Wanderer - Jens Kirsch - E-Book

Wanderer E-Book

Jens Kirsch

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Beschreibung

Bei ein wenig nüchternerer Betrachtungsweise hätte Iris die Idee einer Alterswohngemeinschaft bestimmt lieber für sich behalten. Stefan jedenfalls nahm die Sache vollkommen ernst und begab sich auf die Suche nach Gleichgesinnten, die sich mit ihnen auf den Weg in das letzte große Abenteuer eines jeden Menschen stürzen würden: Das Altern. Plötzlich stand Iris ihrer eigenen Idee äußerst skeptisch gegenüber. Aber hatten sich die beiden nicht geschworen, Freud und Leid miteinander zu teilen?

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Bei ein wenig nüchternerer Betrachtungsweise hätte Iris die Idee einer Alterswohngemeinschaft bestimmt lieber für sich behalten. Stefan jedenfalls nahm die Sache vollkommen ernst und begab sich auf die Suche nach Gleichgesinnten, die sich mit ihnen auf den Weg in das letzte große Abenteuer eines jeden Menschen stürzen würden: Das Altern. Plötzlich stand Iris ihrer eigenen Idee äußerst skeptisch gegenüber. Aber hatten sich die beiden nicht geschworen, Freud und Leid miteinander zu teilen?

Die Vergangenheit ist eine fremde Frau,

Ist schon vorbei und sagt zu uns kein Wort.

Wer weiß den Weg zu ihr,

Die Antwort ganz genau?

Der lange Abschied nahm sie mit sich fort.

Ines Paulke, Lied „Die Vergangenheit“

Inhalt

Erster Teil – Die Offenbarung

Unter der Brücke

Mit der Bahn

Intermezzo bei Hotte

Ohm Plüsch

Leerer Stall

Geht so

Ghostwriter

Wildschweine und Hausschweine

Wenn ein Klavier stirbt

Schmerzen

Gerücht

Beta Brassica

Überfluss und Mangel

Urproduktion und Urausbeutung

Zweiter Teil – Beta

Das geht so nicht!

So dünn, so groß

Beim Vater

Hühner, Katzen, Pferde

Nach den Winterferien

Pumuckl, Mira und Maya

Philosophisches Intermezzo

In der Schule

Wenn Maya reitet

Dritter Teil – Ohm stirbt

Ein Lied

Gesang

Alle Tage

Milchstraße

Testament

Bestattung

Vierter Teil – Das Terminal

Erste Demo

Freitags für die Zukunft

Raushalten

Modifikationen

Fünfter Teil – Das Vermächtnis

Ein Buch

Sechster Teil – Die Wanderung

Wanderer

Blasen

Ligurische Mittelmeerküste

Nachwort

Zum Autor

Bereits erschienen

Noch ein Nachwort zum Nachlied

Hör mir zu

Erster Teil

Die Offenbarung

Stefan wandert bis Berlin und fährt mit der Bahn zu seinen Freunden, um zu checken, ob bei Grit und Hotte Bereitschaft zur Teilnahme an einem solidarischen Wohnprojekt besteht. Er blitzt mehr oder weniger ab – die beiden haben einfach keine Zeit.

Während seiner Abwesenheit stürzt daheim in Wackerow sein Schwiegervater Ohm und Stefans Frau Iris ruft ihn nach Hause, damit er bei der Pflege ihres Vaters hilft, denn auch Iris hat keine Zeit, sich um den Alten zu kümmern. Sie arbeitet an einem größeren Planungsprojekt für einen Park, den ein Investor in Falkenhagen, nahe am Strelasund, bauen will.

Ohm hat eine Offenbarung und beschließt, kein Fleisch mehr zu essen. Er heuert Josef an, von dem er weiß, dass der mehrere Bücher geschrieben hat, um seine Offenbarung, sein Vermächtnis, zu Papier zu bringen.

Da meldet sich Ilona, die meint, dass es an der Zeit wäre, dass Ohm, der Vater ihrer Tochter Beta, mal etwas mehr beiträgt, als nur einen monatlichen Zuschuss zur Kindererziehung.

Unter der Brücke

Bis hierher, unter diese Brücke, ist er also gekommen. Stefan Feldmann dreht sich, damit keine kalte Luft in seine Schlafstätte eindringt, ganz langsam und vorsichtig auf die andere Seite. Nun hockt er gar die Beine an und zieht sich die Decke über den Kopf denn unter den Brückenbögen zieht es wie Hechtsuppe. Ganz behutsam bläst er die warme Atemluft über seine gefalteten Arme, die die Decke festhalten. Jetzt weiß er erst, welch ein besonders kostbarer Stoff die warme Luft ist.

Lange hält er es in dieser Stellung nicht aus, dann muss er sich den Kopf wieder aufdecken, weil ihm die Luft knapp zu werden droht. Reine Einbildung? Er hat dieses Gefühl schon immer, denn wenn sein Kopf bedeckt ist, bekommt er Platzangst.

Über den Fluss hallt das Gequake der Lautsprecher des Hauptbahnhofes. Stefan spitzt die Ohren, weil ab und an wie aus weiter Ferne der Schrei einer Möwe aus den Hintergrundgeräuschen der Großstadt zu ihm dringt. Und das mitten in Berlin!

Keine zwanzig Meter entfernt steht ein Mann aus einer Gruppe hockender Gestalten auf und pinkelt an der Böschung. Leise dringt das Gemurmel der Menschen dort an Stefans Ohren. Die Obdachlosen sitzen um ein kleines Feuer. Unter der Brücke stehen schon wieder mehrere Zelte, obwohl die Securityleute erst vor wenigen Stunden allen klarmachten, dass sie hier unerwünscht sind. Auch Stefan bekam einen Tritt gegen die Schuhe, als er nicht schnell genug reagierte. Was sind das bloß für Menschen? Haben die kein Mitgefühl?

Für die Obdachlosen gehörte das Verjagtwerden offenbar zum Tagesablauf. Sie packten in aller Seelenruhe ihre Sachen zusammen. Das ging erstaunlich schnell und obwohl die Gruppe dort zahlenmäßig den beiden Wachleuten weit überlegen war, muckte keiner auf.

Seitdem es die selbstaufklappenden Zelte gibt, sind diese allerdings ebenso schnell wieder aufgestellt, wie sie zusammengefaltet sind. Bloß muss man das eben drauf haben und Stefan saß da noch auf der Bank mit dem exklusiven Blick auf das Regierungsviertel vor der Brücke und staunte nicht schlecht, wie fix die Behelfsbehausungen der Obdachlosen zusammengefaltet und das ganze Hab und Gut in einigen Tüten und Einkaufswagen verstaut war.

Stefan trug, außer den Klamotten, die er am Leibe hatte, all seine Besitztümer im Rucksack mit sich, den er gleichzeitig als Kopfkissen benutzt. Besitz! Das Eigentum der Obdachlosen stellt den Begriff in die richtige Relation, denn bald hocken die Leute wieder da, von wo sie die Sicherheitsleute vor nur wenigen Stunden vertrieben hatten: auf ihren wenigen Habseligkeiten.

Stefan wurde klar, wie sehr viel besser diese Menschen auf die harten Bedingungen hier vorbereitet sind, als er selbst es ist. Nach dem ersten Schlafdurchgang auf den kalten Steinen wusste er, dass er diese Art der Übernachtung kein weiteres Mal durchhalten kann. Bitterkalt packte ihn der Dunst des Flusses am Hintern und zwackte in der Nierengegend. Wie konnte er nur so vermessen sein anzunehmen, hier schlafen zu können? Bloß weil er so verbohrt behauptet hatte, dass er die Wohlfahrt des Staates nie in Anspruch nehmen würde?

Wegen eines besoffenen Schwures würde er jedenfalls nicht weiter frieren. Wem hatte er das überhaupt geschworen? Doch wohl bloß Iris, seiner Ehefrau. Da kommt ganz selbstverständlich die Frage auf, warum sie vor kurzer Zeit heirateten. Wäre es nicht auch ohne das ganze Brimborium gegangen? Ging doch vorher auch! Wollten sie nicht Freud und Leid teilen, bis an ihr Lebensende? Warum saß er dann allein hier? Schließlich kannte er doch die Geschichte vom allein erfrorenen Indianer ganz genau.

Stefan rechnete dort auf der Bank im Kopf. Am Freitag vor einer Woche hatte er die Wanderung in Richtung Süden gestartet. Eine ganze Woche hatte er gebraucht, von ihrem Wohnort an der Küste in Wackerow nahe bei Greifswald, bis hierher nach Berlin. Also lief er je Tag ein wenig mehr als dreißig Kilometer. Dabei hatte er das mit dem Wandern gar nicht so gemeint, nicht so im wörtlichen Sinne. Ihm ging es mehr um ein soziales Wandern, von Umfeld zu Umfeld, von Freund zu Freund, genau wie ihm Iris das vom Kaiser Otto beschrieben hatte! Und er? Ist er der erste Lehnsmann seiner schlauen Gattin? Ihr Kämmerer, ihr treuester Vasall, bereit mit Leib und Leben für sie einzuspringen? Schließlich ist die Hochzeit ihr Wunsch gewesen. Ja wirklich: Von ihm aus hätten sie auch ohne das ganze Pipapo der bürgerlichen Bestätigung des ehelichen Zusammenlebens ihr Leben verbringen können. Hochzeit nach über zwanzig Jahren des Zusammenlebens. Also bitte! Als ob es nicht ohne genauso weiter gegangen wäre.

Aber dann starb plötzlich Aaron, Stefans Hund. Iris rechnete ihm vor, dass sie beide ja nun wohl auch deutlich mehr als die Hälfte ihres Lebens hinter sich hätten und dass es nun an der Zeit wäre, an die Witwen-, bzw. Witwerrente zu denken. Damit legte sie ihren Finger in die offene Wunde ihres künftigen Gatten, denn sein Rentenanspruch machte sich ziemlich mickrig aus auf den jährlich eingehenden Bescheiden.

Nicht aber der seiner ehemals gut verdienenden künftigen Lehnsherrin. Iris hatte schon immer recht gut verdient – manchmal sogar recht außerordentlich! Und dieser Geldstrom sollte versiegen, mal angenommen, sie würde vor ihm gehen? In Gottes und des BGB-Namen! Stefan war so weit. Die Termine wurden gemacht und es wurde geheiratet.

Und jetzt, in diesem Moment auf der Bank, musste er zugeben, dass die spontane Wanderung aus reinem Trotz eine ziemliche Idiotie war. Wenn er ganz ehrlich in sich hineinschaute, musste er sich eingestehen, dass mit seinem Fortkommen nichts bewiesen war. Natürlich schafft ein gesunder Mensch dreißig Kilometer am Tag und natürlich kann man auch mal unter freiem Himmel kampieren. Aber jetzt im November lässt der Spaß an der Sache doch ziemlich schnell nach, wenn die Nebel wallen und die Regen fallen! Mal ganz abgesehen von den Temperaturen.

Als die Obdachlosen langsam aber sicher wieder ihr Quartier unter der Brücke beziehen, fasst Stefan den Entschluss, die Wanderung genau an dieser Stelle hier zu beenden. Er wird bei Tagesanbruch einen Kaffee am Hauptbahnhof schlürfen, dazu ein knuspriges Brötchen essen und den nächsten Zug in Richtung Süden nehmen.

Vor dem Hauptbahnhof glitzert die Fassade des neuen Bürogebäudes, des Cube. Als die Dunkelheit kommt, verwandelt sich der Würfel. Das Gebäude löst sich im Abendlicht ab der zweiten Etage regelrecht auf. Der Himmel, die Lichter der Stadt und des Bahnhofes vermischen sich in den Spiegelscheiben. Stefan kann nicht mehr unterscheiden, was noch Gebäude ist und was Schein und Reflexion.

Im Regierungsviertel gehen die Lichter an.

Nachdem er eine Weile gestaunt hat, packt er seinen Rucksack. Die eine Nacht noch! In der Tiefgarage des Cube findet Stefan schließlich, was er sucht. Einige Container für Altpapier enthielten Pappkartons verschiedener Größen, so dass er nicht mehr auf der blanken Pflasterung liegen muss.

Dabei könnte er auch im Hotel übernachten. Er tastet nach seinem Portemonnaie. Darin stecken die verschiedenen Karten, Sparkasse, Gesundheitskarte, Rabatte für Einkäufe…

Inzwischen hatten die Obdachlosen ihre Zelte wieder aufgebaut. Stefan muss nun seine Pappen dichter am Eingang des Brückenbogens ablegen, denn die geschützteren Stellplätze tiefer unter dem Brückenbogen sind bereits belegt. Ab und an hallt ein Lachen unter dem Bogen, dann kreischt eine Frau.

Stefan ist das nicht gleichgültig. Aber er ist nicht hier, um diese Stadtmenschen und deren Schicksale kennenzulernen. Er ist auf dem Weg zu seinem Freund Hotte, dem er ein Angebot unterbreiten will, welches für sie genau diese Situation verhindern soll. Er will in Würde altern. Selbstbestimmt, mit Freude am Leben und nicht so, unterm Brückenbogen. Und er will unabhängig vom Staat, von Almosen und Unterstützungsangeboten je nach Steuerlage bleiben. Die können ihn am Arsch lecken, um es mal drastisch auszudrücken. Schließlich weiß Stefan, wie der Hase läuft: Erst kommen die Hilfsangebote und dann folgen die dämlichen Forderungen. Er schielt in Richtung des Feuers. Darüber würde er mit den Obdachlosen schon ganz gern reden. Aber nicht heute und nicht hier. Er muss weiter, sonst wird das nie was, mit der Wohngemeinschaft.

Die Idee dazu hatte übrigens Iris. Stefan erinnert sich noch genau, wie sie nach der Hochzeit Hand in Hand für den Fotografen posierten.

„Wir können uns gegenseitig helfen.“

Er hatte sie erstaunt angesehen. Ja, war denn das nicht der Sinn der Ehe? Die Frage muss ihm im Gesicht gestanden haben, der Schnellste im Kapieren war er noch nie gewesen.

„Beim Altern helfen, gegenseitig.“ ergänzte Iris.

„Weißt du, wie die Wanderkaiser im Mittelalter ihre Reiche beisammen hielten?“

Stefans Stirnfalten ordneten sich zu noch größeren Fragezeichen.

„Sie zogen von Freund zu Freund!“

In dem Moment fiel bei Stefan der Groschen. Natürlich! Das könnten sie ganz genauso machen! Und noch während sie Hand in Hand in das Objektiv des Fotografen grinsten, gingen ihm die Gesichter seiner Freunde durch den Kopf. Mit wem könnten sie zusammenleben, ohne sich auf den Keks zu gehen?

Einfach wäre ein solches Zusammenleben nicht, das wusste er bereits in diesem ersten Moment des Kennenlernens der Idee. In guten Zeiten, klar, da scheint die Sonne! Aber was ist, wenn die Schwierigkeiten wie Wolken aufziehen, was geschieht mit den Kranken im Lager der Wanderer, wie er seinen exklusiven Freundeskreis bei weiteren Überlegungen und viel später für sich nannte? Würden Krankheiten nicht das ganze Konzept von vornherein ausschließen?

Wie wir wissen ist Stefan ein Mensch, der sich nicht allzu viele Gedanken im Voraus macht. Lieber fängt er an und macht. Oft nervt das Iris ein wenig, die lieber einen Plan macht und danach handelt. Und wenn dann etwas schief läuft, wenn der Plan nicht besteht, dann geht man Iris besser aus dem Wege, dann brennt die Luft!

Aber schließlich haben sich Iris und Stefan schon zwanzig Jahre durch die nicht gerade leichten Zeiten geschlängelt. Warum sollte ihr solidarisches Lebensmodell, welches sich für zwei Personen so hervorragend bewährt hat, nicht auch für vier oder sechs, sieben oder gar acht Menschen funktionieren? Schließlich macht man sich den Latz nicht nass, wenn man das ganz einfach mal ausprobiert. Dachte Stefan.

Aber als Stefan dann rausrückte, mit der Idee bei Hotte anzuklopfen, wie der die Idee so fände, musste er feststellen, dass Iris´ Überlegungen zur spätkapitalistischen Umsetzung des frühmittelalterlichen Herrschermodells Kaiser Ottos wohl doch eher theoretische Überlegungen waren.

Jedenfalls meinte sie nicht sich und schon gar nicht jetzt und hier. Als Stefan dann im Herbst nach der Hochzeit bekanntgab, dass er Hotte beim Pflastern des Hofes helfen würde, zeigte Iris ihm sinngemäß den Vogel.

„Du spinnst ja. Du hast doch so schon immer Rückenschmerzen. Und da wollt ihr alten Knacker einen ganzen Hof mit Steinen auslegen?“ Nun ist es bei Stefan so, dass auf kategorische Ablehnung seiner Vorstellungen bei ihm im Kopf etwas schief läuft. Er kann dann nicht mehr recht klar denken. In gewissem Sinne kippt sein Verhalten dann ins Extreme. Mit dieser Haltung, die kurz gefasst mit ‚nun gerade‘ zu beschreiben wäre, hat Stefan schon einiges Unheil für sich und seine Nächsten angerichtet. Aber manchmal, das muss zu seiner Ehrenrettung festgestellt werden, manchmal brachte dieser kategorische Imperativ ihm und anderen auch Lebens- und Lustgewinn. Nach einigen vergeblichen Abstimmungsversuchen mit Iris, die schließlich in der bereits erwähnten Behauptung gipfelten, dass Stefan den Staat nicht braucht, ebenso wenig wie der Staat den Stefan braucht, oder die Iris – da hatten sie allerdings schon zwei Flaschen Wein intus - , machte er sich auf den Weg zu seinem besten Freund Hotte und dessen Frau Gitte.

Diese leben in einem ziemlich großen alten Ensemble am Ufer eines mittelmäßig verdreckten Flusses, der ab und zu über die Ufer tritt, in Sichtweite eines relativ hohen Berges. Relativ deshalb, weil wenige Kilometer nördlich des Berges eine Tiefebene beginnt, die die Höhe des Berges ins Erhabene steigert.

Die erste Wanderung Stefans hatte begonnen. Seine Mission fest im Blick, wenig Gepäck im Rucksack und ein schmales Budget lassen den verbohrten Missionar zunächst grimmig auf einsamen Wegen wandeln, um den beiden die Idee des Wanderkaisers Otto nahe zu bringen: Gelegentliches, auch ausgedehnteres Zusammenleben festigt die Gemeinschaft und bereichert die Beteiligten!

Mit der Bahn

Irgendwann überwältigte Stefan der Schlaf. Die Idee mit der Pappisolierung erwies sich als goldrichtig, so dass er wenigstens einige Stunden ohne zu frieren im Tiefschlaf versank. Auch in die Zelte und Schlafgelegenheiten der Obdachlosen zog in den Nachtstunden Ruhe ein.

Erst gegen Sieben tauchten die Securityleute wieder auf. Diesmal lief eine junge Frau mit. Der männliche Teil der Patrouille machte es wie die Männer gestern Abend auch. Er trat gelegentlich an einen der Schlafenden heran und trat beiläufig gegen ein erreichbares Körperteil.

„Hau jetze ab hier. Hier kannste nich pennen, Alter!“

Oder ‚Alte‘ eben. Ganz nach Bedarf. Die junge Frau dagegen ging etwas behutsamer vor. Sie beugte sich über die Schlafenden und rüttelte sie an den Schultern. Natürlich mit Handschuhen, man kann sich ja sonst was einfangen! Als sie bei Stefan ankam, murmelte sie sogar noch ein

„Guten Morgen, Sie müssen jetzt bitte aufstehen!“

Das klang doch schon ganz angenehm. Jedenfalls empfand es Stefan so. Er streckte sich, wobei es ihm nun egal war, dass die Decke zur Seite glitt und sah den beiden Securityleuten nach.

Am nächsten Schlafplatz war der Mann an der Reihe. Und wieder gab es einen beiläufigen Tritt gegen die Füße, oder besser die Stelle, wo der Mann die Füße des Schlafenden im Schlafsack vermutete. Als keine Reaktion erfolgte, wurden die Tritte schon etwas energischer.

Stefan zuckte mit den Schultern und rollte seine Decke zusammen. Mit ein wenig Mühe zwängte er sie in den Rucksack. Dann klemmte er sich die Pappen unter den Arm, um sie wieder im Cube in die Tonne zu werfen. Konditioniert ist konditioniert.

Als Stefans Zug in Richtung Süden abfuhr, trieb der Wind die leichteren Folien, die die Schlafenden an der Moltkebrücke beschützt hatten, gleichgültig in die Spree. Später kamen einige orange gekleidete Arbeiter und halfen den schwereren Gegenständen mit mächtigen Gebläsen auf die Sprünge. Der Wind hatte sich gelegt. Die verbliebenen Reste der Nacht landeten auf der Ladefläche des Multicars, der die Nachhut der Reinigungsleute bildete. Der Durchgang unter der Moltkebrücke lag wieder vor den Touristen, wie er zu sein hatte: sauber und ein wenig kühl.

Wer jetzt unter der Brücke hindurchgeht, hört nur den Hall der eigenen Schritte. Im Hauptbahnhof tönen die Ansagen und wer die Ohren spitzt, hört ab und zu den Schrei einer Möwe.

Bis Elsterwerda genießt Stefan das sanfte Schaukeln des Waggons. Ab und zu dudelt ein Volkslied und im Unterbewusstsein fügt Stefan zu den Tönen den Text, der ihm aus der Erinnerung zugetragen wird. ‚Es zogen auf sonnigen Wegen, drei lustige Mädel vorbei…‘ Wie ging das Lied eigentlich weiter? Schwenkten sie die Röcke verwegen? Fährt der Zug auf sonnigen Gleisen? Er lächelt im Tiefschlaf. Plötzlich ist es vorbei mit lustig: Auf dem Bahnsteig drängen sich die Leute. Die Hinweisschilder zeigen in gestochen klarer Leuchtschrift den Ausfall mehrerer Züge an.

Stefan reckt den Hals, um einen Bahnangestellten zu finden, der Auskunft geben könnte. Früher rannten immer ein paar Rotmützen auf den Bahnsteigen umher und die hoben ihre grünen Kellen, wenn der Zug abfuhr. Hatten die Dinger auf der anderen Seite einen roten Kreis? Konnten die damaligen Gewaltigen die Züge auch stoppen? Stefan schüttelt den Kopf. Eine klare Sache war das, jedenfalls mit dem grünen Abfahrtssignal und den Trillerpfeifen! Die Türen wurden zugeknallt und dann ging es ab, nach Riesa oder Leipzig, Karl-Marx- Stadt oder Berlin, in die andere Richtung.

Und nun? Keine Rotmütze in Sicht. Die jungen Leute daddeln somnambul mit ihren Handys. Ist denen schon alles egal? Endlich kündigt eine Ansage den Zug in Richtung Süden auf dem Nachbargleis an. Die gute Hälfte der Menschenmasse schiebt sich die Treppe hinab durch den Tunnel wieder ans Licht.

Stefan hilft einer älteren Dame, die mit ihrem Rollkoffer einige Probleme hat. „Geht der Fahrstuhl denn nicht?“ fragt er sie.

„Da könnten wir uns liften lassen?“

Manche Menschen finden Stefans Sprüche ganz lustig. Die alte Frau schüttelt aber nur den Kopf.

„Mit dem Fahrstuhl auf’m Bahnhof fahre ich nicht. Die sind mir zu mistig!“

Stefans Blicke suchen den Eingang zum Lift. Zugegeben, ein wenig schmierig sieht die ganze Angelegenheit aus. Kann aber auch an den hässlichen Graffitis liegen. Wie auch immer. Er buckelt den Rollkoffer die Treppe hinauf und die Alte zieht sich Schrittchen für Schrittchen am Geländer die Treppe hoch. Oben angekommen steht da schon der Zug am angegebenen Gleis.

Vor den Waggontüren rauchen einige Leute. Komisch, ist das nicht verboten, hier auf dem Bahnsteig? Die Frau will einsteigen.

Aber irgendetwas lässt Stefan zaudern. Die Wagen haben so einen ungewohnten Anstrich. Wieder schaut Stefan den Bahnsteig auf und ab. Wieder ist kein Schaffner zu sehen. Da, in den Zugfenstern neben den Türen sind die altbekannten Hinweistafeln aufgestellt: Der Zug fährt nach Warschau und ganz gewiss ist das nicht der Regionalexpress in Richtung Süden.

Sie haben Glück, denn der richtige Zug fährt am Gleis gegenüber ab. Die somnambulen Handybetrachter wissen schon lange Bescheid, denn ohne auch nur den Blick zu heben, schieben sie sich durch die geöffneten Türen in die Doppelstockwaggons. Den Zug nach Warschau am richtigen und angekündigten Gleis würdigen sie keines Blickes.

Als Stefan den Rollkoffer der alten Dame durch die Tür wuppen will, müssen die Handybetrachter ein wenig zusammenrücken. Die Türen schließen automatisch und seine Fahrt geht weiter. Nach einer Weile muss Stefan pullern. Sehnsüchtig schaut er in Richtung der roten Lampe, die unerreichbar hinter den Köpfen der Reisenden von einer Toilette kündet, die leider kaputt ist. Auch in diesem Zug tönt eine Melodie, bevor die nächste Ansage erfolgt. Stefan spitzt die Ohren. Ja, es ist die von den sonnigen Wegen, auf denen drei Mädels zogen.

In der nächsten großen Stadt entspannt sich die Situation. Die meisten Fahrgäste verlassen den Zug und Stefan findet im nächsten Wagen auch eine funktionierende Toilette. Voller Dankbarkeit erleichtert er sich und wischt danach das vollgespritzte Edelstahlbecken für die Handwäsche mit den Papierhandtüchern, die in großer Zahl aus dem Spender herausquellen, obwohl er nur eins gegriffen hat, ein wenig sauber. Er schüttelt den Kopf, denn er ist der Meinung, dass man einen Platz in der Öffentlichkeit so verlassen sollte, wie man ihn selbst gern vorfinden würde. Alte Schule eben. Ganz schafft er es nicht, diesen Vorsatz umzusetzen, denn die Kabine ist doch arg mitgenommen von der Nutzung so vieler eiliger Notdürftiger.

Nur ein paar Stufen hinauf, in der ersten Etage des Doppelstockwagens findet er ein freies Abteil und stellt den Rucksack mit der dicken Decke neben sich ab. Er reckt die Beine, die ihm vom langen Stehen ein wenig schmerzen. Im Süden der Tiefebene tauchen die ersten Hügelketten auf. Im Rucksack brummelt das Handy. Bis er es herausgekramt hat, ist der Ruf schon wieder vorbei. Iris hat versucht, ihn zu erreichen. Er überlegt kurz. Ob sie sich entschieden hat, doch noch zu Hotte zu kommen? Eher unwahrscheinlich, denn sie erarbeitet gerade einen größeren Plan für einen privaten Park an einem Gutshaus. Das haben zwei Rechtsanwälte aus Berlin instandgesetzt und nun muss natürlich auch das Umfeld stimmen.

Stefan liegt völlig daneben, denn der Vater von Iris, Ohm Simon, ist gestürzt. Iris wollte ihm aufhelfen, doch der Alte hat sie nur weggestoßen, solche Schmerzen hatte er. Sie musste den Rettungsdienst rufen.

„Stefan, du musst zurückkommen. Keine Ahnung, wie das mit meinem Vater wird. Eine Woche wird er wohl im Krankenhaus bleiben - danach kommt er in Kurzzeitpflege. Kannst du dich bitte darum kümmern? Sonst kriege ich den Auftrag nicht fristgerecht fertig.“

Nach einer kurzen Pause sagt sie noch:

„Du weißt ja, die Auftraggeber sind Rechtsanwälte – mit denen möchte ich mich lieber nicht anlegen, wegen nichteingehaltener Termine und so…“

Stefan ärgert sich. So kurz vor dem Ziel und bei Hotte liegt der Riesenberg Naturstein vor der Scheune.

Sie einigen sich auf die Rückkehr in zwei Tagen.

Intermezzo bei Hotte

Als Stefan in Rochlitz aus dem Zug aussteigt, steht Hotte auf dem Bahnsteig. Die alten Freunde aus der Schulzeit umarmen sich kurz. Hotte zeigt auf den Rucksack:

„Dein ganzes Gepäck?“

Stefan grient ihn an.

„Du fragst wie Iris. Wer reisen will muss fröhlich sein!“

Das ist der Haken. Er ist nicht fröhlich und muss trotzdem wieder reisen. Eigentlich wollte er ja sagen, dass sich Reisende nicht unnötig mit irgendwelchem Krempel abschleppen sollten. Er kennt das von den gemeinsamen Fahrten mit Iris, die, obwohl sie schon sehr strukturiert packt, aus seiner Sicht immer noch zu viel mitnimmt.

Zusammen gehen die beiden zum Parkplatz. Dort steht Hottes Auto - ein Riesenteil.

Stefan staunt nicht schlecht.

„Das alte Kracheisen fährt auch noch?“

Hotte streicht sich in seiner typischen Geste den Bart. „Ich werd mir doch wohl kein neues Auto holen, wenn das alte sich noch bewegt…“

Dabei zieht er die flache linke Hand mit der Handfläche nach unten unter dem Kinn durch.

Er sieht dabei aus wie Jeff Bridges, oder wie der große Lebowski, mit der wallenden Mähne und dem leicht verlotterten Habitus des Späthippies, denkt Stefan. Dabei ist Hotte alles andere als ein Hippie. Fleißig wie ein Uhrwerk hat er die Baubetreuung des Ingenieurbüros in der Kreisstadt abgewickelt, bis er sich selbst in den Vorruhestand schickte. Es fehlten nur einige Monate bis zum offiziellen Renteneintritt. Aber er hatte einfach keine Lust mehr. Insofern kam wohl doch seine ein wenig anarchische Ader durch.

„Was macht Gitte?“ fragt Stefan, als sie im Auto sitzen.

Gitte ist etwas jünger als Hotte. Sie muss noch einige Jahre bei Horowitz arbeiten. Horowitz stellt Gardinen her und Gitte schmeißt die Organisation der Firma. Neuerdings geht das im Homeoffice und Hotte sieht sie nur kurz, am Morgen und am Abend, weil sie nicht gestört werden will. Hotte ist das weitgehend egal, denn sie leben sowieso ein wenig aneinander vorbei.

„Du, Stefan, mit dem Pflastern…“ Hotte druckst ein wenig und starrt geradeaus auf die Straße. Gerade fahren sie über die Brücke, die Mulde unter ihnen führt ganz ordentlich Wasser. Ist es die Zwickauer Mulde oder die Freiberger? Stefan kann sich das nie richtig merken, aber es muss wohl die Zwickauer sein, denn oben von der Hochstraße aus kann man bis Chemnitz schauen. Von da bis Zwickau ist es ja nur einen Steinwurf weit.

Hotte muss an der Ampel anhalten. Wieder streicht er mit der flachen Hand den Bart.

„Weißt du, ich mach gerade den Bauleiter für Uli.“

Uli ist die Tochter von Gitte und Hotte. Uli hatte das Angebot ihrer Eltern eins der alten Häuser des elterlichen Hofes auszubauen nicht angenommen. Sie wollte mit ihrem Mann lieber selbst ein Nest bauen. Und genau das tut sie gerade.

Stefan fällt ein Stein vom Herzen. Dann kommt die Absage wenigstens nicht von ihm.

„Willst du dann im nächsten Sommer den Hof mit den Steinen auslegen?“

Hotte setzt den Blinker und fährt an.

„Weißt du, jetzt wo Uli nicht mehr bei uns ist, da will ich den Hof überhaupt nicht mehr machen.

Ging bis jetzt so und von mir aus kann der auch so bleiben…“

Nach wenigen Minuten haben sie den Hof erreicht. Inzwischen ist es dunkel geworden und am Hang des schon düster wirkenden Berges gehen die Lichter am gegenüberliegenden Flussufer an. Hotte öffnet die gewaltige Flügeltür und die Katze streicht ihm um die Beine. Die Katze. Stefan muss an seinen Hund denken.

„Luzi ist gesund und munter?“

Was man so sagt. Sonst ging die immer sofort stiften, sobald Stefans Hund aus dem Auto sprang. Die sind niemals Freunde gewesen. Deswegen ist er mit Aaron immer erstmal eine Runde gegangen, damit sich Luzi wieder einkriegen konnte.

Als die Flügeltür zuschlägt, kommt Gitte auf den Hof. Sie hopst die Treppen herunter, ihre sportlichen Waden schauen blank unter den kurzen Hosen hervor. Stefan ruft ihr entgegen

„Mensch, Gitte, in kurzen Hosen?“

Gitte lacht.

„In meinem Büro ist es noch Sommer!“

Dann umarmt sie ihn. Luzi huscht durch die offene Tür. Im Korridor steht ihr Futternapf. Rohe Leberstückchen liegen darin.

Als Stefan die Stufen zum Haus hinaufsteigt, boxt Gitte in seinen Rucksack.

„Ist das dein ganzes Gepäck?“

Stefan rollt die Augen, aber so, dass sie es nicht sehen kann. Hotte hängt die Jacke in die Garderobe, dann stellt Stefan den Rucksack in die Ecke. „Ja, das ist alles. Ich brauche auch nicht mehr. Ich muss übermorgen schon wieder zurück. Iris hat mich vorhin in der Bahn angerufen. Ihr Vater, Ohm, ist gestürzt. Er liegt im Krankenhaus und ich soll mich um die Unterbringung kümmern. Iris muss arbeiten.“

Hotte trägt einen Korb Holz in die Küche und macht Feuer im Kaminofen. Stefan wird plötzlich die Luft knapp. Er muss raus, an die frische Luft. Über dem Berg schimmern inzwischen die Sterne.

Später sitzen sie vor dem Kaminofen, der die restaurierte Küche wirklich ausreichend mit Wärme versorgt. Als Gitte aus ihrem Heimbüro kommt, lässt sie die Tür zum Korridor weit offen.

„Eine Wärme ist das bei euch!“

Sie stellt sich vor die Ofentür und streckt die Hände in die Richtung der Flammen.