Kunsttheorie - Hubert Locher - E-Book

Kunsttheorie E-Book

Hubert Locher

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Beschreibung

Erstmals liegt mit diesem Buch eine einbändige Überblicksdarstellung zur Kunsttheorie vor: von Aristoteles und Platon über Hegel und Heidegger bis zu Walter Benjamin, Susan Sontag und den Kontroversen um die documenta fifteen. Eindrucksvoll stellt Hubert Locher dar, wie über Kunst im Laufe der Jahrhunderte reflektiert und geschrieben wurde. Die Kunsttheorie, also das kritische Nachdenken über Kunst, hat ihr Fundament in der griechischen Antike. Die Geschichte der Kunsttheorie als Theorie der bildenden Künste allerdings beginnt erst in der Frühen Neuzeit mit Leon Battista Alberti oder Albrecht Dürer als bedeutenden Exponenten. Mit der frühen Kunstkritik des 18. Jahrhunderts und der Adressierung eines breiteren Publikums nimmt die Diskussion eine neue Richtung, die sich an der Schwelle der Moderne weiter auffächert, wenn Künstlermanifeste aufkommen und eine abstrakte, philosophisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung einsetzt. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird u.a. von Theodor W. Adorno und einer neuen kritischen Theorie die politische Dimension der Kunst thematisiert. Dieses umfassende Panorama vielfältiger Positionen, Theorien und Denkweisen ist das kommende Standardwerk für alle, die sich mit Kunst beschäftigen.

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Hubert Locher

KUNSTTHEORIE

VON DER ANTIKE BIS ZUR GEGENWART

C.H.Beck

ZUM BUCH

Erstmals liegt mit diesem Buch eine einbändige Überblicksdarstellung zur europäischen Kunsttheorie vor: von Aristoteles und Platon über Hegel und Heidegger bis zu Walter Benjamin, Susan Sontag und den Kontroversen um die documenta fifteen. Eindrucksvoll stellt Hubert Locher in diesem umfassenden Panorama vielfältiger Positionen, Theorien und Denkweisen dar, wie über Kunst im Laufe der Jahrhunderte reflektiert und geschrieben wurde. Das künftige Standardwerk für alle, die sich mit der Kunst und ihren Grundlagen beschäftigen.

ÜBER DEN AUTOR

HUBERT LOCHER ist Professor für Geschichte und Theorie der Bildmedien und Direktor des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte/Bildarchiv Foto Marburg an der Philipps-Universität Marburg.

INHALT

VORWORT – DIE KUNST UND IHRE THEORIE

Der westliche Kunstbegriff – historisch

Die Gestalt der Theorie

1.  WAS IST THEORIE? WAS IST KUNSTTHEORIE?

Die Betrachterperspektive – Genussfragen

Die Seite der Produktion – die Experten

Zum Begriff der Theorie – Antike Wurzeln

Kunstphilosophie und andere Formen der Kunsttheorie

Kunstwissenschaft als Kunsttheorie

2.  KUNSTTHEORIE DER ANTIKE – KÖNNEN UND SCHÖNHEIT

Techne – Ars – Kunst

Künstlerische Tätigkeit und Kunstwerke im Kontext philosophischer Betrachtung

Die Kunst der Beschreibung – Mimesis

Der Kanon des Polyklet – Symmetria

Platon – Natur und Ideal

Eine philosophische Kunsttheorie – die Poetik des Aristoteles

Das Ideal im menschlichen Maß – Vitruvs Proportionsfigur

3.  DIE METAPHYSISCHE FORMEL – KUNST UND KONTEMPLATION IM MITTELALTER

Das Problem des christlichen Bildes

Kritik von Schönheit und Schmuck – Bernhard von Clairvaux

Suger von Saint-Denis

Am Übergang zur Theorie – Theophilus Presbyter und Villard de Honnecourt

4.  AUFWERTUNG DER MALEREI – NATUR, POESIE UND WISSENSCHAFT

Die Würde der Malerei – Ut pictura poesis

Leon Battista Alberti – Theoretiker der bildenden Künste

Das Bild als Repräsentation des Sehens

«Historia» – Komposition und Erfindung

Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer: Empirische Naturbetrachtung und Kunst der Messung

5. HISTORIOGRAFIE UND KUNSTREGEL

Künstlerbiografien

Giorgio Vasari – die ‹Vite›

Gesamtprojekt und Struktur der ‹Lebensbeschreibungen›

Paragone, Disegno und die Grundbegriffe der Kunsttheorie

Die drei Zeitalter und die perfetta regola

Vasaris kritische Methode

Vasaris Folgen

6.  DIE KUNSTLEHRE DER AKADEMIEN IN ITALIEN UND FRANKREICH – KANONBILDUNG UND DOKTRIN

Differenzierung und Fokussierung

Die Accademia del disegno in Florenz

Die römische Accademia di San Luca – «discorsi e ragionamenti»

Frankreich – Die Conférences de l’Académie royale de peinture et de sculpture

Die Formalisierung einer akademischen Doktrin

7.  KUNSTKRITIK UND KUNSTGESPRÄCH – GESCHMACK UND URTEIL

Das konkrete Werk als Ausgangspunkt

Die Kunstausstellung

Denis Diderot

Kunstkritik in Deutschland – Goethes Verteidigung des Klassischen

Friedrich Schlegel – Kritische Gänge durch das Museum

«Mahlerei sey Mahlerei und nichts anderes»

Das romantische Kunstwerk als «Hieroglyphe»

8.  DIE MODERNEN WISSENSCHAFTEN DER KUNST – KUNSTPHILOSOPHIE UND KUNSTGESCHICHTE

Ästhetik als Theorie sinnlicher Erkenntnis – Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier

Kant und die «schönen Künste»

Charles Batteux und die «schönen Künste»

Enzyklopädie als Form der Theorie – Johann Georg Sulzer

G. W. F. Hegel – Ästhetik und Kunstgeschichte

Die Handbücher – Kunstgeschichte der ganzen Welt

9.  DER BLICK NACH INNEN – THEORIEBILDUNG ALS SELBSTBESINNUNG IN BRIEF, TAGEBUCH, LEBENSBERICHT

Das Interesse am authentischen Lebenszeugnis

Das Leben des «Genius»

Des Künstlers Wort: C. D. Friedrich und C. G. Carus

Künstlerbriefe und Lebensberichte als Quellenschriften

Eugène Delacroix – Tagebuch und ‹Dictionnaire›

Van Gogh – Künstlerbriefe als Literatur und als Theorie

10.  KUNSTKRITIK ALS FORM MODERNER THEORIE – VISIONÄRE UND APOLOGETEN DER MODERNITÄT

John Ruskin – Modern Painters

Charles Baudelaire – Modernität als ästhetisches Konzept

Imagination – Der Salon von 1859

Der moderne Künstler als der «Maler des modernen Lebens»

Émile Zola und Edouard Manet

«Modernistische» Kritik im 20. Jahrhundert

11.  AUFTRITT DES KÜNSTLERS IN EIGENER SACHE – STREITSCHRIFT, PROGRAMM, LEHRBUCH

Emanzipation des Künstlers: Whistler vs. Ruskin

Künstlerschriften und Manifeste um 1900

Der Blaue Reiter – Programm einer Künstlergruppe

Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst

Theorie als Lehre – die Bauhausbücher

Grundbegriffe einer neuen gestaltenden Kunst – Abstraktion und Konkretion

12.  DIE FRAGE NACH DEM «KUNSTWERK» – KUNST UND WAHRHEIT IM TECHNISCHEN ZEITALTER

Walter Benjamin – Original und Reproduktion

Museum des Sehens – André Malraux

Martin Heidegger – Vorträge, Holzwege und ein Büchlein für das Volk

Ding – Zeug – Werk

Van Gogh und die Schuhe

Miss-Verstehen – Kunstgeschichte und Philosophie

Jacques Derrida – Rückerstattung der Wahrheit an die Malerei

Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode – Kunstwissenschaft und Kunstbegriff

«Bildwissenschaft» und die Frage nach der Kunst

13.  KUNSTAUTONOMIE UND GESELLSCHAFT – KUNSTWISSENSCHAFT, KUNSTKRITIK UND DIE POLITISCHE DIMENSION

Politische Vereinnahmung – Propaganda und Re-education

Theoretische Anleitung zur Kunst und zur Freiheit – Willi Baumeister

Rettung der Tradition. Moderne Kunst und das «Menschenbild» – Hans Sedlmayr

‹L’art pour l’homme› – Werner Haftmann und die documenta

Abstraktion als Reflexionskunst – Arnold Gehlen

Das «offene Kunstwerk» – Rezeption als Teil des Werks

Das Kunstwerk und die «Kunstwelt» – Arthur C. Danto

Übergang zur Kritischen Theorie – die Frankfurter Schule

Kritische Kunstwissenschaft

Die Kunstausstellung als Ort der Theorie – documenta 5

Postmoderne Perspektiven – Kunst und visuelle Kultur

14.  ZUM SCHLUSS: ENTGRENZUNG (GLOBAL, POSTKOLONIAL) – THEORIEBILDUNG IM VIELSTIMMIGEN DISKURS

Was ist Kunst heute, was kann, was darf, was soll sie?

Globale Teilhabe – «Weltkunst» im Zeitalter des Postkolonialismus

Kunsttheorie heute – die Kunstausstellung als Katalysator

DANK

ANMERKUNGEN

Vorwort – Die Kunst und ihre Theorie

1. Was ist Theorie? Was ist Kunsttheorie?

2. Kunsttheorie der Antike – Können und Schönheit

3. Die metaphysische Formel – Kunst und Kontemplation im Mittelalter

4. Aufwertung der Malerei – Natur, Poesie und Wissenschaft

5. Historiografie und Kunstregel

6. Die Kunstlehre der Akademien in Italien und Frankreich – Kanonbildung und Doktrin

7. Kunstkritik und Kunstgespräch – Geschmack und Urteil

8. Die modernen Wissenschaften der Kunst – Kunstphilosophie und Kunstgeschichte

9. Der Blick nach innen – Theoriebildung als Selbstbesinnung in Brief, Tagebuch, Lebensbericht

10. Kunstkritik als Form moderner Theorie – Visionäre und Apologeten der Modernität

11. Auftritt des Künstlers in eigener Sache – Streitschrift, Programm, Lehrbuch

12. Die Frage nach dem «Kunstwerk» – Kunst und Wahrheit im technischen Zeitalter

13. Kunstautonomie und Gesellschaft – Kunstwissenschaft, Kunstkritik und die politische Dimension

14. Zum Schluss: Entgrenzung (global, postkolonial) – Theoriebildung im vielstimmigen Diskurs

LITERATURVERZEICHNIS

Abkürzungen

I. Primärliteratur

II. Kritische Literatur

III. Internetquellen zu Kapitel 14

ABBILDUNGSNACHWEIS

PERSONENREGISTER

VORWORT – DIE KUNST UND IHRE THEORIE

Kann man ein Buch über Kunsttheorie schreiben? Ist es umsetzbar, auf einigen hundert Seiten diesen weitläufigen Gegenstand in vernünftiger Weise zu fassen? Das klingt nach einem uferlosen Unterfangen, beinahe als ob man sagen würde, man wolle ein Buch «über Kunst» schreiben oder eines «über die Welt». Und ist es überhaupt berechtigt, über Kunsttheorie im Singular zu sprechen? Sollte man nicht doch besser, wie dies in vielleicht vergleichbaren Unternehmungen ausdrücklich angesagt wird, von «Theorien» im Plural sprechen, da man doch gewiss nur einige und schon gar nicht «die» Kunsttheorie behandeln könnte?[1] Diese Perspektive ist ausdrücklich nicht gemeint, worauf übrigens schon das Fehlen des bestimmten Artikels hindeutet: Hier ist die Rede von Kunsttheorie im Sinne eines Überbegriffs und eines angenommenen Diskurszusammenhangs, nicht als Bezeichnung einer feststehenden Sache oder eines Lehrgebäudes.

Ein Indiz dafür, dass sich ein solcher mehr oder weniger kohärenter Diskurszusammenhang beschreiben lässt, ergibt sich schon daraus, dass wir heute von Kunsttheorie gerade so sprechen können wie von Kunst: Zu beidem gibt es einen wissenschaftlichen Fachdiskurs und zugleich eine gewisse Neugier in einem breiteren Publikum, das sich, wie man so sagt, für Kunst interessiert, so wie man sich auch für Musik oder Literatur interessiert. Das heißt, man weiß schon etwas davon, hat eine vielleicht eher undifferenzierte Vorstellung davon, möchte aber gern mehr darüber wissen, auch in der Überzeugung, dass diesbezügliche Kenntnisse wichtig, interessant oder nützlich seien. An dieses Publikum richtet sich eine ganze Reihe von Büchern der letzten Jahre und Jahrzehnte, die schon in ihren Titeln Fragen stellen, von denen Autoren und Verlage vermuten (und sicherlich hoffen), dass sie im Publikum auf Anklang stoßen: «Was ist Kunst?»[2], «Was ist gute Kunst?»[3]. Man findet auch den mit Empörung und Erstaunen ausgesprochen Ausruf «Und das ist Kunst?!»[4]

Bezeichnend ist, dass in den meisten dieser Bücher sowohl von «Kunst» wie auch von «Kunsttheorie» gesprochen wird. Fragt etwa das Büchlein von Cynthia Freeland auf dem Titel «But is it Art?», so zeigt der erklärende Untertitel sogleich eine «Introduction to Art Theory» an.[5] Eine in Bildern argumentierende Einführung «für Einsteiger» beginnt mit der theoretischen Einlassung, «was man unter Kunst versteht».[6]

Diese große Frage steht auch im Mittelpunkt dieses Buches. Sie soll jedoch nicht durch einfache Feststellungen oder Behauptungen oder Verweise auf exemplarische, «wahre» Kunst zur Seite geschoben, sondern als Frage ernst genommen und auf dem Umweg der Erörterung dessen, was sich in den Theorien der Kunst niedergeschlagen hat, beantwortet werden. Deshalb bleibt dieses Buch – trotz seines beträchtlichen Umfanges – eine Einführung als Annäherung an eine Instanz unserer Kultur mittels einer Erläuterung wesentlicher Überlegungen, die dazu angestellt worden sind. Es kann dabei nicht darum gehen, einen komplexen Gegenstand systematisch zu erschöpfen. Vielmehr sollen einige große Linien aufgezeigt und an Schlüsselstellen in hinreichender Vertiefung zentrale Details verfolgt werden, um punktuell die Logik eines Argumentes aufzuzeigen, das Bedeutung für einen größeren Zusammenhang hat.

Der westliche Kunstbegriff – historisch

Ein solcher Versuch ist nur vom Standpunkt der Gegenwart aus möglich. Es geht also um eine Annäherung an die Bestimmung dessen, was aus heutiger Sicht Kunst und Kunsttheorie umfasst, dabei im – notwendigen – Blick auf die Tradition. Unser Begriff von «Kunst» ist zwar recht jungen Datums, er wird erst im 18. Jahrhundert im heutigen Sinn geläufig.[7] Doch lebt in der Vorstellung vom Inhalt dieses Begriffs eine Fülle von Auffassungen weit älteren Ursprungs, von Meinungen, Konzepten, Gerüchten und Vermutungen, die wir bei dem Wort «Kunst» im Sinn haben, selbst wenn wir sie vielleicht bei näherer Überlegung ablehnen würden, und die es daher zu hinterfragen lohnt. Hierzu gehört die Meinung, dass Kunst «schön» sei oder zumindest früher einmal schön sein sollte, ebenso wie die Überzeugung, dass alle Völker (oder alle Kulturen) in irgendeiner Weise Kunst schaffen, oder die romantische Vorstellung, dass man Werke der Kunst – anders als z.B. Werke der Wissenschaft – spontan und intuitiv verstehen könne, dass sie Ausdruck einer seelischen Verfassung seien, dass Künstler gleichsam aus dem Nichts schöpferisch tätig seien und vieles mehr. Bei den hier nur unvollständig aufgezählten Vorstellungen, die im Begriff der Kunst und des Künstlers enthalten sind, handelt es sich um «Topoi» [nach griech. topos, Ort]. Dieser aus der antiken Rhetorik stammende Begriff bezeichnet wichtige Gemeinplätze, die typischerweise über längere Zeit und bis in die Gegenwart mehr oder weniger geläufig sind, oftmals zu Klischees verflacht, dabei aber alles andere als selbstverständlich und häufig nur im Kontext ihrer historischen Herkunft zu erklären sind. Allerdings soll hier keine umfassendere historische Topologie der Kunsttheorie in Angriff genommen werden;[8] diese stellt ein Forschungsfeld dar, das im größeren Rahmen einer kritischen Begriffsgeschichte der Kunsttheorie und Ästhetik aufgehoben ist (auf die im Folgenden immer wieder zurückgegriffen wird), die präzise Tiefensondierungen erbringt.[9]

Das vorliegende Buch will also darstellen, wie sich im Lauf der Jahrhunderte aus den komplexen Gedankenzusammenhängen das fügt, was wir heute und im Überblick als mehr oder weniger kohärente Kunsttheorie lesen können. Das Kompositum «Kunsttheorie» kann ohne ein Verständnis des Wortes «Kunst» nicht erfasst werden. Der Begriff der Kunst wird heute oft sehr unspezifisch und beiläufig verwandt. Im Singular taucht das Wort, wie bereits erwähnt, erst im 18. Jahrhundert auf. Diese spezifisch moderne Rede von «Kunst» im Singular (im Englischen: «Art with a capital A») privilegiert tendenziell den Bereich der bildenden Kunst (auch «Bildkünste», englisch: «Visual Arts»), während Musik und Literatur unter ihrem eigenen Oberbegriff oft selbständig behandelt werden und die Architektur sich bereits in frühen Jahrhunderten abgesondert hat. So kann man heute zwar von Literatur als Kunstform sprechen, von Musik als einer Kunst oder auch von der Baukunst. Spricht man jedoch von «Kunst» ohne weitere Spezifikation, so meint man zunächst und hauptsächlich das, was als mehr oder weniger «bildende Kunst» in Kunstmuseen gesammelt, in Kunstgalerien ausgestellt, auf der Documenta in Kassel und den Biennalen gezeigt und in Kunstauktionen gehandelt wird. Die Grenzen zu den anderen Künsten sind allerdings immer schon offen, zumal in der Kunst der jüngeren und jüngsten Zeit die älteren Grenzziehungen vielfach wieder relativiert werden.

Ähnliches gilt für eine andere Begrenzung, die heute wohl von größerem Belang ist: Der heutige Kunstbetrieb, vor allem der Kunstmarkt, ist längst nicht nur international, sondern global geworden. Diese Globalisierung ist aber eine zwiespältige Angelegenheit: Positiv betrachtet ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts endlich jene Utopie der Verbundenheit aller Völker zumindest im Bereich der Kunst möglich geworden. Wir können bereichernde Impulse aus den nichteuropäischen Kulturkreisen empfangen und vermögen unsere eigene Tradition im Kontrast differenter Konzepte vielleicht besser zu erkennen. Andererseits stellt sich doch die Frage, ob die Globalisierung der Kunst und des Kunstbetriebs nicht zutiefst westlich geprägt ist. Ist es nicht doch die europäische, die «westliche» Konzeption, welche in den periodischen Großausstellungen und im internationalen Kunstmarkt von Shanghai bis New York, in Dakar und São Paulo nachhaltig wirkt? Ist das die Fortsetzung des Kolonialismus auf kultureller Ebene? Sind die heute unter dem Dach der großen internationalen Kunstmessen und Kunstausstellungen vertretenen Werke, selbst wenn sie von Künstlerinnen und Künstlern aller Kontinente und der verschiedensten Kulturen stammen, nicht doch zu weiten Teilen Variationen einer einheitlichen, westlich geprägten Auffassung von Kunst?

Diese Fragen seien gestellt und mögen – vorerst – offen bleiben. Um auf sie eine Antwort zu finden, ist zunächst zu bestimmen, was denn diesen westlichen Kunstbegriff ausmacht. Einen solchen Versuch unternimmt die vorliegende Einführung, ausgehend von der Annahme, dass unter Kunstwerken in dieser Tradition Artefakte zu verstehen sind, die sich der sinnlichen Betrachtung darbieten und zugleich zur intellektuellen Reflexion anregen sollen. Kunst in diesem Sinn ist grundsätzlich auf die intellektuelle Beteiligung eines Betrachters hin angelegt. Sie fordert demnach Theorie, setzt Theorie voraus. Die theoretische Annäherung, Auseinandersetzung, das Nachdenken, die intellektuelle Reflexion wären somit für diesen Kunstbegriff konstitutiv. Es lässt sich wohl zeigen, dass sich ein solches über Jahrhunderte gewachsenes Konzept künstlerischer Arbeit in der europäischen Moderne verdichtet und an Überzeugungskraft gewinnt. Man wird heute aber auch Anlass zur Frage haben, ob das Paradigma in den letzten Jahrzehnten eine neue Interpretation oder gar eine fundamentale Umgestaltung erfahren hat oder erfahren muss. Wie auch immer die Antwort ausfallen mag, sie kann nur auf der Grundlage der Kenntnis des eigenen Standpunktes mit einiger Glaubwürdigkeit versucht werden.

Nun bietet, vielleicht paradoxerweise, die womöglich hegemoniale europäische, «westliche» Tradition durchaus günstige Voraussetzungen, um auch eine Öffnung des Denkens einzuschließen. Immer schon und immer wieder ist im westlichen Denken auch das Differente denkmöglich, die Abweichung als reizvoll markiert und die Grenzüberschreitung als interessant erschienen. Es soll hier demnach, selbst wenn es um die Darlegung einer westlichen Tradition geht, keineswegs der Festschreibung eines abendländischen Blicks das Wort geredet werden. Weder wird ein «westlicher» Kunstbegriff verteidigt oder propagiert noch dessen «Ende» diagnostiziert. Vielmehr ist diese aus dem Geist der Gegenwart und im Blick auf die Tradition konzipierte Einführung in die Kunsttheorie auf die Möglichkeit und Notwendigkeit einer globalen Orientierung und Öffnung ausgerichtet. Überhaupt aber ist sie von der Überzeugung getragen, dass eine kontinuierliche Revision des Bestandes an Theorien und aller denkmöglichen Varianten Teil der Sache selbst ist. Anzuerkennen ist dabei ebenso, dass die so genannte oder so empfundene eigene Tradition keineswegs selbstverständlich zur Verfügung steht und kein gegebener Besitz ist, sondern der Aneignung bedarf, sofern man ihrer innewerden will.

Unvermeidlich ist es, dass nach einer Klärung des grundlegenden Interesses die Auseinandersetzung mit der Kunsttheorie der Antike, Griechenlands und Roms, an erster Stelle steht. Denn sie bildet das Fundament aller wissenschaftlichen und theoretischen Bemühungen der folgenden Jahrhunderte in Europa. Über die Bedeutung des sogenannten «Mittelalters» für die Kunsttheorie lässt sich trefflich streiten. Einige einschlägige Splitter sind uns überliefert, die sich auch in der Differenz zum späterhin sich durchsetzenden Konzept fruchtbar erläutern lassen (vgl. Kap. 3). Die kanonische Geschichte der Kunsttheorie beginnt jedenfalls mit der «Renaissance» und wird seither über ein halbes Jahrtausend hinweg differenziert und variiert, um seit dem 18. Jahrhundert in eine neue Richtung geführt zu werden. Die Diskussionen und Formen werden im 19. und 20. Jahrhundert reicher, vielleicht auch unübersichtlicher oder aber dichter. Dies schlägt sich in der Gliederung des Buches in Form eines größeren Anteils der Kapitel zur jüngeren Zeit nieder.

Naturgemäß endet eine solche Darstellung entlang des Fadens der Zeit in der Gegenwart. Sie kann in narrativer Hinsicht als Ziel erscheinen, das der geduldige Leser oder die Leserin schließlich erreicht. Es soll aber nicht vergessen werden, dass die Position am Ende auch immer schon der Ausgangspunkt für Zukünftiges gewesen ist. Das zu kritisieren oder zu beklagen ist müßig. Entscheidend ist, dass die Darstellung für die Zukunft offen, der Ausgang ungewiss bleibt.

Die Gestalt der Theorie

Wenn sich aufgrund der Perspektivierung im Aufbau des Bandes eine chronologische Reihung abzeichnet, so ist diese historische Einführung nur bedingt als eine Erzählung der Geschichte der Kunsttheorie gemeint, denn es ist nicht in erster Linie die kontinuierliche narrative Folge, welche hier interessiert, sondern die Darstellung und das Erfassen einer diskursiven, sich stets entwickelnden Tradition. Die Auswahl der Texte wurde so getroffen, dass bestimmte Themen und Problemkomplexe exemplarisch vorgestellt werden. Es ist durchaus gewollt, dass die Themen und Texte überwiegend mit jenem Kanon übereinstimmen, der sich in der weit verstreuten einschlägigen Literatur abzeichnet, um dem Leser oder der Leserin bekannte Wegmarken anzubieten. Dass sich dieselben oder ähnliche Geschichten auch mit anderem Material vorstellen ließen, ist damit nicht ausgeschlossen, ebenso, dass man mit guten Argumenten auch andere Schwerpunkte setzen könnte.

Die Tradition und nachhaltige Relevanz bestimmter Gedanken aufzuzeigen, etwa jene des «ut pictura poesis» («Dichtung sei wie Malerei»), ist ein wichtiges Anliegen, doch erscheint die analytische Betrachtung der jeweils besonderen Ausformulierung eines Theorems ebenso wichtig. Sie erfolgt im Interesse eines genauen Verständnisses der Idee an einem bestimmten Punkt des Diskurses und im jeweiligen historischen Umfeld. Dementsprechend wird in jedem Kapitel ein konkreter Gedanke, ein Ansatz, eine Form des Denkens fokussiert und anhand des ausgewählten Textes erläutert. So geht es also stets um Äußerungen, die klar abgrenzbar sind und für sich gelesen werden können, wenngleich sie auf vielerlei Weise mit anderen Äußerungen, Texten, Bildern, Werken und Ereignissen verbunden sind. Daneben ist eigens zu reflektieren und zu kommentieren, dass ein Text in der Überlieferung verändert und schließlich vom Leser, von der Leserin in Gedanken neu erstellt wird.

Doch hat diese Lektüre eine sichere Grundlage. Denn Texte und Theorien liegen in einer bestimmten Form, einer literarischen und manchmal auch graphischen Gestalt vor, die wesentliche Informationen enthalten kann. Die Gestalt der Texte ist ein Aspekt, der bislang in der einschlägigen Literatur wenig beachtet wurde. Zwar mag zutreffen, dass, wie einmal Hans Blumenberg gesagt hat, «Theorie […] etwas [ist], was man nicht sieht»[10]. Gleichwohl bedarf die Theorie der Konkretisierung im Gedanken, im Wort und schließlich in der Mitteilung, das heißt in der Regel in der schriftlichen Aufzeichnung, ohne die sie nur schwer greifbar und tradierbar ist. So wird Theorie hier grundsätzlich als gestaltetes Denken aufgefasst, das in Texten bestimmter Art und Ordnung durchaus «sichtbar» wird, zumindest aber als literarische, das heißt gelegentlich sogar poetische Form sich ausprägt. Diese Gestalt, die Anlage eines Textes, seine Sprache, die Form der Veröffentlichung bestimmen in kommunikativer Hinsicht die Wirkung und haben darüber hinaus oftmals wesentlichen Anteil am Gehalt. Gedankliche Zusammenhänge, Vorstellungen werden nicht nur im abstrakten Begriff fassbar, sondern schlagen sich auch im konkreten Wort nieder, das somit der Aufmerksamkeit bedarf. Um ein Beispiel zu nennen: In einem philosophischen Dialog wird anders gesprochen als in einem künstlerischen Manifest oder in einem privaten Brief, den ein Künstler an ein Familienmitglied richtet. Alle diese Texte, diese Schriftstücke können gleichwohl als Theorien oder Konstituenten von Theorien von Belang sein. Auch dem Theoretiker sollte, wie dem Dichter und dem bildenden Künstler, zugestanden werden, dass er sich in diskursiven Konventionen bewegt, diese im eigenen Interesse mitgestaltet und nach seinem Bedarf schöpferisch erweitert.

Nicht zu vergessen ist, was in den bislang vorliegenden Überblicksdarstellungen[11] ebenfalls häufig ausgeblendet wird, nämlich die Tatsache, dass schon seit der Frühen Neuzeit nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern argumentiert wird. Theoretische Äußerungen werden illustriert, es werden Diagramme eingefügt, und gerade in der jüngeren Literatur kann das Bildargument zuweilen forciert werden. Überhaupt ist das Bild ein mächtiges Instrument theoretischer Artikulation. Die Grenze zur bildenden Kunst ist fließend. Dementsprechend gibt es in der künstlerischen Produktion jenes Phänomen, das William J. T. Mitchell als «Metapicture» bezeichnet hat. Dies sind Bilder (meist Gemälde), die sich mehr oder weniger offensichtlich als künstlerische Reflexionen über ihre eigene Form zu erkennen geben.[12] So wie es diese Möglichkeit einer gemalten Kunsttheorie gibt, ist davon auszugehen, dass Ähnliches mit Worten passiert: dass Theorie, theoretische Überlegungen auch in dichterischer Form erscheinen. Diese speziellere Form theoretischen Denkens steht nicht im Mittelpunkt, soll aber im Folgenden auch nicht ausgeblendet werden.

Eine Abhandlung von der hier angestrebten Art ist weit davon entfernt, einen enzyklopädischen Überblick geben zu können. Sie bietet, wie schon angedeutet, punktuell, an zentralen Stellen, eine detaillierte Vertiefung in die spezielleren Fragen. Gewinnen kann man durch sie außerdem die Übersicht und ein Verständnis des Zusammenhanges des hier im Einzelnen Vorgestellten. Es ist deshalb eine vielerlei Lücken akzeptierende Darstellung, die aber in der Gesamtschau eröffnen soll, wie über Kunst im Lauf der Jahrhunderte im europäischen Kontext nachgedacht und geschrieben wurde und inwiefern dieses Nachdenken zu einem Teil der Sache geworden ist. Mehr implizit als explizit handelt es sich also auch um eine Darlegung dessen, was Kunst von einem heutigen Standpunkt aus sei. Getragen ist sie von der Einsicht, dass Menschen sich zur Reflexion ihrer Existenz nicht nur des begrifflichen Denkens bedienen, sondern auch dessen, was wir mit jenem Wort bezeichnen, das sich erst im 18. Jahrhundert in der heutigen Bedeutung etabliert: Kunst.

1. WAS IST THEORIE? WAS IST KUNSTTHEORIE?

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Leben: Dem legendären Fußballspieler Alfred «Adi» Preißler (1921–2003), Torjäger, Kapitän der Borussia Dortmund, zweimaliger Deutscher Meister, wird der Spruch zugeschrieben, «Grau ist im Leben alle Theorie – aber entscheidend ist auf’m Platz».[1] Hier spricht der Praktiker und stellt fest, dass Theorie (und zwar «alle») nicht die eigentliche Sache sei, auf die es im wirklichen Leben ankomme. Um ein Fußballspiel zu gewinnen, müsse man kein Intellektueller sein, sondern mit beiden Beinen mitten im Leben und das heißt in diesem Fall auf dem Fußballfeld stehen – und kämpfen, natürlich.

Wer will einer solchen Aussage aus so kompetentem Mund widersprechen? Ein Blick auf die Quelle und deren ursprünglichen Wortlaut lohnt sich: Es ist Johann Wolfgang Goethes (1749–1832) Tragödie Faust, erster Teil, eines der meistzitierten Werke der Weltliteratur, ein Fundus für als geflügelte Worte verbreitete Weisheiten und Sinnsprüche. Dieses Theaterstück enthält im Kern eben jene bemerkenswerte Relativierung der Theorie gegenüber der Ausübung einer praktischen Tätigkeit, die generell, soviel sei hier bereits vorweggenommen, für die gesamte Moderne von großer Bedeutung ist.[2]

Abb. 1  Eugène Delacroix, Illustration nach Goethes Faust, Mephistopheles verkleidet als Faust berät den Studenten: «Und auf des Meisters Worte schwört/Im Ganzen haltet Euch an Worte!/Dann geht ihr durch die sichre Pforte/Zum Tempel der Gewissheit ein», Lithografie, 41,9 x 29 cm, 1827

Hauptfigur des Dramas ist jener, den man einen Theoretiker schlechthin nennen kann: Doktor Faustus, eine zu Goethes Zeiten bereits volkstümliche Gestalt. Er ist hochgelehrt, hat sich alles dem Menschen verfügbare Wissen angeeignet, dennoch ist er unbefriedigt und strebt nach Höherem. So lässt er sich mit dem Teufel, Mephistopheles, ein. Eine Lithographie des französischen Malers Eugène Delacroix (1798–1863) illustriert die Szene, in der am Ende auch jene Worte über die «graue Theorie» fallen, auf die sich Adi Preißler bezieht (Abb. 1). Mephisto berät als Faust ganz in seinem Sinne verkleidet einen angehenden Studenten, der nicht recht weiß, welche Fakultät er wählen soll. Zunächst rät er ihm, sich jedenfalls an Worte zu halten und vor allem auf jene des Meisters zu schwören – Begriffe dagegen seien weniger wichtig. Dann aber geht es um das Studienfach: Von der Juristerei und der Theologie rät ihm Mephisto, dem naturgemäß Fragen der Gerechtigkeit wie auch der Religion fremd sind, dringend ab, mit dem Argument, sie seien viel zu theoretisch, das heißt lebensfern. Da es dem Jüngling in den Mauern und Hallen der Gelehrsamkeit nicht gefallen will, hat Mephisto leichtes Spiel, ihm jene Fakultät zu empfehlen, die dem Leben selbst noch am nächsten scheint: die Medizin. Die Motive sind so plausibel wie banal. Die Medizin ist eine Wissenschaft der Natur, und sie bietet die Möglichkeit, das weibliche Geschlecht zu beeindrucken, sich ihm gar zu nähern, also dem Zug der Natur zu folgen. Dies zusammenfassend fallen die sprichwörtlich gewordenen Verse:

«Grau, teurer Freund, ist alle Theorie,/Und grün des Lebens goldner Baum.»

(Faust, I, Studierzimmer, v. 2038/39)

Theorie meint hier die reine Wissenschaft, das Studium – weniger die Worte, mit denen man machen kann, was man will, als den Begriff. Goethes Doktor Faust hat Sympathien für Mephistos Argumentation, zumal ihn die ganze Bücherweisheit nicht glücklich gemacht hat. Was Mephisto in Aussicht stellt, mag nicht zur ewigen Glückseligkeit führen, verspricht aber zumindest lustvollen Genuss im Augenblick. Die Theorie dagegen ist einer anderen Sphäre näher, sie verheißt zwar Erkenntnis, doch ist ihr praktischer Wert höchst unsicher.

Die Betrachterperspektive – Genussfragen

Wenn hier der Fußballspieler und der weltzugewandte Dichter die reine Büchergelehrsamkeit in ein schlechtes Licht rücken, so lässt sich gleichwohl der Nutzen der Theorie auch in Bezug auf das Feld der Praxis und sogar den Genuss nicht ganz in Abrede stellen. Der Sinn und die Feinheiten eines Fußballspiels erschließen sich dem Zuschauer nur in Grenzen, wenn man nicht über ein Mindestmaß an theoretischen Kenntnissen verfügt. Ohne Kenntnisse der Regeln des Spiels ist kaum zu verstehen, mit welchem Ziel diese zweiundzwanzig Männer oder Frauen auf dem Feld einem Ball hinterherrennen.

Der Vergleich mag profan erscheinen, doch gilt Ähnliches auch für den Bereich der Kunst, z.B. für ein Theaterstück: Zwar ist für den Betrachter der Genuss ohne Regelkenntnisse bis zu einem gewissen Grad durch eine grundlegende Vertrautheit mit den kulturellen Gepflogenheiten und Bräuchen möglich. Aber auch in der Kunst sind elementare Regelkenntnisse dem Genuss förderlich, wenn sie nicht sogar nötig sind, um den Witz des Spiels zu erfassen. Als erstes gilt es zu wissen, dass «Kunst» etwas ist, das zur reinen Betrachtung gedacht ist.

Abb. 2   Benjamin Vautier, Bauern im Museum (in der Ausstellung), Öl auf Leinwand, 84 x 104 cm, 1867, Musée cantonal des Beaux-Arts, Lausanne

Das Gemälde des aus der Schweiz stammenden Malers Benjamin Vautier (1829–1898) «Bauern im Museum (In der Ausstellung)» illustriert dies (Abb. 2). Dargestellt ist eine Situation im Museum, hier in einer Gemäldegalerie, im Vordergrund ist eine bäuerliche Familie (paysans) im Festtagsgewand zu sehen, die sich vor einem Gemälde aufgestellt hat. Es handelt sich um eine mythologische Szene: Die Göttin Diana hat den Jäger Aktaion, der sie aus Versehen beim Baden nackt gesehen hat, zur Strafe in einen Hirsch verwandelt. Interessant sind nun die unterschiedlichen Formen der Betrachtung: Vorbildlich verhält sich der Vater. Er betrachtet andächtig und in stiller Konzentration. Bemerkenswert der ältere, bürgerlich gekleidete Mann auf der Bank, der in einem Buch blättert, vielleicht im Ausstellungskatalog, in dem aufgeführt ist, wer der Künstler ist, was dargestellt ist usw. Dieser Betrachter ist also besonders informiert, er kennt die Regeln des Spiels und verfügt offenbar über eine gewisse theoretische Vorbildung.

Abb. 3   Mark Tansey, The Innocent Eye Test, Öl auf Leinwand, 198,1 x 304,8 cm, 1981, Metropolitan Museum of Art, New York

Gewiss ist es auch möglich, ein Gemälde ohne solches Wissen, gleichsam naiv zu genießen, wie es etwa die jungen Damen tun (natürlich handelt es sich hier um eine festgelegte Geschlechterrolle), die sich über irgendein Motiv, vielleicht die Nacktheit der Frau und das Schicksal des jungen Mannes, zu amüsieren scheinen. In der Natur kann der Anblick einer Blume oder ein Sonnenuntergang ein unmittelbares sinnliches Vergnügen bereiten – ein solches kann jedoch auch ein Gemälde, und sogar eines aus lange vergangener Zeit, hervorrufen. So kann ein täuschend realistisch gemaltes niederländisches Stillleben des 17. Jahrhunderts ein unmittelbares sinnliches Erlebnis bieten, das Bewunderung und Vergnügen auslösen mag. Allerdings wird ein wesentlicher Aspekt verpasst, wenn man nicht weiß, dass hierbei die Malerei als Kunst der Illusion thematisiert wird, die buchstäblich nur dem Schein nach festhalten kann, was eigentlich «eitel» und vergänglich ist. Während also die auf gekonnter Nachahmung des Sichtbaren basierenden frühneuzeitlichen Gemälde einem unreflektierten Sinnengenuss in vielerlei Hinsicht Stoff und Reiz bieten, so wird dieser naive, «kulinarische» Genuss in der Kunst der Moderne häufig erschwert, indem beispielsweise die Leistungen der Malerei selbst in abstrakterer Weise thematisiert, gelegentlich auch ironisiert werden. Dies ist der Fall in einem Gemälde des amerikanischen Malers Mark Tansey, das sich auf die besondere Illusionsmacht der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts bezieht, um generell die konzeptuelle Bedingtheit des Sehens zu veranschaulichen (Abb. 3). Dargestellt ist in einer monochromen Malweise eine Kuh, die sich in einem Museum vor einem Gemälde befindet, auf dem wiederum Rinder zu sehen sind. Mehrere Männer in Anzügen, einer im Laborkittel, stehen beobachtend dabei. Ganz offensichtlich ist das eine sonderbare Situation – üblicherweise trifft man in Museen nicht auf lebendige Kühe. Mit Hilfe des Titels The Innocent Eye Test können wir uns wohl einen Reim auf die Darstellung machen: Eine Kuh wird vor ein Gemälde geführt, um dessen reine Wirkung als illusionistische Malerei zu testen.[3] Wir könnten uns vorstellen, dass die ernsten Männer beobachten wollen, ob die Kuh ihresgleichen auf dem Gemälde erkennt und zum Beispiel durch Muhen oder Scharren mit den Hufen zu begrüßen versucht. Man kann das ohne weitere Kenntnisse witzig finden oder auch nicht. Um aber zu verstehen, warum ein Maler des 20. Jahrhunderts sich ein solches Bildmotiv ausdenkt und malt, sind vertiefte theoretische Kenntnisse erforderlich, die man sich erarbeiten muss. Dazu gehört kunsthistorisches Wissen: Das Gemälde, das der Kuh im Museum vorgeführt wird, gibt es tatsächlich. Es stammt von einem niederländischen Maler des 17. Jahrhunderts, Paulus Potter (1625–1654), und wird unter dem Titel Der junge Bulle geführt.[4] Sollte die Kuh hier möglicherweise eine sexuelle Attraktion empfinden oder Eifersucht angesichts des anderen weiblichen Tieres oder mütterliche Gefühle? Rechts daneben an der Wand ist die Abbildung eines Gemäldes von Claude Monet zu sehen, einen Heuhaufen zeigend. Ist das auch ein Test? Sollte die Kuh hier Fresslust verspüren?

Aber auch auf der textuellen Ebene sind weitere Kenntnisse verlangt: Der Titel «The Innocent Eye Test» greift einen bestimmten kunsttheoretischen Topos auf. Die Rede vom «unschuldigen Auge» hat der englische Schriftsteller und Kunsttheoretiker John Ruskin (1819–1900) um 1857 geprägt in einem Buch, Elements of Drawing, das eine Anleitung zum Zeichnen für Laien sein sollte.[5] Es ist eine Forderung an den angehenden Zeichner, sich ganz auf das Auge zu verlassen, alles Wissen oder sonstige Wollen beiseitezulassen, um schließlich unfehlbar zu einer treuen Wiedergabe der Natur zu gelangen. Mark Tanseys Bild nimmt hierauf Bezug und ironisiert den Topos; er will damit auch konstatieren, dass weder das Auge noch der Hersteller eines Bildes jemals unschuldig sein können. Ein starkes Statement, das in unserem Zusammenhang besagt, dass wir ohne Beschäftigung mit der Theorie nicht verstehen können, worum es in der Kunst geht. Eine voraussetzungslose Wahrnehmung, wenn sie denn überhaupt möglich ist, würde im schlichten Unverständnis münden.

So groß der Unterschied zwischen einem holländischen Gemälde des 17. Jahrhunderts und einer Malerei des späten 20. Jahrhunderts auf den ersten Blick sein mag, es handelt sich doch um Werke, die gleichermaßen für eine reflektierende Betrachtung gedacht sind, die ein Publikum adressieren, das um den Kunstcharakter dieser Objekte weiß. Werke dieser Art sind nicht nur auf eine bestimmte elementare sinnliche Wirkung angelegt, sondern vordringlich bestrebt, die Kunstfertigkeit ihrer Urheber, das heißt ihre Regelkenntnis und ihren virtuos-handwerklichen, aber auch zugleich ihren konzeptuellen Umgang damit zu zeigen. Der spezielle Kunstcharakter dieser Art von Artefakten ist demnach selbst Gegenstand dieser Werke. Dies lässt sich bis zu einem gewissen Grad für den gesamten Bereich der europäischen Kunsttradition verallgemeinern, und wir sehen es hier am Beispiel der Malerei: Sie zeigt an, was sie – zu jenem bestimmten Zeitpunkt und in ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld – als Malerei ist, was Malerei schlechthin ist, was sie zu sein vermag, was sie angeblich ist oder was sie gerade nicht ist. Diese Konzeption schließt eine theoretische Haltung ein. Um solche Malerei zu verstehen, ist eine entsprechende Kenntnis der Theorie bzw. ein theoretischer, reflexiv vermittelter sinnlicher Zugang nötig. Dies ist ein Charakteristikum jener westlichen Kunsttradition, die hier im Mittelpunkt steht.

Der pure Genuss (die reine Freude an bunten Farben, an der Illusion, am Kunststück) muss hiervon keineswegs beeinträchtigt sein. Allerdings wird dessen Anteil (auch wenn er immer wieder seine Fürsprecher findet) in Zeiten der Moderne suspekt. Bereits in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) wird der Sinnengenuss zum «uninteressi[e]rten Wohlgefallen» sublimiert, das dem Schönen entgegenzubringen sei.[6] In Theodor W. Adornos Ästhetischer Theorie (1970) heißt es schließlich: «Wer Kunstwerke konkretistisch genießt, ist ein Banause; Worte wie Ohrenschmaus überführen ihn.» Der Philosoph und Musiktheoretiker räumt allerdings im nächsten Satz ein, dass ein Rest davon verbleibe, denn wäre «die letzte Spur von Genuß exstirpiert, so bereitete die Frage, wozu überhaupt Kunstwerke da sind, Verlegenheit», meint dann aber doch behaupten zu können, dass der wahre Kenner mit Genuss wenig zu schaffen hat: «Tatsächlich werden Kunstwerke desto weniger genossen, je mehr einer davon versteht.» [7] Offensichtlich spricht der Theoretiker hier in eigener Sache, indem er implizit sein Metier, die differenziert reflektierende, vernunftgemäße, wissenschaftliche, kurz: die theoretische Betrachtung zu der Verhaltensform gegenüber Kunstwerken erklärt, die deren Wesen am nächsten kommt. Das ist dogmatisch gemeint. In der Vehemenz, mit der Adorno diese Haltung verficht, zeigt sich aber ein kaum zu überwindender Gegner: Der «banausenhafte» Genuss, die rauschhafte, selbstvergessene Versenkung, die kindliche Freude sind offenbar unausrottbare Optionen des Betrachters, die immer wieder von Seiten der Künstlerinnen und Künstler herausgefordert, umspielt, bedient, auch kritisch thematisiert werden.

Das gilt auch für die Moderne und die Kunst der Gegenwart. Ein Beispiel: Zur documenta 2007 luden die Kuratoren Roger Bürgel und Ruth Noack den Spitzenkoch Ferran Adrià zur Teilnahme ein, woraufhin dessen berühmtes Restaurant «elBulli» im katalonischen Rosas umgehend zu einer Außenstelle dieser wichtigsten periodischen Ausstellung zeitgenössischer Kunst erklärt wurde.[8] Dies war keineswegs als Provokation gemeint. Ein Koch versteht sich auf diesem Niveau selbstverständlich als Künstler, und bei solchem Essen steht die körperliche Sättigung gewiss nicht im Vordergrund. Gleichwohl geht der Genuss auch in diesem Fall unvermeidlich durch den Magen. Und ebenso würde der Kunstliebhaber wie auch der bildende Künstler darauf bestehen, dass Kunst geistige Nahrung ist, welche menschliche Bedürfnisse befriedigt, ohne dass damit schon geklärt wäre, ob es sich denn um ein Grundnahrungsmittel handelt oder aber einen Luxusartikel.

Die Seite der Produktion – die Experten

Möchte man Fußball selbst spielen, so muss man dieses Spiel in erster Linie praktisch beherrschen. Hierzu ist womöglich keine eigentlich theoretische Betrachtung nötig. Es können einfache Regelkenntnisse genügen, doch müssen sie interpretiert werden. Weit nötiger sind theoretische Kenntnisse, das heißt die intellektuell reflektierte Interpretation der Möglichkeiten, welche die Regeln zur Erreichung des Ziels bieten, wenn man als Trainer zu agieren und die Spieler auf ihrem Weg zu führen hat. Der Vergleich mit dem Bereich der Kunst, zumal der bildenden Kunst, mag in vielerlei Hinsicht hinken.[9] Gleichwohl gibt es tief reichende, auch historisch begründete Verwandtschaften und Beziehungen.[10] Im Bereich der Kunst gibt es zwar meist keine Trainer, aber doch Personen, die vermitteln und organisieren: In den performativen Künsten sind das die Regisseure, Dirigenten, Choreografen, und im Feld der bildenden Kunst etwa Galeristen, Kuratoren und Kritiker. Alle diese Personen beschäftigen sich mehr oder weniger mit Aspekten jener Theorie. Sie haben eine relative Distanz zu diesen Gegenständen, gehen mit ihnen weniger direkt um als die Künstler selbst, beschäftigen sich aber intensiver damit als die eigentlichen Adressaten, das Publikum. Wie dieses sind sie nicht als Produzenten mit den Gegenständen befasst, haben aber doch Anteil an der Realisierung. Indem sie als Vermittler tätig sind, bedienen sie sich der Theorie, wenn sie nicht sogar selbst als Theoretiker zu agieren beginnen. In ihrer Zwischenstellung haben diese Personen eine größere Nähe zum Kunstwerk als andere Betrachter, können sich aufgrund ihrer Kenntnisse besser erklären; sie können, mit einem Wort, als Experten in Erscheinung treten.[11]

Welche Art von Kenntnissen ein Experte haben muss, um als solcher zu gelten, ist variabel je nach den besonderen Umständen des Feldes und der Kommunikationssituation, in der er oder sie auftritt. Die Fragen, ob es der praktischen Befähigung bedarf und über welche Art von Sachkenntnis jemand verfügen muss, um in einem bestimmten Feld als Experte anerkannt zu werden, wird diskutiert, seit überhaupt theoretische Debatten überliefert sind. Einige dieser Aspekte sind schon in einem frühen Dialog des Philosophen Platon (um 428–347 v. Chr.) aufzuspüren. Im Ion diskutiert Sokrates mit dem Rhapsoden dieses Namens, der ein großer auf Homer spezialisierter Vortragskünstler ist, der «Beste unter den Hellenen». Sokrates weist ihm nach, dass er als praktizierender Rhapsode zwar sehr gut über Homer sprechen kann, doch über die Dichtkunst im Allgemeinen (poietike) nicht Bescheid wisse.[12] Es zeichnet sich schon hier die Einsicht ab, dass es zwei unterschiedliche Dinge sind, eine Sache zu beurteilen und diese Sache herzustellen. In der Argumentation wird deutlich gemacht, dass nach Meinung des Philosophen der wahre Sachverständige derjenige sei, der über das distanzierte Wissen verfügt.[13] Dies ist der Theoretiker, dessen Expertise allein auf der intellektuellen, geistig reflektierten Betrachtung eines Phänomens beruht.

Zum Begriff der Theorie – Antike Wurzeln

Die Ursprünge dieser Auffassung liegen in der griechischen Antike und zeigen sich schon im Wort selbst: Theoria meint ursprünglich «Betrachtung», «Anschauung», «Schau». Ursprünglich stammt der Ausdruck wahrscheinlich aus dem religiösen Bereich und meinte die «Schau» eines sakral-festlichen Schauspiels.[14] Dass die «Theoria» ein so großes Interesse der Forschung auf sich gezogen hat, liegt in der Prägung des Begriffs durch den griechischen Philosophen Aristoteles (384–322 v. Chr.). Nach Aristoteles’ Verwendung und Bestimmung des Begriffs liegt der Ursprung dessen, was heute Theorie meint, am Übergang von einer mythischen zu einer auf rationale Erörterung vertrauenden Weltanschauung. Theorie wird von Aristoteles in der Abhandlung über die Metaphysik mit Wissen oder Wissenschaft (episteme) in Verbindung gebracht.[15] Unter episteme ist zunächst ein bestimmtes sachbezogenes anwendbares Wissen gemeint. Doch der Philosoph spricht auch von einer «theoretischen Wissenschaft» (episteme theoretike). Die Beschäftigung mit dieser Art von Wissen jenseits jeglicher Orientierung an der praktischen Anwendung wird schließlich als Wissenschaft im eigentlichen Sinn bestimmt, die keiner Anwendung bedarf und nichts anderes bezweckt als reine Erkenntnis – Wissenschaft als reine Theorie.

Diese Konzeption von Theorie als reine intellektuelle Betrachtung wird in einer weiteren Schrift, der Nikomachischen Ethik, noch einmal verteidigt. Hier argumentiert Aristoteles ganz im Sinn seines Lehrers Platon. Ein Leben, das der theoretischen Betrachtung gewidmet ist (bios theoretikos), wird als reinste Art der Lebensführung und der Wissenschaft vorgestellt und von anderen Lebensweisen abgegrenzt, die entweder auf den Lustgewinn oder auf das tätige Leben (bios praktikos) abzielen. Theorie bringt den Menschen der Sphäre des Göttlichen nahe, indem sie auf die Betrachtung der Ideen zielt, die gemäß der Lehre Platons hinter der trügerischen materiellen Erscheinung stehen.

In der lateinischen Übertragung wird theoria zu contemplatio. Wir vernehmen heute in diesem Wort ungleich stärker als in seinem griechischen Vorgänger eine religiöse Konnotation, die in der mittelalterlichen Theologie in dieser Form erst hinzugefügt wurde. Das Wort hat aber auch im römisch-antiken Gebrauch eine religiöse Komponente: Es bezieht sich auf eine Form der Betrachtung, die nicht wie jene griechische theoria auf die dem Menschen gegebenen Kräfte des Intellekts verweist, sondern auf die religiöse Praxis des Auguren, der den Vogelflug beobachtet. Diese «Himmelsschau» hat zur christlichen Kontemplation als geistige Versenkung in der mystischen Betrachtung Gottes zumindest insofern eine gewisse Nähe, als damit bereits eine religiöse Praxis bezeichnet wurde. Diese heidnische Tradition wird im christlichen Mittelalter gleichsam nach innen gewendet. Im christlich-mittelalterlichen Verständnis ist die vita contemplativa eine Lebensform, die nichts anderes als die geistige Betrachtung Gottes als des höchsten Ideals zum Inhalt hat.

Im Gegensatz zu dieser Auffassung ist Aristoteles’ Konzeption von Theorie eine weltzugewandte Dimension eigen. Seine Bestimmung von Theorie als einer sich dem Göttlichen nähernden Betätigung des Menschen hat keine religiöse Zielsetzung. Vielmehr geht es darum, die Philosophie als eine Form der Wissenschaft zu verteidigen, deren Nützlichkeit auch schon in griechischer Zeit umstritten war. Dies geschieht gleichsam in einer Flucht nach vorne, indem ihre Zweckfreiheit zur wesentlichen Eigenschaft erklärt wird. Das der reinen Theorie, der Wissenschaft, gewidmete Leben wird von anderen Lebensweisen abgegrenzt, die auf den bloßen Lustgewinn oder aber auf das tätige Leben gerichtet sind, welches auf das praktische Handeln (prattein) oder auf das Hervorbringen (poiein) abzielen kann.

Die wissenschaftliche Betrachtung muss sich aber keineswegs nur auf die reine Tätigkeit des Verstandes beschränken, sondern kann durchaus auch auf das Handeln und besonders das Hervorbringen bezogen sein, ja eine besondere Herausforderung mag darin bestehen, vernunftgeleitete menschliche Tätigkeiten zum Gegenstand der Theorie zu machen. Aus der grundlegenden Differenz zwischen freiem idealem Betrachten und praktischem Handeln (prattein) oder Hervorbringen (poiein) entsteht eine Spannung, die einen besonderen Reiz für den Theoretiker darstellt und die Freiheit und Unabhängigkeit seines Denkens erst eigentlich erkennbar macht. Diese Herausforderung motiviert solche – philosophische – Denkarbeit und bestimmt ihr Pathos grundsätzlich und nachhaltig bis heute.

Kunstphilosophie und andere Formen der Kunsttheorie

Obwohl sich schon Platon Gedanken zur Kunst und hier vor allem zur Dichtung gemacht hat und mit Aristoteles’ Poetik immerhin ein bedeutender Beitrag eines Philosophen zur Theorie einer Kunstform vorgelegt wurde (vgl. folgendes Kapitel), der überdies in der gesamten frühen Neuzeit tiefe Spuren hinterließ und zur Grundlage für die später als Regelpoetik bezeichneten Dichtungslehren wurde, bildet sich eine eigentlich philosophische Betrachtung der Kunst erst im Laufe des 18. Jahrhunderts aus. Sie ist im weiteren Feld der seither so genannten Ästhetik aufgehoben. Darunter ist eine philosophische Disziplin zu verstehen, die sich gemäß der Prägung dieses Terminus durch den deutschen Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten (1714–1762) mit der Theorie der sinnlichen Erkenntnis generell und dabei besonders mit der Theorie des Schönen befasst (vgl. dazu Kapitel 8).[16] Kunstphilosophie ist nicht deckungsgleich mit Ästhetik. Die Kunstphilosophie fragt spezieller nach dem Wesen der Kunst, nach ihren Prinzipien. Dabei entwickelt sie Erkenntnisinteressen, die idealerweise unabhängig von den Diskurszusammenhängen sind, in denen die Kunstproduktion befangen ist. Sie ist damit einerseits von jenem Bereich abgrenzbar, der sich allgemeiner mit Fragen der sinnlichen Wahrnehmung oder der Bestimmung des Schönen befasst – dies wäre die Ästhetik –, andererseits ist sie aber auch zu unterscheiden von Formen der Theorie, die sich auf unterschiedliche Weise mit bestimmten Formen künstlerischer Tätigkeit und konkreten Phänomenen der Kunst befassen.

Den nicht rein philosophischen Formen der Auseinandersetzung mit Kunst den Status von Theorie abzusprechen, wäre kaum gerechtfertigt und zumal in Zeiten der Moderne und Gegenwart ganz unangemessen. «Moderne Kunsttheorie», so ist einer von dem Philosophen Dieter Henrich (1927–2022) und dem Anglisten Wolfgang Iser (1926–2007) herausgegebenen wichtigen Anthologie mit dem bezeichnenden Titel Theorien der Kunst zu entnehmen, hat sich von der Philosophie der Kunst entfernt und lässt sich heute nicht mehr unter deren Dach subsumieren. Es müssen also verschiedene «Theorieformen» in Betracht gezogen werden.[17] In der Einführung zum genannten Band hält Dieter Henrich fest, dass «Theorien, die ihren Ursprung nicht in der Philosophie, sondern in empirischen oder formalen Einzelwissenschaften haben, als Potentiale für Kunsttheorie an Ansehen gewonnen haben.» (S. 14) Der Preis hierfür sei eine gewisse «Partikularisierung» und «Verwissenschaftlichung» (S. 15), das heißt eine breitere Verteilung des theoretischen Diskurses in mehrerlei kaum oder nur lose untereinander verbundene wissenschaftliche Felder. Wolfgang Iser versucht seinerseits die gegenwärtige Situation historisch in einer klaren Abgrenzung von der Philosophie zu verorten. «Moderne Kunsttheorie», so Iser, «unterscheidet sich von philosophischer Ästhetik oftmals genauso, wie sich diese von der aristotelischen Regelpoetik unterschied». (S. 33) Während die Regelpoetik Kunst als etwas Gemachtes verstand, so zielte die philosophische Ästhetik auf die Wesensbestimmung der Kunst als Erscheinungsform von Wahrheit ab. Die modernen Kunsttheorien, die in dem Band vorgestellt werden, verstehen sich nicht mehr so, auch nicht mehr als «Teildisziplinen philosophischer Systeme». Vielmehr würden sie «durchgängig von Kunsterfahrungen aus[gehen], deren Theoretisierung allererst dazu dient, etwas über Kunst in Erfahrung zu bringen.» (S. 34) Die philosophische Kunsttheorie ist aus dieser Perspektive auch eine historische Erscheinung, die allerdings keineswegs nur im Bereich der Philosophie wirksam gewesen ist, sondern auch in den Bereich der Kunstproduktion hineinwirkte. So kann nach Iser die sogenannte «autonome Kunst» als eine «Folgeerscheinung der philosophischen Ästhetik» beschrieben werden, «die die Kunst aus ihrer Dienstbarkeit befreite». Die Leistung moderner Kunsttheorie wäre es nun aber, «das Kunstphänomen auf Lebenszusammenhänge» zurückzubringen, «jedoch nicht um neue Dienstbarkeit oder gar Nützlichkeit zu propagieren, sondern um eine Aufklärung der Notwendigkeit von Kunst zu leisten» (S. 39).

So weit diese Anthologie auch ausgreift, die darin vorgestellten Theorieformen umgreifen keineswegs das ganze Spektrum dessen, was unter dem Begriff Kunsttheorie heute zu fassen ist, vielmehr beschränken sie sich auf den Bereich der theoretischen Reflexion über Kunst im Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften. Was ausgeblendet bleibt, sind alle jene theoretischen Reflexionen, die mit wechselnder Konjunktur, aber doch seit jeher in enger Verbindung mit der Kunstproduktion entstanden, teils sogar von den Künstlern selbst entwickelt und vorgetragen worden sind. Diese Formen der Kunsttheorie sind seit der Antike bezeugt, sie haben eine besondere Konjunktur in der teils von Künstlern, teils von humanistisch gebildeten Gelehrten verfassten Traktatliteratur der Frühen Neuzeit erfahren (dazu hier die Kap. 4, 5, 6). Die Tradition reißt auch in der Moderne nicht ab, erfährt vielmehr eine besondere Ausbildung in reflektierenden Abhandlungen, in biographischen Selbstzeugnissen (Kap. 9), in Lehrbüchern, Manifesten, Absichtserklärungen (Kap. 11).

Dieses reiche, nahe an der Kunstproduktion orientierte Schrifttum hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts Julius von Schlosser in seinem grundlegenden, bis heute einflussreichen Werk unter dem Begriff der «Kunstliteratur» zusammengefasst.[18] Dieses Buch ist aus einer Reihe früher publizierter Studien hervorgegangen. Schlosser ging es nicht in erster Linie darum, den theoretischen Gehalt des einschlägigen Schrifttums über Kunst herauszustellen, sondern ein «Handbuch zur Quellenkunde der neueren Kunstgeschichte» zu erarbeiten. So reiht er in chronologischer Folge die unterschiedlichsten Beiträge, nach Epochen gegliedert und innerhalb derer kategorial unterschieden, etwa für das Mittelalter nach technischer Literatur, poetischer Kunstliteratur, Historiografie und Periegetik. Es ist auch immer wieder von «Kunsttheorie» die Rede, ohne dass dieser Ausdruck als Überbegriff eingesetzt würde. Dies ermöglicht es, die unterschiedlichsten Formen des Schreibens über Kunst zunächst aufzuführen, was die Gelegenheit bietet, gerade auch die jeweils sehr unterschiedlichen Ansprüche der verschiedenen Autoren zu charakterisieren und im Vergleich sichtbar zu machen. Schlossers Verfahren hat den entscheidenden Vorzug, dass eine etwa vordergründig nur historisch argumentierende Schrift als von theoretischem Anspruch getragen kenntlich gemacht werden kann oder allenfalls enthaltene theoretische Aspekte aufgezeigt werden können. Eine strenge systematische Unterscheidung über den gesamten Zeitraum hinweg, der hier zur Debatte steht, scheint dagegen kaum angemessen.[19]

Nicht alles Schrifttum, das sich mit den Werken der Kunst und der Praxis künstlerischer Arbeit befasst, ist dem Anspruch nach genuin theoretisch interessiert, geschweige denn im philosophisch-wissenschaftlichen Sinn als Theorie zu betrachten. Indessen müssen im Sinne eines Lehrbuchs ausgestaltete Werke wie etwa Leon Battista Albertis Abhandlung De pictura oder Albrecht Dürers Vier Bücher von menschlicher Proportion (Kap. 4) und historische Abhandlungen wie Giorgio Vasaris Vite (Kap. 5) als Schlüsselwerke der Kunsttheorie ihrer Zeit gelesen werden, selbst wenn man hier ebenso passend von «Kunstlehre» sprechen kann – ein Begriff, den Schlosser in den Überschriften seines Buches gelegentlich verwendet, um vor allem Künstlerschriften auszuzeichnen. Tatsache ist aber, dass es lange vor Begründung der philosophischen Ästhetik auch in dieser Traktatliteratur komplexe Erörterungen von Themen und Problemen gibt, die in der Kunstphilosophie später weiter abgehandelt werden. Schließlich findet man auch bereits in früheren Epochen ein mehr oder weniger reiches Schrifttum, das sich mit dem konkreten, faktisch vorhandenen Kunstwerk befasst und dieses kritisch beschreibend und beurteilend in den Blick nimmt. Schlosser hat, wenn auch gerade nur beiläufig, die Spannweite des Spektrums solcher Äußerungen angedeutet, indem er am Ende seines Buches einmal von der «Gletscherregion der idealistischen Kunstphilosophie» spricht und dazu kontrastierend von den «Niederungen der Kunstkritik», die zumal in Frankreich schon im 17. und 18. Jahrhundert «so eifrig und erfolgreich bebaut» worden seien (S. 604).

Dies zeigt sehr plastisch die große Differenz im jeweiligen Erkenntnisinteresse der verschiedenen Schriften an. Was in diesen Metaphern aber unterzugehen droht, ist die Tatsache, dass gerade die Kritik konkreter Kunstwerke immer wieder, wenn nicht sogar prinzipiell die Grundlage für das sein muss, was mit dem Terminus Kunsttheorie nur richtig bezeichnet werden kann: Kunsttheorie, wie sie hier bestimmt sein möchte, unterscheidet sich von Kunstphilosophie dadurch, dass sie sich nicht primär als Philosophie versteht, sondern als Theorie einer bestimmten hervorbringenden Tätigkeit im Sinne des Begriffes der poiesis. Darunter hat man, in aristotelischer Wendung, einen bestimmten «mit Vernunft hervorgebrachten Habitus des Hervorbringens» (hexis meta logou poietike) zu verstehen, eine Kunst (techne) also.[20] Einer solchen Theorie geht es nicht um Erkenntnis innerhalb ihres eigenen Rechts und um ihrer selbst willen, sondern um die Beschreibung und Kritik einer Praxis. So können gemäß dieser Bestimmung auch jene Formen der diskursiven Auseinandersetzung mit Kunst einbezogen werden, die ohne philosophische Absicht an einem Phänomen oder an einer Praxis durch Beschreibung, Analyse, durch den Versuch einer Etablierung von Regeln, aber auch durch Kritik, freie Reflexion und Interpretation anhand von konkreten Werken, Techniken und Verfahren unternommen werden.

Kunsttheorie in diesem Verständnis ist oft gerade nicht distanziert, sondern unmittelbar in den Produktionsprozess involviert, geradezu parteiisch, und eigentlich prinzipiell als Bestandteil des Systems zu begreifen. Ganz offensichtlich ist dies der Fall, wenn es sich um Überlegungen von Künstlern und Künstlerinnen handelt, die ihre eigene Arbeit mit programmatischen Überlegungen begleiten und kommunizieren oder auch nur für sich selbst versuchen, Rechenschaft über ihr Tun abzulegen. Ähnlich involviert, wenn auch an anderer Position, ist jener Kritiker, der mittels Kommentaren zu aktuellen Ereignissen, meistens zu Ausstellungen, ein Urteil öffentlich ausspricht, für Publizität sorgt (vgl. Kap. 7). Dies gilt ebenso für jene älteren oder modernen Versuche, eine bestimmte Haltung, Kunstform oder künstlerische Auffassung im Sinne einer Lehre zu propagieren. Die Tatsache, dass auch historische Darstellungen nicht ohne einen Begriff von ihrem Gegenstand und mithin nicht ohne Theorie auskommen können, dass sie vielmehr stets implizit, oft aber auch explizit eine begriffliche Reflexion über ihren Gegenstand enthalten, qualifiziert sie ebenso als Schriften mit kunsttheoretischem Gehalt (vgl. Kap. 8).[21]

Die hier aufgeführten Theorieformen sind untereinander heterogen und können kaum in eine kohärente Narration gebracht werden – und sollten auch nicht in eine hineingezwungen werden. Wenn es etwas gibt, das alle verbindet, so wäre dies ihre gemeinsame Bezogenheit auf jene Objekte, die wir vom heutigen Standpunkt als Werke der Kunst bezeichnen.[22] Sie vermögen auch keineswegs immer den Ansprüchen einer vernunftgeleiteten Argumentation zu entsprechen. Nicht selten ist es zudem schwierig, eine Grenze zwischen dem eigentlichen Werk und einem zugehörigen, das Werk begleitenden, flankierenden, propagierenden Kommentar zu ziehen, der durchaus theoretische Überlegungen enthalten und explizieren kann.[23] Gerade in der Kunst des 20. Jahrhunderts – aber keineswegs nur hier – ist die Theorie, der Kommentar als integraler Bestandteil des Werks zu betrachten, weshalb dessen Grenzen weiter zu ziehen sind, als es in der Kunstgeschichte meist geschieht.

Kunsttheorie nach dem hier zugrunde gelegten, weiter gefassten Verständnis umfasst potenziell das ganze Spektrum der «Kunstliteratur»: von der philosophischen Abhandlung bis zum historischen Bericht. Die jeweilige Leistungsfähigkeit der seit der Antike die westliche Kunstproduktion begleitenden Schriften als Theorie ist dabei im konkreten Fall unterschiedlich. Sie ist nicht an einem abstrakten Maßstab philosophischer Kriterien zu bemessen, sondern je für den historischen Fall zu ermitteln und zu beurteilen.

Kunstwissenschaft als Kunsttheorie

Die vorliegende Studie versteht sich selbst nicht nur als historisch-analytische Darstellung, sondern zugleich als konstruktiver Beitrag zu einer zeitgemäßen Wissenschaft der Kunst – also zu einer Theorie der Kunst. Während sich in Fächern wie den Literatur-, Kultur- oder Medienwissenschaften der 1980er Jahre auf breitester Front die Einsicht durchgesetzt hatte, dass jede wissenschaftliche Disziplin für die Ausgestaltung ihres eigenen Gegenstandes verantwortlich ist, hat sich die Kunstwissenschaft zumindest in ihrer europäischen oder «kontinentalen» Prägung lange Zeit dagegen gesperrt. Klare Worte hinsichtlich dieser Verweigerung fand 1983 der Kunst- und Literaturwissenschaftler Norman Bryson (geb. 1949) im Vorwort seines Buches Vision and Painting, das eine Abrechnung mit den verfestigten Positionen einer traditionellen Kunstgeschichte bestimmter Art war.[24] Während damals schon seit drei Jahrzehnten in Literaturwissenschaft, Geschichte oder Anthropologie ein außergewöhnlicher und fruchtbarer Umbruch in Richtung einer kritisch-theoretischen Argumentation zu beobachten gewesen sei, herrsche in der Kunstgeschichte theoretische Rückständigkeit und Stagnation. Mit ähnlichem Tenor äußerte sich in Deutschland der Kunsthistoriker Wolfgang Kemp (geb. 1946) im Vorwort einer kommentierten Anthologie exemplarischer Positionen theoretisch orientierter Kunstgeschichte.[25] Auch hier wird konstatiert, dass die Kunstgeschichte jenen theoretischen Aufbruch verschlafen habe, der besonders in der Literaturwissenschaft zu grundlegenden Veränderungen in den Fragestellungen und im Selbstverständnis geführt habe. Dies wäre die Wende von einer auf die Beschreibung und Erfassung des Objektes konzentrierten Forschung hin zu einer Untersuchung, welche auf jene komplexen Rezeptionsvorgänge achtet, auf die ein Kunstgegenstand hin angelegt sei und die sich demnach auch in seiner Gestalt selbst artikulieren. Im Anschluss an damals aktuelle Positionen der Literaturwissenschaft benennt Kemp diesen Zugriff als Rezeptionsästhetik (vgl. Kap. 13).

Beide Bücher sind Symptome wie auch zugleich wichtige Faktoren der Verlagerung von einer auf das Objekt fixierten, deskriptiven Wissenschaft in Richtung der Fokussierung auf die Auseinandersetzung mit diesem Objekt, auf die Thematisierung der Prozesse, in die ein Gegenstand eingebunden ist und innerhalb derer er erst seine Bestimmung erhält. Gewiss ist der kunsthistorische Diskurs, zumindest im europäischen Kreis, nach wie vor stark von monographisch (re)präsentativen Veröffentlichungen geprägt. Neben oft prachtvoll illustrierten Ausstellungskatalogen, die auch das allgemeine Publikum bedienen sollen, werden weiterhin Monographien und Werkkataloge publiziert, die sich der spekulationsfreien Vorstellung des Materials verschrieben haben, wobei die Kommentierung – besonders wenn es um Gegenwartskunst geht – mitunter schnell zur erkenntnisfreien Würdigung gerät.

Im Gegensatz zu dieser im seriösen Fall streng historischen Sachforschung ist die theoriegeleitete interpretierende Forschung prinzipiell transdisziplinär ausgerichtet. Sie bezieht sich auf die historische Forschung als Ausgangspunkt, greift aber über das Konstatieren und Beschreiben von dokumentarisch zu sichernden Sachverhalten hinaus, richtet Fragen auch spekulativer Art an die Gegenstände, berührt Themen, die das jeweilige Objekt in seiner materiellen Existenz überschreiten, die eine Beziehung zum Betrachter und seiner Gegenwart herstellen und die auf Prozesse des Verstehens und der Reflexion der Erfahrung zielen. Theoriegeleitet kann man eine solche Forschung einerseits insofern nennen, als der Bezug auf ein konzeptuelles Rahmenwerk, eine Theorie also, als Voraussetzung nötig ist, um überhaupt diese Fragen stellen zu können (Theorie als Objekt), andererseits auch, weil die Forschung sich selbst als Theorie versteht (Theorie als Subjekt). Der Unterschied zur historischen Sachforschung ist vor allem hinsichtlich des Referenzgegenstandes entscheidend und in den extremen Positionen diesem diametral entgegengesetzt: Die historische Forschung geht davon aus, dass es einen stabilen Referenzpunkt der Forschung im Objekt gibt. Die theoretische Position akzeptiert dagegen diesen Begriff von Realität nicht mehr uneingeschränkt, stellt sich vielmehr auf den Standpunkt, dass dieser Gegenstand an sich nicht existiert, dass es sich vielmehr um ein kulturelles Produkt dessen handelt, was Diskurs genannt wird – man könnte auch sagen, der Gegenstand ist ein Produkt der Theorie.

Um diese Position zu illustrieren, sei hier dieses Kapitel abschließend ein Beispiel herangezogen, das der amerikanische Literaturwissenschaftler Jonathan Culler (geb. 1944) in seiner bekannten, in viele Sprachen übersetzten Einführung in die Literaturtheorie anbringt. Das Beispiel ist lapidar überschrieben mit «What is Theory?»[26]. Es geht um die Soulsängerin Aretha Franklin (1942–2018), die in einem bekannten Lied singt: «You make me feel like a natural woman». Damit scheine die Sängerin zum Ausdruck zu bringen, so Culler, dass sie sich durch die Behandlung eines Mannes in ihrer «natürlichen» sexuellen Identität bestätigt fühle. Aber gerade die Wendung «like a natural woman» zeige an, dass sie eben gerade keine solche sei, da sie sich nur wie eine fühle: «she isn’t a ‹natural woman› but has to be made to feel like one.» (S. 14) Durch die scheinbar Selbstverständliches bestätigende Formulierung werde deutlich, dass der Ausdruck «natürliche Frau» nicht auf eine Naturgegebenheit verweise, sondern ein kulturelles Produkt sei. Diese Erkenntnis wäre eine Leistung der theoretischen Betrachtung. Das Exempel zeigt an, wie die sogenannte dekonstruktive Theorie dazu beiträgt, die scheinbar natürliche Gegebenheit eines Objekts als Konstruktion des Diskurses zu entlarven. Es entsteht in der Interpretation ein neues, ein theoretisches Objekt, in diesem Fall die sexuell fremdbestimmte Frau, deren Wahrnehmung Voraussetzung für jegliche Kritik und letztendlich für ihre Emanzipation ist.

Die Forderung nach einer theoretischen Herangehensweise hat die reine Sachforschung weder unmöglich gemacht noch diese als falsch deklariert. Dass die hier verfolgte objektkritische Arbeit mitunter wenig Beziehungen zur theoretisch orientierten, interpretierenden Kunstwissenschaft entwickelt, ändert nichts daran, dass sie denn doch Grundlage für alle interpretative Arbeit sein muss, wie auch diese wiederum letztlich auf die Bestimmung der Aufgaben der Sachforschung zurückwirkt. Anstelle einer Polarität beider Positionen ist deren Komplementarität zu betonen.

Diese Komplementarität gilt auch für die Theorieformen der Kunst. Kunsttheorie einschließlich der Theorie der Kunstgeschichte ist inzwischen ein eigenes reich differenziertes Feld innerhalb des Faches geworden. Kunstgeschichte zu schreiben, wird nicht mehr nur als positive Historie aufgefasst, sondern als theoretisch produktive, konstruktive, schöpferische Arbeit.[27] Auch das Lehrprogramm der Hochschulen hat sich inzwischen deutlich verändert. Während «Denkmälerkenntnis» früher den Kernbereich jeden Studiums der Kunstgeschichte ausmachte, sind heute theoretisch orientierte Lehrformen, Themen- und Fragestellungen an der Tagesordnung. Mit dieser Verlagerung vom Objektstudium zur Theorie (zur Interpretation) geht eine Verschiebung auch der Lehrschwerpunkte einher. Das Studium der Moderne und der Gegenwartskunst – über Jahrzehnte durchweg Randbereiche im Universitätsunterricht – nimmt einen wachsenden Anteil am Lehrprogramm ein. Weit wichtiger ist, dass es erst unter dem Paradigma einer theorieorientierten, interpretierenden Kunstgeschichte dieser möglich wird, sich selbst als praktizierte Theorie der Kunst zu erkennen und zu verstehen und somit einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis und zur Erläuterung künstlerischer Arbeit zu leisten.

2. KUNSTTHEORIE DER ANTIKE – KÖNNEN UND SCHÖNHEIT

Unser heutiges – europäisches, westliches – Verständnis von Kunst und Kunsttheorie ist auf vielfältige Weise in der antiken Tradition verwurzelt. Ohne die Bezugnahme auf die Philosophie und die Entwicklung des Wissenssystems in der griechischen Antike sind das Zustandekommen und der Gehalt der sich später ausbildenden eigentlichen Kunsttheorie kaum zu verstehen. Dies ist v.a. daran zu erkennen, dass im Kontext der von Sokrates, Platon und Aristoteles geprägten klassischen Philosophie des 4. und 5. Jahrhunderts vor Christus nicht nur die Idee einer theoretischen Wissenschaft (episteme theoretike) (dazu Kap. 1), sondern auch die für die spätere Kunsttheorie zentralen Topoi begründet werden. Dies ist u.a. der Gedanke, dass die Hervorbringungen der schöpferischen Künste – also der Dichtung, aber auch der bildnerischen Praktiken – auf besonderem Können, hier als gekonnte Nachahmung verstanden, basieren. Vielleicht noch folgenreicher ist die Meinung, dass die so mit Können hervorgebrachten Werke schön seien und ihre Betrachtung deswegen zur geistigen Erhebung führen könne.

Die Traditionslinien sind allerdings verwickelt. Die einschlägigen Theoreme der klassischen griechischen Philosophie des 4. und 5. Jahrhunderts v. Chr. sind in oft komplizierter Weise überliefert, so dass auch deren Verarbeitung und Weiterentwicklung während der ersten nachchristlichen Jahrhunderte in der römisch-lateinischen Kultur von Belang sind. So nachhaltig der Bezug auf die Antike sich durch die gesamte Geschichte zieht, es ist im Laufe der Überlieferung zu erheblichen Verschiebungen gekommen. So wäre schon eine Begriffsbildung wie das deutsche Kompositum «Kunsttheorie» der klassisch griechischen ebenso wie der römischen Kultur fremd gewesen, denn es sind darin zwei nach antikem Verständnis gegensätzliche Wissensformen verknüpft, die mit unterschiedlichen Lebenssituationen einhergehen. Gemäß der im vorangehenden Kapitel bereits skizzierten Konzeption von Theorie als reine, nicht anwendungsorientierte Wissenschaft, die Aristoteles im Einklang und im Anschluss an die Ideenlehre Platons gefasst hat, wird diese als Gegensatz zur praktischen Tätigkeit aufgefasst. Ihre ideale Form ist die freie Unterhaltung zwischen Lehrer und Schüler oder auch das Gespräch im geselligen Rahmen dessen, was als Symposion bezeichnet wurde. In Platons Symposion oder Gastmahl, einem der zentralen philosophischen Texte der westlichen Tradition, berichtet ein Erzähler von einem Fest, das um 416 v. Chr. aus Anlass eines öffentlich ausgetragenen Dichterwettstreits im Haus des Siegers Agathon stattgefunden habe. Bei dieser Feier im kleineren Freundeskreis habe man im Beisein des Philosophen Sokrates und beflügelt durch den – moderaten – Genuss von Wein Gespräche über die Natur der Liebe, die Anziehungskraft und Macht des Eros geführt.

Platons Erzählung ist ein fiktiver Bericht und als literarische Konstruktion auch eine Idealisierung der Theorie als diskursiver Praxis, als Fest der argumentierenden Suche nach Erkenntnis, vollzogen im gänzlich freien philosophischen Gespräch ohne jede Zweckorientierung. So ist auch der Kreis der Teilnehmer bunt gemischt aus Freunden und Anhängern des Philosophen Sokrates, der im Mittelpunkt des Gesprächs steht. Neben dem Philosophen wird auch dem Redner, dem Dichter, dem Arzt und sogar dem Politiker und Heerführer zugestanden, zur theoretischen Argumentation beitragen zu können. Letztendlich geht es auch in diesem Dialog darum, Theorie als eigenständige Suche nach Erkenntnis zu bestimmen. Jene Menschen, die im praktischen Leben agieren, Staatsmänner, Krieger und auch Personen, die mit hervorbringenden Tätigkeiten befasst sind – dazu gehören Maler, Bildhauer, Dichter ebenso wie Schreiner und Schmiede –, können aber in ihrem jeweiligen Bereich glänzen, ohne dass sie ihren Gegenstand theoretisch durchdringen und verstehen müssen, wie dies im platonischen Dialog des Sokrates mit dem Rhapsoden Ion beispielhaft erläutert ist (vgl. vorangehendes Kapitel). Theorie ist davon klar abgegrenzt. Ihr Wert besteht nicht darin, für eine praktische Tätigkeit nützlich zu sein. Ausgeblendet wird bei dieser Argumentation aber, dass diesem besonderen, theoretischen Wissen denn doch jenes andere praktische Wissen gegenübergestellt werden kann, das für jede hervorbringende Tätigkeit unabdingbar und dem Bereich der techne zugeordnet ist.

Techne – Ars – Kunst

Techne meint in den ersten belegten Anwendungen des Wortes, etwa bei Homer, eine handwerkliche Fertigkeit. Doch der Begriff umfasst bald mehr.[1] Gemeint ist in der späteren Verwendung eine bestimmte zielgerichtete Arbeit, die von Regeln der Ausführung geleitet ist. Techne bezeichnet demnach eine Form des Wissens (episteme), die sich auch in schriftlicher Gestalt festhalten lässt. In der lateinischen Überlieferung der griechischen Philosophie wird techne mit ars übersetzt. Auch dieses Wort wird bald auf vielerlei Wissensgebiete angewandt.