Benterdal - Jens Kirsch - E-Book

Benterdal E-Book

Jens Kirsch

4,9

Beschreibung

Stoffel, ein ausgesteuerter Schlosser, dessen tätige Hilfe im ganzen Dorf gern angenommen wird, sucht nach einem neuen Sinn in seinem Leben. Gut, dass ihm die schmucke Landschaftsgärtnerin Iris dabei zur Seite steht, obwohl der Versuch, mit eigenen ökologischen Produkten der Marke „Hoch und Fein…“ den Markt zu erobern, ganz schnell eingestellt werden muss. Gut ist weiter, dass ihn die Beseitigung nicht ganz so ökologischer Hanfprodukte nach Benterdal führt, wo er auf Josef stößt. Hier starten sie und ihre Mitstreiter den Aufbau einer solidarischen Dorfgemeinschaft, die durch den Zustrom von Flüchtlingen ungewollt beschleunigt wird. Eine Entwicklung, deren Ende nicht abzusehen ist…

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Und wieder sind die handelnden Personen und Ereignisse des Romans frei erfunden. Überschneidungen mit der Wirklichkeit sind beabsichtigt, aber ebenfalls literarisch.

Für meine Tochter Dr. Susann Seiberling und meinen Onkel Dr. Rainer Vogel, ohne die ich dieses Buch nicht geschrieben hätte.

Inhalt

Stoffel sägt

Am Abend entsteht ein Plan

Die Vorbereitungen beginnen

Iris zieht ein und gibt Geld für einen Motor

Überfahrt

Erstens kommt es anders

Dorsche

Kindereien

Hast du schon gehört?

Guerilla Gardening up´m Dörp

Tagwerksplanung

Auftraggeber, Auftragnehmer

Im Gemeindebüro

Geld verdienen

Steine klopfen

Schnellräumung

Bauwirtschaft am Morgen

Junge Leute wollen ins Gutshaus

Das Erste

Beete, Beete, Beete

Das Versteck riecht nach Bier

Brainstorming

Geld, Geld, Geld…

Mein Eigen muss mein Eigen bleiben

Es stinkt

Urproduktion oder Handwerk?

Iris ist altruistisch

Thomas im Glück

Böses Erwachen

Erntestrauß

Der Herbst beginnt

Feuer, Rauch, Nebel…

Accra, Agbobloshie

Wackerow, Gemeindebüro

Das Feuer ist aus

Stoffel und Josef

Krisensitzung

Annas Rückkehr

November

Dombesteigung

Annalia studiert, Josef wird vom Musenstrahl getroffen

4 x 6

Brot

Spiele

Zwillinge

Tiefs

Tief im Camp

Stoffel bekommt einen Arbeitsvertrag

Nächtliche Aktivität

Richtfest

Destination

Otto Dainers langer Marsch

Ottos Ankunft

Alltag

Abed bekommt Bescheid

Bei der Arbeit

Versammlung in Benterdal

Gunter macht‘s möglich

Ottos Deal

Noch eine Versammlung

Ortstermin

Segen der Erde?

Nachts wach

Im Camper wird geschrieben

Wieder ist es Herbst

Benterdal 2020

Benterdal 2050

Stoffel sägt

Er sitzt auf der Stufe vor der Haustür und trinkt ein Bier. Unterhemd nicht ganz weiß, nicht ganz grau, Jeans und Hosenträger, das Haus etwas verlottert, die Wiese kurz gemäht. Sein Schäferhund, ein schönes, gelbbraun und schwarzes Westexemplar, schnürt am Maschendrahtzaun lang, verharrt. An seinem Spalt am Ende des Zaunes starrt der Hund mit gesenktem Kopf in Richtung Straße. Dort kommt Ohm Plüsch um die Ecke, an der Leine seinen schwarzen Pudel mit weißer Schnauze, halbblind Hund und Herr. Stoffel schaut auf. Er spitzt ebenso aufmerksam wie sein Hund. Zu selten die Augenblicke, an denen Nachbarn mit etwas Zeit an seinem Zaun stehen, um mit ihm in Ruhe das Dorf durch den Kakao ziehen. Er greift sich die Harke. Ganz aufmerksamer Hofbesitzer, beginnt er, am Zaun entlang das Laub zu kratzen. Das angefangene Bier steht vorsorglich an den Zaun gelehnt. Ohm ist nicht besonders schnell. Deshalb hat Stoffel genügend Zeit, die Flasche nochmals anzusetzen. Gluckernd verschwindet das Bier dahin, wo es hingehört, in der Bierwampe. Er rülpst. Dann beugt er sich weit über den Zaun, schaut den beiden gemächlichen Spaziergängern entgegen. Ohm hat inzwischen den Hund von der Leine gelassen. Beide Tiere schnuppern sich an. Schnell wenden sie sich wieder voneinander, denn sie kennen sich schon lange. Stoffel und Ohm aber kennen sich noch länger: Ohm ist in den Neunzigern mit reichlich Tamtam im Nest erschienen. Er kaufte das Gutshaus. Die Mieter freuten sich auf neue Toiletten und Bäder. Zu früh gefreut, denn nach und nach traf Ohms umfangreiche Familie ein. Die erhielt die neuen Nasszellen. Eigenbedarf hieß Ohms Devise. Die Mieter verließen das Gutshaus klaglos in Richtung Neubaublock, denn im Gutshaus war schlecht wohnen. Überall Staub und Dreck. Zwischenwände wurden versetzt, neue Decken eingezogen.

Ohm hielt allerdings das begonnene Sanierungstempo nicht lange durch. Nach zwei Jahren war die Luft raus, das ewige Klopfen auf der Baustelle verebbte. Nur ab und zu noch klingelte sich ein wütender Handwerker die Finger wund, schüttelte die Fäuste. Es half nicht. Geld sah er keins. Ohm machte lieber nicht mehr auf, und so ging auch das vorbei. Die dicke Hose in Form eines Audi A8 verschwand ebenso wie die bereitstehenden neuen Pflasterungen und Gehwegplatten. Das ist jetzt gute zwanzig Jahre her. Inzwischen gehören der immer noch in Plüsch gehende Ohm und seine bucklige Verwandtschaft zum Inventar des leerer werdenden Dorfes. Jetzt hat Ohm Stoffel erkannt und grinst ihn an.

„Was macht die Immobilie, alter Stoffel?“

Stoffel grinst ebenfalls.

„Sie bleibt bei mir, wo soll sie hin hier, ohne Räder und Flügel?“ Ohm schaut ihn etwas von unten an.

„Wenn du verkaufst, kannst du ihr Räder und Flügel machen und ab nach Malle.“

Das Thema kennt Stoffel.

„Warum bist du denn selbst nicht da? Ich kenn die Klitschen dort, alles Beton und zwischendrin ein deutscher Arzt und einige tausend wie wir. Und im Sommer Kartenverteiler für idiotische Diskos. Disko will ich nicht. Andrea Berg und der liebe Stoffel in ‚Tanz mit mir durch die Nacht‘? Lass mal Ohm, ich bleib lieber bei dir und komm dich mal besuchen.“ Ohm schüttelt den Kopf.

„Komm lieber nicht, mein Gutshaus ist hausbesetzt. Das hatte ich mir mal anders gedacht. Lauter lachende Gesichter und frohes Schaffen von früh bis spät. In der kalten Zeit sah ich mich am flackernden Kamin, alle meine Lieben dankbar um mich vereint. Sie rühmen mich für meine Weitsicht, fragen: ‚Ist dir auch warm genug? Brauchst Du eine Decke für die Knie, möchtest Du einen heißen Tee?‘ Äh, Gekeife gibt´s und Essiggesichter, dass ich davon einlegen könnte. Da bleib ich lieber weg.“

„Hast du denn inzwischen einen Kamin?“

Stoffel sieht eine Verdienstmöglichkeit.

„Bei dir am Gutshaus liegen noch stapelweise Holzpaletten. Die säg ich dir klein. Das Brennholz kannst du schön im Kamin verheizen, bis es kracht! Du gibst mir einen Blauen und schon sind wenigstens wir beide glücklich.“

„Kamin hab ich, aber zwanzig Euro nicht, die habe ich das letzte Mal zu meinem Siebzigsten in der Hand gehabt. Weißt du wie lange? Genau für zehn Sekunden, dann hat sie mir Iris weggenommen, das Luder. Ich könnt sie jetzt noch beißen, wenn ich Zähne hätte.“

Beide lachen. Stoffel macht einen gewaltigen entwicklungsgeschichtlichen Sprung. Er kehrt zur einfachen Warenwirtschaft zurück.

„Machen wir eben halbe halbe mit dem Holz, das vergammelt dir sonst sowieso.“

Ohm ist einverstanden. Stoffel verschwindet in seiner Remise. Nach kurzer Zeit kommt er mit Schubkarre und Kettensäge darin angeschoben. Er klappt das Gartentor auf. Die Hunde beriechen sich noch einmal kurz, bis jeder vor sich hin nach neuen Geruchsspuren am Wegesrand neben den beiden Männern schnuppert. Der ältere Mann geht schlurfend mit eingezogenen Schultern, der jüngere mit durchgedrücktem Rücken in Richtung Gutshaus. Stoffel geht das zu langsam.

„Ich gehe dann schon mal vor, weiß ja, wo der Haufen liegt.“ Kaum hat er die Säge abgeladen und die ersten Paletten vom Stapel gezerrt, um sie als Sägebock zu drapieren, erscheint am Fenster ein dunkler Schopf. Iris sonorer schöner Raucheralt erklingt.

„Öh, Stoffel, ich glaub, du lädst am falschen Haus Holz auf. Deins liegt in der Dorfstraße, nicht an unserer Villa!“

Stoffel stemmt die Arme in die Seite, schaut nach oben.

„Komm runter, Schnecke, mach mit, ich säg´ nur für dich.“ „Komm hoch, du Stoffel, Kaffee trinken. Ich habe Rückenschmerzen!“

Stoffel macht die Säge aus. Er geht um die Ecke. Die Treppe zum Portal zeugt von früherem Schönheitsideal. Unten schön breit, oben etwas schmaler, macht sie den Besucher klein. Die riesige Tür ist bereits renoviert. Sie leuchtet seltsam unpassend warm und neu aus der ansonsten bröckligen blass grauen Fassade. Die schönen Granitsteine der Treppe liegen schief, ihre Fugen sind mit Mörtel verkleckert. `Mann, könnte ich hier Geld verdienen´, denkt Stoffel. Er drückt die Tür auf. Der stockige Geruch eines alten Treppenhauses schlägt ihm entgegen. Vor ihm liegt die durch nachträgliche Einbauten, Treppe, Stromzähler und Briefkästen verschandelte Eingangshalle des Gutshauses. Links geht es in die erste Wohnung. ‚Ohm Simon‘ steht am Namensschild. Rechts wohnt sein Bruder. Der ist, wie Ohm, auch schon über siebzig. In der ersten Etage geht die Tür auf.

„Findest du den Weg nicht? Bin hier oben.“

Stoffel steigt hinauf. Die nachträglich eingebaute Behelfstreppe knarrt. Ohms Tochter Iris lehnt an der Brüstung der ersten Etage. Sie ist eine kräftige Frau, Anfang fünfzig. Von unten sieht Stoffel, dass ihre Beine jugendlich und glatt sind. Wie das unter dem Morgenrock weitergeht, verschwindet im Phantasie anregenden Dunkel. Er schaut schnell auf seine Füße.

„Alles gesehen und erschrocken?“

Iris ist nicht prüde. Er schaut sie an.

„Sieht eigentlich schön frisch aus.“

„Tja, eigentlich gefällt mir nicht.“

Sie macht die Tür weit auf. Dahinter liegt ein lichtdurchfluteter, großer Wohnraum. Stoffel schubst die Klapperlatschen von den Füßen, steigt mit großem Schritt über die Schwelle. Er betrachtet mit Erstaunen die freundliche Dielung, die hellen Farben der Wände. Die wenigen hellen Holzmöbel sind gut platziert. Aus den großen Fenstern verliert sich der Blick zwischen den mächtigen Baumkronen der Parkeichen in der dunstigen Ferne der Felder. Ein Traktor pflügt in der Ferne. Da fährt Max, bei seinen letzten Tagen der Herbstbestellung.

„Mensch Iris, deine Wohnung ist ja eine Wucht! So würde ich auch gern wohnen. Das habt ihr gut hinbekommen.“ Iris schaut neben ihm stehend aus dem Fenster.

„Die alte Sichtachse in Richtung Süden ist noch vorhanden. Das ist eher Zufall, denn wen hat es nach der Enteignung schon gekümmert, ob die Nachfolger der Junker aus ihren Fenstern in welcher Richtung in welche Ferne sehen konnten. Hier hat es aber geklappt. Ohm hat das nicht mitbekommen, sonst hätte er mir bestimmt nicht diesen Teil der ersten Etage überlassen. Er hat eben leider so manches nicht mitbekommen, sonst wäre er nicht praktisch pleite.“

Stoffel dreht sich zu ihr.

„Wollte er nicht erst vermieten und damit den Umbau bezahlen? Zahlt ihr ihm eigentlich Miete?“

Iris reckt sich.

„Klar bezahl ich Miete und gar nicht mal knapp. Ich kann heute bloß nicht sagen, wie lange ich noch zahlen kann. Mein Erspartes geht zu Ende. Als Landschaftsarchitektin bekomme ich hier in der Nähe keine Aufträge. Das ist der Nachteil, wenn du versuchst, auf Honorarbasis durchs Leben zu kommen. Damals in Berlin ging das noch ganz gut. Da kam Geld rein, und ich habe jedes Jahr auf die eigene Wohnung gespart. Das Ohm dann gerade hier bei euch was auftat, fand ich am Anfang sehr attraktiv. Alle aus der Familie unterstützten die Idee, im Osten als große Pioniere und Investoren aufzutreten. Wenn Ohm und sein Bruder nicht gleichzeitig noch echte Investoren in den Neuen Markt gespielt hätten, wäre das Modell renovieren, schön wohnen und von den Zinsen leben für uns alle bestimmt aufgegangen. Ich habe erst mitbekommen, dass was schief läuft, als die Steine für die Pflasterung des Hofes nicht bezahlt werden konnten.

Du musst bedenken, viele Pfiffikusse haben ihre Fünfzigtausend über die Woche zu einer Million gemacht. Das haben Ohm und Stefan mitbekommen. Die Brüder machten aus ihren Millionen binnen Wochenfrist Fünfzigtausend. Jetzt muss es eben so weitergehen, aber wenn ich die beiden schrägen alten Vögel sehe, kommt mir oft genug die Galle hoch.“

In dem Moment ist Ohm am Gutshaus angekommen. Er steht im Park. Sie hören seine Rufe. Er ruft nach Stoffel. Stoffel steckt den Kopf zum Fenster raus und antwortet.

„Kuckuck!“

Stoffels Schäferhund jagt durch den Park. Der Pudel läuft mit etwas Abstand und deutlich langsamer hinterher. Da, eine Katze verliert die Nerven. Sie prescht, um den Hunden zu entkommen, zur Seite weg. Stoffels Hund kriegt die Kurve eng hinter ihr. Die Katze biegt in fast gleich bleibender Geschwindigkeit nochmals ab, aber diesmal nach oben, auf eine der schönen Parkkastanien. Dieser Biege können beide Hunde nicht folgen. Stoffels Schäferhund Aaron zieht am Baum vorbei. Sein schneller Lauf trudelt aus. Sich wendend beginnt Aaron voller Enthusiasmus zu bellen. Nun gehen Fenster zur Südseite auf. Aus jedem schaut ein Ohmverwandter raus. Stefan, sein Bruder schreit.

„Könnt ihr die blöden Köter nicht an die Leine nehmen?“

Stoffel lacht am Fenster in der ersten Etage.

„Die Leine ist zu kurz!“

Stefan hängt sich aus dem Fenster.

„Was machst du denn da oben? Lass Iris in Ruhe und kümmere dich um deinen Köter!“

Ohm schimpft auch.

„Holz sägen nennst du das? Komm runter, du Knaller, oder soll ich die Hunde einfangen?“

Stoffel zieht den imaginären Hut vor Iris, verbeugt sich.

„Iris, du hörst, meine Kompetenz ist überall gefragt. Gern lade ich dich zum Gegenbesuch bei mir ein. Komm rum, wann du willst. Ich will dir erzählen, wie ich auf wundersame Weise mein Geld vermehrte, in der Zeit des Neuen Marktes.“

Weg ist er. Kurz darauf zieht im Park wieder Stille ein. Die Hunde werden an die Leine genommen, das Bellen verstummt. Die Motorsäge geht an, die Fenster schlagen zu. Die Katze schaut aus dem Baum auf die angeleinten Hunde. Erst später, am Abend, als alles wieder still ist und die Hälfte der gesägten Brett- und Palettenstücke in Stoffels Remise liegt, rutscht die Miez an bremsenden Krallen den glatten Stamm hinab. Sie setzt sich nieder, leckt die Pfoten, putzt sich gemächlich Gesicht und Schnurrhaare. Nach einem kurzen Blick in die Runde verschwindet sie im hohen Gras des Nachbargrundstückes.

Am Abend entsteht ein Plan

Aus dem Gutshaus und dem Tagelöhnerkaten Stoffels steigen hellgraue Wölkchen aus dem Schornstein. Unaufhaltsam zieht von Südwesten eine dunkle Wolkenwand wie ein Vorhang über die sanfte Landschaft, das milde Abendrot verlischt im dramatischen Dunkel. Es beginnt zu regnen. In den Häusern prasseln die Feuer. Bei Ohm im herrschaftlichen Kamin, bei Iris hinter der Sichtscheibe eines eisernen Gussofens.

Bei Stoffel schließlich glühen die Herdringe der alten Kochmaschine. Auf diesem Herd steht ein großer Topf Wasser. Blasen steigen auf, als er den Deckel anhebt. Aaron hält den Kopf schief. Sieht aus wie Baden, und das mag er. Stoffel trägt den Topf in die Waschküche. Er lässt kaltes Wasser in die ebenfalls gusseiserne Badewanne ein. Die hat er vom Schrott. Ein Riesending mit vier geschwungenen Füßen. Das heiße Wasser gießt er hinzu. Nach einer zweiten Ladung dampft es leicht über der Oberfläche.

Er zieht seine Schmuddelsachen aus, steigt in die Wanne. Sofort hebt er die Füße abwechselnd aus dem heißen Bad, wie bei einer Kneippkur beginnt er das Wassertreten, so heiß ist das Wasser. Er lässt Kaltwasser nachlaufen. Nun hockt er sich in die Wanne, prüfend den Hintern eintauchend. `Verdammt, danach kannst du keine Kinder mehr machen´, denkt er. Er zieht tief die Luft ein, bevor er sich grinsend in das Badewasser plumpsen lässt. Aaron steht am Wannenrand. Er schleckt ab und zu am seifigen Arm Stoffels.

Der Hund ist ein rechter Seifenschlecker. Stoffel krault ihm mit der nassen Hand den Kopf, wischt ihm die Augenwinkel sauber und lässt ihn zur Belohnung noch etwas Seifenbrühe aus der flachen Hand schlappen. Stoffel lässt sich zurücksinken, taucht tief in die wärmende Seifenlauge ein. Er denkt an die Zeit, als er selbst noch am Waschlappen lutschte. Viel weiß er nicht mehr aus dieser Zeit, aber eine Erinnerung hat sich so tief eingeprägt, dass er sogar einen Traum davon in sich hatte, den er wieder und wieder träumte.

Der Traum ging so: Stoffel spielte am Ufer einer Pfütze und warf ein kleines Steinchen nach dem anderen in das dunkle Wasser. Er beobachtete, wie die Wasseroberfläche sich dem Steinchen öffnete, es einließ und nach dem Einlass wieder schloss. Ein kleiner Schwall, ein Berg wölbte sich um den Trichter des Einlasses auf. Ein Tropfen befreite sich daraus, sprang in die Höhe und glitzerte in der Luft, während die Ringe des sich nun überschlagenden Verschlusses und des wieder fallenden Tropfens eilig dem Rand der Pfütze zustrebten.

Er sah, sich vorbeugend, sein Gesicht, seine Arme in der Pfütze, die weißen Wolken hinter sich, den blauen Himmel dahinter. Er beugte sich noch weiter vor, um alles genau zu sehen, als sich das Wasser für ihn öffnete. Erschrocken tauchte er ein, die Dunkelheit der Pfütze packte ihn.

Er fiel und fiel, ruderte wild mit den Armen, drehte sich im Wasser, bis er wieder den Himmel sehen konnte, blickte nun nach oben und sah den Tropfen diesmal von unten aufsteigen, so weit in den Himmel hinein, wie ein Springbrunnen, glitzernd wieder in sich zusammenbrechend, während er, sich wiederum drehend, nach unten nur gähnendes grünes Schwarz sah, grausige Finsternis. Weiter abwärts ging es und abwärts und abwärts. So klein war er damals, aber den gewaltigen Schauder des Versinkens, den kennt er heute noch. Er breitete die Arme aus, das Sinken zu verhindern oder wenigstens doch zu bremsen, aber er sank und sank.

Der schöne blaue Himmel wurde immer blasser und das liebe Sonnenlicht spürt er nicht mehr, nur wehende Kühle. Aber unten in der Tiefe stand ein Kästchen, ganz elfenbeinfarbig. Er runzelte die Stirn, starrte und starrte, bis er erkannte, dass es sein Gitterbettchen war, welches auf ihn wartete. Von da an steuerte er, die Arme schwenkend, darauf zu, schaffte es darin zu landen und zog sich glücklich die Decke bis zum Kinn.

Dann drehte er an der vierten Stange des hölzernen Bettchens, die die einzige war, die sich drehen ließ. ‚Gnörg gnörg gnörg‘, dreimal linksrum, ‚gnirg gnirg gnirg‘, dreimal rechtsherum. Alles war gut. Der Mond leuchtete ins Fenster, die Wolken zogen an ihm vorüber. Er räkelte sich ein, kuschelte sich in tiefer Geborgenheit an die Zipfel seiner Kissen. Der Traum aber kam daher, das Stoffel einst mit seinem Spielkameraden aus dem Nachbarhaus in den Wiesen vor der Südstadt spielte. Gesprengte Gebäude aus dem letzten Krieg hinterließen Keller, bis zum Rand abgesoffen und dunkel. Als sie dort umher tobten, fiel Stoffel in eines dieser dunklen Löcher. Er schaffte es, sich strampelnd und wassertretend an die Mauer zu retten, deren Fundamentkante ihm einen kleinen Halt für die Füße gab, so dass er, die Arme aufrecht haltend bis zum Hals im Wasser an der Wand klebte.

Er rief seinem Freund und Spielkameraden zu, nur schnell nach Hause zu laufen, den Vater zu holen. Heinzi lief davon, aber daheim war niemand, so dass er nicht Bescheid sagen konnte. Als der Vater am Abend von der Arbeit kam, brachte er wie immer sein Fahrrad in den Schuppen, fütterte die Hühner und sah schließlich Heinzi allein vor dem Haus spielen. Das wunderte ihn, und er fragte nach Stoffel. Da erinnerte sich der Freund wieder und führte den Vater eifrig in die Wiesen. Sie zogen den kleinen Stoffel aus dem nassen dunklen Loch. Zu Hause wurde er schnell nochmals kalt abgespült, ihn vom Dreck zu befreien. In warme Tücher gepackt und mit warmem Tee befüllt, färbten sich seine blauen Lippen wieder rot.

Stoffel ist froh, dass der Traum nicht wieder kommt. Er hat keine Angst mehr vor den Tiefen des Wassers, obwohl er sich nie richtig wohl fühlt, wenn der Boden unter den Füßen fehlt. Er klettert aus seinem Trog. Jetzt ist Aaron dran. Vorsichtig, aber bereitwillig steigt er in die Seifenlauge.

Nach Aarons Bad drückt Stoffel sorgfältig das Fell noch in der Wanne aus. Dann stellt der Hund brav die Vorderpfoten auf den Wannenrand. Stoffel hebt Pfote für Pfote und trocknet die Vorderpfoten vor. Zum Trocknen der Hinterpfoten beugt er sich weit über den Wannenrand. Das nutzt Aaron zum Sprung aus dem Wasser. Er schüttelt sein Fell mit Vehemenz trocken. Verdammt, das wollte Stoffel vermeiden. Er ist einfach nicht schnell genug mit dem Handtuch! Nun muss er wieder die ganze Waschküche wischen. Aaron verschwindet in seinen Korb und leckt sich das nasse Fell.

Nach dem Wischen holt Stoffel die gute Eisenpfanne vom Haken, tropft etwas Öl hinein und stellt sie auf den Herd. In die Ofenklappe schiebt er einige kleine Holzscheite, nicht ohne zuvor die erkaltende Glut durchzustochern. Bald bollert der Ofen und die Pfanne beginnt zu knistern. Stoffel schneidet vier Streifen Speck und legt sie in das Öl. Sofort zieht der Speckdunst durch den Katen. Aaron hebt den Kopf. Der Speck rollt sich auf. Stoffel schlägt vier Eier dazu. Nach wenigen Sekunden stocken sie auf.

Jetzt kann die Pfanne an den Herdrand. Zwei Tomaten werden auf einem Brett in Scheiben geschnitten, zwei Zwiebelscheiben, Pfeffer und Salz darauf, Zitronentropfen und wieder etwas Öl. Zwei dicke Scheiben Brot ergänzen die Familienmahlzeit. Aarons Anteil an den Eiern kommt in einen alten Karnickelnapf aus Ton, zerbrocktes Brot dazu, Milch darüber. Schon kann sich Stoffel mit Brett und Pfanne an den Tisch setzen. Aaron schiebt mit der Eierspeise am Fußboden umher.

Er leckt den Napf sauber, als wäre er aus dem Schrank gekommen. Seine Augen blitzen in Richtung Stoffel. War das alles? Sieht so aus. Stoffel gabelt sein Abendessen. Dabei starrt er auf die Abendsendung. Aaron lässt sich in die Küchenecke plumpsen. Ein rotes Schiff fährt vor der Kreideküste Rügens zum Wrack eines Kutters. Die Besatzung will hängen gebliebene Netze bergen, die das Wrack vollständig umhüllen. Unterwasseraufnahmen zeigen Schichten von Fischernetzen, verwoben mit Angelsehnen, Tauenden und Wrackteilen.

Ab und zu zieht eine Bewegung über das Bild, ein Zucken und Wogen von stecken gebliebenen Fischen und Fischleichen. Hoffnungslos sitzen sie fest in den verlorenen Fallen vergangener Fischzüge.

Stoffel sagt zum dösenden Aaron: „Ja, sehen die denn nicht, dass da noch viele leben? Die brauchen sie doch nur freizuschneiden!“

Die Dokumentation fährt fort. Die Reporter berichten von der gelungenen Bergung von vier Tonnen Netzmüll. Etliche Taucher riskierten dafür allerhand, denn das Heben der Fitzbündel ist schwere und tückische Arbeit. Am Ende des Filmes ist ein Wrack teilweise entnetzt, aber einhundertfünfzig weitere Wracks liegen am Grund der Ostsee, tödliche Fallen, behängt mit Sisal, Nylon und Aas. Stoffel lassen die Bilder von den erstickenden Tieren nicht los. Nachdenklich kriecht er in sein klammes Bett.

Die Türen von Schlafstube, Korridor und Küche lässt er offen, damit etwas Wärme in die Schlafstube ziehen kann. Dann starrt er in die Dunkelheit, sieht einen bleichen Fischleib zucken, den Kopf schon befreit, den Leib gnadenlos geschnürt. Stoffel überlegt, ob er einige der festsitzenden Fische befreien kann.

Die Vorbereitungen beginnen

Am nächsten Morgen springt Stoffel aus der Butze. Er schleicht um sein altes Plattbodenboot in der Scheune. Der Motor ist vorsintflutlich, Zweitakt mit fünfunddreißig PS. Ein Johnson, so alt wie das Boot, 40 Jahre. Mit dem kommt er zu keinem Wrack. Selbst bei den kleinen Angeltouren, die er jedes Frühjahr auf Hering macht, ist ihm jedes Mal unklar, ob ihn das qualmende Ungetüm wieder zurück bringt.

Deshalb hält er sich stets ufernah, damit er zur Not mit dem Boot, wie mit einer Ziege am Strick, zum Hafen nach Stahlbrode wandern kann. Das letzte Stück hätte er im Fall der Fälle dann mit dem Stechpaddel geschafft. Auf die offene See kann er mit dem Ding so nicht, auch wenn es nur einen Katzensprung von der Insel weggehen soll.

Die nächsten Wracks mit ihren schauerlichen Netzbelägen liegen nicht weiter als drei Seemeilen vor der Küste. Selbst wenn er damit führe, wie soll er bis in achtzehn Meter Tiefe tauchen, wo er schon bei zwei Metern Wassertiefe Beklemmungen hat? Er erinnert sich an einen Versuch, ein spreizbares Kleinnetz, die Senke seines Sohnes Daniel, zu bergen. An einem Sommersonntag badeten Stoffel und Daniel an der Holzbrücke zur Insel Koos. Die neu gebaute Brücke ersetzt einen ehemaligen Damm, der das Land ohne Ende mit der Insel verband. Als Stoffel und Daniel in der Sonne lagen, erzählte Stoffel, wie die Landschaft vor dem Rückbau der Polder aussah:

Vor Untergang des von seinem obersten Lenker als deutschedemkratsche Repulik benannten Landes wurde das Land ohne Ende durch die Bauern der LPG Neuenkirchen bewirtschaftet, wobei eine LPG eine Genossenschaftsform mit Eintrittsverpflichtung für die ehemaligen Einzelbauern darstellte. Wer nicht mitmischte, konnte, wenn er fix genug floh, im Westen weiter Bauer sein. Versäumte er die Frist bis zum 13. August 1961, blieb ihm nichts weiter übrig, als nach der für diesen Tag geheim vorbereiteten Grenzschließung seinen Bauernhof in die LPG einzubringen.

Denn an diesem Tag vollzogen die Landesherren ihren als Mauerbau in die Geschichte eingegangenen Selbsteinschluss. Weil sie nicht allein bleiben und vereinsamen wollten - welche Oberen meinen schon allein für sich selbst handeln zu müssen - beschlossen sie das neue Grenzregime für all ihre Landesbürger mit, ein Gewaltakt, der den späteren Umgang mit den Bürgern und den Untergang des Staates bereits in sich trug.

Nach der Grenzschließung wurde mit neuer Härte an die Durchsetzung der Kollektivierung gegangen, denn viele der Bauern, vor allem die erfolgreichen, zeigten wenig Interesse an den neuen Genossenschaften. Die später geborenen jungen Leute kannten keine andere Bewirtschaftungsform des Landes: sie wuchsen hinein. So einer war auch der Treckerfahrer Max.

Max wurde durch seinen Brigadier Nürnberg also eines Abends eingewiesen, auf ein Hauslicht am anderen Ufer des Sundes, schon auf der Insel Rügen nahe Palmer Ort liegend zuzuhalten, die erste Furche zu brechen. Max fuhr auch wacker los, hielt auf das Licht zu.

Er pflügte und pflügte, nicht bemerkend, dass er als Richtlicht einen Frachter Richtung Stralsund gewählt hatte. Erst als vor den Rädern des Treckers im grellen Lampenschein der Sand der Gristower Wieck auftauchte, beendete er seinen wunderbaren Pissbogen, der als Richtfurche wahrhaftig nicht zu gebrauchen war. Er kratzte sich den Kopf und dachte, das muss ich ja nun nicht groß herumerzählen.

Max haute der Rückwärtsgang rein und verwühlte den Trecker bis zur Achse im moddrigen Sand der Wieck. Nach einiger Zeit ergebnislosen Drehens der Räder sprang er ab. Seine Nachtschicht war damit zu Ende. Handys gab es damals noch nicht, Betriebsfunk hatten die Trecker nicht. So trabte er über seinen gepflügten Fehler zurück zum LPG Stützpunkt, Hilfe zu holen. Nach stundenlangem Marsch klopfte er an das Fenster der Bereitschaftsbaracke. Alles blieb dunkel. Max öffnete leise die Tür und sah Stoffel auf der Bank schlafen. Er rüttelte ihn an der Schulter.

„Stoffel, aufstehen, ich brauch Hilfe!“

Stoffel schaltete die Tischlampe ein, sah auf Maxens dreckige Stiefel.

„Maxe, pflügst du jetzt mit den Stiefeln?“

„Nee, mein Trecker sitzt fest, du musst ihn rausziehen.“

Die Grillen zirpten, die Männer gingen zum Schuppen und kletterten auf den Allrad ZT 303.

„Wo steckt er denn? Auf dem Acker?“

Krachend und rußend sprang der Trecker nach gehörigem Vorglühen an. Stoffel kletterte noch mal vom Bock und schaute nach den Abschleppseilen.

„Nee, nicht auf dem Acker, ich zeig dir schon, wo.“

So tuckerten sie in Richtung Land ohne Ende. Als der Scheinwerfer die riesige geschwungene Richtfurche auf dem ansonsten ungebrochenen Acker erfasste, schaute Stoffel Max von der Seite an. Max zeigte in Richtung Wasser und sagte nur „Fahr mal!“

Stoffel schnupperte vor sich hin, kein kleines süßes Düftchen von Schnaps lag in der Luft. Er schüttelte den Kopf. Jetzt sahen sie die dunkle Silhouette des Treckers vor dem Wasser und Max meinte: „Das Licht ist ja nun weg.“

„Welches Licht, bist du krank, hast du Fieber?“

Max schaute aufs Wasser hinaus.

„Ich sollte dem Licht folgen, hat Nürnberg gesagt, und das hab ich gemacht. Muss wohl das falsche gewesen sein.“

Langsam schob sich eine Laterne über den Sund, Max zeigte darauf und sagte „Siehst du, das Licht kommt andersrum.“ Stoffel lachte kurz auf.

„Komm, häng an, dann kannst du dem Ausfahrer folgen, dann wird der Bogen wieder gerade.“

So war das damals. Als sie den Trecker raus hatten, wurde die Nacht schon wieder hell, und Max pflügte diesmal auf Sicht. Er war ein guter Pflüger, diese Furche wurde ganz gerade, aber dass die Geschichte durch das Dorf sprang, konnte er leider nicht aufhalten, denn Stoffel schwatzte eben zu gern.

Nach Stoffels Erzählung warf Daniel seine Senke in das Fließ unter der hölzernen Brücke zur Insel Koos wieder und wieder aus. Er fing kleine Barsche, die er sorgsam in ein Glas mit Schraubverschluss gleiten ließ. Später setzte er die Fische im heimischen Teich wieder aus, um sie wieder und wieder zu angeln. Beim sechsten Hub saß die Senke fest. Daniel riss an der Leine, bis diese lose einzuholen war. Die Senke blieb am Grund. Beim Versuch der Bergung der Senke sorgte Stoffel für die Grundlage einer Geschichte, die das Geschehen selbst überdauerte.

Zunächst sprangen Stoffel und Daniel gemeinsam von der Brücke. So erreichten sie mit Schwung den Grund des Fließes, hockten sich kurz nieder und tasteten den Boden ab. Das Wasser schießt je nach Windrichtung von der Gristower Wieck zum Wampener Riff oder umgekehrt. Als sie das erste Mal versuchten, das verhakte Netz herauszuziehen, konnten beide noch locker den Grund erreichen. Zu sehen war da nichts, denn durch den Strom trübte sich das Wasser gewaltig. Stoffel kam auf die grandiose Idee, einen Gartenschlauch als Tauchhilfe zu benutzen.

Das taten sie zwei Wochen später. Mit dem Schlauch am Mund und einem Stein in der Hose sprang Stoffel über den Brückenrand. Er verschwand im Stromgraben, der durch das stark fließende Wasser mindestens fünf Meter tief ausgespült war; die Stromrichtung hatte mal wieder gedreht.

Die Senke mochte inzwischen sonst wo hingespült worden sein. Jedenfalls erreichte Stoffel richtig den Grund. Am Schlauch saugend stellte er fest, dass er durch das Gummistück zwar Luft ziehen konnte, jedoch beim wiederholten Einatmen nur den alten Mief zurückbekam, den er bereits ausgeatmet hatte. Das machte er so fünf bis zehnmal, ohne dass sich Frischluftzufuhr zeigte. Dann fuhr er aus der Hose, um aufzutauchen, denn er musste den Stein wieder loswerden, den er sich eingesteckt hatte. Er schoss an die Oberfläche, durchbrach sie, wie Kai aus der Kiste fahrend, brüllend:

„Nun hat deine Senke noch eine Hose!“

Lachte, schluckte Wasser, strampelte sich spuckend und vor Wonne kreischend an das Ufer neben der Brücke.

„Nein, das ist so doof, das dürfen wir keinem erzählen.“

Daniel hielt sich daran, aber Stoffel selbst nicht. Er musste die Geschichte herum tratschen, wie er alles herum tratscht. Der Druckschlauch von damals liegt im Schuppen. Einen Kompressor hat er auch. Wie wäre es, wenn er den Kompressor an den Druckschlauch anschlösse und mit zwei Bar Druckluft durch den Schlauch schickt? Dann blubbern in achtzehn Metern Tiefe Luftblasen mit zweihundert Millibar aus dem Schlauch.

Wenn er also mit 200 Millibar und dem Schlauch am Mund in die Badewanne kröche, könnte er das Atmen in achtzehn Metern Tiefe üben. So etwa gingen seine Überlegungen. Ein großes Stück Metall spielte noch eine Rolle, an dem er sich mit den Fußspitzen so halten wollte, dass es mit ihm sanft zum Boden führe. Damit hatte er die Reise zu den gefangenen Dorschen für sich weitgehend geklärt.

Iris zieht ein und gibt Geld für einen Motor

Iris kommt rum, wann sie will. Der erste Anlauf ist nicht der Beste, denn im Vergleich zu ihrer freundlichen Wohnung im Gutshaus fällt der leicht verlotterte Katen Stoffels doch gehörig ab. Trotzdem, nach einiger Zeit der Eingewöhnung gefällt es ihr bei Stoffel und Aaron gar nicht so übel. Stoffel legt sich auch mächtig ins Zeug, denn den Blick unter den Morgenmantel, den hat er nicht vergessen! Fesch ist sie, wie man im Süden so sagt.

Es kommt, wie es kommen muss. Das wenige Bare, das sie noch hat, will sie einsetzen, damit Stoffels Bude etwas auf Vordermann gebracht werden kann. Ohm schimpft, aber gegen den Auszug seiner besten Mieterin kann er nichts machen. Sie zieht im Frühling zu Stoffel. In Iris und Stoffel zieht es auch. Der Frühling? Über fünfzig? Wer weiß! Es ist so herrlich zusammen. Sie frühstücken gemeinsam, spazieren mit Aaron, streichen im Haus, bis alles hell ist. Stoffel verputzt die Schrunden seines Katens mit Speis. Iris pflanzt Stauden. Im nahe liegenden Wald finden sich junge Gehölze.

Bald schon winken kleine helle Birken den strengen Ruten des Hartriegels. Der Windschutz wird perfekt. In den Schatten der Sträucher setzt Iris Kästen, aus denen sie im April Kartoffeltürme wachsen lassen will. Die Anregung dazu bekam sie durch Zufall, im Internet, als sie nach den Bauweisen von Hochbeeten suchte. Die aus der gelegten Kartoffel auswachsende Pflanze wird nach dem Erreichen ihrer ersten Verzweigung bis über diese hinaus mit schöner fetter schwarzer Erde befüllt. Die Kartoffelpflanze wächst dann über dieser Bedeckung weiter, bis sich in den Blattachseln die ersten Tochterkartoffeln bilden. Über der aufgefüllten Erde aber geht das Wachstum bis zur nächsten Verzweigung weiter. Mit aufsetzbaren Holzetagen kann das Beet in die Höhe gezogen werden, bis es mit achtzig Zentimetern auf Hochbeetniveau angekommen ist.

Dann folgt das eigentliche Kartoffelwunder: Die vielen kleinen Töchterlein dehnen und strecken sich, bis der fleißige Gärtner beim Abbau seines Turmes etwa zehn Kilogramm der Knuffelknollen ernten kann. Begeistert stellte sie ihrem Stoffel dieses Wunder vor. Er zimmerte und nagelt die Kastenetagen zusammen, so dass sie vorerst fünf Kartoffeltürme im Test betreiben werden. Er hat aber etwas anderes dabei im Kopf.

„Wenn wir ernten, gibt das schöne mehlige Kochkartoffeln. Weißt Du, was saugut dazu schmeckt?“

Iris wischt sich den Schweiß aus der Stirn.

„Senfeier und Erbsen?“

„Fast, die Soße passt schon. Ich mein Kochdorsch mit Dillsoße. Wollen wir nicht mal Dorsche angeln fahren?“

Iris schaut zum Bootsschuppen.

„Mit dem Wrack?“

Stoffel trampelt wie vorm Weihnachtsmann.

„Ja, wir müssten einen anderen Motor ran schrauben, das Boot sonst ist doch in Ordnung. Dann könnten wir das ganze Jahr Fisch essen. Was meinst du, wie teuer jetzt Fisch kommt, das sind mindestens fünf Euro je Kilo. Wenn wir fünfzig Kilo fangen, haben wir zweihundertfünfzig Euro gespart, mindestens. Wenn wir das zehn Jahre lang machen, haben wir genug zusammen. Max verkauft einen Viertakter für tausend Euro. Er repariert ihn uns, wenn was ist.“

Iris lächelt Stoffel an. Ganz schön weit fortgeschritten, seine Planungen!

„So heiß bist du auf Fisch, mein Süßer? Max fährt doch laufend angeln, der kann uns welchen mitbringen.“

„Jaha, dann hat der Max auch noch die ganze gesunde Seeluft für sich. Schau mal, die ist für uns noch umsonst dabei. Urlaub können wir auch auf dem Boot machen, Aaron kann mit. Lauter Vorteile! Sonst kommen wir ja nie hier raus. Immer nur in der Erde wühlen und Haus anstreichen.“

Am nächsten Wochenende steht Stoffel in der Remise und schraubt den Zweitaktmotor vom Boot ab. Daniel und Stoffel heben ihn zu Seite. Der neu aussehende Viertaktmotor hängt über der Anhängerwand. Er wiegt fast neunzig Kilo. Beide müssen „dicke Backen“ machen, um ihn über den Spriegel zu heben. Da sitzt er nun. Eine Stunde später sind die Anschlüsse für Benzin und Strom von der Starterbatterie, Steuerung und Schaltung verlegt.

Daniel läuft, Holzklötze unter dem Schaft des Motors zu stapeln. Er stellt einen Mauertuppen darauf. Stoffel legt den Wasserschlauch aus dem Keller bis in den Tuppen aus. Daniel drückt den Pumpenschalter. Sprudelnd steigt das kalte Brunnenwasser, bis die Schraube und die Ansaugschlitze des Motorenschaftes im Wasser verschwinden. Benzin muss am Motor ankommen. Stoffel pumpt mit der Handpumpe der Benzinleitung Sprit. Als die Pumpe schmatzend den Druck nicht mehr weitergeben kann, nickt er Daniel zu. Der dreht den Anlasser. „Pfffrmmm!“

Der Motor läuft, die im Schaft steckende Wasserpumpe saugt die Kühlflüssigkeit aus dem Tuppen und aus dem Motorengehäuse läuft ein strammer Strahl Wasser zurück in das Gefäß. Die Abgase knallen aus dem Motor. Weil der Auspuff normalerweise unter Wasser sitzt, macht das erheblichen Krach. Doch so weit reicht der Tuppen nicht in die Höhe. Daniel schiebt den Schock zurück, der blaue Qualm wird farblos. Stoffel brüllt gegen das Getöse an.

„Hau den Gang rein!“

Daniel schaltet, und die Schraube dreht sich. Sie dreht sich schnell, ein Großteil des Tuppenwassers schäumt auf und spritzt in einem schönen hohen Bogen auf die Brust Stoffels, der sich interessiert über den Bottichrand beugt. Er macht einen Metersatz nach hinten, schreit „Aus, aus!“. Er wedelt mit den Händen. Daniel dreht lässig den Zündschalter auf Stopp. Sofort ist es still. Er sieht von oben auf Stoffel runter. Ganz trocken stellt er fest: „Zum draußen duschen ist es echt noch zu frisch, Vadder. Außerdem solltest du vorher die Sachen ausziehen.“

Stoffel schüttelt den Kopf. Er klopft sich das Wasser klatschend vom Pullover.

„Ach was, das geht schon ganz gut mit Klamotten, ist ja sonst zu kalt eben. Ich glaube, wir warten noch einen Monat, bevor wir raus fahren.“

So geschieht es. In diesem Monat schläft Stoffel oft unruhig. In seinen Nächten sieht er wieder die wogenden Netze mit den weiß blinkenden Leibern der gefangenen Fische. Dann kreisen seine Gedanken um Leinen, Druckluft, den Schlauch, Taucherbrille und das Sinkgewicht.

Er versucht sich vorzustellen, wie er unter Wasser die Fische freischneidet. Fast jeden Tag krabbelt er in seinem Boot umher, denn die Tauchutensilien müssen verstaut werden. Mit spitzem Pinsel malt er IRIS 2 an den Bug des Bootes. Damit ist es getauft. Iris näht Gardinen, die alten Polster des Bootes werden neu bezogen. Auch der Fußboden wird mit neuem Belag versehen, sieht fast aus wie ein Wohnzimmer. Die leere Batterie braucht neue Ladung, der Tank Benzin. Was so ein bisschen Geld bei den richtigen Leuten so alles bewirken kann! Stoffel stellt den Kompressor in den Sitzkasten. Der Kompressor braucht Strom, deshalb kommt ein Generator auf die andere Seite. Der Druckschlauch kommt dazu, eine Rolle Kabel. Leinen werden eingepackt, Trinkwasser kommt in die Kanister. Die Vorbereitungen sind abgeschlossen, der Plan kann wahr werden.

Überfahrt

Anfang Mai ist es soweit. Iris und Stoffel schieben den Bootshänger aus der Remise. Aaron streicht ihnen um die Beine.

Als Stoffel den alten Lieferwagen öffnet, verschwindet er zielstrebig im Laderaum. So kann er nicht vergessen werden. Er beweist damit seine planerischen Fähigkeiten. Der Diesel des alten Caddys raucht von der Last des Bootsanhängers. Nach einigen Metern rollt das Gespann leichter, der Qualm lässt nach.

In Stahlbrode stehen die Heringsangler schon am Morgen Schlange. Die Kleinboote stehen dicht an dicht. Sie reihen sich ein. Während es Stück für Stück in Richtung Slipanlage vorwärts geht, werden die Spanngurte gelöst. Iris schraubt die Beleuchtung ab. Sie legt das sperrige Teil neben der Warteschlange auf die Wiese.

Sie sind dran. Stoffel lenkt den Zug in einem weiten Bogen, damit er gerade rückwärts in Richtung Wasser fahren kann. Aaron wird zappelig, Iris bindet ihn an einer Bank an. Das Boot schwimmt auf. Sie zieht die IRIS 2 auf die Nordseite des Anlegers. Sie winkt, und Stoffel fährt Auto und Hänger auf den Parkplatz. Auf dem kurzen Fußweg zum Boot kramt er das Portemonnaie hervor. Am Imbiss bezahlt er die Slipgebühren an den Pächter. Dann hastet er zum Anleger, springt ins Boot, alles ist schon startklar. Nur die Leine muss noch gelöst werden. Iris hält das Boot noch mit einer Hand am Poller fest. Stoffel pumpt Benzin vor, damit der Motor starten kann. Leise blubbernd steigen die Abgase aus dem Wasser. Der Kühlstrahl strullt kräftig aus dem Motor. Iris löst die Leine. Langsam fahren sie durch den Fischereihafen auf den Strelasund zu. Die Fähre nach Glewitz legt gerade ab.

Stoffel wartet, bis das Fahrwasser steuerbord frei ist. Dann gibt er Schub, IRIS 2 hebt die Nase aus dem Wasser und sie rauschen in Richtung Palmer Ort auf die Insel Rügen zu. Iris setzt sich zu Aaron in die Kriechkabine. Sie lächelt Stoffel glücklich an. Nach einer halben Stunde Fahrt lassen sie die Heringsangler hinter sich. Stoffel fährt langsam auf die Insel Rügen zu. Kleine Sandstreifen sind zu erkennen. Als das Wasser zu flach für die Schraube wird, trimmt er den Motor nach oben und lässt das Boot schließlich treiben. Er hängt die Badeleiter über die Bordwand, zieht sich die Hosen aus und springt in das flache Wasser.

„Kalt ist das aber immer noch.“

Iris schaut auf dem Echolot nach der Temperatur.

„Tja, Stoffel, zwölf Grad sind nicht wärmer!“

Stoffel zieht das Boot in Richtung Strand. Er zieht am Boot, bis die Bootsspitze am Ufer aufliegt. Aaron schießt an Land, saust durch den Sand, als hätte er erstmals festen Boden unter den Füßen. Stoffel legt einen Anker ans Ufer, den anderen bindet er am Heck an, damit das Boot sich nicht komplett auf den Strand legt. Iris kocht Kaffee. Bald zieht ein lieblicher Duft am einsamen Strand entlang. Stoffel trocknet sich die Beine ab und hängt das Handtuch über die Ankerleine. Iris klemmt sich ein Sitzkissen unter den Arm, klettert über den Bug an Land. Da sitzen sie, schlürfen ihren Kaffee. Es ist ganz still. Aus Richtung Greifswald kommt ein Frachter gefahren. Majestätisch zieht er an ihnen vorbei. Ein Deckarbeiter klopft Rost ab. Seltsam ist das, er schlägt, und nichts ist zu hören. Erst nach einigen Sekunden kommt das Geräusch bei ihnen an: „Bum“. Stoffel zeigt auf den Decksmann.

„Siehst, das kommt daher, weil die Augen weiter vorn am Kopp sind als die Ohren.“

Iris grinst und sagt kein Wort. Ihr gefällt der frische Hauch über dem Wasser, die Stille und das gelegentliche Bum. Sie ist glücklich. Sie fasst in Stoffels Strubbelhaar, wuselt es hin und her. Da platzt Aaron wie eine Bombe aus Sand und Wasser zwischen sie.

Sie müssen sich seiner erwehren, wollen sie nicht ebenso nass werden, wie er es ist. Nach dem Kaffee laufen sie durch die kleine Bucht bis zur Landspitze. Hier treffen sich die Nordostwinde und der Nordweststrom des Sundes. Glasklares Wasser auf der einen Seite, ein kleiner Sandhaken, vom Wind aufgetragen, auf der anderen. Tausende Muscheln und Steinchen rollen im Wasser.

Auf der Hakenseite liegen mächtige Seegrasballen. Wie riesige Sofas liegen sie am Strand. Auf denen sitzen sie, bequem, mit leicht feuchten Hintern. Ihr Blick streift über den Rügischen Bodden in Richtung Osten. Die Insel Vilm liegt außerhalb ihres Blickfeldes, aber weiter östlich, der große Zicker mit seinem Bakenberg, ist deutlich zu erkennen. Ehrfurchtsvoll sagt Iris „Da wollen wir rüber?“. Stoffel nickt. Er zeigt neben die Insel, in die blaue Ferne.

„Dort liegt das Landtief, östlich von Rügen, da müssen wir durch. Danach fahren wir fast nördlich am Nordperd vorbei. Von da aus können wir, wenn das Wetter so bleibt, schon Sassnitz sehen, obwohl wir dann noch zwanzig Kilometer fahren müssen.“

„Wie weit ist es denn bis zum Landtief?“

„Bis zum Wrack mit den Dorschen sind es fünfzig Kilometer.“ Stoffel zeichnet die Linien in den Sand.

„Zwanzig Kilometer bis zum Landtief, zehn bis zum Nordperd und noch mal zwanzig bis Saßnitz. Wenn wir um fünf losfahren, sind wir um zehn am Wrack.

Dann tauche ich schnell runter, schneide die Fische frei. Elf Uhr können wir wieder weiterfahren. Fünf Stunden später sind wir auf der Nordwestseite von Rügen, am Bug direkt gegenüber dem Leuchtturm von Hiddensee. Dort fahren wir wieder an den Strand und übernachten, ganz einfach. Und übermorgen angeln wir dann Dorsch vorm Kap Arkona.“

Mit leichten Zweifeln starrt Iris auf die gewaltige Wasserfläche vor sich. Ihre gute Laune ist verflogen. Schweigend wandern sie den Strand zurück zum Boot. Stoffel denkt an seinen Tauchgang. IRIS 2 liegt in der Bucht. Sie ist ihre kleine Heimat, so weit weg und verloren, neben dem grauen Strom und den großen Kiefern am Land.

Erstens kommt es anders

Die Nacht ist nicht sonderlich erholsam. Aaron schnauft und alle Nasen lang tappert er durch das Heck des Bootes. Iris und Stoffel liegen auf dem Bett, das durch den tiefgelegten Tisch aus den Sitzbänken entsteht. Stoffel ist aufgeregt. Am Fahrwasser blinken die Lichter der Tonnen.

Der Mond leuchtet, als wollte er der Sonne Konkurrenz machen. Schließlich schläft Stoffel ein. Sein Schnarchen kracht durch die Kajüte. Iris hält ihm die Nase zu. Daheim wäre sie schon in die Stube ausgewichen. Bald wird es wieder hell.

Wie leicht verkatert machen sich alle an ihre Morgengeschäfte. Stoffel und Aaron laufen am Strand, und ersetzen damit den täglichen Morgenspaziergang. Iris macht das Frühstück. Sie toastet Brötchen auf dem Gasherd, kocht Eier, frischen Kaffee. Tomaten und grüne Gurken gibt es. Das Frühstück schmeckt fantastisch.

Schon ist der kleine Morgenkater, das leichte Unwohlsein vertrieben. Sogar baden gehen alle drei kurz, das Thermometer zeigt elf Grad Wassertemperatur. Das erfrischt! Stoffel holt die Anker an Bord. Das Boot dümpelt jetzt frei im Flachwasser. Stoffel steigt über die Badeleiter in das Heck. Leise brummend springt der Motor an, los geht es, um die Spitze von Palmer Ort herum. Der Dunst steht noch wie eine Wand. Die Sonne geht auf, ganz glatt liegt die See. Die rastenden Enten und Blesshühner fliehen vor dem ploppernden Ungetüm, fliegen einen Riesenbogen und landen schlitternd hinter dem Boot. Palmer Ort verschwindet am Heck, westlich taucht die Tonne von Lauterbach auf. Auch die Insel Vilm lassen sie links liegen.

Vor ihnen ist die Silhouette des Reddevitzer Höfts zu erkennen. Östlich davon sehen die Beiden nun den Zicker deutlich in der klaren Morgensonne. Gager und Thiessow ziehen vorbei. Jetzt geht es raus auf den Greifswalder Bodden und die Möwen schreien am Himmel. Iris‘ gute Laune ist zurück.

Die Sonne beginnt zu wärmen, und das Licht ist jung und frisch. Die mächtigen Kennzeichnungen des Landtiefs liegen vor ihnen. Die ruhige Dünung der offenen See schiebt sich dem Glattwasser des Boddens entgegen.

Es geht in nördlicher Richtung weiter, am Haken des Nordperds vorbei. Im klaren Wasser können sie den Grund des Meeres sehen. Es ist flach, sie sind zu dicht am Ufer. Stoffel hält sich etwas ostwärts, gleich wird es wieder tief. Dann sehen sie Saßnitz weit voraus im Dunst, Backbord taucht Sellin auf.

Die gewaltige Kulisse der Prorer Wieck öffnet sich. Im blauen Nebel lassen sich die charakteristischen Türme an der Seebrücke von Binz erkennen. Es stimmt, sie schaffen es, um zehn sind sie am Wrack des Kutters. Die Koordinaten stimmen, das Wasser ist ruhig. Stoffel fackelt nicht lange. Er wirft den Anker über Bord, setzt den Ankerball. Nach einigen Zügen springt der Generator an. Der Kompressor tockert. Stoffel lässt das Ende des Druckschlauches in die Kompressorkupplung einrasten. Die Luft zischt im Schlauch. Prüfend drückt er das Ende zusammen. Deutlich pfeifend entweicht die kühle Luft. Mit Schwung wirft er die ganze Rolle des Schlauches über Bord. Der Schlauch entrollt sich, schwimmt, sich windend wie eine riesige Schlange.

Dann kriecht Stoffel in seinen alten Neoprenanzug. Er setzt die Taucherbrille und eine Kopflampe auf, bindet sich mit einer eleganten Schleife einen leichten Klappanker ans Bein, packt sein Messer. Das Blasen spuckende Schlauchende braucht er für die Atemluft. Er fischt es aus dem Wasser und klettert auf die Badeleiter. Mit dem Messer in der Rechten und dem Schlauch in der Linken hangelt er sich am Boot entlang zur Ankerleine. Iris schaut perplex zu. Stoffel winkt ihr, sie winkt zurück.

Stoffel windet sich die Ankerleine um den rechten Arm, holt tief Luft, das Messer blitzt kurz auf und Iris sieht, wie ihr Stoffel die Ankerleine hinunterrutscht. Silberne Luftblasen schlagen aus dem Schlauch, den er mit sich nach unten zieht. Stoffel schaut in die Tiefe, er rutscht und rutscht. Alles ist wie in seinem Kindheitstraum. Nur ein tierischer Druck auf die Ohren kommt hinzu. Mit dem Luftholen klappt es auch nicht richtig. Er bläst langsam die Luft ab. ‚Ich fahre bis zum Grund, dann lass ich mich aufpumpen!‘, denkt er. Jetzt sieht er das Wrack, die verwobenen Netze. Die Taue sind voller Algen, und weiße Fischkadaver blinken. Ein Dorsch windet sich im Netz. Tatsächlich, er lebt noch! Stoffel sinkt neben dem Wrack in Richtung des Bootsankers. Da steht er nun auf seinem Anker und seine Luft ist alle. Ganz schwach blubbert der Druckschlauch. Er steckt sich den Schlauch in den Mund und tatsächlich, es haut ihm die Lunge voll. Wie soll er zu dem gefangenen Dorsch kommen? Der ist nicht so weit weg: vielleicht einen Meter über ihm und fünf Meter weiter hängt das Tier. Nur hoch schweben kann er nicht, denn der Klappanker nagelt ihn an den Grund, und wenn er den abschnallt, geht es fix wieder nach oben. Da kann er nichts machen. Mit dem Klappanker am Bein traut er sich nicht in Richtung der Netze. Zu düster strahlen ihn die verhakelten Fischkadaver an. Ja nun, Stoffel, der Kopf knackt, aber machen kann er nichts.

Er lässt die Luft ab, gönnt sich noch einen Schlag Atemluft und wickelt den Klappanker mit dem Messer in der Hand um den Bootsanker, auf dem er steht. Dann steigt er wieder auf. Der Druck auf den Ohren lässt nach. Iris sieht die Blasen aufsteigen und immer größer werden. Schließlich kommt Stoffels Kopf wieder an die Oberfläche. Er schiebt die Taucherbrille auf die Stirn und reibt sich die Augen.

„Schiet, da lebt noch einer, aber ich komm nicht ran.“

Er klettert über die Badeleiter und legt das Messer in die Spüle. Iris gibt ihm einen Kuss.

„Stoffel, ich bin stolz auf dich, dass du überhaupt bis runter und wieder hoch gekommen bist. Aber deine Ausrüstung, die geht doch gar nicht dafür. Da müsstest du richtige Flaschen haben und nicht einen solchen Mistpfusch. Das lass nun mal lieber.“ Stoffel nickt düster und zieht sich den Neoprenanzug aus.

„Das arme Vieh. Kann ich den nicht wenigstens erlösen?“ Er starrt auf die Gasflasche.

„Ich brauch den Klappanker.“

Wieder fängt er an, hin und her zu wuseln. Er holt die Ankerleine ein. Da, der Klappanker hängt am schwereren Bootsanker. Den Bootsanker wirft er schnell wieder rein, damit sie nicht abtreiben. Aus einem der großen Fender quetscht er alle Luft, dreht an zwei Kabelenden locker die Litze zusammen und schiebt das locker verbundene Kabelende in den Fender. Der Druckschlauch wird übergestöpselt, und am Ende des Fenders bindet er den Klapphaken an. Er klatscht in die Hände.

„Das war´s. Jetzt kann ich die Tiere erlösen!“

Dann wirft er den Klappanker samt gequetschtem Fender über die Bootswand. Er holt den Bootsanker ein und zieht langsam mit dem Boot den Fender über den Grund. Als der Anker am Wrack hängen bleibt, gibt er Schub. Der Anker sitzt im Netzgewölle fest. Stoffel zieht den Gasschlauch vom Kocher und steckt ihn in den Druckschlauch. Er zieht eine Schlauchschelle fest an und dreht das Gas auf. Leise zischend verschwindet das Gas in der Tiefe.

Der Fender bläht sich. Der Kompressor läuft. Stoffel knickt den Schlauch, dreht das Gas ab und wechselt mit fliegenden Händen zum Luftschlauch des Kompressors. Jetzt fließt Luft dazu, der Fender wird zum dicken Ballon.

„Iris, knick mal bitte den Schlauch ab und halte dich gut fest!“

Iris knickt den Schlauch. Stoffel nimmt die beiden Enden der Drähte, deren Enden lose verdreht im Fender stecken und hält sie an die Batterie. Nichts passiert.

„Verdammt, das muss doch…“