Kursverlust - Jens Kirsch - E-Book

Kursverlust E-Book

Jens Kirsch

0,0

Beschreibung

Ein junger Ingenieur wird zum Kapitän, um seinem bisher allzu absehbaren Leben neuen Schwung zu geben. Er will gemeinsam mit seiner Freundin auf große Fahrt gehen. Dafür benötigt er Geld, das er als Schiffer in Berlin verdienen will. Dieses Projekt scheitert in jeder Hinsicht grandios. Allerdings lernt der unerfahrene Kapitän dabei einen sehr erfahrenen Berater kennen, der gerade einen Weg sucht, sein Geld vor dem Fiskus unsichtbar werden zu lassen und dabei des Schiffers Hilfe gut brauchen kann. So beginnt ihre gemeinsame Seefahrt nach Monaco, sie sehen Menschen sterben und sie retten Menschen. Das viele Geld, das ihren Weg begleitet, bestimmt und verändert nicht nur ihr eigenes Leben - und wie!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 284

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ein junger Ingenieur wird zum Kapitän, um seinem bisher allzu absehbaren Leben neuen Schwung zu geben. Er will gemeinsam mit seiner Freundin auf große Fahrt gehen. Dafür benötigt er Geld, das er als Schiffer in Berlin verdienen will. Dieses Projekt scheitert in jeder Hinsicht grandios. Allerdings lernt der unerfahrene Kapitän dabei einen sehr erfahrenen Berater kennen, der gerade einen Weg sucht, sein Geld vor dem Fiskus unsichtbar werden zu lassen und dabei des Schiffers Hilfe gut brauchen kann.

So beginnt ihre gemeinsame Seefahrt nach Monaco, sie sehen Menschen sterben und sie retten Menschen. Das viele Geld, das ihren Weg begleitet, bestimmt und verändert nicht nur ihr eigenes Leben - und wie!

Inhalt

Teil I

Frank

Träumerei

Lea

Golem

Traum und Wirklichkeit

Hebewerk

Dachverband

Dr. Gausenberg

Flussschiffer

Aus der Traum

Wer Sorgen hat…

Ist die Not am größten…

Der Sponsor

Consulting

Altenteil

Testläufe

Planungen

Umsetzung

Validierung

Wertschöpfung I

Verladen

Rotterdam

Biskaya

Fähren und Fischer

Unter Land

Offene See

Nothilfe

Im Wald

Gibraltar

Küstenschutz

Andalus

Weißer Thun

Mittelmeer

Vorfreude

Ernüchterung

Havarie

Money, money, money…

Geben ist seliger denn nehmen

Teil II

Golem 2

Offene Posten

Wertschöpfung II

Ama

Krischan

Andrea

Andrea und Frank

Farouq

Lea

Unrecht Gut gedeihet nicht I

Wir bauen eine Praxis

Geld im Einsatz

Lea fällt aus den Wolken

Auch Inessa fällt, Frank ebenso

Berater in der Krise

Unrecht Gut gedeihet nicht II

Das Leben geht weiter

Wirtschaftliches Denken

Im Paradies

La Nave

Teil I

Frank

Ein Mann in den besten Jahren, nicht, wie man landläufig so sagt, halb ironisch gemeint, sondern tatsächlich in den besten, den allerbesten Jahren, 33 Jahre jung, klug und kerngesund liegt in seinem super- supermodernen Bett und starrt an die superbeleuchtete Zimmerdecke.

Ein hübscher, athletisch gewachsener blonder Bursche. Er lässt seine Gedanken schweifen.

Unternehmensberater, Diplominformatiker, Großverdiener unter permanentem Erfolgsdruck. Er denkt an seine kleine Tochter und ihre Mutter, die es nicht mehr mit ihm ausgehalten hat und die er jetzt aushalten muss. Und an seinen Rentner-Vater in der kargen Hütte auf dem kleinen Bauernhof. Eigentlich ist das alles blöd. Die Welt ist ungerecht! Er hat das Geld, aber lebt im Hamsterrad. Der Vadder Krischan hat wenig Geld, aber scheint zufrieden zu sein. Die Ex wurstelt sich mit der kleinen Lene als berufstätige Alleinerziehende so durch. Da gibt es ja die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens – damit wäre Krischan sicher geholfen, weil es mehr wäre als seine Rente. Außerdem könnte seine Ex sich etwas hinzuverdienen. Er selbst möchte natürlich seinen luxuriösen Lebensstil behalten, aber wesentlich weniger arbeiten – das wäre doch schön, für ihn allerdings die Quadratur des Kreises. Ein Paradies für alle – ein Traum.

Wie könnte er wahr werden? Es gäbe die Möglichkeit, das bedingungslose Grundeinkommen mit der Finanztransaktionssteuer zu finanzieren, die ein Herr Tobin vor vielen Jahren vorgeschlagen hatte: Jede der ausschließlich der Geldvermehrung dienenden Finanztransfers wird mit einer kleinen Steuer belegt, und weil so viel Geld im Millisekundentakt durch die Welt geschoben wird, kommen da schnell erkleckliche Summen zustande. Aber leider, leider ist die Welt zu komplex und die Interessen der Akteure sind zu unterschiedlich, deshalb wird das wohl nix.

Während er so vor sich hin sinniert, wie dieser gordische Knoten aufgedröselt oder durchgehauen werden könnte, kriecht aus seinem Unterbewusstsein ein Gedanke langsam nach oben. Aufdröseln…einzelne Fädchen lösen….abzweigen… Ihm fällt ein, dass er als Consulter ja im Auftrag seiner Firma den „Erweiterten Börsenhandel in Frankfurt….“ bearbeitet. Börsenhandel, ein wenig in die Börse greifen, etwas abzweigen – wenn er da eine Idee hätte, könnte er die finanzielle Lücke schließen, die sich bei ihm auftäte, wenn er weniger arbeiten, aber weiter in Saus und Braus leben will. Und es fiele auch eine Art von bedingungslosem Grundeinkommen für seine Nächsten ab.

Er, Frank Leonhardt, ist ein neureicher Aufsteiger. Er wurde nördlich der neuen Hauptstadt des wieder vereinigten Deutschlands, in den vermeintlichen Niederungen des Ostens sozialisiert. Sein Vater, im stetigen Streben nach einem in Maßen alternativen Lebensmodell würde von vielen Möchtegern-Aussteigern sicher bewundert werden. In einer Zeit, in der Privateigentum verpönt war und als bourgeois galt, sorgte er für Haus und Grundstück und, als Privateigentum wieder salonfähig wurde, kaufte er anschließend in kleinen Schritten Land für seine abgelegene Klitsche.

Obwohl sich der Vater ordentlich krumm legte, blieb sein Lebensideal ein Sondermodell und er selbst ein ärmlicher Aussteiger. Dem Jungen Frank allerdings bekam das Treiben der Eltern, festgenagelt zwischen Angestelltendasein und zusätzlicher Zweitbeschäftigung auf dem Hof nicht schlecht. Frühzeitig musste er die Segnungen der gemeinschaftlichen Erziehung im Kindergarten über sich ergehen lassen, frühzeitig bekam er mit, dass allzu viele Arbeit nicht glücklich und nicht reich macht!

Bei dieser Grübelei fällt ihm blitzartig ein, wie man durch radikale Reduzierung dieser Komplexitäten wenigstens für Einzelne etwas Gutes tun kann. Schreit nicht unser Finanzsektor nach ausgleichender Gerechtigkeit?

Träumerei

Mit einem Knall lässt der Chef die Kaffeekanne vor Ralfs Nase landen.

„Das ist der Stoff, aus dem die Träume nicht sind!“

Die scharfe Stimme des Chefs zerschneidet unangenehm seine weiche Stimmung. Ralf blickt aus dem Fenster. Einige Lichter zeigen vage den Umfang der Stadt. In den Büros des benachbarten Schrotthändlers brennt ebenfalls bereits das Licht. Der große Kran, mit dem die Schrottbarden den ganzen Tag spielen, steht noch still. Das wird sich ändern, sobald die erste Helligkeit die Sicht auf die Metallberge ermöglicht. Ralf mag diese ruhige Stunde und normalerweise ist der Chef am Morgen noch zuhause. Tränenblind bei Weib und Kind. Ralf lächelt in sich hinein, wenn er an die Alte vom Alten denkt. Tja, da würde er voraussichtlich auch lieber auf der Arbeit abtauchen.

Im Neonlicht seines Arbeitsplatzes sieht er das Spiegelbild eines Mannes mit dicker gemütlicher Nase gedoppelt in der Fensterverglasung. Die kritisch hochgezogenen Augenbrauen und der etwas verwilderte Stoppelbart stören den kumpelhaften Ausdruck.

Außerdem kann er den Blick des Spiegelbildes nicht fixieren, die Augenhöhlen, die Umrisse, einfach alles ist unscharf. Zurückgelehnt hängt die unscharfe Gestalt im Drehrollstuhl, dem unvermeidlichen Träger jedes Sesselpupers. Mangel seines Stuhles: die Lehne lässt ich nicht feststellen. Prompt beugt er sich zur Seite und versucht erneut, den Griff an der Seite seines Sitzmöbels so anzuziehen, dass er nicht mehr wie ein Sack in seinem Sessel hängt. Umsonst. Federnd beharrt der Stuhl auf seinem Recht, anders zu sein als die anderen Sitzmöbel im Büro seiner Firma.

Ralf hängt sich über die Armlehne zur Seite. So kann er erkennen, wie die Mitarbeiter in Reih und Glied schön gerade vor ihren Glotzen tippen. Der Chef des Ingenieurbüros ist in seinem gläsernen Kabuff verschwunden, also kann Ralf wieder von seinem Weg jenseits der Grenzen des Büros träumen. Oft muss er die Liegenschaften der Kunden über die Satellitenansichten der Grundstücke anschauen und – ups – ist er am Ufer des Meeres, geht am Ufer diverser Wiecks spazieren, untersucht Wracks… . Keine Frage, das Arbeitsergebnis leidet unter seinen Ausflügen, und so kann er verstehen, dass dem Chef die Träumereien Ralfs auf den Sack gehen. Allerdings können sich seine Kolleginnen und Kollegen an seiner Gesundheit ein Beispiel nehmen: Wenn sie sich über ihren Burnout und Blackout austauschen, von Rückenschmerz und Karpaltunnelsyndrom reden, blickt er aus dem Fenster. Selbst die Sport treibenden Golfer und Tennisprofis aus den gehobenen Hierarchieebenen sind häufiger krank als Ralf. Treibe Sport oder bleib gesund!

Nur bei Lea, da kann er sich diese geistige Abwesenheit nicht leisten. Aber Lea zählt auch nicht, denn sie ist in diesem Spiel nicht Gegner, sie spielt schließlich in derselben Mannschaft. Mannschaft Krügermöller oder Möllerkrüger? Ob sich Lea entschließen könnte, im Falle einer Hochzeit Möller zu heißen? Krüger ist ja schließlich auch nicht der Bringer, und er kann sich schon das Nölen der Kollegen vorstellen, hämisch und ein wenig schadenfroh. Na, emanzipiertes Weibchen erwischt, Kollege Krüger-Möller?

Egal, Ralf hat einen noch unscharfen Plan. Er hat auf seinen Büroausflügen ein Boot entdeckt, eigentlich eher ein Bötchen, im Museumshafen der Stadt, direkt vor seiner Nase. Wenn das kein Zeichen ist? Verstohlen gibt er die Adresse ein und eröffnet den Blick auf den wirklichen Stoff seiner Träume. Er nippt von seinem Kaffee, genießt den Gottesblick auf einen kleinen Kahn, der jenseits der Fußgängerbrücke gut vertäut im trüben Flusswasser dümpelt. Den kann keiner klauen, der Hafenbereich zwischen den beiden Brücken lässt sich nur mit Zustimmung des Hafenmeisters verlassen, denn nur der hat den Schlüssel zur drehbaren Fußgängerbrücke. Da liegt er also, der Golem, und er muss warten, bis ihn sein heimlicher Verehrer zum Leben erweckt!

Lea

Nichts hatte sie darauf vorbereitet. Nicht die kleinen neckischen Übungen zum Zeitvertreib, an einsamen Morgen, allein unter der Bettdecke, immer leicht angeekelt vom Geruch ihrer Finger, nicht die Spielereien mit Freundinnen, später mit Freunden auf abgelegenen Waldlichtungen und natürlich auch nicht die eher prüden Eltern. Und Ralf, ihr erprobter Held einige Klassen über der ihren, mit dem sie alles, aber wirklich alles besprechen konnte, er hatte schon etwas mehr getan, aber das war enttäuschend gewesen.

Vielleicht gelingt es diesmal besser, allein mit ihm in der engen Kajüte dieses alten Schiffchens. Aber – was macht er da? Sie denkt: Nein! das kann er doch nicht - machen - da unten! Huuuh - das - fühlt - sich - seltsam an. Ein warmes Gefühl, es füllt sie – es wächst – ein leichter Krampf, guuut, ein großes Fließen, wie eine Explosion, uuuuuuu.

WAMM!!!

Sie schreit wie noch nie, mit Urgewalt bricht es aus ihr heraus.

Das ist es also, und dieser Kerl hat es geschafft. Das soll nicht das letzte Mal gewesen sein. So denkt sie, als das Großhirn wieder die Kontrolle übernommen hatte.

Golem

Was Ralf bis jetzt noch nicht weiß: der Golem ist ein gehöriges Stück alten Eisens. 1933 in Kiel auf Kiel gelegt, aus zentimeterdicken Stahlplatten genietet und mit einem überdimensionierten Diesel versehen, durfte das Schiffchen mit seinen etwa zehn Metern Länge und einer riesigen Schiffsschraube viel dickere Pötte durch verschiedene Häfen zerren, bis es 1942 in Stralsund landete. Die Dienstzeit im Reichsmarinehafen war zeitlich sehr beschränkt, denn der Kahn wurde im Frühling 1945 nahe der Insel Dänholm versenkt, damit er nicht etwa den heranrückenden Russen in die Hände fiele. Die zogen schließlich mit diversem Schienen-, Kleinbahnen-, Fabriken- und Menschenmaterial davon. Es dauerte acht Jahre, bis sich einer der Versenker des Bötchens entsann und so wurde der Kahn ohne größere Schäden 1953 aus dem Wasser gehoben, getrocknet und wieder in Betrieb genommen. Gut, der Motor und andere bewegte Teile hatten im Seewasser gelitten, so dass ihm nach einiger Zeit ein mit 100 PS angemessen starker Motor eingesetzt wurde. Auch das Wendegetriebe musste ersetzt werden, so dass der Golem nun eigentlich nur noch aus seiner alten Haut und der Schraube wiedergeboren wurde. Alles andere war gute deutsche Wertarbeit aus dem Beginn der sozialistischen Produktion des Teils des neuen deutschen Staates, der unter sowjetischer Kontrolle die Nachkriegswirren bewältigte. Die Stralsunder Volkswerft half also im Hintergrund, das Schiffchen mit dem entsprechenden Know-How fit zu machen.

So tuckerte es bis zum Jahr 1965 als Vermessungsboot rings um die Insel Rügen. Seine Aufgabe war es, Fahrrinnen, Untiefen, Wracks und Steine auszuloten. Mit seinem geringen Tiefgang von einem Meter dreißig kam es an Stellen, an denen größere Schiffe passen mussten. Allerdings war der Golem eine furchtbar lahme Ente, offen und zugig, durch seine geringe Länge und den tief liegenden Motor ein Schlackerkahn sondergleichen, der sich durch seine furchtbare Krängung bei jeder Besatzung unbeliebt machte. Die Betreiber waren froh, als sich ein Kollege fand, der den Kahn 1965 privat für sich als Angelkahn kaufte. Das zickige Dümpeln auf See konnte auch der neue Eigner nicht verhindern, aber er machte den Kahn seefest, so dass er wie ein Korken durch die Wellen ging, von Brechern zwar geduckt, manches Mal umgeworfen aber stets nach wenigen Sekunden wieder Kiel unten, Auspuff oben aus den Wellen auftauchte. Besser war es, die Nächte angeschnallt in den neuen Kojen zu verbringen, die in Bug und Heck zum Kuscheln einluden. In diesem Zustand wechselte der Golem noch einmal den Besitzer und er geriet in Hände, die etwas von der Restaurierung alten Eisens verstanden. Der Rost wurde gründlich entfernt, ein liebevoller grün-weißer Anstrich sorgte für äußerliche Schönheit. So aufgehübscht, nahezu leuchtend, mit einem diesmal 300 PS starken MAN-Dieselmotor mit liegenden Zylindern versehen, lag das Objekt der Begierde nun vor Ralf im Greifswalder Museumshafen.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Eigner ermittelt war, es war eine weitere Frage der Zeit, bis Ralf die erforderliche Kohle zum Erwerb des Schiffchens zusammen gekratzt hatte. Es dauerte wiederum einige Monate, die künftige Frau Möller-Krüger oder Krüger-Möller zu überzeugen, dann war auch Lea so weit, sich auf das kommende Abenteuer einzulassen: Ralf nahm sich vor, mit Äppelkahn und Lea als Begleitung eine Weltreise zu unternehmen.

Wenn es schon keine Weltreise werden sollte, dann wollte er doch wenigstens das Mittelmeer erreichen und die milden Gefilde der andalusischen Küste bereisen.

Nach Erwerb des Bootes wurde allerdings klar, dass Ralfs verbliebenen monetäre Reserven höchstens reichten, um den Tank und die notwendigen Reservefässer einmal mit Treibstoff zu füllen. Da der hungrige Monstermotor fast zehn Liter in der Stunde zu rußhaltigem Abgas verdröhnte, mussten neue Einkommensmöglichkeiten, möglichst mit Reservepotenzial heran. Doch zunächst übten die jungen Leute das Beherrschen ihres technischen Geräts der Marke Golem. Brav legte der Kahn ab, brav und relativ leise erreichten sie die Zugbrücke vor der Dänischen Wieck, Lea kochte Kaffee, das klopfende Herz des jungen Kaptains schaltete vom aufgeregten Hüpfen auf einen regelmäßigen starken Dauerbetrieb um. Jawoll, sogar ohne Brückenhub können sie die Klappbrücke passieren, und langsam, aber sicher lenkt er das kleine Gefährt in die windgeschützte Bucht der Dänischen Wieck. Nach mehreren Aufstoppmanövern, nach plötzlichem Vor- und Zurück, nach Ankersetzen und –einholen beherrscht sogar Lea die nötigen Schalt- und Ruderbewegungen, und der Rettungsring wird nach kurzer Zeit wieder eingeholt. Das Mann-über-Bord-Manöver bewältigen sie also mit links, der Schwimmring ist ihnen nicht ersoffen! Sie sind stolz auf sich, und als ihr Golem am Abend in der Bucht vor dem Anker dümpelt, schmiegt sich die junge Frau an die Brust ihres erfahrenen Helden. Sie sind glücklich, das erste Mal an Bord bringen sie mit Schwung hinter sich, ein paar Mal den Kopf gestoßen, ein angeschlagenes Knie, es ist egal. Außer Atem genießen sie die Stille, das war doch alles etwas viel.

Der Mond geht groß und fast orange über dem Land vor ihnen auf, leise streicheln kleine Wellen den Bug unter ihnen. Die Welt ist schön, der Golem ist gut, sie werden die Vision wahr machen!

Traum und Wirklichkeit

Lea steuert den Golem mit sicherer Hand. Sie lassen die Südostspitze Rügens steuerbord, das ist rechts, liegen, dann halten sie auf das Tanklager am Hafen in Stahlbrode zu. Schnell fährt der Golem nicht, mit der Geschwindigkeit eines zügigen Wanderers nähert sich das Boot der Hafeneinfahrt. Wenden, schräg an die Kaimauer, Ralf belegt die Klampe, Rückwärtsgang, Radeffekt, der Golem schmiegt sich an die Mauer. Ralf schraubt die Fässer auf, der Hafenmeister reicht die Zapfpistole.

„Nicht kleckern! Pass auf, ich dreh langsam auf!“ Zweihundert Liter Diesel rauschen in das erste Fass. Ralf winkt ab, steckt die Pistole in die Öffnung des zweiten Fasses. Nochmal zweihundert Liter. Der Haupttank fasst vierhundert Liter, dann ist der Golem satt. Widerstrebend klaubt Ralf die Scheine aus dem Portemonnaie. Der Hafenmeister lacht:

„Ganz schön durstig, euer Kleiner!“

Dem Kapitän ist das Lachen vergangen. Neunhundert Euro weg, einfach so aufgelöst in ölige Suppe, die jetzt in den Tanks schwappt. Jetzt muss die zweite Phase seines Planes folgen, das Herbeischaffen von Geld mit Hilfe des Golems. Dazu soll die Reise nach Berlin gehen. Dort im Spreebogen fahren die Boote auf und ab, alle voller Touristen. Von dieser Quelle wollen sie schöpfen, dafür haben beide Urlaub genommen. Das kann und darf nicht schief gehen. Und weiter, wenn sie das Geld, den Reibach aus den Touristentaschen umgefüllt haben? Bei Lea ist das kein Problem, ihr Arbeitgeber ist das Land, ihre Profession noch nicht festgelegt. Als Referendarin kann sie sich ziemlich frei orientieren. Allerdings: Geld gibt es für solche Orientierungsphasen nicht! Dafür kann sie binnen Jahresfrist jederzeit zurück. Gehe nicht über Los, gehe gleich dahin, wo du hingehörst! In unserem Land sind die Junglehrerinnen knapp!

Auf die Frage, ob für Ralf ein halbes Jahr oder ein ganzes Jahr ein Sabbatical möglich sei, hatte sein Chef nur ein müdes Grinsen übrig. „Herr Möller, wir träumen wohl wieder? Ein Jungingenieur kommt mir einige Hunderter billiger als Sie. Im Monat! Und überhaupt, Sabbatical? Sind wir hier in Jerusalem? Muss ich deutlicher werden?“

Gegen den Urlaubsanspruch konnte der Chef allerdings nichts machen, zu Beginn des Monats Dezember stechen sie Beide in See, jetzt ganz Familie Möller und wieder vorbei an Palmer Ort. Auf dem Greifswalder Bodden vor Lubmin muss Lea das erste Mal kotzen. Im Windschatten Usedoms beruhigt sich das Stampfen wieder, den Peenestrom hinauf, kein Winter in Sicht, hoho und die Buddel voll Rum! Sie stoßen an, der Grog bleibt drin.

Stetes Wandern führt zum Ziel, nach nur einem Tag ist die Odermündung erreicht, der Golem wird in Alt Warp vertäut. Und, war das was? Das war was! Der kleine Gasofen spendet wohlige Wärme, vor dem Einschlafen macht ihn Ralf lieber aus. Er klopft an das erste Fass, von oben nach unten. Die Hälfte dürfte raus sein. Einhundert Kilometer, einhundert Liter? Das ist zu viel und Ralf beschließt, etwas weniger Schub zu geben. Das gibt zwar eine geringere Bugwelle, stolzer Nachweis der Kraft des Golems, dafür dürfte der Dieselverbrauch aber deutlich sinken, hofft er.

Tatsächlich schaffen sie es, den Treibstoffverbrauch auf unter zehn Liter je Stunde zu senken, ohne dass die Geschwindigkeit spürbar nachlässt. Der große starke Motor ist völlig sinnlos für den kleinen Golem, es sein denn, er käme in die Verlegenheit, mal eben gerade einen Hochseetrawler abschleppen zu müssen, oder einen Frachter von Kai A nach B zu schieben. Ziemlich unwahrscheinlich auf der Oder, oder? Also rutscht der Dieselschieber Stufe für Stufe auf Kleine Fahrt, bis voraus das stolze Bauwerk des Schiffshebewerkes auftaucht. Jetzt ist unwiderruflich klar: Ihre Vision wird Wirklichkeit, auch wenn es nur eine Reise nach Berlin ist!

Hebewerk

Lea steuert den Golem mit sicherer Hand. Steuerbord voraus taucht das Schiffshebewerk auf, wieder haben sie einen Tag für einhundert Kilometer gebraucht. Das Hebewerk ist, wie ihr Golem, ein betagtes Stück Eisen, und es kommt noch besser. Im Informationszentrum am Fuße des alten Stahlbauwerkes, das wie ein Turm vor ihnen aufragt, steht es schwarz auf weiß: Das Hebewerk ist Baujahr 1934, wie der Golem aus Kiel! Nördlich neben dem alten Hebewerk steht das neue Gebäude, funktional, mehr Beton, weniger Stahl, so scheint es, dafür noch höher! 4 Kräne neben dem gewaltigen Bau. In seinen Trog sollen über einhundert Meter lange Schiffe passen, mit einem Tiefgang von vier Metern. Da kann die Hauptstadt ordentlich Ladung auf dem Seeweg verpasst bekommen! Mit solchen Betrachtungen machen sich die beiden Seefahrer Mut, denn der Stahlkoloss vor ihnen flößt ihnen Respekt ein. Angst vor der eigenen Courage träfe es wohl besser, und so schlafen sie in dieser Nacht nur unruhig. Der beleuchtete Riese am Ufer jedoch steht ruhig. Er kann sich sicher sein, an ihm führt kein Weg vorbei, es sein denn, sie brechen ihre Reise ab. Hier und jetzt!

Am nächsten Morgen fahren sie still in das sich öffnende Schleusentor. Ein Flusskreuzfahrer fährt vor ihnen, ruhig werden die Anlegemanöver im Trog vorgenommen, dann schließen sich die Tore und der Hub beginnt. Nach ganzen zwanzig Minuten fahren sie sechsunddreißig Meter höher in den Oder-Havel-Kanal. Bis Berlin haben sie noch gute einhundert Kilometer vor sich, ihr erstes Treibstofffass ist annähernd aufgebraucht. Jetzt steht es fest, der Diesel wird bis Berlin reichen und sie werden dort eine Reserve haben, die sie für die Touristenfahrten einsetzen können. Lea denkt an die Geldkarte in ihrem Portemonnaie. Selbst wenn alle Reserven erschöpft sind, die Heimfahrt kann sie auf jeden Fall noch bezahlen. Ihr Konto ist nicht blankgeputzt, und Dispo hat sie auch noch, ganze zweitausend Euro!

Dachverband

Am Sitz des Dachverbandes Deutscher Industrien am Hauptbahnhof in Berlin arbeiten die Sherpas des Abteilungsleiters strategische Entwicklung fieberhaft am Abschluss des Papiers „Erweiterter Börsenhandel in Frankfurt: Chancen und Risiken“.

Frank Leonhardt steht am Fenster und blickt über die Stadt, die sich bis zum Horizont vor ihm ausbreitet. In Richtung Osten erkennt er weit hinter den Türmen der Frankfurter Allee die Sünden der sozialen Wohnungsbauer. Auch an den Stadtgrenzen ganz im Süden sind die Silhouetten der Wohnburgen zu erkennen. Den Wald inmitten der Stadt, den Tiergarten, kann er nicht sehen, den verdecken die Gebäude des Regierungsensembles vor ihm. Nur ein kleines Stück des Waldes ist hinter dem Fahrstuhlschacht zu erkennen. Beiläufig flattern die Gedanken durch seinen Kopf. Er liebt diese kleinen Pausen, in denen sein Gehirn im Leerlauf quasi mit den Beinen schlenkern darf.

Auf dem Dach gegenüber machen die Mitarbeiter der Konzernverwaltung Bahn eine Pause. Auch sie genießen den kurzen Moment der Ruhe und haben es noch besser als die Angestellten des Dachverbandes neben ihnen: Sie haben frische Luft!

Eine junge Frau lässt sich in einen Liegestuhl gleiten. Sie winkt, Frank dreht sich automatisch um. Außer ihm ist keine Menschenseele im Beratungsraum, der eine ganze Etage des seltsam zugeschnittenen Gebäudes einnimmt. Er tut so, als ob er mit beiden Fäusten an die Scheiben schlägt, sein Mund formt einen stummen Schrei:

„Ich will hier raus!“

Aus dem Hintergrund dringen leise Stimmen, schnell lässt Frank die Arme sinken. Sein Chef, Dr. Gausenberg, kommt mit seiner rot leuchtenden Assistentin und einer schlanken dunkelhaarigen Frau in den Raum. Die hat lange Beine, gestreckt durch hochhackige glänzende Pumps, trägt ansonsten jedoch das konservativste aller Outfits, alles grau in grau, trotzdem elegant. Frank kennt die Frau, ihr Gesicht ist wohl jedem in Deutschland bekannt. Ja, nicht nur die Erwachsenen kennen Andrea Scherff, sie wird wohl der Traum manches pubertierenden Teenagers sein. Denn was das Kostüm nicht verbergen kann: Die Frau ist schön!

Dr. Gausenberg bemerkt seinen Mitarbeiter und winkt ihn heran.

„Darf ich vorstellen, unser Referent für strategische Entwicklungen, Herr Leonhardt.“

Brav streckt Frank die Hand aus, verbeugt sich sogar, als ihn Andrea Scherff anstrahlt. Ihre Stimme klingt rauchig, ganz anders als bei ihrem üblichen Gebrüll in die Mikrofone.

„Ich bin Andrea Scherff.“

Sie ergreift die dargebotene Hand, Frank läuft eine Gänsehaut über den Rücken. Er reißt sich zusammen, fast ist das Knacken seiner Gelenke zu hören.

„Frau Scherff, wer kennt Sie nicht? Ihre Partei, Gemeinsam für Deutschland, ihr Internetauftritt! Was sagen Sie zum erweiterten Börsenhandel in Frankfurt, zum Austritt Englands aus der EU?“

Jetzt scheint es in der Frau zu knacken. Geschäftsmäßig verkündet sie ein Stück ihres Parteiprogrammes: Nur der nationale Weg verspricht Sicherheit, die Risiken der Globalisierung sind unüberschaubar, untragbar, sie produzieren Flüchtlinge, Flüchtlinge, Flüchtlinge…. Nicht zu vergessen einfache Menschen, die die verfahrene Europapolitik, die ganze Welt nicht mehr verstehen.

Frank Leonhardt bewundert das Umschalten zwischen der sozialen Ebene des Kennenlernens auf die geschäftsmäßige der Parteivorsitzenden noch, als ihn Frau Scherff fragt, was er denn selbst vom Verlassen der EU durch bestimmte Länder hält.

„Ach, wissen Sie, ich werde nicht für meine Meinungen bezahlt, sondern für das Abwägen von Möglichkeiten, für das Erkennen von Wahrscheinlichkeiten.“

Andrea Scherff lächelt schelmisch.

„Sie und keine Meinung. Wer’s glaubt!“

Dr. Gausenberg verfolgte das Geplänkel ungeduldig, nun wird es ihm zu viel. Ganz Chef fragt er seinen Referenten:

„Wie weit ist denn Ihre Analyse?“

Eines hat Frank Leonhardt gelernt. Bei ihm ist stets alles fertig, so auch diesmal. Die paar Kleinigkeiten an Feinschliff kann er dem Dokument auch hinterher verpassen. Also gibt er schadenfroh zurück:

„Sie meinen zur Börse? Die steht natürlich!“

Andrea Scherff hält sich die Hand vor den Mund.

Dr. Gausenberg wirkt pikiert.

„Damit scherzt man nicht, mein Lieber!“

Er wedelt mit der Hand.

„Wir sehen uns nachher. Sagen wir, um Fünf in meinem Büro?“

Frank nickt, reicht Andrea die Hand und schon ist sie im Treppenaufgang verschwunden. In seinem Kopf geistert ein großes Fragezeichen:

Was hat der Dachverband mit den Nationalen am Hut? Oder hat Gausenberg was mit der Scherff? So sieht der nicht aus, akkurat, wie eine Rasierklinge, trocken wie eine Backpflaume. Wieder muss Frank grinsen. Er sieht zu, dass er in sein Büro kommt. Chancen des Börsenhandels? Wieder muss er sich das Lachen verkneifen. An der Börse in Frankfurt ist der Teufel los, und er, als strategischer Leiter, soll dafür sorgen, dass alles beim Alten bleibt!

Wie kann ein Mensch allein nur so dämlich sein und annehmen, dass dieses System noch lange ohne Crash über die Runden kommt? Er jedenfalls sieht die Risiken, er sieht das Bargeld, das aus dem Verkehr gezogen wird, und er sieht Gausenberg förmlich sabbern, wenn von der Möglichkeit die Rede ist, das Bargeld ganz abzuschaffen.

Naja, den Fünfhundertern hat die Stunde geschlagen, das muss er berücksichtigen. Der Euro wird es wohl noch eine Weile machen, auch wenn der Oberguru der Europabank Woche für Woche versucht, den Wert in Papier zu ersäufen. Er zuckt die Schultern. Nicht sein Problem.

Wohl sein Problem ist sein alter Vater, der auf der Klitsche im Norden hockt und eigentlich in ein Altersheim gehört, nachdem die Mutter gestorben war. Kein Leben so allein! Bloß, wer soll ein gutes Altersheim bezahlen? Sein Vater von der Rente? Keine Chance. Doch Frank hat eine Vision. In seiner Vision haben er und eine ganze Reihe von lieben Mitmenschen keine Geldprobleme mehr. Es ist Gott bewahre nicht so, dass Frank Geldprobleme hat.

Gut, die geschiedene Frau, ihr gemeinsames Kind Lene, das kostet! Trotzdem verdient er genug. Genug? Kann ein Mensch genug verdienen? Frank denkt an die Manager, die der Dachverband berät. Typen, die schon nicht mehr wissen, wie viel sie gerafft haben. Die Neujahrsspendengala, ein buntes Sammelsurium der reichsten Mitglieder. Er könnte kotzen, wenn er an die Heuchelei dort denkt.

Und obwohl die Kerle auf dermaßen Geldbergen hocken, dass sie sie im Leben nicht sinnvoll verbraten können, haben diese Säcke einen Trieb Steuern zu sparen - einfach unglaublich. Der Staat lässt ab und an einen der Überflieger symbolisch eine Weile brummen, aber ernsthaft Sorgen muss sich keiner der Geldsäcke machen. Wobei, Geldsack trifft es inzwischen auch nicht mehr: Hunderte, tausende solcher Sherpas wie er und sein Stab, schieben unter Nutzung einer Rechenleistung, die sich gewaschen hat, Tag für Tag neues Geld auf die größten Haufen. Da bleibt neben den Haufen wenig liegen, so dass sich zu Recht die kleinen Leute Gedanken machen, wo ihr Geld bleibt, ob sie es in zwanzig Jahren jemals wiedersehen, wenn sie im Alter gemütlich ihr Sparbuch lesen wollen?

Selbst wenn der gewaltige Berg ins Rutschen kommt, werden die Sherpas hinzuspringen und eifrig wieder alles in Richtung der verbliebenen größten Gipfel schieben. Sie können nichts dafür, sie können nicht anders, ihr Glaube an die Lauterkeit des liberalisierten Marktes bleibt ungebrochen. Reflexartig werden nach Störungen die Programme neu gestartet. Das gleiche Spiel startet täglich neu. So funktioniert das System, und Frank ist ein Teil davon.

Er ist nicht stolz darauf, oder doch, er ist stolz, dass er als Provinzheini, als Rechenknecht vom Lande den Sprung in den Dachverband geschafft hat. Eines ist ihm während seiner Karriere klar geworden. Er ist hier der richtige Mann an der richtigen Stelle!

Ein kleines Programm, ein virulenter Wurm, einige Zeilen Codes, die an der richtigen Stelle das richtige bewirken, soll sein Helfer sein. Die Welt wird besser dadurch? Nicht direkt. Wesentlich schlechter wird sie jedoch auch nicht. Also! Mit wem streitet er sich da eigentlich? Mit seinem Ethos? Mit seinem inneren Schweinehund?

Es ist inzwischen dunkel geworden. Frank blickt aus seinem Fenster auf den Spreebogen. Boot auf Boot legt auf der gegenüberliegenden Seite an. Menschenmassen drängen an Bord, die Fußgängerbrücke schimmert im Lichterglanz. Versonnen lässt Frank weiter die Gedanken schweifen. Jetzt ist es kurz vor Fünf, und in seinen Plänen taucht eine Frauenfigur auf, geschwungen wie ein Cello. Andrea! Die sollte sich mal nicht in der Politik verplempern und schon gar nicht bei den Nationalen! Vielleicht kann er diese Frau bald zu seinen nächsten Mitmenschen rechnen? Dafür würde sich der Einsatz seines Würmchens auf jeden Fall lohnen. Das Telefon klingelt, sein Chef ist dran.

„Könnten Sie unseren Termin ein wenig nach vorn verschieben?“

Wegen fünf Minuten! Affektierter Affe, affektierter!

„Aber gern, bin schon auf dem Weg!“

Dr. Gausenberg

Pünktlich fünf Minuten vor Fünf reißt Frank die Tür zum Büro seines Chefs auf. Eine Unverschämtheit, die ihm immer wieder Freude bereitet. Allerdings trifft diese Grobheit nicht, denn Dr. Gausenberg ist in Gedanken bei Andrea Scherff und ihrer Partei. Gedankenverloren zeigt er auf einen Stuhl an seinem Beratungstisch, quält sich aus seinem Drehsessel (!), setzt sich seinem Referenten gegenüber und reibt sich die Schläfen.

„Nicht, dass Sie einen falschen Eindruck bekommen, mein lieber Leonhardt, unsere Beziehungen zu Frau Scherff haben nichts mit deren Aktivitäten als Parteivorsitzende zu tun.“

Frank sagt nichts, wartet einfach ab.

„Sehen Sie, Frau Scherff kennt herausragende Persönlichkeiten unserer Wirtschaft und wir als Dachverband, ich als Repräsentant der Deutschen Industrie, können nicht umhin, diese Beziehungen zu würdigen.“

Dr. Gausenberg fixiert seinen Mitarbeiter fest. Frank überlegt immer noch, was der Chef von ihm will. Soll er doch mit der Parteivorsitzenden Scherff kooperieren so viel er will, ihn interessieren nur die Kontaktdaten, und die hat er so gut wie im Sack. Hat die Dame einmal ihre Spuren im Verband hinterlassen, wird er sie zu finden wissen! Außerdem dürfte sich ihm nun auch dienstlich ein Türchen geöffnet haben, er weiß nur noch nicht, warum. Frank ist nicht zimperlich, er packt den Stier bei den Hörnern.

„Haben wir einen Consultingauftrag für die Parteivorsitzende?“

Dr. Gausenberg lehnt sich schnell nach hinten.

„Um Gotteswillen! Nein! Die Deutsche Industrie ist über jeden Vorwurf der Zusammenarbeit mit rechten Kreisen erhaben! Wo denken Sie hin!“

Der Chef läuft leicht rot an. Wie soll er es diesem Emporkömmling aus dem Osten klar machen. Oben bei denen an der Küste ist es schon lange kein Problem mehr, die rechten Alternativen in die Gemeindevertretungen zu schicken. Das gehört schon fast zum guten Ton, zum volksverbundenen Aufbegehren, mit leicht anti-wogegen-eigentlich: egal, Hauptsache dagegen!

Die im Süden machen es etwas anders, denen waren die linksliberalen Bemühungen schon immer ein Dorn im Bauernpelz. Den Bauernpelz haben sie gegen fesche Mode mit volkstümlichem Anstrich getauscht; in der Rolle der Geberländer lassen sie das verdammte Preußenpack nach ihrer Pfeife tanzen. Klappt nur nicht so richtig, denn hier, in der Hauptstadt, bläst einem der kalte Wind der Globalisierung ins Gesicht. Da kann einem die Visage schon mal steif werden vom höflichen Lächeln!

„Ich will es ganz klar sagen, ein offizieller Consultingauftrag ist nicht zu machen. Bitte bedenken Sie das Echo der Öffentlichkeit. Sagen wir so: Frau Scherff hat berechtigten Anspruch, in ihren Vermögensangelegenheiten ein wenig Unterstützung zu bekommen. Schließlich ist sie Mitglied im Dachverband!“

Frank nickt, das spielt ihm in die Karten.

„Was ist zu tun, wenn sich die Vermögensangelegenheiten Frau Scherffs mit denen der Partei vermischen?“

Dr. Gausenberg winkt ab. Das soll er operativ entscheiden und ihn mit solcherlei Kleinkram bitte nicht behelligen.

„Hier, nehmen Sie bitte Frau Scherffs Karte. Ich habe ihr zugesichert, meinen besten und diskretesten Mann zu ihrer Unterstützung aufzubieten.“

Mit klopfendem Herzen verlässt der strategische Weltverbesserer Frank das Büro. Er hat nun zwei Optionen. Er kann die Frankfurter Börse ebenso melken, wie die Schatulle der Nationalen. Wenn das nicht schöne Aussichten sind? Kaum ist er in sein Büro zurückgekehrt, wählt er die Mobiltelefonnummer der Parteivorsitzenden. Als er die rauchige Stimme vernimmt, rieselt ihm wieder ein Wohlbefinden über den Rücken.

„Hier ist Leonhardt, Verband Deutscher Industrie. So bald darf ich Sie wieder anrufen. Unser Vorstandsvorsitzender hat mich beauftragt, Ihre Interessen zu vertreten. Wann können wir uns treffen?“

Der Termin wird vereinbart, glücklich legt Frank den Hörer langsam auf, die Stimme seiner Andrea noch im Ohr.

Flussschiffer

Lea steuert den Golem mit sicherer Hand. Seitdem sie beschlossen haben, Kraftstoff zu sparen, brummt der Motor des Golems nur noch halb so laut in seinem Verlies. Inzwischen, zwei Mal im Bug ihres schwimmenden Stahlgehäuses übernachtet, ist ihr Tagesablauf fast Routine. Nach dem dritten Erwachen schöpft Ralf wie jeden Morgen einen Eimer Havelwasser, oder was auch immer der Kanal für eine Brühe hergibt. Sie sind sich da nicht ganz einig. Nur, Oderwasser kann es wohl nur zu sehr geringem Anteil sein, denn wie sollte das Flusswasser wohl die durch das Hebewerk überwundene Höhendifferenz schaffen? Es könnte sich also nur um Oderwasserspuren handeln, die mit dem Hebetrog in den Kanal eingespeist werden. Lea meint, dass die Havel schließlich auch nur aus Oderwasser ist, aber von viel weiter oben! Da sieht Ralf nicht mehr durch. Ist auch egal, womit sie sich waschen, auf jeden Fall ist das Wasser reichlich frisch. Prustend spülte er sich am Morgen die Nacht vom Leib. Lea steckte den Kopf aus der Kajüte

„Kalt?“

Sie wartete die Antwort nicht ab, streckte Ralf einen leeren Eimer entgegen. Der schöpfte aus dem Kanal, reichte ihr den halb vollen Eimer, bald blubberte ein Töpfchen auf dem kleinen Gasherd.

Wieder klopfte sie an die Scheibe, zeigte auf seinen Eimer, winkte, krümmte den Finger und Ralf kippte die Seifenbrühe ans Ufer. Mit abgespreiztem Arm schleppte er den vollen Wassereimer am Bootsrand entlang, gab ihn seiner Freundin, die die Tür wieder einen Spalt öffnete.

Das fast noch kochende Wasser, jetzt in der Schüssel, wurde gestreckt, der Dampf beschlug die Scheiben. Inzwischen hatte Lea Trinkwasser aufgesetzt, der Herd brachte die Kajüte auf gemütliche Wohlfühltemperatur. Als Lea sich frei machte, half ihr Ralf beim Waschen. Seine kalte Brust berührte ihren noch bettwarmen Rücken, seine kalten Hände griffen nach der Seife, sie brauchte sich nicht um das Einseifen zu kümmern. Das Waschen ging in Streicheln über, das Streicheln in Schlecken und Schmatzen, das Schlecken und Schmatzen in ein Ziehen in den Bäuchen, ganz unten. Lea griff zu, zog den Saum der Schlabberhose nach unten. Als der Wasserkessel pfiff, lagen sie wieder in der Spitze des Golems, die kalte Luft da vorn war ihnen plötzlich egal, der Kessel pfiff und pfiff. Bis schließlich getan war, was getan werden musste, Ralf mit hängenden Hosen nach dem Gasregler tastete und das Gas abdrehte. Das Frühstück war schnell gemacht, die Brötchenvorräte aufgebraucht, nun brauchen sie wieder frische und ein wenig frische Wurst. Beides sollte wohl in Eberswalde zu kriegen sein?