

Nach einer Woche mal höflich nachgefragt, bekam ich die Antwort, das gibt es nicht mehr. Ich sollte mir ein anderes aussuchen. Gesagt, getan. Falls es bis zum 22.09. nicht geliefert werden kann, würde man sich um mich kümmern. Passiert ist nichts!! Heute wieder angerufen. Erfolg? Ich müsste noch mal mindestens eine Woche warten!!! 

Sind nur Neukunden mit großen Verträgen wichtig??? Scheint fast so. Wirklich schade. Da bleibt mir ja nur, den Anbieter zu wechseln.

Der Kunde schildert den Kontext der Beschwerde und den eigentlichen Beschwerdegrund: Er hat das ihm aufgrund seiner Vertragsverlängerung zustehende Handy auch bei der zweiten Bestellung nicht erhalten, muss weiterhin warten. Mit Fragen wie „Sind nur Neukunden mit großen Verträgen wichtig??“ und Formulierungen wie „Wirklich schade“ verleiht er seinem Ärger und seiner Enttäuschung Ausdruck; wiederholte Satzzeichen dienen der Verstärkung, genaue Zeitangaben („3–4 Tage später“, „bis zum 22.09.“) verdeutlichen die wiederholten Versäumnisse des Unternehmens. Abschließend droht der Kunde damit, den Anbieter zu wechseln. Sich selbst stellt er in der Beschwerde als jahrelangen, bislang immer zufriedenen Kunden dar – der zudem „höflich“ nachfragt. Das Unternehmen selbst wird im Post zwar genannt, die Unternehmensmitarbeiter werden aber an keiner Stelle direkt angesprochen, auch eine einleitende Anrede fehlt – mit der gleichen Formulierung könnte der Schreiber seinen Unmut auch gegenüber einem Bekannten äußern.

In welchem Teil des Textes wird nun die eigentliche Beschwerde vollzogen? Es wird schnell deutlich, dass sich diese Frage kaum sinnvoll beantworten lässt, denn auch einzelne Abschnitte für sich genommen könnten bereits als Beschwerde klassifiziert werden. Beschwerden stellen mithin ein komplexes Zusammenspiel verschiedener moves wie Beschwerdegrund, Kontext, Verärgerung oder Drohung dar (MURPHY/NEU 1996) – und können auch gänzlich anders als das gerade zitierte Beispiel aussehen.

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es zum einen, einen Beitrag zur sprachwissenschaftlichen Beschwerdeforschung zu leisten. Die moves, die die Kunden bei der sprachlichen Formulierung ihrer Beschwerden wählen, werden im Detail beschrieben. Welche inhaltlichen Bestandteile und welche Verfahren der Verstärkung und Abmilderung lassen sich ausmachen? Wer wird in der Beschwerde wie angesprochen? Dabei knüpft die Arbeit zum einen an sprachwissenschaftliche, insbesondere Sprechakt- und Textsorten-(Genre-)analytische, daneben auch konversationsanalytische Forschungen zu Beschwerden an. Die meisten dieser Arbeiten basieren auf z.B. über discourse completion tests elizitierten Daten (u. a. BLUM-KULKA ET AL. 1989) oder auf mündlicher Kommunikation (u. a. MÁRQUEZ REITER 2005, 2013). Dagegen liegen erst wenige Arbeiten zu Beschwerden in authentischer schriftlicher – und im Speziellen in computervermittelter Kommunikation (CvK) – vor (u. a. MEINL 2010; DAYTER/RÜDIGER 2014). In den Forschungsbericht beziehe ich auch Ansätze und Erkenntnisse aus Studien ein, die sich mit online veröffentlichten Kundenrezensionen beschäftigt haben (u. a. VÁSQUEZ 2011, 2013, 2014a, b).

Zum anderen leistet die Arbeit einen Beitrag zur (Im)politeness-Forschung: Verschiedene theoretische Ansätze der (Im)politeness-Forschung sollen in ihrem Erklärungsgehalt für die Gestaltung der Beschwerden diskutiert und hinterfragt werden. Oft werden Respektlosigkeit und Aggressivität in der Internetkommunikation beklagt; die Kunden selbst verteidigen ihren Stil aber häufig – ebenso wie den anderer Kunden. Die für die Studie ausgewählten Unternehmen gehen auf die Posts ein und beantworten sie; von der Seite entfernt werden nur wenige. Wie lässt sich diese Art von Kommunikation in die postmodernen (Im)politeness-Theorien einordnen?

Während sich sprachwissenschaftliche Untersuchungen zu CvK angesichts der Dominanz der englischen Sprache im Internet lange vor allem auf englischsprachige Texte gestützt hatten und die Forschungslage hier mittlerweile vergleichsweise gut ist, sind erst nach und nach Arbeiten auch für Sprachen wie das Deutsche und Französische sowie – in geringerem Maße – für weitere Sprachen entstanden (vgl. HERRING ET AL. 2013: 4), sodass hier gegenüber dem Englischen noch größerer Nachholbedarf besteht. Nach wie vor gilt: „There is a pressing need for systematic cross-linguistic studies that make use of similar methods in similar contexts involving different languages“ (DANET/HERRING 2007: 28). Für einen zusätzlichen Erkenntnisgewinn zu möglichen sprach-/kulturspezifischen Ausprägungen soll die Studie anhand des Sprachenpaars Deutsch/Italienisch durchgeführt werden.

Die Wahl der Sprachkombination beruht dabei auf mehreren Erwägungen: Es soll ein deutschsprachiges Korpus erstellt und neben der umfangreichen englischsprachigen Forschungsliteratur auch speziell die zum Deutschen ausgeprägt gute Forschungslage für CvK genutzt werden. Da für Beschwerden in diesen beiden Sprachen zwar einige Einzelstudien, aber bislang keine vergleichenden linguistischen Untersuchungen vorliegen, geht diese Arbeit nur von einzelnen zu überprüfenden Hypothesen aus, verfolgt aber im Wesentlichen einen Bottom-up-Ansatz. Unterschiedliche Kulturstandards im deutsch-italienischen Vergleich – wie ein höherer Direktheitsgrad im Deutschen, stärker ausgeprägte Emotionalität im Italienischen –, die in der Literatur auch im Hinblick auf potenzielle interkulturelle Missverständnisse beschrieben wurden (u. a. KAUNZNER 2009), sowie die verbreitete Einordnung des Italienischen als tendenziell stärker auf positive politeness hin orientiert führen zu der Frage, ob sich Unterschiede auch im Beschwerdeverhalten in beiden Korpora zeigen. Erkenntnisse zum kulturell determinierten Beschwerdeverhalten von Kunden sind bereits Teil von Handbüchern zum Beschwerdemanagement (STAUSS/SEIDEL 2014: 565 ff.) und von Einzelstudien. Ein Ziel dieser exemplarischen Studie wird es also sein, mögliche einzelsprachliche Konventionen herauszuarbeiten, die sich für das Deutsche und das Italienische ausgebildet haben.

Mit ihrem Untersuchungsgegenstand ordnet sich die vorliegende Studie in den Bereich der Sprachverwendung im Internet bzw. in CvK ein, in dem pragmatische Forschungen erst in jüngerer Zeit an Raum gewonnen haben. Eine erhebliche Forschungslücke lässt sich weiterhin für Web-2.0-Phänomene wie Wikis, Microblogging und soziale Netzwerke konstatieren (HERRING ET  AL. 2013: 5): Angesichts der schnellen Entwicklungen in der Online-Kommunikation – und gerade im Web 2.0 – sind zahlreiche Textsorten, Sprechakte und Diskurse aus sprachwissenschaftlicher Sicht noch nicht hinreichend untersucht worden. Darunter fallen auch Beschwerden, deren exemplarische Analyse Gegenstand der vorliegenden Studie ist.

1.2Forschungsfragen und Aufbau der Arbeit

Das oben stehende Beispiel hat die wesentlichen Untersuchungsgegenstände dieser Arbeit bereits illustriert:

inhaltliche Strukturen (moves) der untersuchten Online-Beschwerden

Mittel interner und externer Modifikation

Referenzen der Beschwerdeführer1 auf das Unternehmen, andere und sich selbst

Strategien der Selbstdarstellung

Die theoretischen Grundlagen der Arbeit werden in einem Forschungsüberblick gelegt: zunächst zu (Im)politeness-Theorien, anschließend zur sprachwissenschaftlichen Beschwerdeforschung. Diese Reihenfolge ist darin begründet, dass die Beschwerdeforschung immer wieder Bezug auf (Im)politeness-Modelle genommen hat; die vorangehende Verortung dieser Modelle bietet daher eine gute Basis für das Verständnis der Beschwerdeforschung.

In Abschnitt 2 werden also (Im)politeness-Theorien vorgestellt, zu deren Diskussion die Ergebnisse dieser Arbeit einen Beitrag leisten sollen, neben der klassischen von BROWN/LEVINSON ([1978]1987) insbesondere drei postmoderne: relational work (u. a. LOCHER/WATTS 2005), rapport management (u. a. SPENCER-OATEY 2000a, b) und der genre approach (u. a. GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2012). Abschnitt 3 enthält einen Überblick über die sprachwissenschaftliche Beschwerdeforschung. Er zeigt die Vielfalt an existierenden Studien und welchen Einfluss Kommunikationssituation und Teilnehmerkonstellation auf die Ausgestaltung der Beschwerden haben können. Diese Studien bilden die Basis für die Analysekategorien, die ich für den empirischen Teil entwickelt habe; gleichzeitig werden die Ergebnisse dieser Arbeit vor ihrem Hintergrund diskutiert werden. In Abschnitt 4 werden Kommunikationssituation und Teilnehmerkonstellation der hier untersuchten Beschwerden im Detail erörtert. Dazu gehören auch die Besonderheiten von CvK: technologische Einflussfaktoren, z.B. der Post als Nachrichtenformat, Asynchronizität, die Möglichkeit zur Veröffentlichung von Links oder Bildern, ebenso wie soziale Einflussfaktoren, z.B. die öffentliche Zugänglichkeit der Posts, ihr Thema und in der Netiquette verankerte Normen (HERRING 2007).

Abschnitt 5 leitet zum empirischen Teil der Arbeit über: Er beschreibt zum einen die Erstellung des Korpus aus Kundenbeschwerden, das der quantitativen Auswertung zugrunde liegt; zum anderen werden Forschungsfragen und Methoden vorgestellt, wie sie sich aus dem zuvor geschilderten Forschungsdefizit und dem Untersuchungsgegenstand selbst heraus ergeben.

Die Abschnitte 6 bis 8 enthalten die Ergebnisse der empirischen Studie und leisten einen Beitrag zur Beschwerdeforschung. Die Analyse ist dabei sowohl qualitativer wie auch quantitativer Natur. Abschnitt 6 befasst sich mit dem inhaltlichen Aufbau der Beschwerdeposts, den moves. Dazu gehören auch Betrachtungen zur Reihenfolge der einzelnen moves sowie zum Direktheitsgrad der Beschwerde als Ganzes. Abschnitt 7 analysiert Mittel zur internen und externen Modifikation der Beschwerden. Studien haben gezeigt, dass Sprecher – abhängig von Faktoren wie dem Gewicht des Beschwerdegrunds, der Machtverteilung zwischen den Interaktionspartnern, aber auch ihrem sprachlich-kulturellen Hintergrund – verschiedene Verfahren der internen und externen Modifikation ihrer Beschwerden heranziehen. Auch CvK-spezifische Hervorhebungsverfahren werden hier berücksichtigt. In Abschnitt 8 werden Erkenntnisse aus den vorangegangenen Abschnitten sowie weitere Strategien im Hinblick auf die Selbstdarstellung des Beschwerdeführers ausgewertet. Außerdem werden die Referenzen auf Schreiber, Unternehmen und andere Kunden untersucht, um dem Untersuchungskontext Rechnung zu tragen: Denn die Beschwerden werden im öffentlichen Raum geäußert und können auch von Dritten rezipiert werden. Die Ergebnisse aus den Abschnitten 6 bis 8 werden am Ende jedes Abschnitts zusammengetragen und vor dem Hintergrund anderer sprachwissenschaftlicher Studien zu Beschwerden diskutiert. In Abschnitt 9 schließlich fasse ich die wichtigsten Ergebnisse aus dem empirischen Teil zusammen. Erst an dieser Stelle sollen sie vor dem Hintergrund der verschiedenen (Im)politeness-Modelle diskutiert werden. Während bei den theoretischen Grundlagen (Abschnitt 2 und 3) also zunächst die (Im)politeness-Modelle und anschließend die Beschwerdeforschung dargestellt wurden, ist die Reihenfolge im hinteren Teil der Arbeit naturgemäß umgekehrt: In den Abschnitten 6 bis 8 wird die sprachliche Gestaltung der Beschwerden im Detail dargestellt und diskutiert; welchen Beitrag diese empirischen Ergebnisse zu bestehenden (Im)politeness-Modellen leisten, kann erst abschließend hinterfragt werden.

Es folgen eine Zusammenschau der Ergebnisse des deutsch-italienischen Vergleichs sowie Desiderate.

2Forschungsüberblick I: (Im)politeness-Theorien

Die sprachliche Gestaltung von Beschwerden soll vor dem Hintergrund ausgewählter Politeness-Theorien erörtert werden. Aus der Zeit vor den postmodernen Theorien wird nur das einflussreiche Modell von BROWN/LEVINSON ([1978]1987) diskutiert (vgl. 2.1), wichtige Ansätze wie den von LEECH (1983) muss ich aus Platzgründen übergehen. Nachdem die prinzipiellen Unterschiede zwischen (im)politeness1 und (im)politeness2 erläutert wurden (vgl. 2.2), stelle ich verschiedene postmoderne Ansätze vor (vgl. 2.3). Im Speziellen wird dann die Bedeutung diskutiert, die Intention und (Un-)Angemessenheit (vgl. 2.4), computervermittelte Kommunikation (vgl. 2.5) sowie kulturelle Einflüsse (vgl. 2.6) für (im)politeness haben. In 2.7 arbeite ich die Positionierung der vorliegenden Studie heraus.

In dieser Arbeit ziehe ich in weiten Teilen englischsprachige Terminologie wie (im)politeness und face heran, wie sie auch in anderen Philologien aufgegriffen wurde.

2.1Politeness als Face-saving-Strategie: Kritik und Grenzen

Das bis heute sicher einflussreichste und bekannteste Höflichkeitsmodell ist das von BROWN/LEVINSON ([1978]1987). Eine zentrale Rolle spielen darin das Konzept des face in Anlehnung an GOFFMAN (1967), face-threatening acts (FTAs) und Höflichkeitsstrategien zu ihrer Abmilderung (mitigation). GOFFMAN (1967: 5) prägte das Konzept des face als „image of self“, „delineated in terms of approved social attributes“. Er definiert face als „[t]he positive social value a person effectively claims for himself by the line others assume he has taken during a particular contact“. Das Face-Konstrukt wird nach Goffman von anderen zugewiesen, in Abhängigkeit von den gesellschaftlichen Regeln und Normen auf der einen oder den spezifischen Kommunikationsbedingungen auf der anderen Seite.

BROWN/LEVINSON ([1978]1987: 61) erweitern GOFFMANS (1967) Face-Begriff, indem sie ihn in die zwei Kategorien negative face und positive face spalten. Unter negative face verstehen BROWN/LEVINSON ([1978]1987: 61) dabei „the basic claim to territories, personal preserves, rights to non-distraction – i. e. the freedom of action and freedom from imposition“, unter positive face „the positive consistent self-image or ‚personality‘ (crucially including the desire that this self-image be appreciated and approved of) claimed by interactants“. Diese beiden Aspekte stellen für sie die basic wants jedes Mitglieds einer Gemeinschaft dar (BROWN/LEVINSON [1978]1987: 62). Das Wissen jedes – rational und strategisch agierenden – Sprechers um ihre Universalität führt in ihrem Modell dazu, dass er ein Interesse daran hat, auch die face wants seines Gesprächspartners zumindest teilweise zu respektieren (BROWN/LEVINSON [1978]1987: 58).

Durch die Realisierung von Sprechakten aber laufen Sprecher Gefahr, das (positive oder negative) face des Hörers sowie ihr eigenes face zu beeinträchtigen, denn bestimmte Sprechakte wie Bitten und Vorschläge stellen zwangsläufig FTAs dar. Eine rational handelnde Person wird FTAs zu vermeiden oder wenigstens abzumildern suchen, indem sie zwischen der Notwendigkeit, (1) den Inhalt des FTA zu übermitteln, (2) effizient zu kommunizieren und (3) das face des Hörers zu wahren, abwägt (BROWN/LEVINSON [1978]1987: 68). Daraus ergeben sich für den Sprecher fünf Handlungsoptionen, von Strategie 1, der unmissverständlichen, direkten Äußerung (without redressive action, baldly), über Strategie 2 (with redressive action – positive), Strategie 3 (with redressive action – negative) und Strategie 4 (off record) bis hin zu Strategie 5, der gänzlichen Vermeidung des FTA (don’t do the FTA) (BROWN/LEVINSON [1978]1987: 68–71).

Die Entscheidung des Sprechers für eine bestimmte Strategie ist nach BROWN/LEVINSON ([1978]1987: 71) von a priori angestellten Überlegungen abhängig. In die Einschätzung des Risikos eines vermuteten Face-Verlusts fließen drei Variablen ein (BROWN/LEVINSON [1978]1987: 74): (1) die vom Sprecher wahrgenommene soziale Distanz (D) zwischen Sprecher (S) und Hörer (H), (2) die wahrgenommene relative Machtverteilung (P) zwischen S und H und (3) das wahrgenommene Ranking (Rx) des Gewichts, das der Beschwerdegrund innerhalb der jeweiligen Kultur hat (imposition) (BROWN/LEVINSON [1978]1987: 76). Je höher der Sprecher das Risiko für einen Face-Verlust einschätzt, eine desto weniger direkte und damit „höflichere“ der fünf Strategien wird er tendenziell wählen.

Kritisiert wurde BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) Modell insbesondere dafür, dass seine Autoren den Zweck von politeness ausschließlich in der Vermeidung von Konflikten sehen, indem sie von der oben genannten Idee ausgehen, dass Kommunikation aus rationalen Erwägungen heraus immer auf die Verbesserung und Stärkung zwischenmenschlicher Beziehungen abzielt. Problematisch scheint auch, dass BROWN/LEVINSON ([1978]1987) den Grad an Indirektheit einer Äußerung als positiv korreliert mit dem Grad an politeness sehen (HELD 1995: 78; LOCHER 2004: 68–69).

Die von BROWN/LEVINSON definierten Variablen P, D und Rx wurden zur Beschreibung von Kontext und herrschenden Normen als unzureichend angesehen (LOCHER 2004: 69). Schließlich ist auch die gänzliche Ausblendung des kommunikativen Kontextes, der interaktionalen und dynamischen Aspekte von Kommunikation Gegenstand der Kritik gewesen. Postmoderne oder „diskursive“ Höflichkeitstheorien stellen dagegen darauf ab, dass politeness nicht auf Satzebene definiert werden kann, sprachliche Formen also nicht inhärent (im)polite sein können. Der Komplexität des Kontextes und Aushandlungsprozessen zwischen den Teilnehmern tragen sie so stärker Rechnung.

Kritisiert wurde auch, dass BROWN/LEVINSON ([1978]1987) Kommunikation als prinzipiell rational und objektivierbar beschreiben, sich auf (vom Hörer rekonstruierte) Sprecherintentionen konzentrieren, Äußerungen als monofunktional und von einem einzelnen Sprecher an einen einzelnen Adressaten gerichtet ansehen und sich auf die Untersuchung von Lexik und Grammatik beschränken. Damit kommt dem face des Sprechers in der Theorie BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) – in Anbetracht seiner zentralen Bedeutung – generell eine zu geringe Rolle zu (u. a. HELD 1995: 78). SCHRADER-KNIFFKI (2014: 377–378) kritisiert eine daraus resultierende Konzentration auch von Folgestudien auf das face des Adressaten: politeness werde dort vielfach, insbesondere in der spanischsprachigen Tradition, nicht als „self-directed behaviour“, sondern insbesondere als „benefit of face work for ALTER“ definiert.

Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund wurde der Face-Begriff in der Forschung vielfach weiterentwickelt. Für den Kontext dieser Studie besonders interessant ist CHEN (2001), der die Konzepte des self-face und der self-politeness vorschlägt – und diese der other-politeness gegenüberstellt, denn: „the face of the speaker […] is as vulnerable as the face of the hearer […]“ (CHEN 2001: 89). Ausgehend von BROWN/LEVINSON ([1978]1987) entwickelt CHEN (2001) ergänzende Superstrategien, die ein Sprecher zum Schutz seines self-face einsetzt. Dabei bezieht sich das self-face nicht nur auf das face des Individuums, sondern auch auf dieses umgebende Menschen und/oder auf Merkmale wie die eigene Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf oder die eigene Expertise in einem Fachgebiet; das Gleiche gilt für other-face. Die wenigsten Sprechakte lassen sich allerdings ausschließlich dem Schutz des self-face oder dem Schutz des other-face zuordnen; für eine korrekte Verortung und Gewichtung des Ziels, das der Sprecher mit ihnen verfolgt, ist insbesondere die Berücksichtigung ihres Kontexts entscheidend.

2.2(Im)politeness1 und (im)politeness2

Aus der Kritik an dem soeben skizzierten Höflichkeitsmodell von BROWN/LEVINSON ([1978]1987) heraus prägte EELEN (2001: 30 ff.) die Unterscheidung zwischen (im)politeness1 und (im)politeness2. Die beiden Konzepte unterscheiden sich hinsichtlich des eingenommenen Standpunktes: Während Second-Order-Ansätze (politeness2) Theorien entwickeln, um (im)politeness an formalen, möglichst objektivierbaren Merkmalen/Kriterien festzumachen, und damit zu wissenschaftlichen Konzepten von (im)politeness führen, basieren First-Order-Ansätze (politeness1), wie EELEN (2001) sie vorschlägt, auf dem Urteil der Beteiligten – und damit sprachwissenschaftlicher Laien – selbst. Während Politeness2-Ansätze in erster Linie versuchen, aus einer Äußerung Rückschlüsse auf die Intention des Sprechers abzuleiten, legen Politeness1-Ansätze das Hauptgewicht auf die Beurteilung einer Äußerung durch den Adressaten und messen der Intention des Sprechers eine untergeordnete Rolle bei. Dabei wird die Wahrnehmung des Adressaten als prinzipiell unabhängig von der Intention des Sprechers betrachtet (LOCHER/WATTS 2008: 80): Sprecher und Hörer können ein und dieselbe Äußerung unterschiedlich interpretieren.

Mit der Abkehr von einer Sicht, die Äußerungen als inhärent (im)polite begreift, verändert sich allerdings das Selbstverständnis des Forschers deutlich: Wenn den Urteilen der Interaktanten die größte Bedeutung beigemessen wird, erfährt die Rolle des Forschers in gewisser Weise eine Abwertung (MILLS 2011: 45) oder wird gar überflüssig (HOLMES 2005: 115). Von anderen Forschern wird der Politeness1-Ansatz aus diesem Grunde kritisiert: So hält TERKOURAFI (2005: 245) es für bedauerlich, dass es Forschern unmöglich werde, Verallgemeinerungen über (im)politeness zu treffen: „But an a priori denial of the possibility of prediction amounts to denying the possibility of theorizing about politeness at any level (even at the level of participants’ folk theories about politeness)“ – auf diese Weise aber verharrten die Forscher in der Beschreibung, ohne Erklärungen geben zu können.

Während Politeness2-Ansätze dafür kritisiert werden, Äußerungen losgelöst von ihrem Kontext als inhärent polite oder impolite zu beurteilen, sehen sich Vertreter des Politeness1-Ansatzes vor die Schwierigkeit gestellt, dass Urteile der Interaktionspartner oft nur schwer zugänglich sind. Analysen, die einen first order approach sensu stricto verfolgen, laufen damit Gefahr, dass sich umfassendere Muster und Dynamiken nicht abzeichnen (SIFIANOU/TZANNE 2010: 664). Beispielsweise weichen LOCHER/WATTS (2008: 95) mangels expliziter Wertungen wie impolite oder aggressive in der Analyse eines Fernsehinterviews auf affektive Reaktionen wie „for God’s sake let me answer“ oder Anschuldigungen wie „you interrupted me once“ aus; auch nonverbale Äußerungen der Interaktionsteilnehmer wie Gestik, Mimik und Körperhaltung können ihrer Auffassung nach in die Analyse einbezogen werden. Eine andere Möglichkeit sehen sie darin, das Fernsehpublikum nach seinen Beobachtungen zu fragen; die nachträgliche Erhebung von Einschätzungen Außenstehender sei allerdings problematisch, da es zu Diskrepanzen zwischen den Einschätzungen während und nach der Sendung kommen könne. In Studien, die dem Politeness1-Ansatz folgen, wird heute häufiger auf eigens zu diesem Zweck erhobene Daten, beispielsweise aus Tagebüchern, Fragebögen oder Fokusgruppen, zurückgegriffen als auf natürlich auftretende (Beispiele bei GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2012: 65).

Die meist zu geringe Verfügbarkeit von Politeness1-Daten hat zueiner Reihe neuerer Ansätze geführt, die den Politeness2- mit einer dem Politeness1-Ansatz entstammenden diskursiven Perspektive zu kombinieren versuchen. Eine Reihe postmoderner Politeness2-Ansätze zieht also zusätzlich, soweit verfügbar, auch Einschätzungen der Interaktanten selbst oder andere Kontextinformationen heran, die zu einer Interpretation der Daten beitragen können.

Bei aller wechselseitiger Kritik konstatiert CULPEPER (2010: 3234–3235), dass Vertreter des (Im)politeness1- wie auch Vertreter des (Im)politeness2-Ansatzes dazu tendierten, die Positionen der jeweils anderen Seite – zu Unrecht – zu verabsolutieren. Auch EELEN (2001: 30) merkt an, dass die Unterscheidung zwischen beiden Ausrichtungen in keinem Fall leicht zu treffen sei.

2.3Postmoderne Ansätze: relational work, rapport management, genre approach

Als postmoderne Ansätze sollen im Folgenden relational work (u. a. LOCHER/WATTS 2005), rapport management (u. a. SPENCER-OATEY 2000a, b) und genre approach (u. a. GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2012) in ihren Grundzügen besprochen werden. Relational work und rapport management lassen sich als Politeness1-Ansätze verorten, während GARCÉS-CONEJOS BLITVICHS genre approach eine Annäherung der beiden Perspektiven anstrebt. Dabei sollen im Mittelpunkt der Vorstellung insbesondere die Bedeutung von face und Beziehungsorientierung (relational work/facework/rapport management) stehen; im darauf folgenden Abschnitt 2.4 wird es um die Frage von Intention und (Un-)Angemessenheit (appropriateness) gehen, die gleichfalls vor dem Hintergrund aller drei Modelle diskutiert wird.

2.3.1Relational work (LOCHER/WATTS)

Mit dem Ansatz der relational work tragen Locher und Watts (LOCHER/WATTS 2005, 2008; WATTS 2005; LOCHER 2006) der Politeness1-Perspektive Rechnung: Äußerungen werden nicht mehr in Isolation analysiert, sondern in ihrem Kontext verortet; die Interpretation von Äußerungen durch die Teilnehmer selbst rückt in den Fokus. Gleichzeitig wird Äußerungen jeder Art neben ihrem eigentlichen Informationsgehalt auch ein Beitrag zur Gestaltung sozialer Beziehungen zugeschrieben (LOCHER/WATTS 2008: 78).

Unter relational work verstehen die Autoren „the ,work‘ individuals invest in negotiating relationships with others“ (LOCHER/WATTS 2005: 10). Damit setzen sie sich begrifflich bewusst von BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) Konzept von face und facework ab, indem sie sich dem oben dargestellten Face-Begriff GOFFMANS (1967) wieder annähern. Während sie bei GOFFMAN (1967) die soziale Seite und bei BROWN/LEVINSON ([1978]1987) die kognitive Seite von face im Vordergrund sehen, suchen LOCHER/WATTS (2008: 96) die beiden Perspektiven zu integrieren:

Relational work understands face as combining the two, in that what an individual develops as his/her continual construction of self depends on social interaction, and social interaction takes place between individuals.

Gleichzeitig wollen LOCHER/WATTS (2005: 11) mit der Prägung des Begriffs der relational work die Abkehr von BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) facework verdeutlichen, die insbesondere mit der Abmilderung von FTAs assoziiert werde:

Following Goffman we argue that any interpersonal interaction involves the participants in the negotiation of face. The term „facework“, therefore, should also span the entire breadth of interpersonal meaning. This, however, is rarely the case in the literature. Especially in accordance with Brown and Levinson’s Politeness Theory, „facework“ has been largely reserved to describe only appropriate and polite behavior with a focus on face-threat mitigation, at the exclusion of rude, impolite and inappropriate behavior. To avoid confusion and in favor of clarity we adopt „relational work“ as our preferred terminology […].

Damit umfasst relational work nicht nur Äußerungen, die als polite aufzufassen sind, sondern ein kontinuierliches Spektrum an Verhaltensweisen, die zwischen den Polen polite, appropriate, inappropriate und impolite angesiedelt sind.

Abbildung 1:

Relational work (WATTS 2005: xliii)

Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, fragt der Ansatz der relational work danach, ob Verhalten markiert ist oder nicht. Als markiert gilt unangemessenes (inappropriate) Verhalten. Unmarkiertes Verhalten dagegen ist in einer spezifischen Kommunikationssituation als politic/appropriate zu beurteilen. Als polite oder impolite beschriebenes Verhalten ist solches, das im Gegensatz hierzu nicht den Erwartungen entspricht. Als appropriate behavior kann aber nicht nur unmarkiertes, sondern auch positiv markiertes Verhalten gelten, das wahrscheinlich als polite wahrgenommen wird. Dass die Unterscheidung zwischen unmarked behavior auf der einen und positively/negatively marked behavior auf der anderen Seite nicht trennscharf sein kann, wird in Abbildung 1 mittels einer gestrichelten Linie verdeutlicht.

In der unteren Hälfte von Abbildung 1 finden sich die verschiedenen Ausprägungen von negatively marked behavior. Hierzu zählen impolite, rude und over-polite behavior. Die Darstellung mit den beiden einander in Pfeilform berührenden Enden des Spektrums verdeutlicht, dass die Wahrnehmung von rude und over-polite behavior als sehr ähnlich gesehen wird (WATTS 2005: xliv). Dabei wird von over-politeness ausgegangen, wenn der Grad an politeness die Grenze der appropriateness überschreitet. Wie in allen anderen Fällen obliegt die Entscheidung hierüber dem Hörer.

Das Kriterium der Angemessenheit (appropriateness) einer Äußerung in Bezug auf Normen, die in einer bestimmten Situation gültig sind, spielt damit eine wichtige Rolle im Konzept der relational work. LOCHER/WATTS (2008: 81) fassen diese Normen als „expectation frames“ auf.

Besonderes Augenmerk richtet der Ansatz der relational work auch auf die Machtverhältnisse zwischen Interaktionspartnern und die Ausübung von Macht in Interaktionen. Macht wird dabei als eng verbunden mit der Wahrnehmung von impoliteness gesehen (LOCHER/WATTS 2008: 86). Während die Machtverhältnisse bei BROWN/LEVINSON ([1978]1987: 77) als Variable P in die Formel zur Berechnung des Gewichts eines FTA einfließen und damit als statisch und gegeben angenommene Wahrnehmungen beschreiben, begreifen postmoderne Theorien Machtverhältnisse als dynamisch.

In ihrer Studie zu einer Online-Ratgeberkolumne operationalisiert LOCHER (2006: 115 ff.) den Ansatz der relational work, indem sie auf der einen Seite discursive moves (wie explanation, problem statement, question, thanks), auf der anderen Seite parallel hierzu Strategien von relational work ansetzt.1 Die kommunikativen Strategien der relational work ordnet LOCHER (2006: 116) dabei in die drei Oberkategorien face-threatening, face-saving und involvement strategies ein und grenzt sich so von „bewertenden“ Kategorien wie over-polite, polite, impolite, rude oder politic (WATTS 2005) ab. Bonding sieht sie als involvement strategy, hedging als face-saving strategy, boosting und criticizing als face-threatening strategies. Dabei sind die beiden Kategorien – discursive moves und relational work – selbstverständlich nicht als trennscharf zu betrachten. So stellt LOCHER (2006: 214) in Bezug auf ihre Unterteilung fest, dass beispielsweise die discursive moves apologies und thanks als hedging devices zu werten sind; der move complimenting dagegen als bonding.

2.3.2Rapport management (SPENCER-OATEY)

Auch SPENCER-OATEY (u. a. 2000a, b, 2005, 2007, 2009, 2011) geht von einer Politeness1-Perspektive aus, indem sie (im)politeness definiert als „an evaluative label that people attach to behavior, as a result of their subjective judgments about social appropriateness“ (SPENCER-OATEY 2005: 97). Sie betont die doppelte Funktion sprachlicher Äußerungen: zum einen zur Informationsübermittlung, zum anderen zum Management sozialer Beziehungen (SPENCER-OATEY 2008: 12); es ist letzterer Aspekt, den sie in ihrem Modell abzubilden versucht.

Dabei definiert SPENCER-OATEY (2002: 540) als ihren Untersuchungsgegenstand nicht, wie andere Höflichkeitstheorien, nur (un)höflichen Sprachgebrauch, sondern Beziehungsmanagement – rapport management – im Allgemeinen. Ihr gleichnamiger Ansatz trägt den Ergebnissen einer von ihr durchgeführten Studie Rechnung, in der sie Probanden nach rapport sensitive incidents befragt hatte, nach Vorkommnissen aus sozialen Interaktionen also, die ihnen im Hinblick auf die Beziehung zum Interaktionspartner positiv oder negativ in Erinnerung geblieben sind (SPENCER-OATEY 2002). Die Probanden schilderten dort nicht nur Beispiele aus Gesprächen, sondern für Verhalten im Allgemeinen. SPENCER-OATEY (2005: 530) untersucht rapport management insbesondere aus sozialpsychologischer Perspektive und fragt daher nach den zugrunde liegenden Motiven der Interaktanten. Der Begriff des rapport management ist umfassender als der der facework: Neben dem management of face spielen in SPENCER-OATEYS Modell auch das management of sociality rights and obligations und das – erstmals in SPENCER-OATEY (2005) zusätzlich eingeführte – management of interactional goals eine entscheidende Rolle. Die drei Kategorien sind in ihrem Modell durch drei Kreise symbolisiert (vgl. Abbildung 2).

Abbildung 2:

Rapport management (SPENCER-OATEY 2008: 14) (Grafik außen ergänzt um zugehörige Kategorien)

SPENCER-OATEY (2008: 13) greift für die erste ihrer drei Kategorien auf GOFFMANS Definition von face zurück: „[t]he positive social value a person effectively claims for himself by the line others assume he has taken during a particular contact“ (GOFFMAN 1967: 5, vgl. 2.1; Hervorhebung M. K.). Damit überwindet sie BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) vielfach kritisierte Fokussierung auf das persönliche oder individuelle face (SPENCER-OATEY 2000b: 15, 2007: 646), indem sie auch seinen sozialen Aspekt, also die Identität der Interaktanten innerhalb einer Gruppe, berücksichtigt. Hierzu unterscheidet sie drei Aspekte von face: quality face entspricht dem Wunsch, dass die eigenen Eigenschaften wie Fähigkeiten und Erscheinungsbild von anderen positiv bewertet werden, und kommt damit dem Konzept des positive face bei BROWN/LEVINSON ([1978]1987) nahe (SPENCER-OATEY 2002: 541). Das (social) identity face dagegen bezieht sich auf eine Gruppe und bezeichnet den Wunsch, in einer sozialen Rolle (z.B. als enger Freund oder geschätzter Kunde) respektiert zu werden (SPENCER-OATEY 2000b: 14, 2002: 541). Später fügt SPENCER-OATEY (2007, 2008) noch das relational face hinzu; unter relational versteht sie „the relationship between the participants (e. g., distance-closeness, equality-inequality, perceptions of role rights, and obligations), and the ways in which this relationship is managed or negotiated“ (SPENCER-OATEY 2007: 647; Hervorhebung M. K.). Das relational face habe ich in Abbildung 2 eingeklammert: Wie CULPEPER ET AL. (2010: 610) halte ich die Kategorie in dieser Definition für nicht zielführend, da sie den Verweis auf Rechte und Pflichten beinhaltet, die bereits in der – nachfolgend beschriebenen – Kategorie der sociality rights einzuordnen sind.

Sociality rights – als zweite Kategorie – lassen sich in equity rights und association rights unterteilen. Erstere beschreiben den Wunsch von Interaktanten, fair behandelt zu werden: „in other words, that we are not unduly imposed upon, that we are not unfairly ordered about, and that we are not taken advantage of or exploited“ (SPENCER-OATEY 2000b: 14; ähnlich auch bei SPENCER-OATEY 2005: 100). Als entscheidend hierfür sieht SPENCER-OATEY (u. a. 2005: 100) Kosten-Nutzen-Kalküle, Gerechtigkeit und Reziprozität sowie Autonomiekontrolle an. Damit entspricht SPENCER-OATEYS (2005) Definition der equity rights teils BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) Definition des negative face, geht aber – beispielsweise mit den Kosten-Nutzen-Kalkülen – darüber hinaus (SPENCER-OATEY 2002: 541). Die association rights stehen den equity rights gegenüber, die dem jeweiligen Verhältnis zueinander angemessene Beziehungen mit anderen Menschen betreffen. Hierzu zählen, auf andere Menschen gerichtet: (1) involvement, also eine angemessene Menge und Art von Aktivitäten, (2) empathy, also Gefühle und Interessen, sowie (3) respect (SPENCER-OATEY 2005: 100).

Sowohl face management wie auch management of sociality rights beinhalten damit auf der einen Seite eine persönliche Komponente (quality face bzw. equity rights) und auf der anderen Seite eine soziale Komponente (identity face bzw. association rights) (SPENCER-OATEY 2000b: 15, 2002: 541).

Mit der dritten Kategorie, interactional goals, bezeichnet SPENCER-OATEY (2005: 107) Ziele, die Sprecher in ihrer Interaktion vor Augen haben. Dabei lasse sich prinzipiell unterscheiden zwischen transactional goals, die auf die Erfüllung einer bestimmten Aufgabe abzielen, und relational goals, die auf der Beziehungsebene angesiedelt sind. Verknüpfungen zwischen beiden Arten von Zielen seien möglich: So könne ein transactional goal vom Erreichen eines relational goal abhängen und das rapport management dahingehend strategisch angelegt sein. Umgekehrt könne ein transactional goal aufgrund seiner Dringlichkeit aber auch die Oberhand über potenzielle relational goals gewinnen (SPENCER-OATEY 2005: 107–108).

Unter Berücksichtigung aller drei Kategorien könne eine Bedrohung für eine harmonische Beziehung zwischen zwei Personen daher nicht nur in face-threatening behaviour, sondern auch in rights-threatening/obligation-omission behaviour und goal-threatening behaviour begründet sein (SPENCER-OATEY 2008: 17).

Für den Kontext der vorliegenden Daten ist SPENCER-OATEYS Ansatz des rapport management auch deshalb von großem Interesse, weil er (wie oben illustriert) den möglichen Einfluss berücksichtigt, den andere Teilnehmer an der Kommunikationssituation auf die Kundenbeschwerden haben können. Dieser wird zudem gewichtet: Die zugrunde liegenden Normen seien „number-sensitive“ (SPENCER-OATEY 2000b: 35, 2008: 36), würden also von der Zahl der anwesenden/zuhörenden/mitlesenden Personen beeinflusst; eine vor einem größeren Publikum geäußerte Kritik sei in vielen Kulturen in höherem Maße face-threatening.

Daneben erkennt SPENCER-OATEY (2009: 137) auch dem Sprecher-face eine entscheidende Rolle zu, dessen Vernachlässigung in BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) Höflichkeitstheorie kritisiert worden war:

I argue that a speaker’s own face concerns may emerge as crucially important in authentic interaction, and that a speaker’s self-presentational concerns thus need to be incorporated into the study of face and given equal weighting to those of the hearer.

Wie LOCHERS/WATTS’ (2005: 11) Konzept der relational work „the entire breadth of interpersonal meaning“ umfasst, so berücksichtigt auch SPENCER-OATEYS (2005: 96) Konzept des rapport management nicht nur „behavior that enhances or maintains smooth relations, but any kind of behavior that has an impact on rapport, whether positive, negative, or neutral“. SPENCER-OATEY (2000b: 29–32, 2008: 31–33) beschreibt vier Typen möglicher Beziehungsorientierung:

Rapport enhancement orientation: a desire to strengthen or enhance harmonious relations between interlocutors;

Rapport maintenance orientation: a desire to maintain or protect harmonious relations between interlocutors;

Rapport neglect orientation: a lack of concern or interest in the quality of relations between the interlocutors (perhaps because of a focus on self);

Rapport challenge orientation: a desire to challenge or impair harmonious relations between the interlocutors.

FTAs und impoliteness verbindet SPENCER-OATEY (2008: 33) mit den beiden letztgenannten Ausrichtungen: Wenn Interaktanten keinen großen Wert auf eine harmonische Beziehung legten, könne es leicht zu FTAs und impoliteness kommen. Dabei sei es möglich, dass sich die Orientierung eines Sprechers innerhalb einer Interaktion oder von einer Interaktion zur anderen verändere; ihr könnten jeweils verschiedene Motive zugrunde liegen (u. a. SPENCER-OATEY 2005: 96).

Zudem beeinflusse die spezifische Art der Kommunikation die Strategien des rapport management: SPENCER-OATEY (2000b: 37) spricht in diesem Zusammenhang von communicative genres wie beispielsweise Vorlesungen, Vorstellungsgesprächen oder Gerichtsverhandlungen, die – in Abhängigkeit von kulturell spezifischen Konventionen – zu charakteristischen Ausprägungen in allen Bereichen des rapport management führen könnten. Der Begriff des genre spielt auch in GARCÉS-CONEJOS BLITVICHS genre approach eine entscheidende Rolle, um den es im folgenden Abschnitt geht.

2.3.3Genre approach (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH)

Ein Versuch, die Trennung zwischen Politeness1- und Politeness2-Ansätzen aufzuheben, ist der genre approach von GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010a, b, 2012). GARCÉS-CONEJOS BLITVICH sucht dabei Beschränkungen früherer Ansätze zu überwinden, die sie insbesondere in deren ausgeprägter „dyadic, face-to-face, interpersonal orientation“ ausmacht. In dem von ihr entwickelten Genre-Ansatz sieht sie deutliche Vorteile für die Beschreibung hiervon abweichender Arten von Interaktion: „Genres can account easily for polylogal, mediated, intergroup communication“ (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2012: 68).

In ihrer Auffassung von genre lehnt sich GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010a: 57) an SWALES’ (1990: 58) weiter unten (3.1.1) zu besprechende Definition „a class of communicative events, the members of which share some set of communicative purposes“ an. Außerdem baut sie auf FAIRCLOUGH (2003: 69) auf, der beschreibt, wie Interaktionen sich Ressourcen bedienen, die ein bestimmtes genre einer community zur Verfügung stellt. Grundlegend für ihre Überlegungen ist die Unterscheidung zwischen „interpersonal“ und „intergroup communication“ (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2010a: 54):

If I engage in conversation with a friend, I am engaging in interpersonal communication. When one of my students comes to see me as the instructor of one of her courses, intergroup communication ensues. Belonging to certain groups, performing certain roles is part of social identity.

Damit eignet sich ihr Ansatz auch für das vorliegende Korpus.

 

Die Unterscheidung nach genres (die sich in ihrem Grad an Stabilität bzw. Variabilität unterscheiden können) hält GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010a: 61) für zentral. Dies gilt auch im Hinblick auf die Analyse von (im)politeness, die sie dabei jeweils als Abweichung von dem für ein spezifisches genre üblichen Verhalten sieht – ähnlich wie LOCHER/WATTS (2008: 81) sie als Abweichung von einem „expectation frame“ beschreiben (vgl. 2.3.1). Impoliteness liegt danach vor, „when face-threatening behaviour goes beyond the genre-established limits of what is acceptable as the normal course of events“ (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2010a: 63).

Der Bezug auf FAIRCLOUGHS (2003) Modell erlaubt es, Top-down-(Politeness2-) und Bottom-up-(Politeness1-)Ansätze miteinander zu kombinieren. Als Top-down-Prozesse können Erwartungen und Normen angesehen werden, die in der tatsächlichen Interaktion angenommen oder zurückgewiesen und verändert werden können; sie lassen sich durch Analysen herausarbeiten. Dabei wird eine Top-down-Perspektive umso eher möglich sein, je höher der Grad an Institutionalisierung des jeweiligen genre ist; im anderen Fall gewinne die Bottom-up-Perspektive an Bedeutung, z.B. bei „nicht institutionellen“, gewöhnlichen Unterhaltungen (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2010a: 60).

GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010a, 2013) bezieht in die Analyse einer gleich zu besprechenden Fallstudie beispielsweise (als Bottom-up-Ansatz zu verstehende) Impoliteness1-Bewertungen in Form von YouTube-Kommentaren ein. Sie ist zudem der Auffassung, im Falle von Rundfunk- und Fernsehsendungen sei aus genre-theoretischer Perspektive der Forscher, verstanden als Teil des overhearing audience, den Teilnehmern an der Kommunikationssituation zuzurechnen; unter dieser Prämisse könnten auch seine Wahrnehmungen als politeness1 verstanden werden (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2010a: 60).

Wie schon von FAIRCLOUGH (2003) betont, kann ein genre die Kommunikation zwischen Individuen, zwischen Individuen und Institutionen oder von Institutionen untereinander bezeichnen. GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2012) verdeutlicht ihren Genre-Ansatz am Beispiel der Kommentare zu einem YouTube-Video, das zeigt, wie der US-amerikanische Präsident Obama von einem politischen Gegner, dem Kongressabgeordneten Joe Wilson, der Lügerei bezichtigt wird. Sie zeigt auf, dass Obama in diesem Kontext nicht als Persönlichkeit mit individuellen Face-Bedürfnissen, sondern als Präsident der Vereinigten Staaten wahrgenommen wird, dessen Face-Bedürfnisse sich aus seinem Amt ableiten. In gleicher Weise reagieren die Verfasser der Kommentare aus ihrer jeweiligen gesellschaftlichen oder institutionellen Rolle heraus – als Bürger, Wähler, Republikaner, Demokraten etc. (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2012: 72). Wie auch SPENCER-OATEY (2002) unterscheidet GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2012: 67) hier zwischen individual und social face.

In polylogischen Kommunikationssituationen kann (im)politeness auch zur Bildung von Koalitionen dienen. So zeigt GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010a: 62) auf, dass ein und dieselbe sprachliche Äußerung unterschiedliche Auswirkungen auf zwei verschiedene Teilnehmergruppen an einer Interaktion haben kann; diese Auswirkungen können von einem Sprecher auch absichtlich herbeigeführt werden:

This face-maintaining/enhancing behavior towards some participants, in the case of polylogues, can be the result of face-attack towards other participants involved, in an attempt by the speaker to create a coalition, an us versus them type of situation […].

Damit knüpft GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010a: 62) an Überlegungen KIENPOINTNERS (1997) an, wonach Teilnehmer an einer Interaktion diese in unterschiedlicher Weise – als polite oder impolite – bewerten können. GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2012: 72) illustriert ihre Theorie anhand des bereits genannten YouTube-Videos: Die Diskussionen zeigen, dass eine Mehrheit der Teilnehmer den Vorwurf unterstützt – offenbar rechtfertigt Obamas „Vertragsbruch“ mit den Bürgern des Landes den Vorwurf der Lüge: „Even if JW’s [= Joe Wilson’s, M. K.] outburst was not appropriate, it was not comparable to lying to the American people“ (GARCÉS-CONEJOS BLITVICH 2012: 76). Der Hinweis auf die Lüge könne als höflich gegenüber den Bürgern, wenn auch unhöflich gegenüber dem Präsidenten und seiner Institution bewertet werden. Auf Basis dieser Überlegungen kommt GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2012: 84) zu dem Schluss, dass impoliteness neu zu bewerten ist:

[…] impoliteness needs to be reevaluated, and not seen necessarily as a negatively marked behaviour (cf. Locher and Watts 2005) but as positively marked when its ultimate goal is the amendment of social wrongs, the unveiling of the truth, etc.

Im Zuge einer solchen Neubewertung sieht GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2009: 276) impoliteness daher als „constitutive rather than disruptive of social life“.

GARCÉS-CONEJOS BLITVICHS Genre-Ansatz scheint für das vorliegende Korpus aus Kundenbeschwerden von großem Interesse: Kundenbeschwerden erfüllen ihre Kriterien für ein genre und stehen so neben anderen genres wie Lob oder Fragen, für die mit GARCÉS-CONEJOS BLITVICH in Bezug auf (im)politeness andere Maßstäbe angenommen werden können. Es handelt sich um eine Form institutioneller Kommunikation, sodass eine hohe Dichte gleichförmiger Texte zu erwarten ist, aus denen sich Muster ablesen lassen. Schließlich ist die Teilnehmerkonstellation auf Facebook als „polylogisch“ zu beschreiben: Neben den Unternehmensmitarbeitern sind auch andere Personen Rezipienten der Beschwerde.

2.4Impoliteness: Intention und (Un-)Angemessenheit

Aus dem Blickwinkel der bereits genannten Ansätze, die im Hinblick sowohl auf politeness wie impoliteness vorgestellt wurden, sollen im Folgenden noch einmal einige spezielle Betrachtungen zum Thema impoliteness zusammengetragen und diskutiert werden.

Im Vergleich zu sprachwissenschaftlichen Studien zu politeness sind Studien, die sich speziell mit impoliteness beschäftigen, bis heute vergleichsweise selten. Erst in jüngerer Zeit ist eine nennenswerte Zahl von Veröffentlichungen zu verzeichnen; ein Überblick über die impoliteness-Forschung findet sich bei GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010b) und DYNEL (2015). Diese lange Forschungslücke ist umso erstaunlicher, als dass – in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext – konfliktäre Kommunikation durchaus kein randständiges Phänomen sein muss, auch wenn politeness formulae wie bitte und danke im Vergleich noch wesentlich häufiger eingesetzt werden (CULPEPER 2010: 3238). Von der Forschung wurden als Kontexte, in denen impoliteness eine große Rolle spielt, beispielsweise Situationen wie die Ausbildung beim Militär, Interaktionen zwischen Autobesitzern und Verkehrspolizisten, bestimmte Fernsehsendungen oder Arzt-Patienten-Gespräche angeführt (cf. CULPEPER 1996, 2010: 3238; CULPEPER ET AL. 2003: 1545–1546; BOUSFIELD 2008a).

Während in klassischen Politeness-Theorien wie BROWN/LEVINSON ([1978]1987), LAKOFF (1973) und LEECH (1983) impoliteness als ein Unterlassen (beispielsweise der Abmilderung von FTAs) erscheint, sehen neuere Studien sie als zielgerichtete sprachliche Handlung (BEEBE 1995; EELEN 2001: 98–100).

Erste einschlägige Studien stammen z.B. von LACHENICHT (1980) und CULPEPER (1996). Sie sind noch stark dem klassischen Ansatz von BROWN/LEVINSON ([1978]1987) verpflichtet und damit dem (Im)politeness2-Ansatz zuzurechnen. So schlägt CULPEPER (1996, erweitert 2005) ein fünf Punkte umfassendes Modell vor, das als „offensive superstrategies“ bald-on-record impoliteness, positive impoliteness, negative impoliteness, sarcasm/mock politeness1 und withhold politeness umfasst. Die Parallelen zu BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) Politeness-Strategien sind schon in der Terminologie offensichtlich. Zu den positive impoliteness output strategies zählt CULPEPER (1996: 357–358) beispielsweise „seek disagreement“ und „use taboo words“, zu den negative impoliteness output strategies „personalise, use the pronoun ‚I‘ and ,you‘“. Basierend auf den Überlegungen BROWNS/LEVINSONS ([1978]1987) sieht CULPEPER (1996: 354) ungleiche Machtverhältnisse zwischen Sprecher und Hörer als Rahmenbedingung, die unhöfliches und damit unkooperatives Verhalten begünstigt. Demzufolge legt in diesen Fällen der in der höheren Machtposition befindliche Gesprächspartner unhöfliches Verhalten an den Tag, während sich der Gesprächspartner in der schwächeren Position zu höflichem Handeln gezwungen sieht, um möglichen Sanktionen vorzubeugen (CULPEPER 1996: 354–345).

Die einschlägigen Kritikpunkte an BROWN/LEVINSON ([1978]1987) gelten im Wesentlichen auch für CULPEPERS (1996) Modell, das von BOUSFIELD (2008a, b) weiterentwickelt wurde. Aber auch CULPEPER ET AL. (2003: 1546–1548) halten die Klassifikation später für unzureichend: „One limitation of Culpeper (1996) is that it is focussed rather too narrowly on single impoliteness strategies, usually made up of particular grammatical or lexical items.“ In seiner Überarbeitung des Modells zieht CULPEPER (2011) auch das Modell des rapport management von SPENCER-OATEY (u. a. 2000a, b) heran. Exemplarisch für viele weitere sei im Folgenden seine Arbeitsdefinition von impoliteness wiedergegeben (CULPEPER 2011: 23; Hervorhebung M. K.):

Impoliteness is a negative attitude towards specific behaviours occurring in specific contexts. It is sustained by expectations, desires and/or beliefs about social organisation, including, in particular, how one person’s or a group’s identities are mediated by others in interaction. Situated behaviours are viewed negatively – considered ,impolite‘ – when they conflict with how one expects them to be, how one wants them to be and/or how one thinks they ought to be. Such behaviours always have or are presumed to have emotional consequences for at least one participant, that is, they cause or are presumed to cause offence. Various factors can exacerbate how offensive an impolite behaviour is taken to be, including for example whether one understands a behaviour to be strongly intentional or not.

Statt von face spricht CULPEPER (2011: 23) hier von identity; dabei spiegelt sich in seiner Unterscheidung zwischen „one person’s or a group’s identities“ deutlich der Einfluss von SPENCER-OATEY (u. a. 2000a, b) mit ihrer Einteilung in quality face und social identity face (vgl. 2.3.2). Zentrale Aspekte seiner Definition sind außerdem Überlegungen zu Intention und (Un-)Angemessenheit, wie ich sie im Zitat hervorgehoben habe. Postmoderne Ansätze wie die im vorigen Abschnitt diskutierten – relational work, rapport management und genre approach – haben in vielerlei Hinsicht neues Licht auf die Erforschung von impoliteness geworfen. In den folgenden beiden Abschnitten gehe ich insbesondere vor dem Hintergrund dieser Ansätze auf die Rolle von Intention und (Un-)Angemessenheit für impoliteness ein.

2.4.1Impoliteness und Intention

Wie in CULPEPERS (2011: 23) oben stehender Definition, so findet die Frage nach der Intention des Sprechers in den meisten Studien ihren Niederschlag. Noch CULPEPER (2005) beschreibt in seiner Definition beide Seiten: die Intention des Sprechers und die Wahrnehmung des Hörers; auch eine Seite allein könne bereits als ausschlaggebend für das Vorliegen von impoliteness angenommen werden. In Politeness1-Ansätzen wie dem von LOCHER/WATTS (2008: 80) steht dagegen gerade nicht die Intention des Sprechers, sondern die Wahrnehmung der Gesprächspartner im Vordergrund. CULPEPER (2008: 32) wendet allerdings ein, Urteile der Rezipienten bezögen sich oft gerade auf die (vermeintlichen) Intentionen der Sprecher:

Thus, I would argue that „interactants’ judgements“ are not mutually exclusive with intentions: people make use of understandings of intentions in their judgements. Moreover, the perception of intention is a crucial factor in an evaluation of potentially face-attacking behaviour.

Darin sieht er einen weiteren Beweis dafür, dass die Unterscheidung zwischen Politeness1- und Politeness2-Ansätzen nie trennscharf sein kann (vgl. 2.2). CULPEPER (2008: 32) verweist in diesem Zusammenhang auch auf sozialpsychologische Studien, nach denen aggressives Verhalten als umso schwerwiegender beurteilt wird, wenn Rezipienten darin eine Absicht zu erkennen glauben. In seiner oben genannten Definition von 2011 steht die Hörerperspektive allerdings auch bei ihm deutlich im Vordergrund. LOCHER/WATTS (2005, 2008) betonen, dass impoliteness letztlich durch Sprecher und Hörer gemeinsam hervorgebracht werde.

Während die Unterscheidung zwischen rudeness und impoliteness (vgl. Abbildung 1) bei LOCHER/WATTS (2005) und WATTS (2005) nicht inhaltlich erläutert wird, schlägt CULPEPER (2005: 63) vor, rudeness als unabsichtliches Verhalten, impoliteness dagegen als zielgerichtetes, absichtliches Verhalten zu interpretieren – unabhängig von der Belegung der beiden Termini im Sprachgebrauch von Laien.1 Auch für die in LOCHERS/WATTS’ Modell (2005, vgl. 2.3.1) gleichfalls als non-politic/inappropriate behaviour klassifizierte over-politeness schlägt CULPEPER (2008: 24–28) vor, nach dem Vorhandensein von Absicht zu unterscheiden. Hervorzuheben ist zudem die Schwierigkeit der Datenerhebung und Analyse, denn Intentionen müssen in der Regel rekonstruiert werden (CULPEPER ET AL. 2003: 1552).

Abbildung 3 veranschaulicht die Ziele intentionaler impoliteness nach BEEBE (1995: 159). Die Bezeichnung instrumental rudeness – verstanden als zielgerichtete Strategie – entspricht in ihrer Terminologie CULPEPERS Impoliteness-Begriff.

Abbildung 3:

Funktionen und Ziele von rudeness (nach BEEBE 1995: 159)

Mit der Anwendung von rudeness kann der Sprecher gemäß Abbildung 3 zum einen auf eine Erhöhung seiner Macht abzielen, zum anderen kommt ihr eine „Ventilfunktion“ zu. Von den drei Zielen, die BEEBE (1995: 159) der Funktion der Machterhöhung zuordnet, sind für den Kontext dieser Arbeit insbesondere die Verdeutlichung der eigenen Überlegenheit (to appear superior) sowie das Veranlassen bzw. Verhindern von Handlungen (to get power over actions) von Interesse. Daneben steht das Ziel, in Konversationen die Oberhand zu behalten (to get power in conversation).

Meines Erachtens ist die Frage der Wahrnehmung durch den Hörer insgesamt entscheidender für das Vorliegen von (im)politeness als die tatsächliche Intention des Sprechers, auch wenn beides nicht voneinander zu trennen ist. Von intentionalem Verhalten aufseiten der Kunden ist im Korpus dieser Arbeit allerdings auszugehen, dennoch soll auch nach Belegen hierfür aus Impoliteness1-Perspektive gesucht werden. Im Kontext der vorliegenden Arbeit – institutioneller Kommunikation – ist diese Frage aber aufs Engste mit den Normen verknüpft, die für angemessenes Verhalten gelten. Auf den durch sie gesetzten Rahmen gehe ich im nächsten Abschnitt ein.

2.4.2Impoliteness und (Un-)Angemessenheit

Postmoderne Arbeiten zu (im)politeness haben, wie oben dargelegt, insbesondere die Frage nach Abweichungen von geltenden Normen bzw. Erwartungen aufgeworfen.

Eine zentrale Rolle in MILLS’ (2003) Ansatz spielt das Konzept der Community of Practice (LAVE/WENGER 1991; vgl. 4.5, S1). MILLS (2003) definiert impoliteness als Abweichung von den (soziokulturellen) Normen der entsprechenden Community. Impoliteness liegt nach diesem Ansatz also nur dann vor, wenn die Interaktanten selbst sie als Normabweichung empfinden. Die Schwäche von Arbeiten, die auf Impoliteness2-Ansätzen beruhen, wie CULPEPER (1996) und CULPEPER ET AL. (2003), sieht MILLS (2003) darin, dass diese häufig auf Interaktionen basieren, in denen FTAs zentraler Bestandteil sind, also in gewisser Weise sanctioned linguistic behaviour darstellen.

Von GARCÉS-CONEJOS BLITVICHS (2012: 69) Bezug auf verschiedene genres war schon die Rede; sie kritisiert an MILLS’ Ansatz der Communities of Practice, dass er zwar deren Mitglieder in den Blick nehme; diese aber gebrauchten verschiedene genres, die wiederum nach verschiedenen Normen verlangten.

WATTS (2003: 260) spricht – beispielsweise für die Kommunikation innerhalb der Familie oder unter Freunden, aber auch beim Militär mit seinen ausgeprägten Unterschieden in der Hierarchie der Interaktanten – von „sanctioned aggressive facework“. LOCHER (2004) und LOCHER/WATTS (2005) nehmen, wie erwähnt, im Rahmen ihres Modells der relational work „expectation frames“ an, die den Einschätzungen von situationsabhängigen Normen zugrunde liegen. CULPEPER (2005, 2011) und BOUSFIELD (2008a) greifen in ihren Impoliteness-Studien statt auf das Konzept der Community of Practice auf LEVINSONS (1979: 368) Konzept des activity type zurück, für das dieser Beispiele wie ein Bewerbungsgespräch, ein Fußballspiel oder ein Verhör nennt.

CULPEPER (2011: 206) geht zwar davon aus, dass impolite behaviour nicht in jedem Fall unangemessen ist.1 Er veranschaulicht dies am Beispiel der reactive impoliteness als legitimer Form der Verteidigung: Wer auf einen vorausgegangenen FTA reagiere – wie in SPENCER-OATEYS (u. a. 2000a, b) Modell der relational work gut zu beschreiben –, befinde sich in einer anderen Situation als derjenige, der den Konflikt beginne.

CULPEPER (2008: 40) hält MILLS’ Überlegungen allerdings entgegen, dass die Legitimierung eines bestimmten sprachlichen Verhaltens nicht zwangsläufig mit dessen Neutralisierung für alle Teilnehmer an der Interaktion einhergehe. Dabei verweist er auf in der Literatur diskutierte Kontexte, in denen unhöfliches Verhalten einzelnen Teilnehmern als legitim erscheine, beispielsweise in der militärischen Ausbildung, anderen aber nicht. Zu unterscheiden sei zwischen den individuellen Normen oder „expectation frames“ (LOCHER/WATTS 2008: 81) der Teilnehmer (z.B. Rekrut und Ausbilder) auf der einen und abstrakteren, allgemeingültigen Normen auf der anderen Seite (CULPEPER 2008: 30):

[I]f some individuals apply local norms to the understanding of face-attack whilst others apply general norms, we are likely to end up with very different perceptions as to whether it counts as ‚real‘ impoliteness.

GARCÉS-CONEJOS BLITVICH (2010a: 62) beschäftigt sich im Rahmen ihres Genre-Ansatzes ebenfalls mit der Frage, ob in genres, die ein gewisses Maß an face-attacks zulassen, z.B. Nachrichteninterviews, impoliteness