Kurze Geschichte des Alten Afrikas - Arno Sonderegger - E-Book

Kurze Geschichte des Alten Afrikas E-Book

Arno Sonderegger

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Beschreibung

Afrika ist die Wiege der Menschheit. Doch eine kompakte Geschichte des geheimnisvollen Kontinents gab es bislang nicht. Afrika – der schwarze Kontinent? Keineswegs! Afrika ist bunt, vielfältig und uralt. Hier waren die ersten Menschen beheimatet, die später in alle Welt zogen. Nirgends reicht unsere Geschichte weiter in der Zeit zurück als in Afrika. Die "Kurze Geschichte des Alten Afrikas" setzt darum auch mit der Geburt des Menschen in Afrika ein und stellt frühe afrikanische Zivilisationen vor. Arno Sonderegger thematisiert kenntnisreich und kurzweilig die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Diversifizierungsprozesse der letzten 100 000 Jahre afrikanischer Geschichte: die fortlaufende Besiedlung verschiedener Räume des Kontinents, das Wechselspiel zwischen aneignenden und produzierenden Wirtschaftsweisen, die Herausbildung verschiedener Formen von sozialer Komplexität. Der Band räumt so auch mit dem Mythos der Geschichtslosigkeit Afrikas auf und präsentiert Gesellschaften und Reiche, die dem in der eurozentrischen Geschichtsschreibung aufgewachsenen Leser größtenteils noch unbekannt sein werden. Kompakt und schlüssig werden alle Aspekte der Geschichte Afrikas von den Anfängen bis 1600 dargestellt.

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Arno Sonderegger

Kurze Geschichtedes Alten Afrika

Von den Anfängen bis 1600

INHALT

EINLEITUNG

Eine Geschichte Afrikas schreiben

Die Geschichte des Alten Afrika im Zeitraffer

I. AFRIKANISCHE ANFÄNGE DER MENSCHHEITSENTWICKLUNG

Menschwerdung: In and Out of Africa

Vormenschen, Australopithecinen und der aufrechte Gang

Erste größere Ausbreitungswellen In and Out of Africa: Die Frühmenschen

Der Mensch in seiner natürlichen Umwelt: The African Genius

Das Erscheinen von Homo sapiens

Out of Africa: Ausbreitungswellen nach Eurasien, Australien und Amerika

II. DIVERSIFIZIERUNGSPROZESSE IN AFRIKA

Diversifizierungsprozesse in Afrika

Regionalkulturelle Entwicklungen in Afrika, seit zirka 100 000 v. Chr.

Nach 20 000 v. Chr.: Zwischen aneignenden und produzierenden Lebensweisen

Sprachfamilien Afrikas und ihre historischen Implikationen für die Besiedlung des Kontinents

Nilosaharanische Traditionen

Afroasiatische Traditionen und Beziehungen über die Sahara hinweg

Niger-Congo-Traditionen und die Bantu-Expansion

Zentrale Entwicklungen der letzten drei Jahrtausende afrikanischer Geschichte

Technologie, Wohlstand und soziale Ungleichheit

Geschlechter, Generationen und soziale Klassen

Geschichtete Gesellschaften, Eisen, Kupfer und Umwelt

Siedlungsverdichtung und frühe Urbanisierungszentren

III. AFRIKANISCHE STAATS- UND REICHSBILDUNGEN

Das alte Ägypten, Nubien und Nordostafrika

Nubien: Kusch, Meroë und die christlichen nubischen Königtümer

Nordostafrika: D’mt, Aksum und Äthiopien

Kontinuitäten und Brüche in der jüngeren Geschichte des altägyptischen Raums

Staaten und Reichshegemonien im westafrikanischen Savannenland

Das alte Ghana

Das Reich Mali

Die Herrschaft Songhais

Kanem-Bornu

Die Swahili-Zivilisation des ostafrikanischen Küstenraums

Grundlagen: Das Land und das Meer

Handel, Gesellschaft und Politik im Küstenraum

Städte und Staaten im südlichen Afrika

Großsimbabwe und seine Nachfolgestaaten Mutapa und Torwa

Das westafrikanische Königtum von Benin

Benin und seine Außenbeziehungen

Frühe Staaten im westlichen Zentralafrika

Kongo: Anfänge und Grundlagen des Königreichs

Kongo: Eine prekäre euro-afrikanische Begegnungsgeschichte

SCHLUSS

BIBLIOGRAPHIE

EINLEITUNG

Afrika ist riesig. Der Kontinent erstreckt sich über 30 221 532 Quadratkilometer. Das entspricht zirka 22 Prozent der globalen Landfläche. Heute leben dort mehr als eine Milliarde Menschen. Doch das war nicht immer so. Obwohl Afrika die ersten Menschen beheimatete und insofern der historisch älteste Kontinent ist – jener Ort, an dem die menschliche Geschichte so weit in der Zeit zurückreicht wie nirgendwo sonst – war er die meiste Zeit über verhältnismäßig dünn besiedelt. Afrikas Naturräume sind äußerst vielfältig und variieren enorm, seine Umwelt ist stark diversifiziert. Der Nil, der Niger und der Kongo sowie zahlreiche kleinere Ströme und Flüsse ziehen ein Netz an Wasseradern über den Kontinent. Eine Vielzahl an großen Seen findet sich auf ihm, besonders dicht im ostafrikanischen Großraum; viele Seen und Flüsse sind im Verlauf der Austrocknung der Sahara verschwunden oder, wie der Tschadsee, stark geschrumpft.

Klimatisch weist Afrika alle denkbaren Extreme auf, aber auch gemäßigte Zonen. Einige der heißesten Plätze der Erde befinden sich in Afrika (die Wüsten Sahara, Namib und Kalahari). Es gibt aber auch kühlere Regionen wie die Gebirge von Marokko (Atlas) bis Südafrika (Drakensberge), kühle Hochländer in Nordost-, Ost- und Südafrika, gelegentliche bergige Erhebungen in Westafrika; und auf den vulkanischen afrikanischen Hochgebirgen (Kilimandscharo, 5895 m; Kirinyaga/Mount-Kenya-Massiv, 5199 m; Ruwenzori, 5109 m) thronen gar Gletscher. Auch die Vegetationsformen Afrikas sind überaus vielfältig. Man findet Regenwälder und trockene Savannengrasländer vor, offenes Waldland und mediterrane Vegetation, Steppen mit hohem und mit kurzem Graswuchs, Dornbuschland und Wüstensträucher. Es gibt tief in die Landschaft einschneidende Flusstäler und ausgedehnte Hochplateaus, Wüsten verschiedener Größe und Art (Sand-, Kies-, Stein-, Fels-, Salzwüsten), Oasen und gigantische Binnenseen, verästelte Flussdeltas, Lagunen und Mangrovenküsten. Man findet Strände, an denen sich die Wellen des Atlantiks stürmisch brechen, und sanfte sandige Strände, von denen ostafrikanische Fischerboote auf den Indischen Ozean hinaussegeln. Wie diese impressionistische Zeichnung der variierenden Umwelten Afrikas hoffentlich deutlich macht, gibt es in Afrika gleichsam nichts, das man dort nicht finden könnte. Seine Umweltdiversität ist enorm.

Eine beliebte Methode, die Klima- und Vegetationszonen Afrikas überblicksmäßig darzustellen, besteht darin, sie auf einer Karte von Nord nach Süd folgendermaßen einzuschreiben: Mediterranes Klima (Nordafrika), Wüste, Trockensavanne, Regenwaldzone (Mittelafrika), Savanne, Waldland (Südöstliches Zentralafrika), Mediterranes Klima (Südafrika). Zu beachten ist dabei allerdings, dass dies eine äußerst grobe Vereinfachung ist und es oft innerhalb dieser so großzügig kartographierten Zonen diverse Mikroklimata gibt, die für lokal gänzlich andersgeartete Verhältnisse sorgen. Außerdem fließen diese großen Zonen bruchlos ineinander über, was seinerseits die Zahl der verschiedenen real herrschenden Umweltbedingungen weiter erhöht. Schließlich ist noch zu bedenken, dass afrikanische Umwelten, wie andere ökologische Systeme auch, ständigem Wandel unterliegen und sich daher, gerade im Lauf der hier betrachteten langen Zeiträume, mitunter gravierend geändert haben.

Eine Geschichte Afrikas schreiben

Man muss nur dieses grob gezeichnete Bild ernstnehmen, um zu erkennen: Das eine Afrika gibt es offenkundig nicht. Afrika ist nicht eins, es ist vieles. Wie kann man dann aber unter diesen Bedingungen nur auf die Idee kommen, eine zusammenhängende Geschichte Afrikas zu schreiben? – Gute Frage. Aber eine einfache Antwort darauf ist nicht in Sicht. Die komplexe Antwort, die diesem Buch als Ansatz zugrunde liegt, werde ich im Folgenden nur holzschnittartig entwerfen; sie auszuführen, wäre ein anderes Buch nötig.1

Die Schwierigkeiten haben im Grunde zwei eng miteinander verbundene Ursachen. Die eine Schwierigkeit besteht darin, dass wir, die wir Bücher wie dieses lesen (oder schreiben), unsere eigenen kulturell vorgeformten Urteile in die Betrachtung einfließen lassen – Urteile, die aufgrund ihrer kulturellen Präformiertheit notwendig partikular sind und daher Vorurteile darstellen. Diese unvermeidbare Ethnozentrik, wie der anthropologische Fachbegriff dafür lautet, führt in unserem Fall besonders heftig und leicht in die Irre, weil wir die Erben einer langen Geschichte der imperialen Machtausübung sind, in deren Schatten auch noch die internationalen Beziehungen der Gegenwart operieren. Seit Mitte des 15. Jahrhunderts geriet das subsaharische Afrika langsam, aber stetig in den Orbit eines sich global entfaltenden kapitalistischen Expansionsprozesses, in den wirtschaftlich-kommerzielle, religiöskulturell-missionarische und politisch-imperiale Aspekte hineinspielten. Das Resultat für Afrika war, langfristig betrachtet, eine dauerhafte Einbindung in asymmetrische Strukturen und die Unterordnung im globalen System: in wirtschaftlicher Hinsicht marginalisiert und auf die Rolle eines Arbeitskräfte- und Rohstofflieferanten reduziert (Sklavenhandel, agrarischer und mineralischer Rohstoffhandel); in politischer Hinsicht fremdbestimmt (Kolonialismus) und an den machtpolitischen Entscheidungen in den internationalen Beziehungen nur randständig beteiligt (Neokolonialismus/Postkoloniale Ära). Nun vertragen sich Macht und Herrschaftsausübung schlecht mit erkenntnisgeleiteter Wahrheitsfindung und tendieren dazu, selbstlegitimatorische Diskurse zu produzieren. Die eine Ursache ist also, in einem Wort, Eurozentrismus.

Die zweite ursächliche Schwierigkeit folgt daraus, ist aber von spezifischerer Art. Es geht um die Etablierung und Vergegenwärtigung Afrikas im Rahmen wissenschaftlicher Forschung. Auch sie verdankt ihre Gestalt in beträchtlichem Maß Prozessen der ›Erfindung‹ und ›Imaginierung‹ Afrikas vor dem Hintergrund europäischer Interventionen am Kontinent. Die afrikawissenschaftliche Forschung war – und ist – keineswegs gefeit vor den eurozentrischen Fallstricken. Diese beginnen schon mit der scheinbar selbstverständlichen Setzung der Vorstellung einer Afrikanischen Geschichte. »Der Idee einer singulären Afrikanischen Geschichte liegt die Annahme zugrunde, dass der Kontinent über das bloß geographische hinaus eine Art essentielle Einheit besäße«, so die beiden Afrikahistoriker John Parker und Richard Rathbone, »eine Einheit, die Afrika nicht nur im Innern zusammenhält, sondern es von anderen Weltteilen abhebt«2. Das ist eine Vorstellung, die aus der Außen- und Fremdbetrachtung entsteht; und nicht zufällig entstammen die klassischen Begründungen für diese Annahme allesamt der Denkwelt des Rassismus.

Diese Denkwelt entstand nicht erst mit dem Rassebegriff, nahm dann aber mit ihm seit dem 18. Jahrhundert eine moderne Form an, die uns noch gegenwärtig nur allzu vertraut ist. Schon die arabischen Kommentatoren hatten die subsaharischen Bevölkerungen als sudan, ›schwarz‹, bezeichnet; aus dem Berberischen übernahmen die Portugiesen später die Bezeichnung guinea, das ebenfalls ›schwarz‹ bedeutet, während die lateingeschulten Gelehrten Europas das Wörtchen niger zur verallgemeinernden Kategorisierung wählten. In der frühen Neuzeit argumentierten europäische Afrikahändler unter Bezug auf die biblische Geschichte von Ham, dass dessen Nachkommen – die dunkelhäutigen Afrikaner und Afrikanerinnen, die von den Europäern in den transatlantischen Sklavenhandel verschleppt wurden – verflucht seien, erkennbar an ihrer ›Schwärze‹, und dass ihre Verruchtheit nur durch die Knechtschaft der Sklaverei gesühnt werden könne. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts galt es für ausgemacht, dass Afrika von einem bestimmten Menschenschlag bewohnt sei – Linnés Afer niger (›Schwarzafrikaner‹) –, zu dessen hervorstechendstem Merkmal man seine angebliche Minderwertigkeit erklärte.3 Die diesen Diskurs unverhohlen begleitende wirtschaftliche Ausbeutung sowie die direkte politische Kolonialherrschaft (während des vergleichsweise kurzen Zeitraums von zirka 1890 bis 1965) trugen das Ihrige zur Vertiefung rassistischer Stereotype bei – und zur steten Verfestigung der Vorstellung einer afrikanischen Singularität.

So stark verankerte sich die Denkwelt des Rassismus in der Welt der Moderne, dass sogar noch der Kampf gegen europäische, ›westliche‹ Vorurteile häufig ganz im Bann der Rassenidee ausgetragen wurde. Und von manchen, insbesondere in der afrikanischen Diaspora, wo rassisch basierte afrozentrische Positionen in spannungsgeladenen Identitätsdebatten mit selbstverliebter Selbstverständlichkeit bezogen werden, wird das auch heute noch so gehandhabt. Der Grund dafür ist einfach: Wie die westlichen, ›weißen‹ Rassisten und Rassistinnen der Vergangenheit und Gegenwart, sind auch die ›schwarzen‹ Protagonistinnen und Protagonisten der afrikanischen Diaspora in einem grundsätzlichen Sinn Fremde, die den Kontinent Afrika von außen betrachten: Ihr Afrozentrismus ist letztlich ein Zerrbild des alten rassistischen Eurozentrismus.4 Daran ist nun einmal nichts zu ändern. Die wichtige Frage ist, welche Möglichkeiten es gibt, Afrika von außen zu betrachten, ohne den Rassendiskurs zu bedienen und ohne dem simplen Eurozentrismus zu fröhnen.

Populäre Afrikabilder, die als Stereotype noch heutige gesellschaftliche Afrikadiskurse prägen, verstellen allzu oft den Blick darauf. Seriöserweise kann man sich Afrika nicht als »das Herz der Dunkelheit: Trommeln, Hexerei, unsägliche Riten«5 vorstellen, aber auch nicht als den »K-Kontinent«, »K für Kriege, Krisen, Katastrophen, Korruption, Kriminalität, Kapitalflucht, Krankheit«.6 Diese Phänomene gibt es überall, sie sind keine afrikanische Spezifik. Und weder das zeitgenössische Leben auf dem Kontinent noch seine Geschichte erschöpfen sich in derartigen Zuschreibungen. Afrika ist weder ein ökologisches Paradies noch eine Hölle. Auch darin unterscheidet es sich von keinem anderen Ort auf dem Planeten Erde. Worin sich der Kontinent tatsächlich unterscheidet, sind der Grad und die Tiefe der Entmächtigung, von der die Bewohner und Bewohnerinnen dieser riesigen Landmasse über mehrere rezente Jahrhunderte betroffen waren und der sie, allen Bemühungen der letzten 50 Jahre um effektive Dekolonisierung zum Trotz, bislang weiterhin mehrheitlich unterliegen.7 Dieses Buch behandelt darum die Geschichte Afrikas bis zu jener zeitlichen Grenze, an der die Begegnung mit den Kräften der europäischen Expansion immer mehr zur Einschränkung selbstbestimmter historischer Gestaltungskraft und Handlungsmacht afrikanischer Akteure führte. Dieser Zuschnitt auf die Zeit vor 1600 n. Chr. ist eine Möglichkeit, eurozentrische Fallstricke bis zu einem gewissen Grad zu unterlaufen.

Andere Möglichkeiten haben mit dem Umgang mit den Quellen zu tun, die genutzt werden können, um eine Geschichte des Alten Afrika zu schreiben. Hier gibt es eine breite Grundlage, die den Rekurs auf Arbeiten aus vielen verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen nötig machen. Kritische Anmerkungen dazu finden sich an entsprechenden Stellen im Text ausgeführt, wo sie konkret auf bestimmte Sachzusammenhänge bezogen sind; hier folgt nur eine erste kurze Bestandsaufnahme für einen generellen Einblick.

Der erste Abschnitt zu den afrikanischen Anfängen der Menschheitsentwicklung greift etwa auf Materialien zurück, die im weiten Sinn in Disziplinen erarbeitet wurden, für die der Begriff »materielle Kultur« konstitutiv ist: Neben der Archäologie und Paläoanthropologie sind das mehrere Subdisziplinen der Humanbiologie, von denen besonders die Anatomie und Genetik für die Afrikanische Geschichte relevant sind. Diese stark naturwissenschaftlich ausgerichteten Forschungsfelder neigen, allgemein gesprochen, zu verkürzten reduktionistischen Interpretationen und zur vorschnellen Übertragung von irrtümlich für universell gehaltenen, tatsächlich aber kulturpartikularen Ad-hoc-Erklärungen. Sie tendieren zu einer Überbetonung des materiell Greifbaren und zur Unterschätzung der Bedeutung ideeller Faktoren, die bekanntlich von Gesellschaft zu Gesellschaft – in Raum und Zeit, in Vergangenheit und Gegenwart – erheblich variieren.

Die Archäologie ist auch für die Untersuchung der Diversifizierungsprozesse in Afrika, die im zweiten Abschnitt erfolgt, von zentraler Wichtigkeit. Hier steuern allerdings auch die Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft sowie Einsichten aus der Ethnographie, die in Anwendung des Analogieschlussverfahrens auf frühere Zeiten rückprojiziert werden, Wesentliches zu unserem Wissen über die Vergangenheit bei.

Schriftliche Quellen spielen erst für den dritten Abschnitt, im Zusammenhang mit der Diskussion afrikanischer Staatsund Reichsbildungen, eine konstitutive Rolle. Hier ergänzen insbesondere reichhaltige mündliche Überlieferungen sowie, neuerlich, archäologische Forschungen das, was über deren Geschichte gewusst werden kann. Diese Stränge zu einer Synthese zusammenzuführen, die Afrika weder nach innen essentialisiert noch nach außen radikal abgrenzt, zu einer zusammenhängenden Kurzen Geschichte des Alten Afrika: Von den Anfängen bis 1600, ist Gegenstand des vorliegenden Buchs.

Bis jetzt waren meine Antworten auf die rhetorische Frage, wie man auf die Idee kommen kann, eine zusammenhängende Geschichte Afrikas zu schreiben, allesamt defensiver Art. Doch anno 2017 steht auch eine offensive Herangehensweise zur Verfügung.8 Die globalgeschichtliche Perspektive, die seit etwa 20 Jahren immer weitere Kreise zieht, verlangt geradezu danach, Afrika in analoger Weise wie andere Weltregionen in den Blick zu nehmen und transkontinentale ebenso wie binnenkontinentale Interaktionen und Verflechtungen zu thematisieren. Dies ist für die afrikanische Geschichte seit der frühen Neuzeit inzwischen schon häufiger unternommen worden, aber das Verfahren drängt sich umso mehr und nachdrücklicher für die Alte Geschichte Afrikas auf. Schließlich spielten sich Jahrmillionen vor- und frühmenschlicher Geschichte fast ausschließlich auf diesem Kontinent ab, die Besiedlung des Globus durch anatomisch moderne Menschen nahm von dort aus ihren Anfang, und zahlreiche menschheitsgeschichtlich relevante Prozesse fanden in den letzten 100 000 Jahren zuerst einmal in Afrika statt. Wie anders denn als eine zusammenhängende Geschichte sollte man die Geschichte des Alten Afrika schreiben angesichts dieser globalhistorischen Perspektive?

Die Geschichte des Alten Afrika im Zeitraffer

Die ersten beiden Teile des Buches widmen sich den Anfängen menschlicher Entwicklung in Afrika und folgen diesen durch die paläoanthropologische ›Urgeschichte‹ und archäologische ›Vor- und Frühgeschichte‹ bis in sogenannte ›historische‹ Zeiten, also bis über den Beginn unserer Zeitrechnung hinaus. Dem eurozentrischen Charakter dieser Epochenbegriffe zum Trotz korrespondieren sie einigermaßen mit der dreiteiligen Struktur, die diesem Buch zugrunde liegt, dessen große Teilabschnitte lauten: I. Afrikanische Anfänge der Menschheitsentwicklung; II. Diversifizierungsprozesse in Afrika; III. Afrikanische Staats- und Reichsbildungen. Bevor es, wie der Buchtitel verspricht, an die kurze Geschichte des Alten Afrika geht, folgt nun eine knappe Überblicksskizze der entscheidenden historischen Vorgänge bis zum Anbruch der europäischen Expansionsbewegungen nach Übersee seit dem 15. und 16. Jahrhundert. Es folgt gewissermaßen eine Geschichte des Alten Afrika im Zeitraffer, die gleichzeitig den von mir gewählten Zugriff und die getroffene Gliederung begründet.

Seit mehr als zwei Millionen Jahren lebten menschliche Wesen in diversen afrikanischen Umwelten und machten sich die unterschiedlichen Lebensräume zu eigen. Tatsächlich begann dieser entwicklungsgeschichtliche Prozess der Naturaneignung bereits mehrere Millionen Jahre früher. Zeugnis davon legen die Funde von fossilen Überresten ab sowie genetisch begründete Rückschlüsse, die es erlauben, die Anfänge der hominiden Formen im Zeitraum vor 8 bis 5 Millionen Jahren zu vermuten. Damals dürfte die evolutionäre Abspaltung jener Linie passiert sein, die den anatomisch modernen Menschen von heute (mitsamt seinen Vorfahren) von den Menschenaffen unterscheidet. Die Hominiden, zu denen sowohl die Australopithecinen (›Vormenschen‹) als auch die vor mehr als 2 Millionen Jahren in Erscheinung tretenden Homo-Formen (›Urmenschen‹) zählen, heben sich von den anderen Affenarten in dreierlei Hinsicht ab: Die Hominiden besitzen einen opponierbaren Daumen, den Pinzettengriff, der ihnen ein anderes Greifen ermöglicht, und sie bewegten sich zunehmend aufrecht auf zwei Füßen (Bipedalität). Darüber hinaus unterscheiden sie sich in ihrem Lebensraum, zu dem nun nicht nur Waldlandsavannen und Buschländer gehörten, sondern auch offene Grasländer.

Bis vor etwa 200 000 Jahren hatten Menschen beinah alle afrikanischen Lebensräume erschlossen. Freilich waren diese nicht flächendeckend bewohnt. Die frühen Menschen waren Wildbeuter: Sie lebten von dem, was die Natur bereitstellte, sie suchten nach Nahrung; sie sammelten Früchte, Beeren und wilde Gräser, sie jagten Kleingetier und Wild, sie fischten. Sie lebten in kleinen Gemeinschaften, verbunden durch verwandtschaftliche und freundschaftliche Bande in sogenannten Kinship-Beziehungen. Sie kamen ohne ausgeprägte Spezialisierungen aus, gemeinschaftlich verrichtete Arbeiten waren die Regel, Arbeitsteilung erfolgte weitgehend nach den Prinzipien Alter und, sekundär, nach Geschlecht.

In jüngerer Zeit scheinen tiefer gehende Änderungen passiert zu sein. Die Anhaltspunkte dafür sind zum einen anatomisch und genetisch, zum anderen ergologisch. Vor etwas mehr als 200 000 Jahren zeigt sich, erstmals seit 1,6 Millionen Jahren, ein sehr einschneidender Wandel in der Steinwerkzeugkultur. Anstelle der extrem dauerhaften Tradition des Acheuléen begann eine Ära, in der sich zunehmend stärker variierende regionale Werkzeugkulturen ausbildeten. Genetisch basierte Rekonstruktionen deuten darauf hin, dass sich in der Zeit zwischen 400 000 und 200 000 Jahren v. Chr. der sogenannte moderne Mensch herauszuformen begonnen hat, dessen Existenz man durch fossile Funde erst für die letzten 130 000 Jahre nachweisen kann. Man hält es für wahrscheinlich, dass bereits seither manche Menschengruppen angewachsen sind und die Gesamtanzahl an Menschen auf der Erde insgesamt deutlich zunahm. Aufgrund der paläoanthropologischen Fundlage ist jedenfalls klar, dass es während der ersten 100 000 Jahre vor unserer Zeit zur Abwanderung einzelner afrikanischer Gemeinschaften kam, welche die kontinentalen Grenzen hinter sich ließen und den Nahen Osten (100 000 v. Chr.) erreichten, später Indien und Südost- und Ostasien (70 000), Australien (60 000) und Europa (40 000). Die Besiedlung der amerikanischen Neuen Welt durch den anatomisch modernen Menschen, den Homo sapiens, geschah schließlich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Nord-Süd-Bewegung seit 15 000 Jahren vor unserer Zeit.

Sammeln, Jagen und Fischen blieben weltweit weiterhin die Tätigkeiten, durch die sich die Menschen mit Nahrung versorgten. Ihre Möglichkeiten, Reichtümer zu erzeugen, anzusammeln und aufzubewahren hielten sich in engen Grenzen; ihr größter Reichtum bestand wohl in der intimen Kenntnis ihrer Mitmenschen, die aus der kleinteiligen Vergemeinschaftung resultierte. Ihre Lebensweise basierte auf einer aneignenden Wirtschaftsform. Wo es zu einem Übergang zu einer aktiv produzierenden Wirtschaftsweise kam – zur Domestizierung von Nahrungspflanzen und Haltung von Tieren als Nutztieren –, vollzog sich dieser Prozess in komplexen Auseinandersetzungen zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umwelt. Es war kein geradliniger und auch kein zwingender Prozess. Zu landwirtschaftlichen Domestikationen kam es recht früh und unabhängig voneinander an mehreren verschiedenen Orten der Erde: in Mittelamerika und im lateinamerikanischen Andengebiet, in Ostasien, im Nahen Osten, in Nordostafrika (südliches Ägypten: Rind; Äthiopien: Enset, Getreide), später auch in Westafrika, wo einheimischer Yams angebaut und Afrikanischer Reis kultiviert wurde. Schon im Zeitraum zwischen 18 000 und 7000 Jahren vor unserer Zeit kam es in mehreren Regionen Afrikas zu intensiveren Formen der Landnutzung – im Sahara-Raum, im Niltal und in der ostafrikanischen Savanne. Dort wurden wild wachsende Grassamen geerntet, spezielles Fischfanggerät entwickelt, und möglicherweise wurden bereits damals erste Wildtiere eingehegt, um den menschlichen Zugriff auf sie zu erleichtern.

Der Übergang zu einer produzierenden Wirtschaftsweise vollzog sich demnach keineswegs plötzlich, sondern schleichend. Die aktive Nahrungsmittelproduktion durch Landwirtschaft und, später, Viehhaltung und Viehzucht trat erstmals um das 6. Jahrtausend v. Chr. im nördlichen Afrika auf, in anderen Räumen des Kontinents erscheint sie erst zu variierenden späteren Zeitpunkten. Die landwirtschaftlichen Produktionsweisen veränderten das menschliche Sozialleben grundlegend, lange vor der Erfindung der Schrift und vor der Nutzung metallgefertigter Gegenstände. Nicht von ungefähr gab Ernest Gellner seinem menschheitsgeschichtlichen Entwurf den Titel »Pflug, Buch und Schwert«. Die sozialen Folgen, die er mit Blick auf den agrarischen Modus beschreibt, treffen auch auf den Zwilling der landwirtschaftlich produzierenden Wirtschaftsform, die pastorale Lebensweise, zu.

Gellner schreibt: »Ackerbaugesellschaften erzeugen Lebensmittel, betreiben Vorratshaltung und gewinnen Verfügung über andere Arten konservierbaren Reichtums. Seinen wichtigsten Formen nach besteht dieser Reichtum, der über die Lebensmittelvorräte hinausgeht, aus Mitteln zur Erzeugung weiterer Lebensmittel und sonstiger Güter (Werkzeuge), Mitteln zur Ausübung von Gewalt (Waffen), Gegenständen von ›symbolischem‹ Wert […].«9 Dieser Wandel in der Lebensweise zeitigt eine ganze Reihe weitreichender demographischer, gesellschaftlicher und politischer Konsequenzen: »Solche Gesellschaften können zu einer bedeutenden Größe anwachsen«, so Gellner weiter: »Ihr Bedarf an Arbeitskräften und an Kriegsmannschaft läßt sie normalerweise großes Gewicht auf die Vermehrung legen, […] bis zu einem kritischen Punkt […], an dem die vorhandenen Ressourcen unter Druck geraten und Hungersnot droht […].« Das Auftreten und die Bedrohung durch Hungersnöte, die aus der gesteigerten Abhängigkeit von Natur- und Witterungsbedingungen unvermeidlich folgten (bestellbare Böden, gute Ernten und ausreichende Weideflächen), waren missliche Folgen der agrarischen bzw. pastoralen Umwälzungen.10 Eine andere Konsequenz waren die verstärkte soziale Arbeitsteilung und die Binnendifferenzierung zwischen verschiedenen Angehörigen einer Gesellschaft. Auch hier bringt Gellner Wesentliches pointiert auf den Punkt: »Ackerbaugesellschaften neigen zur Ausbildung komplexer sozialer Differenzierungen, einer ausgeklügelten Arbeitsteilung. Zwei der Spezialtätigkeiten gewinnen dabei ein ganz besonderes Gewicht: Es entsteht eine spezialisierte Klasse von Herrschenden und ein geistliches Spezialistentum (Fachleute für Erkenntnis-, Legitimations-, Heils- und Ritualfragen).«11

In dieser kurzen Skizze des Sozialanthropologen sind viele der entscheidenden Punkte angeführt, die uns in weiterer Folge wieder begegnen werden: Subsistenz- und Surplus-Produktion (also Produktion für den Eigenbedarf und Überschussproduktion), Vorratswirtschaft und Wohlstandsakkumulation, soziale Arbeitsteilung und gesellschaftliche Schichtung (Stratifikation), Verteilungsfragen im doppelten Sinn von Konsumption und Distribution produzierter Güter, aber auch von Menschen (Kontrolle menschlicher Arbeitskraft und Verfügungsgewalt über andere). Mit den landwirtschaftlichen Produktionsweisen ging eine anders geartete und größere Abhängigkeit der Menschen von der Natur einher: von den bewirtschafteten Böden und Weiden, von Klima, Vegetation und Wetter. Die menschliche Mobilität nahm ab. Dort, wo Menschen mobil blieben, folgte ihre Bewegung den vorhandenen ökologischen Nischen, welche die erworbene produzierende Lebensweise erlaubten. Auch innerhalb der sozialen Gemeinschaft nahmen die Unterschiede zu und die individuelle Freiheit ab.

Agrarische Gesellschaften differenzierten sich freilich nicht nur nach innen aus, sondern gingen auch neuartige Beziehungen untereinander ein. In Afrika zeichnet sich besonders seit etwa 5000 Jahren vor unserer Zeit eine rapide Zunahme der Beziehungen zwischen verschiedenen menschlichen Gemeinschaften ab, die untereinander diverse tierische und pflanzliche Produkte tauschten, aber auch Salz sowie Erze wie Kupfer und, seit dem 1. Jahrtausend v. Chr., Eisen. Graham Connah nimmt an, dass diese aufkeimende engere Verflechtung durch ein ganzes Ursachenbündel erklärt werden muss, wobei dem Bevölkerungswachstum, der fortschreitenden Sesshaftwerdung, der ökologischen Diversität und der regional ungleichen Ressourcenverteilung Bedeutung zukommt.12

Das damit verbundene Umweltmanagement betrifft drei Ebenen: das Verhältnis Mensch zu natürlicher Umwelt, die sozialen Beziehungen von Mensch zu Mensch, die transzendentale Beziehung des Menschen zur Geisterwelt. Es hat also drei Dimensionen: ökologisch, sozial und spirituell. Der Möglichkeiten, diese Verhältnisse zu organisieren, sind theoretisch unendlich viele, und unzählige Varianten sind im Lauf der Menschheitsgeschichte auch realisiert worden. Weltweit haben Menschen Kulturen geschaffen, die solche Organisationsleistungen erbringen. Von Menschen geschaffen und immer wieder neu aktualisiert wirken Kulturen auf ihre Trägerinnen und Träger, die sie gleichzeitig durch ihr alltägliches Handeln schöpferisch bestimmen, permanent ein und schaffen den Rahmen und Aktionsraum, in dem menschliche Gemeinschaften leben: ruhen und handeln, glauben und denken. Sie leisten das auf vielfältige Weisen, was zur Ausformung deutlich unterscheidbarer Kulturen führt. Diese Unterschiede zeigen sich schon bei oberflächlicher Betrachtung etwa im äußeren Erscheinungsbild (Phänotyp, Körperschmuck, Kleidung), in sprachlich-linguistischen Differenzen, auf den Ebenen der jeweiligen Wirtschaftsweisen und in den distinkten sozialen, politischen und religiösen Organisationsformen.

Eine der Grundorganisationsformen, die historisch jung ist und von der Geschichtswissenschaft über lange Zeit als ihr eigentlicher Gegenstandbereich missverstanden wurde, ist die staatliche.13 Sie kann im Kern als eine spezialisierte und zentralisierte Regierungsform bestimmt werden, die vertikal im Sinn eines Befehls-Gehorsams-Zusammenhangs agiert, oft autokratisch und immer an die eine grundlegende Voraussetzung gebunden ist, die menschliche Mobilität kontrollieren zu können. Solche Staaten existierten in Afrika, sieht man vom pharaonischen Ägypten und den nubischen Königtümern ab, im Wesentlichen erst in den letzten zwei Millennien. Die Geschichte einiger von ihnen wird im dritten Teil dieses Buches erzählt. Der Umfang, den sie hier einnehmen, darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass staatliche Strukturen im Alten Afrika insgesamt rar geblieben sind.14 Sie haben die Ausnahme politischer Vergesellschaftung gebildet und sind nie zur Regel und zum Modell politischer Herrschaft geworden. Die politische Praxis der Entscheidungsfindung und Durchsetzung von Entscheidungen blieb vielerorts auf die Nutzung horizontal wirkender Mechanismen des Ausgleichs ausgerichtet: Betont und hochgehalten wurden die Werte der Egalität und des Konsenses. Auch wenn Kinship-basierten Gesellschaften weder soziale Ungleichheit noch Unstimmigkeit fremd waren, sahen sie in den vertikal operierenden Maßnahmen des Staates kein geeignetes Mittel zur Aufrechterhaltung einer für die Allgemeinheit wünschenswerten Ordnung.

1Meine Position kann bei Interesse hinreichend klar und detailliert andernorts nachgelesen werden; siehe Sonderegger 2008, Eckert/Grau/Sonderegger 2010, Sonderegger/Grau/Englert 2011.

2Parker/Rathbone 2007: 2.

3Siehe dazu Davidson 1994, Mudimbe 1988, Appiah 1993, Sonderegger 2008.

4Siehe dazu Reinhardt 2007, Sonderegger 2015.

5Geertz 1993: 115.

6Grill 2005: 12.

7Siehe dazu Bayart 2000, Schicho 2010, Coquery-Vidrovitch 2011, Ellis 2011, Cooper 2014.

8Siehe dazu Grandner/Sonderegger 2015, Conrad 2013.

9Gellner 1993: 15–16.

10Die wildbeutende Lebensweise ist flexibler und mobiler – und daher ist hier die Abhängigkeit von der Natur in gewisser Weise geringer als im Fall der Pastoralisten mit ihren Viehherden oder der bodenbestellenden Bauern; siehe Sahlins 1972, Groh 1992.

11Gellner 1993: 16.

12Siehe dazu insbesondere Connah 2016: 1–16.

13Siehe dazu – und zur Kritik an dieser verengten Auffassung – die sozialanthropologischen Klassiker Evans-Pritchard/Fortes 1940 und Middleton/Tait 2004 [1958], sowie Horton 1971, Graeber 2004, Sonderegger 2008: 568–608, Graeber 2011.

14Siehe Lonsdale 1981, McIntosh 2005 [1999], Hawthorne 2013, Connah 2016.

I. AFRIKANISCHE ANFÄNGE DERMENSCHHEITSENTWICKLUNG

Menschwerdung: In and Out of Africa

Der biologischen Ordnung des schwedischen Naturforschers Carl Linné folgend bilden die Menschen die Spezies beziehungsweise Art Homo sapiens und gehören dem Genus beziehungsweise Geschlecht Homo an. Sie sind die einzige überlebende Art dieser Gattung, zu der stammesgeschichtlich freilich die als Australopithecus klassifizierten Arten zählen, sowie deren Vorstufen Ardipithecus, Ramapithecus, Kenyapithecus und Proconsul, die allesamt ausgestorben sind. Die Menschen gehören zur Ordnung der Primaten, deren Anfänge auf gut 70 Millionen Jahre zurückverfolgt werden können, genauer: Sie zählen zu den ›Altweltaffen‹ (Hominoiden). Wie jede klassifikatorische Ordnung ist auch jene von Linné eine idealtypische Bestandsaufnahme, die den Faktor Zeit – und damit die Geschichte – ausblendet. Damit steht das taxonomische Verfahren grundsätzlich in einem nicht restlos auflösbaren Spannungsverhältnis zur Naturgeschichte. Im Rahmen des naturgeschichtlichen Denkens spielt seit Mitte des 18. Jahrhunderts der Entwicklungsbegriff im Sinne eines mehr oder minder graduell, mehr oder minder gesetzmäßig sich vollziehenden Entfaltungsprozesses die hervorragende Rolle, um die Herausbildung der Artenvielfalt lebender Organismen zu erklären.

Besonders seitdem Alfred Russell Wallace und Charles Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts die moderne Evolutionstheorie begründeten, in der einerseits der natürlichen Umwelt (›natürliche Selektion‹), andererseits der individuellen Partnerwahl (›sexuelle Selektion‹) zugebilligt wird, für die sogenannte Transmutation der Arten zu sorgen, bildet diese den Kontext der wissenschaftlichen Naturgeschichte. Mit der Genese der modernen Genetik um die Wende zum 20. Jahrhundert ist die evolutionstheoretische Diskussion um die Betrachtung von Mutationen auf molekularbiologischen und genetischen Ebenen ergänzt worden. Dieser wissenschaftsgeschichtliche Kontext beeinflusste auch die Paläoanthropologie, die ihren Anfang nahm, nachdem Bergbauarbeiten im belgischen Engis 1830, in Gibraltar 1848 und im Neandertal 1856 n. Chr. zufällig erstmals menschliche Fossilien zutage gefördert hatten, die im Lauf der Zeit auf vermehrtes Interesse unter Gelehrten stießen. Was bedeuteten diese Funde für das Wissen um die Evolution des Menschen, für die Menschwerdung und Menschheitsentwicklung, für die Menschheitsgeschichte?

Ausgehend von dieser Grundfrage stand lange Zeit die Frage nach dem Ursprungsgebiet des Menschen im Mittelpunkt des paläoanthropologischen Interesses – also nach der Region, in der sich die Transmutation vom Menschenaffen zum Menschen vollzogen hat. Diese Fixierung auf den Ursprung war ganz im Sinn des herrschenden Zeitgeistes, der Fortschrittsgläubigkeit und Fortschrittsoptimismus mit einem überhöhten Selbst- und Sendungsbewusstsein paarte. Dieser trat einerseits in einer diffusionistischen Spielart in Erscheinung, die, in merkwürdiger Kontinuität zur überkommenen biblischen Erzählung, eine einmalige Kreation annahm, die sich dann von dem angenommenen Ursprungszentrum ausgehend ausbreitete. Anfällig für diffusionistische Deutungen waren Leute, die im Umkreis christlicher Missionsmilieus standen, aber auch dezidiert antiklerikale Gelehrte, die sich mit Kolonialfragen beschäftigten und die koloniale Durchdringung Afrikas und anderer Weltregionen für wünschenswert hielten. Den herrschenden Zeitgeist prägte andererseits aber auch stark ein popularisierter Evolutionismus, der einen der Menschheit eingeschriebenen Entwicklungsplan behauptete, der eine gestufte Anordnung aller bekannten menschlichen Gesellschaften (der Vergangenheit und Gegenwart) in einer einzigen Entwicklungshierarchie vornahm. Wie unschwer zu erkennen ist, folgte auch diese unilineare evolutionistische Variante einem alten christlichen Dogma, das sie ins Säkulare transformierte: die Präformationslehre, also die Vorstellung, nach der Lebewesen bereits im Keim vorgebildet beziehungsweise determiniert sind.

Europa, wo die ersten menschlichen Fossilien gefunden worden waren, fiel als ernstzunehmender Entstehungsort der Menschen bald weg, nachdem 1891 auf Java frühmenschliche Überreste entdeckt wurden, die ein viel höheres Alter vermuten ließen, ebenso wie kurz darauf auch in China. Bis in die 1950er- und 60er-Jahre hinein galt darum den meisten Paläoanthropologen Asien als gesichertes Ursprungsgebiet, obwohl Robert Broom (seit 1913) und Raymond Dart (seit 1924) in Südafrika sowie Louis Leakey (seit 1926) in Ostafrika Funde tätigten, die Zweifel daran hätten nähren müssen.15 Die ideologische Bedeutung einer derartigen Ursprungssetzung ist manifest. Sie wird auch am berüchtigten Piltdown-Menschen deutlich, der 1912 als ältester Frühmensch im Allgemeinen und »unser [englischer] Vorfahre« (im Gegensatz zum »französischen Neandertaler«) im Besonderen präsentiert wurde.16 Plötzlich war Europa wieder auf der Ursprungsagenda. Dass es sich bei Piltdown um eine Fälschung handelte, eine willkürliche Kombination aus einem menschlichen Schädel und einem Affenkiefer, wurde selbst unter Fachleuten nicht vor 1950 allgemein eingesehen.

Dazu, dass Afrika von Paläoanthropologen nur selten als der ursprüngliche Raum der Menschwerdung erwogen und erst spät als solcher akzeptiert wurde, haben mehrere Faktoren beigetragen. Zum einen sind das allgemein gesellschaftliche eurozentrische Vorurteile, zum anderen wissenschaftsinterne: Der positivistische Habitus einer Disziplin, deren Deutungen auf materielle Überreste angewiesen sind und die nur allzu leicht vergisst, dass fehlende Funde nicht gleichbedeutend mit Inexistenz sind; der materialistische Reduktionismus, der zahlengläubig ist und einem Kult der Quantifizierung frönt; dann aber auch der damit einhergehende klassifikatorische Habitus, der sich schwer tut, der historischen Dynamik bzw. der Prozesshaftigkeit evolutionärer Entwicklungen gerecht zu werden. Dabei hatten schon die Ahnväter einer dynamischen Evolutionstheorie den afrikanischen Ursprung für den wahrscheinlichsten gehalten. So schrieb etwa Thomas Henry Huxley 1865 in der ersten Arbeit, die Darwins Lehre auf die Untersuchung des Menschen anwandte, unmissverständlich: »Es ist ganz sicher, dass der Affe, der dem Menschen in der Gesamtheit seiner Organisation am nächsten steht, entweder der Schimpanse oder der Gorilla ist.«17 Und Darwin ergänzte 1871: »Es ist daher wahrscheinlich, daß Afrika einst von jetzt ausgestorbenen Affen bewohnt war, die mit dem Gorilla und Schimpansen nahe verwandt waren; und da diese beiden Arten nunmehr die nächsten Verwandten des Menschen sind, so ist es wahrscheinlicher, daß unsere frühesten Vorfahren auf dem afrikanischen Kontinent lebten anstatt anderswo.«18 Die Paläoanthropologen blieben diesen Hinweisen gegenüber über viele Jahrzehnte hinweg auffällig taub.

Vormenschen, Australopithecinen und der aufrechte Gang

Als Mitte der 1950er-Jahre chemische Datierungsmethoden auf den Markt kamen, die aufgrund radioaktiver Zerfallsprozesse das Alter fossiler Materialien (oder der sie umgebenden Stoffe) festzustellen erlaubten, war einer der Effekte, dass immer klarer wurde, dass Afrika die bei weitem ältesten Funde aufweist.19 Vor etwa 24 Millionen Jahren setzte dort die Auseinanderentwicklung jener Linien ein, die einerseits zu den heutigen Affenarten der Alten Welt führte, anderseits zu den modernen Menschenaffen und Menschen. Auf der Rusinga-Insel im Victoriasee wurde der waldbewohnende, Proconsul genannte Primat gefunden, im westlichen Kenia der Kenyapithecus, der die frühen Hominoiden repräsentiert und auf etwa 15 Millionen Jahre datiert wird. Kenyapithecus lebte wahrscheinlich bereits in offenem Waldland. Es folgt eine große Lücke in der Fundlage für die nächsten Millionen Jahre, ehe sich um 5 Millionen Jahre vor unserer Zeit die Funde im östlichen und südlichen Afrika häufen. Sie repräsentieren dann schon echte Hominiden.

Der Paläoanthropologe Friedemann Schrenk füllt die Lücke mit einer ökologischen Erklärung: »In Afrika war […] die geographische Verbreitung der ursprünglichen Populationen der afrikanischen Menschenaffen solange relativ stabil, bis im Mittel-Miozän [das geologische Zeitalter Miozän dauerte von 25 bis 5 Millionen Jahre vor unserer Zeitrechnung] eine weltweite Klima-Abkühlung zu einschneidenden Umweltveränderungen führte. Seit etwa 10 Millionen Jahren wurden in Afrika die Jahreszeiten ausgeprägter, charakterisiert in den tropischen Bereichen durch saisonale Trocken- und Regenzeiten. Diese klimatischen Bedingungen im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Entwicklung des afrikanischen Grabens (Afrikanisches Rift) führten zur starken Abnahme der Waldgebiete. Dies förderte vor ca. 8 Millionen Jahren die Verschiebung der tropischen Waldgebiete und das Entstehen von Baumsavannen […]. Als die Trockenheit im ausgehenden Miozän weiter zunahm, fanden sich einige Menschenaffen-Populationen an der Peripherie des tropischen Regenwaldes wieder. Hier fand die Trennung der Menschenaffen und der Hominiden statt.«20

Richard Leakey zeichnet ein analoges Bild vom afrikanischen Kontinent vor 15 Millionen Jahren, wenn er ihn als »einen geschlossenen Waldteppich von West nach Ost« vorstellt und auf »geologische Bewegungen [hinweist], die in den nächsten zwei bis drei Millionen Jahren zu tiefgreifenden Veränderungen der Landschaft und ihrer Bewohner führen sollten. Unter der östlichen Hälfte des Kontinents riß die Erdkruste in einer Linie vom Roten Meer längs durch das heutige Äthiopien, Kenia, Tansania bis nach Moçambique [und Südafrika] auf. Das hatte zur Folge, daß sich in Äthiopien und Kenia ausgedehnte Hochländer von über dreitausend Metern Höhe bildeten. Diese großen, kuppelartigen Erhöhungen veränderten nicht nur die Topographie des Kontinents, sondern auch dessen Klima. Die Erhebungen unterbrachen den zuvor gleichmäßigen Luftstrom von West nach Ost und bewirkten, daß die Regionen östlich von ihnen im Regenschatten lagen, so daß die Wälder ihre Lebensgrundlage verloren. Die geschlossene Baumdecke riß auf, und zurück blieb ein Mosaik aus bewaldeten Flecken, Heide und Buschland. Offenes Grasland war jedoch noch selten. Vor etwa zwölf Millionen Jahren gab es weitere Veränderungen durch die fortgesetzte Tätigkeit tektonischer Kräfte. Es formte sich ein langgestrecktes, gekrümmtes Tal in nordsüdlicher Richtung, das Ostafrikanische Grabensystem (Great Rift Valley). Dieses System wirkte sich biologisch in zweierlei Weise aus: Es bildete eine wirksame Grenze zwischen Ost und West für Tierpopulationen, und es begünstigte die Entwicklung vielfältigster ökologischer Bedingungen.«21 Beides – eine gewisse geographische Isolation und diversifizierte Umwelten – sind wesentliche Faktoren der biologischen Evolution. Sie nötigen zu mannigfaltigen Anpassungserscheinungen, und das heißt: zu Änderungen, zu denen sie zwingen und die sie gleichzeitig ermöglichen.

Die ersten Hominiden traten also im Zeitraum vor 8 bis 5 Millionen Jahren in Erscheinung. Ihr wesentliches Bestimmungsmerkmal ist Bipedalität. Der früheste Fund aus Lukeino in Kenia datiert auf 6,1 bis 5,7 Millionen Jahre und hat zur Klassifikation eines Orrorin tugenensis geführt. Ein Schädel aus der tschadischen Djourab-Wüste ist womöglich ähnlich alt, doch ist dieser Fund umstrittener; klassifiziert wurde er als Sahelanthropus tchadensis. Im äthiopischen Grabenbruch, in der mittleren Awash-Region, fand man Fossilien, deren frühestes Alter auf 5,8 bis 5,2 Millionen Jahre datiert und die als Ardipithecus ramidus kadabba klassifiziert wurden. Skelettreste anderer Individuen aus der Gegend, die Ardipithecus ramidus zugeordnet werden, datieren auf 4,4 Millionen Jahre. Am Turkana-See wurde bei Lothagam auch ein Kieferstück gefunden, dessen Alter auf etwa 5,5 Millionen Jahre angegeben wird. Aufgrund dieser Funde lässt sich mit einiger Sicherheit sagen, dass die ersten Hominiden, die unter veränderten Lebensbedingungen auftauchten – unter Umständen also, die im Gefolge von »globaler Abkühlung und Trockenheit die Evolution beschleunigten«22