Kunstprojekt (Mumin-)Buch - Kathrin Hubli - kostenlos E-Book

Kunstprojekt (Mumin-)Buch E-Book

Kathrin Hubli

0,0

Beschreibung

Die finnlandschwedische Künstlerin Tove Jansson (19142010) war Autorin, Malerin und Karikaturistin zugleich. Dieses künstlerische Spannungsfeld aus der Fusion unterschiedlicher Talente und der Experimentierfreudigkeit mit Materialität und Medium wird in der vorliegenden Studie fruchtbar gemacht, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten, es werden unterschiedliche Konzepte von Materialität behandelt, die sowohl stoffliche wie auch poetologische Aspekte beinhalten. Dabei handelt es sich um Themen, die in der Jansson-Forschung bis anhin vergleichsweise wenig Beachtung fanden. Dies erstaunt vor allem in Anbetracht des viel beschworenen material turn, dessen Fokus auf Aspekte der Materialität in zahlreichen Disziplinen Einzug gehalten hat. Diese unterschiedlichen Konzepte von Materialität lassen sich letztlich zu einem materiellen Ethos ausweiten, welches Janssons Handeln als Künstlerin genuin zugrunde liegt und ihre herausragende Stellung auf eine neue Art zementiert.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 363

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kathrin Hubli

Kunstprojekt (Mumin-)Buch

Tove Janssons prozessuale Ästhetik und materielle Transmission

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

Kathrin Hubli

Universität Zürich

Deutsches Seminar

Abteilung für Nordische Philologie

Schönberggasse 9

CH-8001 Zürich

 

https://orcid.org/0000-0001-6639-7790

 

Die vorliegende Arbeit wurde von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich im Herbstsemester 2016 auf Antrag der Promotionskommission (Prof. Dr. Klaus Müller-Wille (hauptverantwortliche Betreuungsperson) und Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak) als Dissertation angenommen.

 

DOI 10.2357/9783772056550  BNPh 62 (2019)

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0092-8

Inhalt

Danke/Tack!1. Tove Janssons Spiel mit der Materialität1.1. Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne und die Bemühungen um eine neue Bilderbuchästhetik1.2. Materie – Material – Materialität1.3. Material turn in der Tove-Jansson-Forschung?1.4. Disposition und Korpuswahl2. Zur Inszenierung des „Machens“2.1. Sammeln – archivieren – dokumentieren: zum Untersuchungsmaterial2.2. Konzeptionelle Arbeiten2.2.1. Konzeptionelle Arbeiten: Inhalt2.2.2. Konzeptionelle Arbeiten: Buchgestaltung2.2.3. Zusammenfassung2.3. Textproduktion2.3.1. Lyrik2.3.2. Prosa2.3.3. Zusammenfassung3. Zur Inszenierung des Schreibens3.1. Muminpappans memoarer3.1.1. „Muminpappans memoarer“ als Metatext3.1.2. „Muminpappans memoarer“ als Buch im Buch3.1.3. Zusammenfassung3.2. Farlig midsommar3.2.1. Das Theater3.2.2. Die Inszenierung3.2.3. Zusammenfassung3.3. Pappan och havet3.3.1. Schrift in der Krise3.3.2. Der Wissenschaftler3.3.3. Zusammenfassung4. Das Buch als Artefakt4.1. Titela) Thematische Titelb) Rhematische Titel4.2. Widmungen4.3. Kapitelüberschriftena) Deskriptive Kapitelüberschriftenb) Abstrakte Kapitelüberschriften4.4. Epiloge/Prologe4.4.1. Visuelle Prologe4.5. Fussnotena) Explikative Fussnotenb) Dialogische Fussnotenc) Informierende Fussnoten4.6. Klappentexte4.7. Zusammenfassung5. Wort – Bild – Buch: zur Buchgestaltung5.1. Muminbücher: Kometen kommer – zur Editionsgeschichte5.2. „Gewand und Körper des Textes“: Makrotypografiea) Umschlagsgestaltungb) Titelseitenc) Layout5.2.1. Zusammenfassung5.3. Die Bilderbücher5.3.1. Hur gick det sen?5.3.2. Vem ska trösta knyttet?5.3.3. Den farliga resan5.3.4. Zusammenfassung6. Die Buchkünstlerin Tove Jansson: Zusammenfassung und FazitSiglenverzeichnisAbbildungs- und RechtsnachweisBibliografiePrimärliteraturSekundärliteraturHandschriftliches Material

Danke/Tack!

Die Arbeit an meiner Dissertation ermöglichte mir, mein Interesse für das Gebiet der Kinder- und Jugendliteratur wissenschaftlich zu vertiefen, viele spannende Menschen zu treffen und an inspirierende Orte zu reisen. Dafür bin ich unendlich dankbar.

Dem Betreuer und der Betreuerin der Arbeit, Prof. Dr. Klaus Müller-Wille und Prof. Dr. Ingrid Tomkowiak, verdanke ich jede erdenkliche Unterstützung und viele spannende Diskussionen, die meine Dissertation positiv beeinflussten. Jede Phase dieser Arbeit wurde intensiv und professionell betreut. Die Abteilung für Nordische Philologie der Universität Zürich bot mir während der ganzen Zeit ein unterstützendes und inspirierendes Arbeitsumfeld. Für die Förderung des Forschungsprojekts und die grosszügige Unterstützung der Publikation der Dissertation möchte ich mich beim Schweizerischen Nationalfond und bei der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien bedanken.

Meiner Familie danke ich für die emotionale Unterstützung, nicht nur während der Arbeit an der Dissertation, sondern auch in den vielen Jahren davor, als dieses Ziel noch in weiter Ferne schien. Meinem Partner gebührt ebenfalls Dank für ganz viel Rückenwind und Motivation.

 

Zürich, Mai 2019    Kathrin Hubli

1.Tove Janssons Spiel mit der Materialität

Abb. 1:

Illustrierte Seite aus Hur gick det sen.

Die Figuren in Tove Janssons Bilderbuch Hur gick det sen? rennen oder hüpfen in schwindelerregendem Tempo durch das Buch, sodass einem dessen Materialität ins Auge springt. Abbildung 1 zeigt den Querschnitt eines Baumstamms, umrahmt von einem Himmel in dramatischem Purpur, von Blitzen durchzogen. Der Baum, so ist dank des Querschnitts zu erkennen, ist das Zuhause der Hattifnattar. Um dies überdeutlich zu machen, prangert am Baumstamm ein weisses Schild mit der Aufschrift: „Hattifnattarnas hus i genomskärning“ „Das Haus der Hattifnattar im Querschnitt“.1 Wie in einer Geisterbahn bietet sich dem Betrachter ein Einblick in einen engen Raum voller furchteinflössender Gestalten. Zahlreiche Hattifnattar, bekanntlich elektrisch aufgeladen, sitzen dicht gedrängt in dem engen Raum. Eine grössere Gruppe befindet sich auf der linken Seite. Rechts sitzen drei Hattifnattar auf Stühlen in einer Runde beisammen, auf ihrem Schoss jeweils eine Tasse. Sie scheinen die Lampe, die über ihnen hängt und den Innenraum hell erleuchtet, mit Strom zu speisen. Mumintrollets und Mymlans Weg führt sie mitten durch diesen bedrohlichen Ort. Die beiden sind auf der rechten Seite zu sehen, wie sie dem Haus der Hattifnattar voller Panik entfliehen. Danach scheinen die beiden ebenfalls elektrisiert, was in der Darstellung bei den Konturen der Figuren deutlich wird, die in Zickzackform gemalt sind. Dadurch vibrieren sie förmlich.

Querschnittsbilder, so schreibt Elina Druker, wurzeln historisch in der wissenschaftlichen Forschung, wo sie als pädagogische Hilfsmittel dienen.2 Mit ihrer Hilfe werden Sachverhalte veranschaulicht, die nicht direkt sichtbar sind. Im Bilderbuch attestiert Druker ihnen folgende Funktionen: „Genomskärningsbilden i bilderboken har två skilda men angränsande funktioner. Den avslöjar inre, osynliga konstruktioner och visar hur större kroppar eller objekt konstrueras.“3 „Das Querschnittsbild im Bilderbuch hat zwei verschiedene, aber aneinander angrenzende Funktionen. Es offenbart innere, unsichtbare Konstruktionen und zeigt, wie grössere Körper oder Objekte konstruiert sind.“ Abbildung 1 zeigt gar in mehrfacher Hinsicht einen Schnitt: Der (Quer-)Schnitt des Baums ist eine Illusion, während sich mit den Löchern in den Seiten, dem wohl auffälligsten Gestaltungsmittel von Hur gick det sen?, tatsächliche Schnitte im Papier finden. Somit offenbart das Querschnittsbild ebenfalls in mehrfacher Hinsicht normalerweise Verhülltes, wie dies, wie eben erläutert, die Tradition der Querschnittsbilder vorsieht. Neben dem Sichtbarmachen weist Juliane Vogel im folgenden Zitat noch auf einen weiteren Aspekt hin, der das Schneiden beinhaltet. Das Schneiden steht für eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und für eine Demonstration einer Kontrolle über denselben:

Wenn statt des Fleisches Papier oder Zelluloid unter das Messer gerät, dann scheinen jene fundamentalen Probleme gelöst, der sich die moderne Geschichte des Schreibens in der Auseinandersetzung mit ihren Objekten zu stellen hatte. Diese lässt sich als eine Geschichte jener Bemühungen lesen, vor allem den Körper durch das Schneiden zu beherrschen […].4

Durch den Querschnitt des Baums wird im Inneren des Buchs ein weiterer Innenraum offenbar. Dieser ist wie ein Theaterraum gestaltet, mit den Hattifnattar als Zuschauer. Mymlan und Mumintrollet, die Schauspieler, sind dem Theater bereits wieder entflohen. Das Heim der Hattifnattar verfügt als Theater gar über einen gekennzeichneten Eingang (schw. ingång) und Ausgang (schw. utgång). Ferner ist der Boden farblich hervorgehoben, was dessen Eindruck als Bühne stärkt. Mit der überdimensional grossen Lampe ist schliesslich gar eine Theaterbeleuchtung gegeben. Durch diesen (Quer-)Schnitt wird der Inhalt des Buchs bewusst als Fiktion entblösst. Das Material des Baums, Holz, hat diesbezüglich zusätzliche Symbolkraft, ist es doch gleichzeitig auch das Material, aus dem das Buch im weitesten Sinne besteht. Schnitte sind ausserdem in Form von Löchern präsent, die sich auf beiden Seiten der Doppelseiten befinden. Der Eingang und der Ausgang sind tatsächlich durchlässig, perforiert. Mymlan und Mumintrollet preschen durch die Perforationen von Seite zu Seite. Die Perforationen eröffnen einen Weg durch das Buch, welcher in besonderem Masse dessen Dreidimensionalität betont und so ebenfalls die Gegenständlichkeit des Buchmediums. Links neben dem Haus der Hattifnattar schlägt ein Blitz in einen weiteren Baum ein, bringt so das Material sinnbildlich zum Bersten. Somit veranschaulicht das Bild eine Selbstthematisierung der Materialität des Buchs, von Literatur und Buchgestaltung als Kunstform, welche der Konzeption des gesamten Buchs zugrunde liegt. So zeigt Abbildung 1 keineswegs das einzige Querschnittsbild im Buch. Ein weiteres Beispiel ist die Darstellung des Inneren eines Staubsaugers. Besagte Selbstthematisierung wird jedoch im Bild auf die Spitze getrieben, das eine Figur (Verleger, Theaterdirektor oder Regisseur) mit einer Schere zeigt, die, so suggeriert das Bild, dafür eingesetzt wird, um die erwähnten Löcher in das Buch zu schneiden.5

Das skizzierte künstlerische Spannungsfeld aus der Fusion unterschiedlicher Talente und der Experimentierfreudigkeit mit Materialität und Medium soll in der vorliegenden Arbeit daher fruchtbar gemacht werden, um Fragen zum Buch als Artefakt, zur Reflexion von Literatur als Kunstform, betreffend kreativer Strategien und künstlerischem Selbstverständnis zu erörtern. Mit anderen Worten wird eine Perspektive eingenommen, die durch den material turn in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die Literaturwissenschaft miteingeschlossen, herbeigeführt worden ist und den Blick für Aspekte der Materialität in jüngster Zeit wieder geschärft hat.

1.1.Das Eintreten des Künstlerbuchs in der Moderne und die Bemühungen um eine neue Bilderbuchästhetik

Aussagen von Tove Jansson selbst betreffend ihrer Einordnung in Kunst- und Literaturgeschichte finden sich lediglich wenige. Im Buch Meddelande (Mitteilung) spricht sie sich in einem Briefauszug klar gegen eine soziale Tendenzkunst aus, bekennt sich deutlich zum Credo l’art pour l’art.1 „Hon värdesatte självständighet, var mycket jagcentrerad i sin konstsyn och ställde sig kritisk också till betydande nya ideologier“ „Sie schätzte Selbstständigkeit, war sehr ich-zentriert in ihrer Kunstauffassung und stellte sich auch gegen bedeutende neue Ideologien kritisch“, schreibt Tuula Karjalainen.2

In Literaturgeschichten wird Tove Jansson zusammen mit Astrid Lindgren und Lennart Hellsing als eine der wichtigsten Reformer, als Repräsentantin der modernen skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur, des Modernismus, genannt. Alle drei debütierten im Jahr 1945, das als Wendepunkt in der skandinavischen Kinder- und Jugendliteratur gilt. Das Kriegsende führte zu mehr Wohlstand und einem Anstieg der Geburtenrate. Gleichzeitig begann der Glaube an Autoritäten zu wackeln und liberale Ideen erstarkten. Vor allem auch, was die Vorstellungen vom Kind und von Kindheit, Erziehung und Bildung betraf. Vielerorts wurden Bibliotheken ausgebaut. Das Kinderbuch erhielt so eine gänzlich neue Relevanz. Der Markt vergrösserte sich enorm. In der Folge fokussierten sich Verlage vermehrt explizit auf die Sparte Kinder- und Jugendliteratur. Konkret spricht man von ca. 500 Titeln pro Jahr, die nach Kriegsende publiziert wurden. Damit einher ging eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur, die ebenfalls rapide zunahm und sich professionalisierte.3

Das Attribut „modern“ beinhaltet nach Lena Kåreland Innovationen, was die Sprache, den Stil und die Themenwahl betrifft.4 Bis heute ist Lindgrens Pippi Långstrump Symbolfigur dafür. Sie ist die personifizierte kindliche Sehnsucht nach Freiheit und Rebellion und damit ein direkter Angriff auf bestehende Normen.5 In Skandinavien wird als Modernismus bezeichnet, was ansonsten unter dem Begriff Avant-garde zusammengefasst wird.6 Der Begriff Avant-garde beziehungsweise avantgardistisch bezeichnet Autoren, Künstler, Intellektuelle, welche die Grenzen des als „normal“ bezeichneten sprengen.7 „Att vara modern innebär ett skärpt tidsmedvetande, ett strävan att befinna sig mitt i nuet, att utnyttja och konstnärligt uttrycka de mest avancerade erfarenheterna, även med risk att spränga den estetiska formen.“ „Modern zu sein beinhaltet ein scharfes Zeitbewusstsein, ein Streben danach, sich mitten im Jetzt zu befinden, die fortschrittlichsten Erfahrungen auszunützen und künstlerisch auszudrücken. Auch mit dem Risiko, die ästhetische Form zu sprengen.“, definiert Kåreland.8 Modernismus als Begriff birgt dabei ein Bestimmungsproblem, wie immer wieder von verschiedenster Seite betont wird. „Eine Definition dieses vagen Begriffs ist schwierig, weil er nur eine Sammelbezeichnung für alle modernen, amimetischen literarischen Strömungen seit Baudelaires Lyrik ist.“, so etwa Thomas Seiler.9 Kåreland verfasste mit ihrer Arbeit Modernismen i barnkammaren. Barnlitteraturens 40-tal (Der Modernismus im Kinderzimmer. Die 40-er Jahre der Kinderliteratur) eine Monografie, welche sich explizit mit der Kinderliteratur in dieser Zeit auseinandersetzt. Auch sie beschreibt Modernismus als einen äusserst heterogenen Begriff, der einerseits als konkrete Zeitperiode (Kåreland definiert die Zeitperiode mit 1890–1950 äusserst weit), andererseits mehr als eine Bewegung, eine Lebenseinstellung verstanden werden könne.10Anders formuliert: Modernismus ist einerseits ein Produkt der industriellen Revolution, von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt, andererseits ein ästhetischer Begriff.11

Als ästhetischer Begriff spiegelt sich Modernismus deutlich in den Künsten: Musik, Malerei und Literatur. Die Avant-garde beziehungsweise im hiesigen Kontext eben der skandinavische Modernismus zeichnet sich als eine Zeit aus, in der Kunst als Erkenntnisinstrument verstanden wurde. Man begriff die künstlerische Arbeit als „eine Tätigkeit, die durch ihre handwerkliche Komponente eine Brücke zwischen Intellekt und Materie bildet“.12 Die Künstler der Avant-garde wenden sich bewusst den materiellen Aspekten von Kunst zu.13

Diese Ideologien ebneten den Weg für das Buch als Artefakt. Einen konkreten Ausdruck fand dies etwa in den Künstlerbüchern, den artist's books. Johanna Drucker bezeichnet dies als „[…] the quintessential 20th-century artform. Artist’s books appear in every major movement in art an literature […].“14 Elina Druker zeigt in ihrer Arbeit Modernismens bilder (2008), wie im Skandinavien der 1940er- und 1950er-Jahre eine neue Bilderbuchästhetik heranwächst.15 Einer ihrer zentralen Ausgangspunkte dabei ist die Vorstellung vom Buch als ästhetisches und physisches Objekt.16 Konkret bedeutet dies, das Buch wird nun in seiner physischen Form künstlerisch erforscht. Dabei werden auch Wörter, Buchstaben und Farben als konkrete Objekte behandelt. Ausserdem erwähnt sie, wie die Suche nach einer Bildsprache dazu führte, dass die Formsprache des Bilderbuchs breiter wurde. Die Idee des Bilderbuchs als Kunstform etablierte sich: „Bilderboken upplevdes som ett alternativt medium, en möjlig plats för formexperiment utan de krav som vuxenlitteraturens eller bildkonstens fält kunde innebära.“ „Das Bilderbuch wurde aufgefasst als ein alternatives Medium, ein möglicher Platz für Formexperimente, ohne die Ansprüche, die die Literatur für Erwachsene oder die Bildkunst beinhalten.“ Dass zahlreiche Bilderbuchkünstler dieser Zeit ebenfalls in Nachbardisziplinen wie etwa der Bildkunst etabliert waren, stützt laut Druker diesen Schlusssatz.17 Auch Jansson betätigte sich bekanntermassen nicht nur als Schriftstellerin, sondern ebenfalls als Malerin, Karikaturistin und Illustratorin. Ihr bildnerisches Schaffen ist ebenso facettenreich wie das literarische. Selbst sah sie sich gar in erster Linie als Malerin.

1.2.Materie – Material – Materialität

Seit den 1960er-Jahren proklamieren die unterschiedlichen turns (linguistic turn, pictorial turn, medial turn, um bloss einige wenige zu nennen) immer wieder neue Paradigmenwechsel quer durch die verschiedensten Disziplinen.1 Obwohl Karl Pfeiffer noch in den 1980er-Jahren äussert: „Gleichwohl scheint der Begriff Materialität aus herrschenden Wissenschaftsparadigmen ausgesperrt.“2, wurde in diesem Geist in jüngerer Zeit ebenfalls der material turn ausgerufen. Michel Foucault und Jacques Derrida und deren Kritik an der Metaphysik wird dabei ein bedeutender Anteil an der Konjunktur des Begriffs „Materialität“ in den Geistes- und Kulturwissenschaften zugesprochen.3 Martin Schubert definiert in Materialität in der Editionswissenschaft (2010) gleich im ersten Satz, was der material turn beinhaltet:

Das Interesse der Geistes- und Kulturwissenschaften am Material und an Materialität ist in den letzten Jahren stetig gewachsen, und zwar so sehr, dass bereits von einem material turn gesprochen wurde. Aus dem ursprünglichen Bestreben, die in Anthropologie, Geschichtswissenschaften und Kunstgeschichte lange geringgeachtete Materialität der Dinge neu in den Fokus zu rücken, haben sich vielfältige Zugänge entwickelt.4

Der material turn ist also ein umfassender Perspektivenwechsel, durch den der bislang vernachlässigte Aspekt der Materialität neue Beachtung findet. „Turns lenken die Aufmerksamkeit[…] auf interne Bedingungen des ,intellektuellen Feldes.‘“5, postuliert Doris Bachmann-Medick. Christiane Heibach und Carsten Rohde sehen turns gar als die Konsequenz eines Bewusstseins für blinde Flecken der eigenen Wissenschaft und als Ausdruck durchlässiger Grenzen zwischen den Wissenschaften.6 Sie formulieren:

[…] die Wissenschaften nähern sich in ihren jeweiligen materiellen und immateriellen Präferenzen sukzessive einander an und verlassen ihre jeweils angestammten Positionen: Für die Geisteswissenschaften bedeutet das die Hinterfragung der Prämierung des immateriell-hermeneutischen Denkens, für die Naturwissenschaften eine Infragestellung der Konkretheit ihrer Erkenntnisse über materielle Objekte durch die Reflexion auf die immateriellen Bedingungen ihrer Theoriebildung.7

Wie bereits erwähnt, geht es bei turns also um eine Erweiterung der Blickwinkel und nicht um ein neues Themengebiet, wobei sich die Gebiete der unterschiedlichen Disziplinen nicht selten zu überschneiden beginnen. Im Falle des material turn, so betont Andreas Reckwitz, mute besagte Neuausrichtung jedoch durchaus paradox an, da sich Kulturtheorien ja gerade in Opposition zu materialistischen Ansätzen gebildet hätten.8 Gleichzeitig hebt er jedoch hervor, dass die Idee des material turn eine Gemeinsamkeit verschiedenster Disziplinen darstellt:

Theorien der Medientechnologien, Artefakttheorien, Raumtheorien und Affekttheorien […] haben allesamt einen grundsätzlichen Anspruch: darauf hinzuweisen, dass die sozio-kulturelle Welt „immer schon“ durch mediale Technologien, durch Artefaktkonstellationen, durch räumliche Arrangements sowie durch Affiziertheiten und Affizierungen strukturiert ist und nur so ihre Form erhält. Das Argument, das sie alle zusammenhält, ist das eines material turn.9

Die ideologische Grundlage des material turn bildet ein reformiertes Verständnis des Begriffs „Material“. Konkret meint dies die hierarchische Beziehung zwischen den Begriffen „Material“ und „Form“. „Im engeren Sinne bezeichnet Material den Ausgangsstoff jeder künstlerischen Gestaltung“, referiert Monika Wagner im Handbuch Ästhetische Grundbegriffe (2010). Der Begriff „Material“ meint im Unterschied zu „Materie“ „nur solche natürlichen und artifiziellen Stoffe, die zur Weiterverarbeitung vorgesehen sind.“

Eine derartige Definition impliziert ein Verständnis von Material als etwas, das zwingend verarbeitet, erst zu einem Kunstwerk gemacht werden muss. Bereits in der Antike stand „Material“ in einem hierarchischen Verhältnis zu Begriffen wie „Form“ und „Idee“, „den Inbegriffen schöpferischer Gestaltung.“ „Bis um 1800 war Material im Sinne eines physischen Stoffes negativ konnotiert. Es gehörte der niedersten Sphäre des Alltags an, die in der künstlerischen Gestaltung zum Verschwinden gebracht werden sollte.“10 Sigrid Köhler und Martina Wagner-Egelhaaf betonen diesen Aspekt ebenfalls:

Die Perspektivierungen, denen auf diese Weise [durch den material turn] Raum gegeben wird, erlauben es jedoch nicht nur, die kulturellen Kodierungen und Medialisierungen des Materials zu fokussieren, um Hierarchien und Semantiken des Stofflichen zu beschreiben, sondern sie rufen philosophiegeschichtliche Materiekonzepte auf […].11

Nicht nur muss „Material“ weiterverarbeitet werden, es soll ausserdem danach auch nicht mehr zu erkennen sein beziehungsweise die Gemachtheit des Produkts soll nicht mehr zu erkennen sein. Anders der Begriff der Form. „Form ist ein geistiges Prinzip und erscheint gegenüber der Materie als vorrangig und höherwertig.“12 Materie hingegen sei zu verstehen als physikalischer Stoff allein, im Sinne einer materia prima, wie sie Aristoteles denkt. Und Materialität bezeichnet schliesslich das „materielle Ding-Sein der Dinge.“ „Die begriffliche Trias von Materie, Material und Materialität lässt sich in dieser Reihung als Abfolge zunehmender kultureller Konzeptionalisierungen lesen, oder in Gegenrichtung als Reihe wachsender Realisierung.“13 Durch den material turn wird das Material jedoch nicht mehr kaschiert, sondern im Gegenteil inszeniert und explizit ins Blickfeld gerückt. Die beschriebene Hierarchie zwischen Material einerseits und Form andererseits wird aufgelöst.

Entsprechend bezeichnet Thomas Strässle die Befreiung vom „Primat der Form“ als eines von drei methodisch-theoretischen Anliegen in der aktuellen Materialitätsdebatte.14 Die Sichtweise ist gar eine diametrale. Form wird „als variable Grösse und Ergebnis materialer Eigenschaften“ gesehen. „Material“ wird so zu einer „autonomen ästhetischen Kategorie.“15 Es erhält also einen künstlerischen Wert. Durch einen solchen neuen Materialbegriff wird es erst möglich „Kunstwerke jüngeren Datums in ihrer genuin materialen Konstitution und Exposition lesbar zu machen.“ Daraus ergibt sich das zweite Anliegen, welches Strässle formuliert, nämlich ein Bewusstsein für die Bedeutung des materiellen Trägers, des Mediums, der die „Bedeutungsspielräume des Aufgeschriebenen, Dargestellten und Übermittelten überhaupt erst bedingt und damit zumindest mitbestimmt.“16 „So verstanden, lässt sich Material nicht mehr nur als ablösbarer Träger einer Form oder einer Idee begreifen, sondern es ist mit diesem unauflöslich verbunden.“17 Diese konzeptionelle Verknüpfung von Material und Form ist Ausdruck der bereits erwähnten Auflösung der Hierarchie zwischen den beiden Begriffen. Als Drittes stellt Thomas Strässle schliesslich mit dem Hinweis auf Judith Butlers Bodies that matter (1993) ein Materialitätsdenken fest, welches dem Material „jegliche ,Vorgängigkeit‘ abspricht und es im Gegenzug als Produkt performativer diskursiver Praktiken liest.“18

Bis anhin betreffen die Ausführungen die Wertsteigerung, die der Begriff „Materialität“ im Zuge des material turn erfahren hat. Die konkrete Funktionalisierung des Begriffs konzentriert sich in der Materialitätsdebatte jedoch bei Weitem nicht nur auf rein physische Aspekte. Vielmehr wird der Begriff ebenfalls auf abstrakteren Ebenen verwendet. Christoph Kleinschmidt macht bezüglich der Begriffsbestimmung von Materialität zwei komplementäre Positionen aus:

So verstehen viele Positionen unter Materialität eine „konkrete Stofflichkeit“, „Dinglichkeit und Körperlichkeit“. Andere sprechen hingegen von der „Gegenwärtigkeit von Dingen“, begreifen Materialität also gerade nicht als ein „vordergründig Stoffliches“, sondern als ein „Erscheinen“, „absolute Präsenz“, „Augenblick“, „Widerstand“, und „Beharren“.19

So denkt etwa Dieter Mersch in Was sich zeigt. Materialität, Präsenz, Ereignis (2002) Materialität nicht als etwas hauptsächlich Physisches, sondern etwas, „was sich von dort her erst ereignet: Erscheinen, das kein ‚Etwas‘ beinhaltet, keine Erscheinung-als, sondern vornehmlich ein ‚Wirken‘, das geschieht.“20 Dagegen betrachtet Erika Greber et al. in Materialität und Medialität von Schrift (2002) das Schriftzeichen „in seiner Eigenwertigkeit, seine visuelle und haptische Materialität, eine Konkretheit, Dinglichkeit und Körperlichkeit.“21 Und Erika Fischer-Lichte konstatiert für die Theaterwissenschaft: „Die theatralen Elemente in ihrer spezifischen Materialität wahrzunehmen heisst also, sie als selbstreferentielle, sie in ihrem phänomenalen Sein wahrzunehmen.“22 Christian Benne äussert sich zum Inhalt des Materialitätsbegriffs für die Literaturwissenschaft wie folgt:

Sich auf die Seite der Materialität zu schlagen heisst, Stellung zu beziehen gegen den Idealismus, gegen alle Vorstellungen eines bereinigten und idealen Texts, gegen den „Geist“ oder die blosse Ergründung der ästhetischen Normen des literarischen Texts. Auf der anderen Seite richtet sich Materialität auch gegen die Auffassung, dass Texte unabhängig von ihrer Rezeption und dem kulturellen Kontext ihrer Produktion existieren […].23

Entsprechend wird in der vorliegenden Arbeit ein breit gefasster Materialitätsbegriff verwendet, der konkret stoffliche Aspekte beinhaltet, die beispielsweise bei der viel gelobten Buchgestaltung Tove Janssons evident werden. Ferner beinhaltet er ebenfalls das Machen von Literatur als Kunst in ihrer Materialität – also das physische Arbeiten –, was sich etwa in spezifischen Arbeitspraktiken wie auch poetologische Reflexionen dieser Thematik zeigt. Der geschilderte Materialitätsbegriff wird ausserdem vor dem Hintergrund einer Prozessualität betrachtet, welche Tove Janssons Schaffen inhärent ist. Dies belegt etwa die turbulente Herausgebergeschichte der Muminbücher, ein Kunstprojekt, welches sich während über 20 Jahren stetig erweitert und erneuert hat. Mit anderen Worten, Materialität wird in der vorliegenden Arbeit als ein dynamisches, veränderliches Konzept verstanden, was wiederum mit der erwähnten Prozessualität einhergeht.

1.3.Material turn in der Tove-Jansson-Forschung?

Im Gebiet der Kinder- und Jugendliteraturforschung scheint eine gewisse Sensibilität für verschiedene Aspekte der Materialität zu erwachen. Ein Beispiel ist die bereits erwähnte Arbeit von Elina Druker, in der sie sich dem Thema der Materialität der Bilderbücher in Skandinavien widmet. Sie betrachtet das Buch dezidiert als Kunstprojekt und untersucht dabei Werke unterschiedlicher skandinavischer Autoren, auch von Tove Jansson. Im Kapitel „Bilderbokens konstruktion“ „Die Konstruktion des Bilderbuchs“ behandelt sie das Bilderbuch Hur gick det sen?. Darin wird explizit auf das Spiel mit dem Bild- und Buchmedium, mit den Begriffen „Buch“ und „Literatur“ hingewiesen.1 Weiter nähern sich im Tagungsband Tove Jansson rediscovered (2007) einige Beiträge diesen Thematiken. So widmet sich etwa Evelyne Arizpe in ihrem Artikel dem Vorkommen von Texten in den Erzählungen und damit Aspekten der Selbstreferenzialität. Dabei geht sie insbesondere auf die Darstellung Pappans als Autobiograf in Muminpappans memoarer ein. In diesem Geist widmet sich Elina Druker im selben Band selbstreferenziellen Bildern, also Bilder, welche von fiktiven Charakteren stammen. Dazu zählen etwa die Skizze des Theaters, die die Theaterratte Emma in Farlig midsommar anfertigt, oder Pappans Skizze, die er im Zuge seiner Arbeit in Pappan och havet erstellt. Inwiefern in der Jansson-Forschung ein Materialitätsbegriff, wie er im vorigen Unterkapitel hergeleitet wurde, präsent ist, respektive in welcher Hinsicht jedoch tatsächlich von einem material turn gesprochen werden kann, wird der folgende Forschungsüberblick aufzeigen.

Im Takt mit der steigenden Berühmtheit Janssons erwachte auch das Interesse der Forschung an ihrem Schaffen. Wie beschrieben, gilt Jansson als eine Künstlerin, die sich in unterschiedlichen Gebieten ausprobiert. Die überwiegende Mehrheit der wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt sich jedoch mit ihrem literarischen Schaffen. Bis heute ist die Menge an Artikeln und kürzeren Arbeiten auf ein unüberblickbares Mass angestiegen. Im Gegensatz dazu wurde seit den Anfängen der Forschung vor mittlerweile ca. 60 Jahren eine vergleichsweise bescheidene Anzahl an Monografien verfasst. Der folgende Überblick konzentriert sich auf die wichtigsten. Dabei kommt den Muminbüchern die grösste Aufmerksamkeit zu, während etwa die Bilderbücher wie auch ihre Literatur für Erwachsene von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt wurden und werden. Jansson-Forschung ist daher bis heute in erster Linie Mumin-Forschung.2

Zu den Pionieren gehört etwa Sonja Hagemann mit ihrem Werk Mummitrollbøkene. En litterær karakteristikk „Die Muminbücher, eine literarische Charakterisierung“. Es handelt sich hierbei um eine gedruckte Probevorlesung, die 1967 erschien. Aus dem Jahr 1975 stammt Kirsten Omlands Dissertation Tryggheten og skrekken. Utviklingen i Tove Janssons muminforfatterskap „Sicherheit und Schreck. Die Entwicklung in Tove Janssons Muminautorschaft“.

In den 1980er-Jahren erreichte die Jansson-Forschung einen ersten Höhepunkt. Aus dieser Zeit stammen drei grosse Studien (Holländer 1983, Jones 1984, Westin 1988). Die ersten beiden Arbeiten gehen von einer Entwicklungslinie aus, die sich an den Muminbüchern ablesen lässt. Eine Entwicklungslinie weg vom Kinderbuch hin zur Literatur für Erwachsene. Diese Vorstellung lag zu dieser Zeit den meisten wissenschaftlichen Arbeiten zugrunde. Im Falle von Tove Holländers Arbeit wird dies bereits im Titel evident: Från idyll till avidyll „Von Idylle zu Nicht-Idylle“ deutet die Idee einer Entwicklungslinie innerhalb der Muminreihe an, in der sich das Muminbuch im Laufe der Zeit vom Kinderbuch zum Buch für Erwachsene wandelt, was jeweils als eine stetige Verbesserung gewertet wurde. Tove Holländer widmet sich in ihrer Arbeit den Illustrationen aus einer kunstwissenschaftlichen Perspektive. Ihr Korpus besteht aus den Muminbüchern wie auch den Bilderbüchern. Sie interessiert sich für einzelne Motive, Technik und Stil der Illustrationen. Auch das Zusammenspiel von Text und Bild analysiert sie. Ausserdem widmet Holländer ein Kapitel dem Schaffensprozess. Dabei beschreibt sie sehr kurz, was an Skizzen und sonstigen Vorarbeiten vorhanden ist. Holländer stellt fest, dass sich der Arbeitsprozess von einer unbewussten Suche in einen bewussten, systematischen Arbeitsprozess wandelt.3 Weiter kommt sie zum Schluss, dass sich besagte Entwicklungslinie, welche sich auf inhaltlicher Ebene beobachten lässt, ebenfalls bei den Illustrationen nachweisen lässt. Diese seien bei den frühen Muminbüchern illusionistisch und relativ wirklichkeitsgetreu und würden schliesslich mehr und mehr expressiv, was sich, so schlussfolgert Tove Holländer, mit dem Prozess der stetigen Psychologisierung der Muminbücher deckt.4

Glyn Jones beleuchtet die Bücher von Småtrollen och den stora översvämningen (1945) bis Den ärliga bedragaren (1984), was zu Janssons Spätwerk zählt, also der Literatur für Erwachsene. Damit behandelt er sämtliche Werke Janssons, die zur damaligen Zeit erschienen waren. Sein Ziel ist es ebenfalls, den Wandel vom Kinderbuch zum Erwachsenenbuch nachzuzeichnen. Er konstatiert, dass die Muminbücher immer komplexer wurden und das Bilderbuch als Medium für Jansson als Künstlerin nicht mehr ausreichte, sie schliesslich gar hemmte. Daraus folgt für Jones schliesslich ein unumgänglicher Wechsel zum Schreiben für Erwachsene.5 Die Entwicklung macht er unter anderem an den Veränderungen der Themen fest, die in den Erzählungen verhandelt werden. „En av följderna blir en ökad upptagenhet av frågeställningar om konst, ingivelse, konstnärlig integritet och konstnärens roll.“6 „Eine der Folgen ist eine vermehrte Beschäftigung mit Fragestellungen zu Kunst, Eingebung, künstlerischer Integrität und Künstlerrolle.“ Damit tönt er Fragestellungen an, welche auch in der vorliegenden Arbeit relevant sein werden. Weiter erwähnt Glyn Jones ebenfalls die stark visuelle Komponente als ein Charakteristikum von Janssons Werk.7

Boel Westin bricht in ihrer Dissertation Familjen i dalen. Tove Janssons muminvärld „Die Familie im Tal. Tove Janssons Muminwelt“ mit dieser holistischen Sichtweise und betrachtet die Muminbücher bewusst als separate Werke, ohne jedoch zu verneinen, dass sich die einzelnen Muminbücher in ihrer Art stark voneinander unterscheiden. Entsprechend macht sie die künstlerische Einzigartigkeit jedes einzelnen Muminbuchs stark. Die Quelle für deren Unterschiedlichkeit sieht Westin in Janssons Funktion als Bildkünstlerin:

Olika slag och grader av kaos byter av varandra och iscensätter, förändrar, familjens sammansatta verklighet. Dessa perspektivbyten kan ses i ljuset av Tove Janssons identitet som bildkonstnär. Gång på gång målar hon samma konstverk, mumindalen och familjen, men hon växlar belysning, färg och form. Delarna i tavlan flyttas ständigt om och fogas ihop i nya kombinationer och med nya strukturer.8

 

Verschiedene Arten und Grade von Chaos wechseln einander ab und inszenieren, verändern, die zusammengesetzte Wirklichkeit der Muminfamilie. Diese Perspektivenwechsel können im Lichte Tove Janssons Identität als Bildkünstlerin gesehen werden. Wieder und wieder malt sie dasselbe Kunstwerk, das Mumintal und die Muminfamilie, aber sie wechselt Beleuchtung, Farbe und Form. Die Teile des Bildes werden ständig verschoben und in neuen Kombinationen und mit neuen Strukturen wieder zusammengefügt.

Entsprechend betrachtet Boel Westin die Muminwelt als ein äusserst dynamisches Konstrukt. Eine ihrer zentralen Fragestellungen betrifft denn auch, was dieses Kunstwerk ausdrückt und was die Familie gestaltet.9 Mit anderen Worten, sie interessiert sich für Janssons ästhetische Methode.10 Wie angedeutet, nimmt Westin für jedes der sechs Muminbücher, die sie untersucht, einen individuellen Blickwinkel ein und betont so die jeweiligen Charakteristiken. So heissen ihre Kapitel beispielsweise „Det äventyrliga, Kometjakten“ „Das Abenteuerliche, Kometjakten“ oder „Det dramatiska, Farlig midsommar“ „Das Dramatische, Farlig midsommar“. Boel Westin etablierte sich mit ihrer Abhandlung als führende Jansson-Forscherin und ist bis heute die einzige, die vollständigen Zugang zu Janssons ehemaligem Atelier in Helsinki erhalten hat. Von ihr erschien 2007 die bis dato umfassendste Jansson-Biografie unter dem Titel Ord, bild, liv.11

Die Ausrichtung auf eine Entwicklungslinie impliziert ausserdem, dass immer von den Originalausgaben der Muminbücher ausgegangen wird. Weiter verdeutlicht sie auch einen intensiven Diskurs über die Zuordnung der Muminbücher zur Kinder- oder Erwachsenenliteratur. Schon früh wurde darauf aufmerksam gemacht, dass die Muminbücher nicht nur Kinder, sondern auch erwachsene Leser ansprechen. Sandra Beckett weist bezüglich Janssons gesamten literarischen Schaffens darauf hin, dass die Ähnlichkeiten zwischen ihrer Literatur für Kinder und für Erwachsene frappant sind und auch dort keine klare Trennung möglich ist: „In all of her writing, the setting is the same, as are the often complex themes: identity, isolation, relationships with others and the environment, natural disaster, time and death.“12

Der Forschungsdiskurs zu Literatur, die sich gleichermassen an Kinder und Erwachsene richtet, wird im angelsächsischen Raum unter dem Begriff „crosswriting“ beziehungsweise „crossover literature“ geführt. In der deutschsprachigen Forschung spricht man von „doppelsinniger“ oder „mehrfachadressierter“ Kinder- und Jugendliteratur und in der skandinavischen Forschung hat sich seit den 1960er-Jahren der Begriff „allålderslitteratur“ „Alle-Alter-Literatur“ etabliert.13Crosswriting kann für die Kinderliteratur Dreierlei bedeuten: Das Schreiben sowohl für Erwachsene wie auch für Kinder, ein Buch für Erwachsene wird in ein Kinderbuch umgeschrieben oder umgekehrt, und schliesslich ein rezipientenübergreifendes Schreiben. Das heisst, ein Text richtet sich in gleichem Masse an Kinder und Erwachsene.14 Diese doppelte Adressiertheit wird heute gar als ein Charakteristikum der Muminbücher angeführt. So schreibt etwa Angelika Nix:

Die Muminbücher sind als mehrsinnige Kinderklassiker in die Geschichte der internationalen Kinder- und Jugendliteratur eingegangen. Sie gelten als Paradebeispiel für poetische, tiefsinnige Kinderbücher, die eben nicht nur kindliche, sondern auch erwachsene Leser ansprechen.15

Dies wirft die Frage auf, welche architektonischen Bedingungen die Mehrsinnigkeit an die Erzählungen stellt. Ines Galling beschreibt, wie die Erzählungen einerseits „dem kinderliterarischen Anspruch der Adaption Rechnung tragen, was sich z.B. im Aufbau von kurzen Spannungsbögen äussert.“ Ausserdem werde in den Texten die kindliche Lebenswelt reflektiert. Andererseits weist sie auch auf eine avancierte Lexik und Erzähltechnik hin, wodurch Reflexions- und Metaangebote etabliert würden, die dem kindlichen Leser unter Umständen verborgen bleiben.16 Maija-Liisa Harju postuliert: „I identify Tove Jansson’s work as crossover literature here, according to three criteria collated from scholarship in the field: diverse address, complexity in form and/or theme, and evidence of diverse readership.“17

Dass eine Erzählung Kinder und Erwachsene gleichermassen fesseln kann, ist keineswegs eine neue Erkenntnis – weder in der Jansson-Forschung noch in der Kinder – und Jugendliteraturforschung allgemein. Neu ist laut Sandra Beckett hingegen das enorme mediale Interesse, welches diesem Phänomen zukommt.18 Trotzdem wurde Jansson jedoch nur im Bereich der Kinderliteratur kanonisiert, ein Schicksal, welches die Crosswriter laut Bettina Kümmerling-Meibauer häufig ereilt.19 Boel Westin sieht das grosse Potenzial für artistischen Ausdruck jedoch eben gerade in der Betrachtung der Muminbücher als Kinderbücher: „[…] just som barnböcker, som ,naiva‘ texter, öppnar muminböckerna speciella konstnärliga möjligheter.“20 „[…] gerade als Kinderbücher, als bewusst ,naive‘ Texte, ermöglichen die Muminbücher spezielle künstlerische Möglichkeiten.“ Diese Überlegung liegt auch der vorliegenden Arbeit zugrunde.

Die jüngere Forschung weist ein breit gefächertes Interesse an unterschiedlichsten Aspekten aus. So haben sich rezentere Lektüren mit psychologischen (Müller-Nienstedt 1994) oder philosophischen (Laajarinne 2011) Aspekten ihrer Texte auseinandergesetzt. Der besondere Sprachstil (Helenelund 1985) sowie ihre deutschsprachige Übersetzungsgeschichte (Jendis 2001) waren ebenfalls bereits Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die aktuellsten literaturwissenschaftlichen Abhandlungen zur Muminserie stammen von Agneta Rehal-Johansson (2006) und Sirke Happonen (2007). Rehal-Johansson definiert zwei Hauptmotive, die Muminfamilie und das Mumintal, und untersucht deren Metamorphosen – einerseits von Muminbuch zu Muminbuch, andererseits interessiert sie sich ebenfalls dafür, wie sich die genannten Motive in den einzelnen Muminbüchern durch die Umarbeitungen verändern. Dabei versteht sie das Muminwerk als einen generativen Prozess. Davon ausgehend beschreibt sie übergreifende Tendenzen bei den beiden Überarbeitungsphasen.21 Gestalterische Veränderungen, die das Buch als Kunstwerk in den Mittelpunkt setzen könnten, lässt sie gänzlich aussen vor. Sie betont jedoch die Komplexität, die sich durch die ständigen Veränderungen ergeben: „Den slutliga muminsviten är ett ovanligt komplext verk, inte bara som barnlitteratur betraktad. Den omfattar alltifrån äventyrs- och utvecklingsromaner för barn, till genreparodier, psykologiska studier, moraliteter och kammarspel i prosaform.“22 „Die Muminreihe ist ein ungewöhnlich komplexes Werk, nicht nur als Kinderliteratur betrachtet. Es umfasst alles von Abenteuer- und Entwicklungsromanen für Kinder bis Genreparodien, psychologische Studien, Moral- und Kammerspiele in Prosa.“ Rehal-Johanssons Ausgangspunkt sind die jüngsten Versionen, diese bezeichnet sie als das Muminwerk. Entsprechend sieht sie die früheren Versionen als Abweichungen davon. Damit kehrt sie die gängige Praxis um. Letztlich, so schlussfolgert sie, entsteht durch die Umarbeitungen eine kohäsive Romanreihe über Kindheit und Familienleben.23

Sirke Happonen interessiert sich für die Entwicklung einer Ästhetik der Bewegung und der Statik in Text und Bild. Sie geht darauf ein, wie Jansson eine spezifische Figurenchoreographie entwickelt, und betont ebenfalls eine Mannigfaltigkeit, was den narrativen Stil und die Illustrationsart betrifft, was wiederum die Einzigartigkeit der einzelnen Muminbücher zementiert. Happonen betrachtet sowohl die Bilderbücher wie auch die Muminbücher und arbeitet teilweise mit handschriftlichem Material, Illustrationsskizzen, und setzt diese in Kontrast zu den gedruckten Illustrationen.

Text-Bild-Beziehungen, Arbeitsprozesse, Künstleridentität und die Muminwelt sowie das Buch als Kunstwerk sind Themen, die immer wieder gestreift werden. Dies macht der Überblick über die Monografien deutlich. Gleichermassen wurde evident, dass diese Themen ein marginales beziehungsweise meist eher beiläufiges Dasein fristen. Aus diesem Grund kann man von einem material turn in der Jansson-Forschung nicht sprechen. Im Unterschied zu den vorgestellten Arbeiten zu Tove Janssons Schaffen werden nachfolgend die oben genannten Aspekte in den Mittelpunkt gestellt, als gleichwertige Koponenten eines facettenreichen Materialitäsbegriffs, wie er vorgängig beschrieben wurde.

1.4.Disposition und Korpuswahl

Die Suche nach einem Materialitätsbewusstsein, welches sich auf einer stofflichen wie auch poetologischen Ebene offenbart, liegt als kleinster gemeinsamer Nenner sämtlichen Analysekapiteln zugrunde. Diesem komplexen Materialitätsbegriff wird im Aufbau der Arbeit Rechnung getragen, indem sich auch die Analysen, in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand, auf verschiedenen Ebenen bewegen: Auf der Ebene des ungedruckten Materials, also den Vorarbeiten unterschiedlichster Art, auf inhaltlicher Ebene und schliesslich auch auf der Ebene des Buchs als Objekt. Letzteres geschieht auf zwei unterschiedliche Arten. Einmal steht die Inszenierung des Buchs als solches im Vordergrund, einmal die Buchgestaltung. Eine derartige Herangehensweise ergibt ein besonders differenziertes Bild der Reflexion der erwähnten Themen. Die theoretische Grundlage der Analysen stützt sich auf ein breites und interdisziplinäres Gerüst an Medien-, Materialitäts- sowie editionsphilologischen Theorien. Wichtige Namen werden bereits in der Disposition genannt. Jedes Kapitel wird jedoch mit konzeptionellen und theoretischen Ausführungen eingeleitet.

Spricht man vom Buch als Artefakt, lenkt dies den Blick unweigerlich auch auf die Genese des Kunstwerks. Das Interesse der Literaturwissenschaft an Handschriften ist keineswegs neu, hat ihren Fokus jedoch verändert beziehungsweise im Sinne des material turns erweitert:

Die Beschäftigung mit der Handschrift hat, auch wenn es um Manuskripte von Autorinnen und Autoren geht, keine Textkonstitution mehr zum Ziel, vielmehr sind es die Materialität und die Ästhetik der Handschrift, die in den Blick der Literaturwissenschaft geraten.1

In diesem Sinne wird im ersten Analysekapitel das ungedruckte Material untersucht. Thomas Wortmann weist darauf hin, dass gerade die critique génétique dazu wichtige Impulse geleistet hat.2 Dies liegt vor allem an ihrem Werkbegriff:

Nur das Werk, so heisst es, könne ästhetische Werte vehikulieren, nicht aber das, was die „critique génétique“ als „avant-texte“ bezeichnet.[…] Dieser Auffassung hält die „critique génétique“ entgegen, dass das Werk nicht den einen, abgeschlossenen, vollkommenen Text meint, sondern den gesamten Verschriftungskomplex, der zwar diesen Text mit einschliesst, aber daneben auch sämtliche Entwurfs- und Arbeitshandschriften integriert, die diesem Text vorausgehen.3

Entsprechend bildet die critique génétique eine wesentliche theoretische Basis dieses Kapitels. Sie etablierte sich in den 1960er-Jahren in Frankreich und geht auf ideologische Vorläufer wie Stéphane Mallarmé und Paul Valéry zurück. Valéry war daran beteiligt, das ästhetische Interesse vom Produkt auf die Produktion zu lenken.4 Als Grundlagentext der critique génétique gilt Edgar Allan Poes Gedicht The Philosophy of Composition: „one of the foundational texts of French genetic criticism“.5 Darin wird ein dezidiert mechanischer Schreibprozess beschrieben. So wie beim Material der Blick vom Produkt auf die Produktion gewendet wird, wird der Künstler als Produzent, als Handwerker gesehen. Diesbezüglich dienen die Texte von Gottfried Benn Probleme der Lyrik (1968) und Walter Benjamin Der Autor als Produzent (1977) als Grundlage.

Die Produktion von Literatur wird in einem weiteren Kapitel beleuchtet, in dem sich der Fokus auf die zahlreich vorhandenen Schreib- und Leseszenen in den Muminbüchern richtet. Die intensive schriftstellerische Tätigkeit vor allem Muminpappans lädt geradezu dazu ein, zu untersuchen, wie das Produzieren und Rezipieren von Literatur sowie unterschiedliche Konzepte von Autorschaft in den Texten selbst verhandelt werden. Denn „Schreibakte sind […] nicht nur Aufzeichnungsakte. Es sind auch Akte, in denen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissensbestände produziert, artikuliert und organisiert werden.“6 Bezüglich der Schreibszenen sind die Ausführungen Rüdiger Campes Die Schreibszene. Schreiben (1991) sowie von Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti „Schreiben heisst: sich selber lesen“ (2008) massgeblich. Die Schreibszene wird dabei als ein Konvolut verschiedenster Handlungen gesehen, das den Akt des Schreibens performativ beschreibt, beziehungsweise rahmt. Somit wird das Schreiben in seiner Materialität betont. In einem engen Zusammenhang mit den Schreibszenen stehen Konzeptionen von Autorschaft, die als Spiegelungen unterschiedlicher Künstleridentitäten interessant sind (vgl. Behschnitt (1999), Amstutz (2004), Bohnenkamp (2001)) und in der Analyse daher ebenfalls Beachtung finden. Bezüglich der Prozesse der Werkentstehung und der Künstlerrolle bildet dieses Kapitel also eine Erweiterung zum vorausgehenden.

Von den Reflexionen über das Machen von Literatur, von Literatur als Kunst und dem Rollenbild des Künstlers wendet sich der Blick im darauf folgenden Analysekapitel Richtung Buch. Dem Buch wird oftmals eine düstere Zukunft prophezeit. Michel Butor sieht jedoch gerade in der wachsenden Konkurrenz durch andere Medien eine Chance für das Buch, seine „Würde als Monument“zurückzubekommen.7 „Zeitung, Funk, Fernsehen und Film werden das Buch zwingen, immer ,schöner‘, immer ,dichter‘ zu werden.“8, postuliert er. In diesem Sinne widmet sich das dritte Analysekapitel dem Buch als Artefakt. Um sich dieser Thematik anzunähern, muss in einem ersten Schritt geklärt werden, was ein Buch ausmacht und wie sich die Begriffe „Buch“ und „Text“ auseinanderhalten lassen. Diesbezüglich sind etwa folgende Arbeiten relevant: Jürgen Nelles Bücher über Bücher. Das Medium Buch in Romanen des 18. und 19. Jahrhunderts (2002), Bill Brown A sense of things. The object matter of American literature (2003), Erika Fischer-Lichte Ästhetik des Performativen (2004). Grundlegend für die Analyse ist jedoch das Konzept des Paratexts nach Gérard Genette. Denn durch den Paratext, so Genette, wird ein Buch erst zum Buch.9 Genauer wird erörtert, welche paratextuellen Elemente eingesetzt werden, um das Buch als solches in Szene zu setzen. Mit anderen Worten, es geht um eine fundamentale Rahmung des Textes, sodass dieser als Buch wahrgenommen wird, und nicht in erster Linie um physische Merkmale des Buchs.

Die Thematik des vorherigen Kapitels weiterführend, steht im vierten und letzten Analysekapitel die Buchgestaltung im Mittelpunkt. Untersucht werden klassische paratextuelle Elemente wie etwa das Cover oder die Titelseiten. Dabei steht jedoch deren visuelles Erscheinungsbild im Vordergrund. Ebenfalls analysiert wird das Seitenlayout, genauer die Relation von Text und Bild, Typografie und Farbgebung. Wohl attestiert Genette dem Visuellen ebenfalls eine Bedeutung, wie folgendes Zitat beweist:

Doch muss man zumindest den paratextuellen Wert bedenken, den andere Erscheinungsformen annehmen können: bildliche (Illustrationen), materielle (alles, was zu den typographischen Entscheidungen gehört, die bei der Herstellung eines Buches mitunter sehr bedeutsam sind) […].10

Trotzdem bezieht er diese Aspekte nicht in seine Untersuchung mit ein. Ferner wird in der Untersuchung ein besonderes Augenmerk auf die dritte Dimension des Buchs, auf dessen Physis gelegt, um deren Bedeutung im Gestaltungskonzept zu beleuchten. Carlos Spoerhase liefert für diese Überlegung mit Linie, Fläche, Raum. Die dritte Dimension des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (2016) einen Grundlagentext. Das Kapitel widmet sich also dem Buch als gestalterisches Kunstwerk und somit auch Tove Jansson nicht als Malerin oder Autorin, sondern Buchkünstlerin.

Den grössten Teil des Korpus’ stellen die Muminbücher. Im Gegensatz zu den meisten früheren Arbeiten werden darunter nachfolgend nicht die Originalausgaben verstanden, sondern in Anlehnung an Agneta Rehal-Johansson die acht Muminbücher, die zwischen 1968 und 1970 in schwedischer Sprache erschienen. Das Debüt Småtrollen och den stora översvämningen (1945) ist nicht Teil dieser Reihe, da es im Unterschied zu den übrigen Muminbüchern von den Umarbeitungen ausgeschlossen war. Nicht berücksichtigt in der vorliegenden Arbeit wird weiter die Novellensammlung Det osynliga barnet (1969). Lediglich im Falle von Kometen kommer werden zwecks einer Detailanalyse alle drei edierten Versionen in die Untersuchung miteinbezogen. Da die Grundlage der Analyse die schwedischen Ausgaben der Muminreihe bilden, werden entsprechend die schwedischen Titel wie auch die schwedischen Figurennamen verwendet. Zusammenfassend ergibt sich folgende Liste: Kometen kommer (1968) (dt. Titel „Komet im Mumintal“), dazu gehören die früheren Versionen Kometjakten (1946) und Mumintrollet på kometjakt (1956), Trollkarlens hatt (1968) (dt. Titel „Die Mumins. Eine drollige Gesellschaft“), Muminpappans memoarer (1968) (dt. Titel „Muminvaters wildbewegte Jugend“), Farlig midsommar (1969) (dt. Titel „Sturm im Mumintal“), Trollvinter (1970) (dt. Titel „Winter im Mumintal“), Pappan och havet (1969) (dt. Titel „Mumins wundersame Inselabenteuer“) sowie Sent i november (1970) (dt. Titel „Herbst im Mumintal“).

Neben den erwähnten Muminbüchern umfasst das Korpus ebenfalls folgende Bilderbücher Janssons: Hur gick det sen? (1952) (dt. Titel „Mumin, wie wird’s weiter gehen?) Ein Buch mit Mymla, Mumin und der kleinen My”), Vem ska trösta knyttet? (1960) (dt. Titel „Wer tröstet Toffel?“) und Den farliga resan (1977) (dt. Titel „Die gefährliche Reise“). Die Muminbücher und die Bilderbücher wurden noch kaum gemeinsam in einer Arbeit untersucht. In der geplanten Diskussion der Materialitätsaspekte scheint dies jedoch fruchtbar, da so auch ein eventuelles gattungsspezifisches Arbeiten festgestellt werden kann.

Schliesslich ist auch das ungedruckte Material, welches in der Åbo Akademi in Finnland der Öffentlichkeit zugänglich ist, wesentlicher Bestandteil des Korpus’. Bei den Transkriptionen wird keine diplomatische, sondern eine linearisierte Transkription angestrebt. Die diplomatische Transkription bewahrt den materiell-visuellen Aspekt. Bei einer linearisierten Umschrift wird dieser zum Vorteil einer besseren Lesbarkeit teilweise aufgegeben.11

2.Zur Inszenierung des „Machens“

„Ein Gedicht entsteht überhaupt nur selten – ein Gedicht wird gemacht.“1

In diesem Zitat zementiert Gottfried Benn die Lyrik als Kunstprodukt und die Relevanz der Verfertigung derselben. Dabei geht er auf Autoren ein, denen er gar ein weitaus grösseres Interesse an der Gestaltung eines Werks unterstellt als am Werk selbst. Mehr noch, Benn konstatiert: „Die modernen Lyriker bieten uns geradezu eine Philosophie der Komposition und eine Systematik des Schöpferischen.“2