Kurzlehrbuch Psychiatrie und Psychotherapie - Hans Förstl - E-Book

Kurzlehrbuch Psychiatrie und Psychotherapie E-Book

Hans Förstl

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Beschreibung

Das Kurzlehrbuch Psychiatrie und Psychotherapie vereint das gesamte studentenrelevante Wissen des Themenkomplexes Psychiatrie und Psychotherapie in einem Buch: - Praxisnähe durch klinische Fallgeschichten zum Kapiteleinstieg und eingestreute Praxistipps - klares Layout und bewährtes Konzept der Kurzlehrbuch-Reihe mit typischen didaktischen Elementen: Key Points, Merke-Kästen und Exkurse - zahlreiche hochwertige Grafiken, klinische Abbildungen und tabellarische Übersichten erleichtern das Verständnis Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen ohne weitere Kosten digital in der Wissensplattform eRef zur Verfügung. Mit der kostenlosen eRef App haben Sie zahlreiche Inhalte auch offline immer griffbereit.

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Seitenzahl: 803

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Kurzlehrbuch

Kurzlehrbuch Psychiatrie und Psychotherapie

Stefan Leucht, Hans Förstl

Josef Bäuml, Monika Brönner, Sibylle Kraemer, Stephan Mirisch, Rupert Müller, Gabriele Pitschel-Walz, Michael Rentrop, Thomas Stegemann, Kerstin Stellermann-Strehlow, Michael H. Wiegand

2., unveränderte Auflage

100 Abbildungen

Vorwort

Die Psychiatrie ist ein sehr abwechslungsreiches und spannendes Fach, weil sie verschiedene Disziplinen miteinander vereint. Ätiologisch werden viele psychische Erkrankungen mit einer biologischen Disposition erklärt, die mit im weitesten Sinne biographisch bedingten psychologischen Faktoren und aktuellen Belastungen zusammentrifft. Dementsprechend steht die Therapie auf verschiedenen Pfeilern. Einer ist die Psychopharmakologie, ein anderer die Psychotherapie, der heute so viel Bedeutung beigemessen wird, dass die Facharztbezeichnung „Psychiatrie und Psychotherapie“ heißt und jeder Anwärter ein psychotherapeutisches Verfahren erlernen muss. Schließlich ist man als Psychiater oftmals auch ein kleiner Sozialarbeiter, weil die Reintegration der Patienten in das Alltagsleben nach überstandener psychischer Krise einen großen Teil der Arbeit ausmacht.

Diese große Bandbreite des Faches und das allgemein rasch wachsende medizinische Wissen führen aber auch zu einem beträchtlichen Lernstoff, der neu konzipierte Lehrbücher erforderlich macht. Wie bei anderen Bänden der Kurzlehrbuchreihe haben wir uns daher darauf konzentriert, das prüfungsrelevante Wissen in komprimierter Form darzustellen. Das Erlernen des Stoffes wird dabei didaktisch durch spezielle Textbausteine (wie Key Points, Merke-Kästen und Exkurse) unterstützt. Die klinischen Fälle zu Beginn jedes Kapitels und die Praxistipps stellen klinische Bezüge für die spätere ärztliche Tätigkeit dar und sollen das Lernen auflockern.

Unser Dank gilt den Mitarbeitern des Thieme Verlags Frau Dr. Christina Schöneborn, Frau Claudia Seitz, Frau Dr. Nora Dalg und Herrn Dr. Jochen Neuberger für die harmonische Zusammenarbeit sowie unseren Familien für ihre moralische Unterstützung. Wenn es uns gelungen sein sollte, eine geeignete Lernhilfe zu erstellen und bei einigen Lesern ein tieferes Interesse an der Psychiatrie zu wecken, wäre der Zweck des Buches voll erfüllt. Wir würden uns auch über kritische Rückmeldungen unserer Leser freuen, um uns diesen Zielen weiter anzunähern.

München, im August 2012

Stefan Leucht und Hans Förstl

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1 Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie

1.1 Klinischer Fall

1.2 Einführung

1.2.1 Das Fachgebiet „Psychiatrie“

1.2.2 Epidemiologie

1.3 Klassifikationssysteme

1.3.1 Triadisches System

1.3.2 Klassifikationen nach ICD-10 und DSM-IV

1.4 Diagnostik

1.4.1 Anamnese

1.4.2 Standardisierte Beurteilungsverfahren und testpsychologische Zusatzuntersuchungen

1.4.3 Körperlicher Befund und Labordiagnostik

1.4.4 Apparative Diagnostik

1.5 Psychopathologischer Befund

1.5.1 Begriffsbildung

1.5.2 Psychopathologische Symptome

1.5.3 Psychopathologische Differenzialdiagnostik

2 Delir, Demenz und andere organisch bedingte psychische Störungen

2.1 Klinischer Fall

2.2 Allgemeines

2.3 Delir (= Verwirrtheitszustand)

2.3.1 Definition

2.3.2 Epidemiologie

2.3.3 Ätiologie und Pathogenese

2.3.4 Klinik

2.3.5 Diagnostik

2.3.6 Differenzialdiagnosen

2.3.7 Therapie

2.3.8 Verlauf

2.4 Amnesie

2.4.1 Nutritiv-toxisch (z.B. Wernicke-Korsakow-Syndrom, WKS)

2.4.2 Posttraumatisch (nach Schädel-Hirn-Trauma, SHT)

2.4.3 Entzündlich ( z.B. bei Herpes-Enzephalitis)

2.4.4 Zerebrovaskulär (z.B. transiente globale Amnesie, TGA)

2.5 Demenz

2.5.1 Allgemeines

2.5.2 Demenzformen

2.6 Weitere organisch bedingte psychische Störungen

3 Suchterkrankungen (F10–F19, F55)

3.1 Klinischer Fall

3.2 Psychische Störungen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

3.2.1 Allgemeines

3.2.2 Alkohol (F10)

3.2.3 Nikotin (Tabak, F17)

3.2.4 Medikamente

3.2.5 Drogen

3.3 Missbrauch von nicht-abhängigkeitserzeugenden Substanzen (F55)

4 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F20–F25)

4.1 Klinischer Fall

4.2 Allgemeines

4.2.1 Historische Aspekte

4.2.2 Begriffsbildung

4.3 Schizophrenie (F20)

4.3.1 Epidemiologie

4.3.2 Ätiologie und Pathogenese

4.3.3 Klinik

4.3.4 Diagnostik

4.3.5 Differenzialdiagnosen

4.3.6 Therapie

4.3.7 Verlauf

4.4 Weitere Formen psychotischer Störungen

4.4.1 Schizoaffektive Störung (F25)

4.4.2 Schizotype Störung (F21)

4.4.3 Anhaltende wahnhafte Störung (F22)

4.4.4 Induzierte wahnhafte Störung (Folie à deux, F24)

4.4.5 Akute polymorphe Störung ohne (F23.0)/mit (F23.1) Symptomen einer Schizophrenie

4.4.6 Akute schizophreniforme psychotische Störung (F23.2)

4.4.7 Wochenbettpsychosen (Puerperalpsychosen)

5 Affektive Störungen (F30–F38)

5.1 Klinischer Fall

5.2 Allgemeines

5.2.1 Charakteristika der Syndrompole

5.2.2 Einteilung

5.3 Depressive Episode (F32) und rezidivierende depressive Störung (F33)

5.3.1 Definition und Einteilung

5.3.2 Epidemiologie

5.3.3 Ätiologie und Pathogenese

5.3.4 Klinik

5.3.5 Diagnostik

5.3.6 Differenzialdiagnosen

5.3.7 Therapie

5.3.8 Verlauf

5.4 Bipolare affektive Störung (F31)

5.4.1 Definition und Einteilung

5.4.2 Epidemiologie

5.4.3 Ätiologie und Pathogenese

5.4.4 Klinik

5.4.5 Diagnostik

5.4.6 Differenzialdiagnosen

5.4.7 Therapie

5.4.8 Verlauf

5.5 Anhaltende affektive Störungen (F34)

5.5.1 Definition und Einteilung

5.5.2 Epidemiologie

5.5.3 Ätiologie und Pathogenese

5.5.4 Klinik

5.5.5 Diagnostik

5.5.6 Differenzialdiagnosen

5.5.7 Therapie

5.5.8 Verlauf

5.6 Sonderformen affektiver Störungen

5.6.1 Atypische Depression (F32.8)

5.6.2 Saisonale Depression

5.6.3 Wiederkehrende kurze Depression

5.6.4 Postpartale Depression

6 Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40–48)

6.1 Klinischer Fall

6.2 Angststörungen (F40 und F41)

6.2.1 Allgemeines

6.2.2 Agoraphobie (F40.0)

6.2.3 Soziale Phobien (F40.1)

6.2.4 Spezifische (isolierte) Phobien (F40.2)

6.2.5 Panikstörung (F41.0)

6.2.6 Generalisierte Angststörung (GAS) (F41.1)

6.3 Zwangsstörung (F42)

6.3.1 Allgemeines

6.3.2 Definition

6.3.3 Epidemiologie

6.3.4 Ätiologie und Pathogenese

6.3.5 Klinik

6.3.6 Diagnostik und Differenzialdiagnosen

6.3.7 Therapie

6.3.8 Verlauf

6.4 Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43)

6.4.1 Einteilung

6.4.2 Akute Belastungsreaktion (F43.0)

6.4.3 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) (F43.1)

6.4.4 Anpassungsstörungen (F43.2)

6.5 Dissoziative Störungen (Konversionsstörungen) (F44 und F48.1)

6.5.1 Allgemeines

6.5.2 Epidemiologie

6.5.3 Ätiologie und Pathogenese

6.5.4 Klinik

6.5.5 Diagnostik

6.5.6 Differenzialdiagnosen

6.5.7 Therapie

6.5.8 Verlauf

6.6 Somatoforme Störungen (F45)

6.6.1 Allgemeines

6.6.2 Somatisierungsstörung (F45.0)

6.6.3 Hypochondrische Störung und dysmorphophobe Störung (F45.2)

6.6.4 Somatoforme autonome Funktionststörung (F45.3)

6.6.5 Somatoforme Schmerzstörung (F45.4)

6.6.6 Weitere Störungen mit körperlicher Symptomatik unklarer Genese

7 Essstörungen (F50)

7.1 Klinischer Fall

7.2 Allgemeines

7.3 Anorexia nervosa (F50.0)

7.3.1 Epidemiologie

7.3.2 Ätiologie und Pathogenese

7.3.3 Klinik

7.3.4 Diagnostik und Differenzialdiagnosen

7.3.5 Therapie

7.3.6 Verlauf

7.4 Bulimia nervosa (F50.2)

7.4.1 Epidemiologie

7.4.2 Ätiologie und Pathogenese

7.4.3 Klinik

7.4.4 Diagnostik und Differenzialdiagnosen

7.4.5 Therapie

7.4.6 Verlauf

8 Schlafstörungen

8.1 Klinischer Fall

8.2 Allgemeines

8.2.1 Normaler Schlaf

8.2.2 Klassifikation der Schlafstörungen

8.2.3 Grundlegende diagnostische Methoden der Schlafmedizin

8.3 Insomnien

8.3.1 Einteilung

8.3.2 Akute Insomnie

8.3.3 Primäre Insomnie

8.3.4 Komorbide Insomnie

8.4 Schlafbezogene Atmungsstörungen

8.4.1 Obstruktives Schlafapnoe-Syndrom (OSAS)

8.4.2 Zentrales Schlafapnoe-Syndrom

8.4.3 Schlafbezogene Hypoventilation

8.5 Hypersomnien zentralnervösen Ursprungs

8.5.1 Narkolepsie mit Kataplexie

8.5.2 Narkolepsie ohne Kataplexie

8.5.3 Idiopathische Hypersomnie

8.5.4 Periodische Hypersomnie (Kleine-Levin-Syndrom)

8.6 Zirkadiane Schlaf-Wach-Rhythmus-Störungen

8.6.1 Verzögertes oder vorverlagertes Schlafphasensyndrom

8.6.2 Jetlag-Syndrom

8.6.3 Schichtarbeiter-Syndrom

8.7 Parasomnien

8.7.1 Non-REM-Parasomnien

8.7.2 REM-Schlaf-assoziierte Parasomnien

8.8 Schlafbezogene Bewegungsstörungen

8.8.1 Restless-Legs-Syndrom (RLS)

8.8.2 Periodische Bewegungsstörung der Gliedmaßen (PLMS)

9 Sexuelle Störungen

9.1 Klinischer Fall

9.2 Allgemeines

9.2.1 Historische Aspekte

9.2.2 Klassifikation sexueller Störungen

9.2.3 Phasen der ungestörten sexuellen Entwicklung

9.2.4 Sexueller Reaktionszyklus

9.3 Sexuelle Funktionsstörungen

9.3.1 Epidemiologie

9.3.2 Klassifikation und Klinik

9.3.3 Diagnostik und Differenzialdiagnosen

9.3.4 Therapie

9.4 Störungen der Geschlechtsidentität (F64)

9.4.1 Epidemiologie

9.4.2 Klinik

9.4.3 Diagnostik und Differenzialdiagnosen

9.4.4 Therapie

9.4.5 Verlauf

9.5 Störungen der Sexualpräferenz (F65)

9.5.1 Epidemiologie

9.5.2 Ätiologie

9.5.3 Klinik

9.5.4 Diagnostik

9.5.5 Therapie

9.6 Psychische und Verhaltensstörungen in Verbindung mit der sexuellen Entwicklung und Orientierung (F66)

9.6.1 Epidemiologie

9.6.2 Ätiologie

9.6.3 Klinik, Diagnostik und Differenzialdiagnosen

9.6.4 Therapie

9.7 Besondere Problembereiche

9.7.1 Sexuelle Süchtigkeit

9.7.2 Sexuelle Straftäter

10 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60, F62, F63)

10.1 Klinischer Fall

10.2 Persönlichkeitsstörungen (F60)

10.2.1 Allgemeines

10.2.2 Cluster A (Dimensionen: sonderbar-exzentrisch)

10.2.3 Cluster B (Dimensionen: dramatisch-emotional)

10.2.4 Cluster C (Dimensionen: ängstlich – vermeidend)

10.3 Andauernde Persönlichkeitsänderung (F62)

10.3.1 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F62.0)

10.3.2 Andauernde Persönlichkeitsänderung nach psychischer Krankheit (F62.1)

10.4 Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle (F63)

10.4.1 Pathologisches Spielen (F63.0)

10.4.2 Pathologische Brandstiftung (F63.1)

10.4.3 Pathologisches Stehlen (F63.2)

10.4.4 Trichotillomanie (F63.3)

10.4.5 Weitere Störungen der Impulskontrolle

11 Kinder- und Jugendpsychiatrie

11.1 Klinischer Fall

11.2 Allgemeines

11.2.1 Definition

11.2.2 Epidemiologie

11.2.3 Besonderheiten in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

11.2.4 Multiaxiales Klassifikationsschema (MAS)

11.2.5 Entwicklungspsychologie

11.2.6 Diagnostik in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

11.3 Intelligenzminderung (F70–F73)

11.4 Altersbezogene Störungen: Entwicklungsstörungen (F80–F84)

11.4.1 Allgemeines

11.4.2 Umschriebene Entwicklungsstörungen

11.4.3 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen

11.5 Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F90–F98)

11.5.1 Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) (F90)

11.5.2 Störung des Sozialverhaltens (F91)

11.5.3 Angststörungen (F93)

11.5.4 Schulabsentismus

11.5.5 Ausscheidungsstörungen

11.5.6 Isolierte Pica (F98.3)

11.5.7 Störung des Redeflusses: Stottern (F98.5)

11.5.8 Ticstörungen und Tourette-Syndrom (F95)

11.5.9 Elektiver Mutismus (F94.0)

11.6 Suchtstörungen (F1)

11.7 Schizophrenie (F20)

11.8 Depressive Störungen (F32)

11.9 Neurotische und Belastungsstörungen

11.9.1 Reaktion auf schwere Belastungen (F43)

11.9.2 Zwangsstörungen (F42)

11.10 Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Störungen

11.10.1 Essstörungen (F50)

11.10.2 Schlafstörungen (F51)

11.11 Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

11.11.1 Persönlichkeitsstörungen (F60)

11.11.2 Trichotillomanie (F63.3)

11.12 Körperliche und sexuelle Gewalt

11.12.1 Körperliche Gewalt

11.12.2 Sexuelle Gewalt

12 Begutachtung und Forensik

12.1 Klinischer Fall

12.2 Betreuung und Unterbringung

12.2.1 Betreuung

12.2.2 Unterbringung

12.3 Geschäfts-, Einwilligungs- und Testierunfähigkeit

12.3.1 Geschäftsunfähigkeit

12.3.2 Einwilligungsunfähigkeit

12.3.3 Testierunfähigkeit

12.4 Strafrecht

12.4.1 Schuldunfähigkeit und Maßregelvollzug

12.4.2 Jugendstrafrecht

12.5 Berufs- und Erwerbsunfähigkeit

12.6 Einschränkung der Fahrtauglichkeit

12.7 Schweigepflicht

13 Grundlagen der Therapie

13.1 Klinischer Fall

13.2 Psychopharmakologie

13.2.1 Allgemeines

13.2.2 Antidepressiva

13.2.3 Stimmungsstabilisierer („Mood Stabilizer“)

13.2.4 Antipsychotika (Neuroleptika)

13.2.5 Anxiolytika und Hypnotika

13.2.6 Antidementiva

13.3 Nicht-pharmakologische somatische Therapieverfahren

13.3.1 Elektrokrampftherapie (EKT)

13.3.2 Schlafentzugstherapie

13.3.3 Licht- bzw. Phototherapie

13.3.4 Experimentelle Verfahren

13.4 Psychotherapie

13.4.1 Einleitung

13.4.2 Allgemeine Wirkfaktoren der Psychotherapie

13.4.3 Kognitive Verhaltenstherapie

13.4.4 Psychoanalyse und psychodynamische (tiefenpsychologisch fundierte) Psychotherapie

14 Suizidalität und psychiatrische Notfälle

14.1 Klinischer Fall

14.2 Suizidalität

14.2.1 Allgemeines

14.2.2 Begriffsdefinitionen

14.2.3 Epidemiologie

14.2.4 Ätiologie

14.2.5 Stadienhafter Verlauf suizidaler Entwicklung

14.2.6 Diagnostik

14.2.7 Prävention und Therapie von Suizidalität und suizidalen Krisen

14.3 Weitere psychiatrische Notfallsituationen

14.3.1 Delir und Verwirrtheitszustände

14.3.2 Erregungszustände

14.3.3 Zustände mit verminderter psychomotorischer Reaktion

14.3.4 Psychopharmakabedingte Notfälle

14.4 Dokumentation und juristische Aspekte in Notfallsituationen

14.5 Amok

14.5.1 Allgemeines

14.5.2 Epidemiologie

14.5.3 Motivsuche und ätiologische Überlegungen

14.5.4 Prävention

Anschriften

Sachverzeichnis

Impressum

1 Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie

1.1 Klinischer Fall

Psychopathologischer Befund

Aufregung vor der ersten Aufnahme Marie Wieland ist aufgeregt. Heute ist der zweite Tag ihres PJ-Tertials in der Psychiatrie, und Oberarzt Dr. Bremer hat ihr versprochen, dass sie ihren ersten Patienten aufnehmen dürfe. Nach der täglichen Visite setzt sich Dr. Bremer mit seiner PJ-Studentin zusammen. „Also, Frau Wieland, in der Aufnahme sitzt Frau Sommer. Ich habe bereits kurz mit ihr gesprochen und einen ersten Eindruck gewonnen. Die Patientin ist damit einverstanden, dass Sie das Aufnahmegespräch führen. Sind Sie bereit?“ Marie nickt. „Können Sie mir noch einmal kurz sagen, worauf ich bei einer psychiatrischen Anamnese achten muss?“, möchte sie von Dr. Bremer wissen. „Zu Beginn lassen Sie die Patientin erst einmal frei berichten, was sie in die Psychiatrie führt und wo sie ihre Hauptprobleme sieht. Anschließend müssen Sie versuchen, durch gezielte Fragen die aktuelle Symptomatik herauszuarbeiten und den psychopathologischen Befund zu erheben.“ Marie nickt. „Dieser psychopathologische Befund bereitet mir ein bisschen Kopfzerbrechen“, gibt sie zu. „So etwas musste ich in den anderen Fachdisziplinen noch nie machen. Haben Sie dafür noch einige Tipps für mich?“ „Um den psychopathologischen Befund kommen Sie nicht herum, er ist schließlich das Kernstück in der psychiatrischen Befunderhebung“, antwortet Dr. Bremer. „Wichtig ist, dass Sie sich vor dem Gespräch mit der Patientin noch einmal vergegenwärtigen, welche psychischen Phänomene und Symptome Sie hierfür abfragen müssen und wie Sie an die gewünschten Informationen gelangen. Für viele der abzufragenden Bereiche existieren hilfreiche Einstiegsfragen und kleine Tests, mit denen Sie das Gespräch in die richtige Richtung lenken können. Außerdem ist es wichtig, dass Sie nicht nur auf die direkten Äußerungen der Patientin, sondern auch auf ihr äußeres Erscheinungsbild, ihr Verhalten während der Untersuchungssituation, ihre Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprache achten. Aus all diesen Beobachtungen können Sie wichtige Hinweise auf die zugrundeliegende Erkrankung ziehen.“ „Dann werde ich mich noch einmal kurz zurückziehen“, antwortet Marie und greift zu ihrem Psychiatrieskript. Eine halbe Stunde später macht sie sich auf den Weg zu ihrer ersten Patientin. „Guten Morgen, Frau Sommer. Mein Name ist Marie Wieland. Ich werde Sie jetzt aufnehmen. Vielleicht beginnen wir erst einmal damit, dass Sie mir berichten, warum Sie bei uns sind ...“

Der psychopathologische Befund Zwei Stunden später kehrt Marie zu ihrem Oberarzt zurück. „Hat alles geklappt?“, möchte Dr. Bremer wissen. Marie nickt zufrieden. „Dann stellen Sie mir Ihren ersten psychopathologischen Befund einmal vor.“ Marie schaut kurz auf ihre Mitschrift und fängt an zu berichten. „Frau Sommer ist eine 49-jährige, gepflegte Patientin in körperlich gutem Zustand. Sie ist wach, zu allen Qualitäten orientiert und zeigt sich im Gespräch und während der Untersuchung kooperativ. Die Patientin hat deutliche Schwierigkeiten, dem Gespräch mit gleichbleibender Aufmerksamkeit zu folgen und sich auf einzelne Fragen länger zu konzentrieren. Hinweise auf Störungen der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses ergeben sich in den angewandten Testaufgaben nicht. Insgesamt macht die Patientin einen apathischen Eindruck, ihre Sprache klingt monoton und leise, Bewegungen, Gestik und Mimik sind verlangsamt. Der Antrieb der Patientin wirkt erheblich vermindert. Subjektiv erlebt sie ihre Energie, Initiative und Aktivität als gehemmt, sie vermag ihren Antrieb auch durch Willensanstrengung nicht zu steigern. Innerlich fühlt sie sich unruhig und wie ¸getrieben‘. Die Grundstimmung der Patientin wirkt niedergeschlagen. Sie berichtet über Interessen- und Freudlosigkeit, sozialen Rückzug, ein Gefühl der Wertlosigkeit und ständige Ängste und Befürchtungen, die ihre Zukunft betreffen. Am Morgen empfindet sie ihren Zustand im Vergleich zu anderen Tageszeiten regelmäßig als deutlich schlechter. Das während der Anamnese gezeigte Gefühlsspektrum der Patientin und ihre affektive Schwingungsfähigkeit sind eingeschränkt. Durch das deutlich verlangsamte Denken und die schleppenden Gedankenabläufe ist der Gesprächsverlauf zähflüssig. Subjektiv erlebt die Patientin ihr Denken als gehemmt, ¸wie gegen einen inneren Widerstand‘. Ihre Gedankenwelt ist auf wenige Denkinhalte wie ihre Zukunftsangst und den Verlust ihrer Tochter vor 3 Jahren eingeschränkt. Hiermit einhergehend beschreibt sie eine ausgeprägte Grübelneigung, die sich als monotones, unablässiges und nicht lösungsorientiertes Kreisen um immer dieselben Denkinhalte äußert. Hinweise auf inhaltliche Denkstörungen wie Wahn, Zwang oder Phobien, Wahrnehmungsstörungen und Ich-Störungen ergeben sich nicht. Auf somatischer Ebene berichtet die Patientin über Ein- und Durchschlafstörungen mit morgendlichem Früherwachen, Appetit- und Gewichtsverlust. Suizidgedanken, -pläne oder -handlungen werden verneint.“

Feuerprobe bestanden „Sehr gut!“, lobt Dr. Bremer. „Haben Sie auch eine erste Vermutung, welche Erkrankung bei Frau Sommer vorliegt?“ Marie nickt. „Der psychopathologische Befund spricht dafür, dass Frau Sommer an einer Depression leidet“, antwortet sie. „Das denke ich auch“, pflichtet Dr. Bremer ihr bei. „Sie haben wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Nach der Mittagspause gehen wir gemeinsam zu der Patientin und besprechen mit ihr das weitere Vorgehen, einverstanden?“ „Einverstanden“, antwortet Marie und folgt ihrem Oberarzt erleichtert in die Pause.

1.2 Einführung

Key Point

Psychische Erkrankungen zählen in Europa zu den häufigsten Ursachen für Krankschreibungen oder das Ausscheiden in den vorzeitigen Ruhestand. Etwa 40% der Bevölkerung sind während ihres Lebens zumindest einmalig von einer seelischen Störung betroffen. Es ist deshalb von hoher Relevanz, dass neben den entsprechenden Fachärzten auch nichtpsychiatrisch tätige Ärzte ein solides Grundlagenwissen über die Diagnostik und die Behandlung psychischer Erkrankungen besitzen, um beispielsweise bereits in der allgemeinmedizinischen Primärversorgung wichtige Weichen richtig stellen zu können.

1.2.1 Das Fachgebiet „Psychiatrie“

MERKE

Die Psychiatrie bezeichnet das ärztliche Fach, das sich mit der Prävention, Diagnostik und Therapie psychischer Erkrankungen sowie deren Erforschung und Lehre beschäftigt.

Innerhalb der Psychiatrie haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Spezialgebiete entwickelt, ▶ Tab. 1.1 zeigt hierzu eine Übersicht.

Tab. 1.1

 Übersicht über die wichtigsten psychiatrischen (Spezial-)Gebiete.

Gebiet

Beschreibung/Inhalte

Allgemeinpsychiatrie

psychische Erkrankungen im Erwachsenalter

Notfallpsychiatrie

psychiatrische Notfälle (ggf. vitale Bedrohung, z.B. durch Suizidalität, Delir oder Entzugssyndrome, S. ▶ Link) oder Krisen (Zusammenbruch der individuellen Bewältigungsstrategien → Krisenintervention)

Kinder- und Jugendpsychiatrie

psychische Erkrankungen bis zum 18. Lj. (S. ▶ Link)

Gerontopsychiatrie

psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter (Richtmarke ca. 60 Jahre) unter Berücksichtigung altersbedingter Besonderheiten bereits vorbestehender psychischer Erkrankungen oder solcher, die aus dem Alterungsprozess resultieren (z.B. Alzheimer-Demenz)

Suchtmedizin

psychische Erkrankungen mit stoffgebundenem (z.B. Drogen, Medikamente) oder stoffungebundenem (z.B. Spielsucht) Missbrauchs- oder Abhängigkeitsverhalten (S. ▶ Link)

Forensische Psychiatrie

Behandlung und Begutachtung psychisch kranker und suchtkranker Patienten in Rechtsfragen (u.a. Einschätzung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit, Maßregelvollzug, S. ▶ Link)

Sozialpsychiatrie

besondere Berücksichtigung epidemiologischer und sozialmedizinischer Aspekte psychischer Erkrankungen

Transkulturelle Psychiatrie

besondere Berücksichtigung kultureller Aspekte psychischer Erkrankungen (→ Art, Ätiologie und Häufigkeit) sowie kulturgebundener Syndrome (vgl. ▶ Tab. 1.10, S. ▶ Link)

Psychosomatische Medizin

Erkrankungen, bei denen Wechselwirkungen zwischen psychischen und körperlichen Faktoren wesentlich sind

Psychologie

Beschreibung der normalen seelischen Vorgänge (Untergebiete: allgemeine und experimentelle Psychologie, Entwicklungspsychologie, Persönlichkeitslehre, Psychodiagnostik und -therapie, s.u.)

Psychopathologie

deskriptive und klassifikatorische Beschreibung des abnormen Erlebens, Befindens und Verhaltens von Patienten (S. ▶ Link)

Psychotherapie

Behandlung psychischer Erkrankungen durch Gespräche oder übende Verfahren (v.a. kognitive Verhaltenstherapie und psychodynamische Methoden, S. ▶ Link)

Psychopharmakologie

Beschreibung biochemischer und neurophysiologischer Grundlagen der Beeinflussung seelischer Vorgänge durch Psychopharmaka

Psychopharmakotherapie (Pharmakopsychiatrie)

medikamentöse Behandlung psychischer Erkrankungen (S. ▶ Link)

Biologische Psychiatrie

Sammelbegriff für psychiatrische Forschungsansätze, die auf biologischen Methoden beruhen (u.a. anatomische, pathologische, physiologische, biochemische und genetische Ansätze)

1.2.2 Epidemiologie

Psychische Erkrankungen ( ▶ Abb. 1.1) sind in der Regel das Ergebnis eines biopsychosozialen Zusammenspiels, bei dem die einzelnen Faktoren unterschiedlich stark ins Gewicht fallen: Manchen Störungen liegen eher (neuro-)biologische Ursachen zugrunde (→ genetische, entwicklungsbiologische und neurochemische Faktoren, z.B. Veränderungen des Dopaminsystems bei der Schizophrenie, S. ▶ Link), bei anderen dominieren psychologische Faktoren (z.B. Lernmechanismen bei Angststörungen, S. ▶ Link). Auch soziale Aspekte (z.B. Familie, Partnerschaft, Arbeitssituation) können entscheidend an der Entstehung beteiligt sein.

Abb. 1.1Epidemiologie psychischer und neurologischer Erkrankungen. a 12-Monats-Prävalenz. b Disability Adjusted Life Years (DALY). (nach European Neuropsychopharmacology [2011] 21, Wittchen, H.U. et al., The size and burden of mental disorders and other disorders of the brain in Europe 2010, 655–679, Copyright 2011, mit freundlicher Genehmigung von Elsevier).

In diesem Zusammenhang wird bei einigen Erkrankungen (z.B. Schizophrenie, affektive oder neurotische Störungen) mit dem Vulnerabilitäts-Stress-(Bewältigungs-)Modell (syn.: Diathese-Stress-Modell) ein multifaktorielles System aus prädisponierenden sowie auslösenden bzw. aufrechterhaltenden Faktoren angenommen. Unter Vulnerabilität versteht man dabei die Krankheitsdisposition (spezifische Anfälligkeit, „Verletzlichkeit“), die auf genetischen, somatischen und psychosozialen Faktoren beruht. Damit es zum Erkrankungsausbruch kommt, bedarf es jedoch eines gewissen Stresspegels, dessen Virulenz sich sowohl aus dem tatsächlichen Stressniveau als auch der individuellen Bewältigungskompetenz ergibt ( ▶ Abb. 1.2).

Auch wenn noch nicht alle Einzelheiten des Zusammenspiels von neurobiologischer „Hardware“ und psychosozialer „Software“ exakt verstanden werden, dient dieses Modell als gute Erklärungsgrundlage für die synergistische Wirkung der heute zur Verfügung stehenden pharmako-, psycho- und sozialtherapeutischen Behandlungsmöglichkeiten für psychische Erkrankungen.

Abb. 1.2Vulnerabilitäts-Stress-Modell. a Wesentliche Bestandteile der beiden Elemente. b In Abhängigkeit vom Ausmaß der Vulnerabilität des Individuums (Personen 1 bis 3: keine bis stark ausgeprägte Vulnerabilität) wird bei – in diesem Beispiel – jeweils gleichbleibendem Stresspegel die kritische Grenze zum Ausbruch der psychischen Erkrankung erst bei Person 3 überschritten.

1.3 Klassifikationssysteme

Key Point

Zur Einteilung psychischer Erkrankungen werden anstelle des früher gültigen, ätiologisch begründeten triadischen Systems mittlerweile primär deskriptiv orientierte Klassifikationssysteme (ICD-10 und DSM-IV) verwendet, da diese häufig die Erkrankungssituation der Patienten besser abbilden.

1.3.1 Triadisches System

Traditionell wurden psychische Störungen im sog. triadischen System nach ihrer Ursache in 3 Gruppen eingeteilt ( ▶ Abb. 1.3). Dieses stark vereinfachende System wurde in Bezug auf die Klassifikation psychischer Erkrankungen mittlerweile verlassen, weil man letztendlich nie beweisen konnte, dass z.B. endogene Depressionen biologischer und neurotische Depressionen psychogener Ursache sind.

Abb. 1.3Triadisches System. Klassifikationssystem psychischer Störungen anhand ätiologischer Aspekte.

Dennoch ist die mit dem triadischen System in enger Beziehung stehende Schichtenregel (K. Jaspers, 1973) weiterhin von klinischer Bedeutung. Sie besagt, dass psychische Erkrankungen in verschiedene Ebenen eingeordnet werden können: In der tiefsten Schicht liegen die organischen, in der mittleren die endogenen Psychosen und in der obersten die psychogenen Störungen. Tiefer liegende Erkrankungen können das Erscheinungsbild darüber liegender annehmen. Für eine suffiziente Behandlung ist es innerhalb dieses Modells wichtig, immer die am tiefsten liegende Störung herauszufinden. Beispielsweise ist es wenig sinnvoll, primär eine Persönlichkeitsstörung (→ psychogen) zu behandeln, solange der Patient an einer endogenen Psychose (z.B. Schizophrenie) oder einer organisch bedingten Störung (z.B. Delir) leidet.

1.3.2 Klassifikationen nach ICD-10 und DSM-IV

Heute diagnostiziert man psychische Erkrankungen deskriptiv nach Symptomatik, Schweregrad und Verlauf. Dabei folgt man im Gegensatz zur klaren Trennung im Rahmen des triadischen Systems (s.o.) dem Komorbiditätsprinzip, welches beinhaltet, dass verschiedene psychische Störungen bei einem Patienten auch parallel oder überschneidend vorkommen können. Diese Herangehensweise ist Grundlage der beiden modernen Klassifikationssysteme: der „International Classification of Diseases“ der WHO (derzeit in der 10. Fassung: ICD-10) und des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders” der American Psychiatric Association (derzeit in der 4. Version: DSM-IV).

MERKE

Das vorliegende Buch orientiert sich vorrangig an den Kriterien der ICD-10. Nur bei bedeutsamen Abweichungen (z.B. Einordnung der Zwangsstörung, S. ▶ Link) werden zusätzlich die Besonderheiten des DSM-IV erwähnt.

Zentral ist sowohl bei ICD-10 als auch bei DSM-IV die Beschreibung der Symptome der einzelnen Störungen. Zusätzlich gibt es in beiden Klassifikationssystemen noch weitere Achsen, die eine genauere Beurteilung der Patienten ermöglichen ( ▶ Tab. 1.2).

1.3.2.1 ICD-10

Mit der ICD (in der Langfassung „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“) wurde von der WHO ein weltweit anerkanntes System zur Diagnoseklassifikation und Verschlüsselung von Erkrankungen erarbeitet. Die Systematik der psychischen Störungen wurde darin erstmalig 1968 in der 8. Revision (ICD-8) unter der Bezeichnung „Seelische Störungen“ aufgenommen. Im Rahmen der folgenden beiden Revisionen wurde diese Systematik weiterentwickelt, beispielsweise wurden Neuerungen aus dem in der Zwischenzeit in den USA herausgegebenen DSM (s.u.) übernommen. Die aktuelle 10. Revision wurde 1991 veröffentlicht, seit 2000 ist diese Version auch in Deutschland für die an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte und ärztlich geleiteten Einrichtungen verbindlich. Mit der ICD-11 ist seit dem Frühjahr 2007 eine erneute, grundlegendere Revision der ICD in Arbeit.

Im psychiatrischen Teil der ICD-10 werden die psychischen Erkrankungen in 10 Hauptgruppen unterteilt (→ zweistelliger Code, ▶ Tab. 1.3). Eine Übersicht der weiteren Aufschlüsselung in Untergruppen (→ dreistelliger Code, z.B. F00: Demenz bei Alzheimer-Krankheit) befindet sich auf der Umschlaginnenseite des Buches. Weitere Untergliederungen erfolgen über die Angabe einer 4. (z.B. F00.0: Demenz bei Alzheimer-Krankheit, mit frühem Beginn [Typ 2]), in Ausnahmefällen auch einer 5. Stelle.

Tab. 1.3

 Diagnostische Hauptgruppen der ICD-10 (psychiatrischer Teil).

Gruppe

Beschreibung

F0

Organische, einschließlich somatischer psychischer Störungen

F1

Psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen

F2

Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen

F3

Affektive Störungen

F4

Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen

F5

Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren

F6

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen

F7

Intelligenzminderung

F8

Entwicklungsstörungen

F9

Verhaltens- und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend

1.3.2.2 DSM-IV

Mit dem 1952 erstmals veröffentlichten DSM (übersetzt „Diagnostisches und Statistisches Handbuch psychischer Störungen“) scherte die US-amerikanische Psychiater-Vereinigung aus dem international verbindlichen ICD-System aus. Nachdem die ersten beiden Fassungen noch wenig Einfluss auf psychiatrische Forschung, Lehre und Praxis hatten, wurden im 1980 herausgegebenen DSM-III erstmalig von der WHO geforderte genaue Definitionen der psychischen Störungen berücksichtigt und der in ▶ Tab. 1.2 gezeigte multiaxiale Ansatz integriert. 1994 folgte eine 4. Revision (DSM-IV), die deutsche Ausgabe hierzu wurde 1996 veröffentlicht. Seit 2000 gibt es eine Textrevision (DSM-IV-TR), die v.a. bei wissenschaftlichen Untersuchungen auch international häufig verwendet wird. Eine erneute umfangreiche 5. Revision ist seit 1999 in Arbeit.

Vergleichbar mit den Hauptgruppen der ICD-10 ( ▶ Tab. 1.3) gibt es im DSM 16 diagnostische Kategorien für die Achsen I und II ( ▶ Tab. 1.4).

Tab. 1.4

 Diagnostische Kategorien des DSM-IV.

Kategorie

Beschreibung

1.

Störungen, die in Kindheit und Jugend auftreten

2.

Substanzinduzierte Störungen

3.

Schizophrenie und andere psychotische Störungen

4.

Affektive Störungen

5.

Angststörungen

6.

Somatoforme Störungen

7.

Dissoziative Störungen

8.

Sexuelle Störungen und Störungen der Geschlechtsidentität

9.

Schlafstörungen

10.

Essstörungen

11.

Vorgetäuschte Störungen

12.

Anpassungsstörungen

13.

Störungen der Impulskontrolle

14.

Persönlichkeitsstörungen

15.

Andere klinisch relevante Probleme

16.

Delir, Demenz und andere kognitive Störungen

Praxistipp

Dadurch, dass es sich beim DSM um ein nationales Klassifikationssystem der USA handelt, muss es weniger auf internationaler Ebene notwendige Kompromisse und Ergänzungen berücksichtigen. Es enthält genauere und speziellere diagnostische Kriterien als die ICD, deren Zielsetzung es ist, weltweit einsetzbar zu sein und auch interkulturelle Aspekte abzubilden.

1.4 Diagnostik

Key Point

Entscheidend ist, dass es in der Psychiatrie – mit Ausnahme der organischen psychischen Störungen, die durch biologische Befunde objektiviert werden müssen (S. ▶ Link) – keine Laborparameter oder Befunde aus bildgebenden Verfahren etc. gibt, die zur Diagnosestellung oder -sicherung herangezogen werden können. Die psychiatrische Diagnose wird nach der Erhebung von Anamnese und psychopathologischem Befund gestellt. Um jedoch organische Ursachen ausschließenden zu können (z.B. eine Kortisonbehandlung als möglicher Auslöser vieler psychischer Symptome), sind körperliche und Routinelaboruntersuchung sowie ggf. eine weiterführende Diagnostik unverzichtbar ( ▶ Abb. 1.4).

Abb. 1.4Diagnoseprozess in der Psychiatrie.

1.4.1 Anamnese

Der Erhebung einer ausführlichen Anamnese kommt in der Psychiatrie besondere Bedeutung zu, dabei müssen die in ▶ Tab. 1.5 genannten Aspekte berücksichtigt werden.

Praxistipp

Vor allem zu Beginn ist es wichtig, dem Patienten genug Raum zu gegeben, frei über seine Beschwerden sprechen zu können. Konkrete Fragen bezüglich spezieller psychopathologischer Symptome, die ihm unangenehm sein könnten (z.B. Vorliegen von Halluzinationen), sollten erst gestellt werden, wenn sich ein Vertrauensverhältnis aufgebaut hat.

Tab. 1.5

 Anamneseerhebung bei Verdacht auf eine psychische Erkrankung.

Bestandteile

Inhalte/Beispiele

aktuelle Anamnese

Vorstellungsgründe

aktuelle Symptomatik und deren Verlauf

psychiatrische und somatische Krankheitsvorgeschichte

frühere psychische Erkrankungen und ggf. deren Behandlung

körperliche Vor-/Begleiterkrankungen von Relevanz (z.B. Meningitis in der Kindheit)

Suizidanamnese

Suizidversuche (Methode, Ausgang zur Abschätzung der Schwere, konkrete Suizidphantasien und -vorbereitungen)

Suchtanamnese

Drogen-/Alkoholkonsum (wenn ja: regelmäßig/gelegentlich?)

Rauchen (wenn ja: wie viel?)

Medikamentenanamnese

Substanzen

sporadische/regelmäßige Einnahme

Familienanamnese

psychische Erkrankungen bei Eltern, Geschwistern

Schulabschluss/Beruf der Eltern

Biografie

Auffälligkeiten in der kindlichen Entwicklung

Schulausbildung und -abschluss

beruflicher und sozialer Werdegang (Familie, Partnerschaften, Ehe, Kinder)

Freizeitbeschäftigungen und Lebensgewohnheiten

Fremdanamnese

Befragung von Familienangehörigen, Bekannten oder sonstigen Dritten

oft hilfreiche Zusatzinformationen

psychopathologischer Befund(S. ▶ Link)

Wachheit, Orientierung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Affekt, Antrieb, Wahn, Halluzinationen, Zwänge, Schlaf, Appetit, körperliche Symptome, Suizidalität (Beschreibung ergibt sich z.T. aus dem Gespräch, z.T. durch konkretes Nachfragen)

1.4.2 Standardisierte Beurteilungsverfahren und testpsychologische Zusatzuntersuchungen

Ergänzend zur Erhebung des psychopathologischen Befundes (S. ▶ Link) kann es sinnvoll sein, die Diagnostik durch standardisierte Beurteilungsverfahren und testpsychologische Untersuchungen zu erweitern, um einen Befund zu objektivieren und zu quantifizieren (→ Schweregrad- und Verlaufsbeobachtung).

Die zum Einsatz kommenden Verfahren müssen bestimmte Gütekriterien erfüllen. Neben der genannten Objektivität (→ Unabhängigkeit der Testergebnisse vom Untersucher) sind das:

Reliabilität: Zuverlässigkeit des Tests

Validität: Genauigkeit, mit der das Zielsymptom oder die relevante Leistungsdimension tatsächlich erfasst wird

Normierung: Vorliegen von Referenzwerten (erhoben an repräsentativen Stichproben)

Praktikabilität: Durchführbarkeit mit möglichst geringem zeitlichem, personellem und materiellem Aufwand

1.4.2.1 Eigen- und Fremdbeurteilungsskalen

Mittels Fragebögen, die vom Patienten selbst oder vom Untersucher ausgefüllt werden, können bei Vorliegen einer Verdachtsdiagnose spezifische Aspekte gezielt ermittelt und ihre Ausprägung durch Vergabe eines bestimmten Skalenwertes dokumentiert werden ( ▶ Tab. 1.6).

Tab. 1.6

 Eigen- und Fremdbeurteilungsskalen (Beispiele).

Störungsgruppe

Eigenbeurteilung

Fremdbeurteilung

psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen (F1)

CAGE-Test

Münchner Alkoholismus-Test (MALT)

Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen (F2)

Frankfurter Beschwerdefragebogen (FBF)

Positive and Negative Syndrome Scale (PANSS)

Brief Psychiatric Rating Scale (BPRS)

affektive Störungen (F3)

Beck-Depressions-Inventar (BDI)

Hamilton Depression Scale (HAMD, ▶ Tab. 1.7)

Montgomery-Asberg Depression Scale (MADRS)

Young Mania Rating Scale (YMRS)

neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F4)

Screening für Somatoforme Störungen (SOMS)

Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS)

Posttraumatic Diagnostic Scale (PDS)

Hamilton Anxiety Scale (HAMA)

Yale-Brown-Obsessive-Compulsive Scale (Y-BOCS)

Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen oder Faktoren (F5)

Anorexia-nervosa-Inventar zur Selbstbeurteilung (ANIS)

Pittsburgh Sleep Quality Inventory (PSQI)

Leitfragen zur Anamnese sexueller Störungen (LASS)

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F6)

Persönlichkeitsstil und Störungsinventar (PSSI)

International Personality Disorder Examination (IPDE)

Tab. 1.7

Auszug aus der Hamilton Depression Scale (HAMD): 5 der insgesamt 17 (HAMD-17) bzw. 21 (HAMD-21) Items

1

(© by Beltz Test GmbH, Göttingen – Nachdruck und jegliche Art der Vervielfältigung verboten)

2

Item

Auswahlmöglichkeiten (jeweils nur 1 wählbar)

Ziffer

1. Depressive Stimmung (Gefühl der Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Wertlosigkeit)

keine

0

nur auf Befragen geäußert

1

vom Patienten spontan geäußert

2

aus dem Verhalten zu erkennen (z.B. Gesichtsausdruck, Körperhaltung, Stimme, Neigung zum Weinen)

3

Patient drückt fast ausschließlich diese Gefühlszustände in seiner verbalen und nicht verbalen Kommunikation aus

4

2. Schuldgefühle

keine

0

Selbstvorwürfe, glaubt Mitmenschen enttäuscht zu haben

1

Schuldgefühle oder Grübeln über frühere Fehler und Sünden

2

jetzige Krankheit wird als Strafe gewertet, Versündigungswahn

3

anklagende oder bedrohende akustische oder optische Halluzinationen

4

3. Suizid

keiner

0

Lebensüberdruss

1

Todeswunsch, denkt an den eigenen Tod

2

Suizidgedanken oder entsprechendes Verhalten

3

Suizidversuche (jeder ernste Versuch ≙ 4)

4

4. Einschlafstörungen

keine

0

gelegentliche Einschlafstörung (mehr als ½ Stunde)

1

regelmäßige Einschlafstörung

2

5. Durchschlafstörungen

keine

0

Patient klagt über unruhigen oder gestörten Schlaf

1

nächtliches Aufwachen bzw. Aufstehen (falls nicht nur zur Harn- oder Stuhlentleerung

2

1Weitere 16 Items: 6. Schlafstörungen am Morgen, 7. Arbeit und sonstige Tätigkeiten, 8. Depressive Hemmung, 9. Erregung, 10. Angst – psychisch, 11. Angst – somatisch (körperliche Begleiterscheinungen), 12. Körperliche Symptome – gastrointestinale, 13. Körperliche Symptome – allgemeine, 14. Genitalsymptome, 15. Hypochondrie, 16. Gewichtsverlust, 17. Krankheitseinsicht, 18. Tagesschwankungen, 19. Depersonalisation, Derealisation, 20. Paranoide Symptome, 21. Zwangssymptome

Auswertung: Es wird ein Summenscore der einzelnen Items gebildet. Über 8 Punkten geht man von einer relevanten Depressivität aus.

2 In deutscher Übersetzung aus „Internationale Skalen für Psychiatrie“ (Hrsg. Collegium Internationale Psychiatriae Scalarum, CIPS), Bezugsquelle: Testzentrale Göttingen, Herbert-Quandt-Str. 4, 37081 Göttingen, Tel. (0551) 999-50-999, www.testzentrale.de

Darüber hinaus gibt es Verfahren, mit denen ein weiteres Spektrum von Faktoren unabhängig von einer bestimmten Verdachtsdiagnose abgebildet werden kann. So dient z.B. das „System der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie“ (AMDP-System) der standardisierten Erfassung des psychopathologischen Befundes oder das „Strukturierte Klinische Interview für DSM-IV“ (SKID-I bzw. -II) der systematischen diagnostischen Einordnung von Patienten nach DSM-IV.

Praxistipp

Sowohl Eigen- als auch Fremdbeurteilungsverfahren bergen die Gefahr einer subjektiven Verzerrung aufgrund bestimmter Erwartungshaltungen oder Unter- bzw. Überbewertungen.

1.4.2.2 Leistungstests

Mithilfe von Leistungstests werden gezielt bestimmte kognitive Funktionen der Patienten untersucht, um quantitative Aussagen über deren Leistungsfähigkeit (→ Minderung oder Potenziale?) zu erhalten: v.a. Intelligenz,Konzentration/Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive Funktionen (→ Planung und Regulation komplexer, nicht automatisierter Handlungen) undMotorik. Einige der häufig verwendeten Verfahren sind in ▶ Tab. 1.8 zusammengestellt.

1.4.3 Körperlicher Befund und Labordiagnostik

Die körperliche Untersuchung (inkl. der Erhebung eines neurologischen Status) gehört bei einem Patienten mit V.a. eine psychische Erkrankung selbstverständlich zur Diagnostik.

Weiterhin werden zum Ausschluss somatischer Erkrankungen oder etwaiger Kontraindikationen vor einer geplanten Medikation bestimmte Blutwerte kontrolliert. Zur Routinediagnostik gehören folgende Laborparameter: Differenzialblutbild, Elektrolyte, GOT, GPT, γ-GT, Kreatinin, TSH und Glukose.

Darüber hinaus wird die Erhebung eines Urinstatus empfohlen. Bei Frauen in gebährfähigem Alter sollte vor Beginn einer medikamentösen Therapie ein Schwangerschaftstest durchgeführt werden. Während einer bestehenden Medikation kann die Verlaufskontrollebestimmter Parameter notwendig werden (z.B. Medikamentenspiegel [→ Lithium] oder Erkennen von NW/Komplikationen [→ Antipsychotika]). Weitere laborchemische Untersuchungen erfolgen in Abhängigkeit von den bis dahin erhobenen anamnestischen und körperlichen Befunden. Beispielsweise kann bei entsprechendem Verdacht ein Drogenscreening (weitere Einzelheiten hierzu siehe S. ▶ Link) erforderlich werden. Bei Verdacht auf eine infektiöse, entzündliche, neoplastische oder neurodegenerative Erkrankung ist eine gezielte Liquordiagnostik erforderlich.

1.4.4 Apparative Diagnostik

Apparative Untersuchungen sind zum Nachweis oderAusschluss biologischer Krankheitsursachen oder -folgen unabdingbar. Folgende Verfahren kommen zum Einsatz:

EKG: Nachweis von Reizleitungs- und Herzrhythmusstörungen

EEG: Nachweisvon leichter, mittelschwerer oder schwerer Allgemeinveränderung (z.B. bei metabolischen Erkrankungen oder Läsionen im Bereich des Hirnstamms als Ursache von Komata), Herdbefunden (z.B. fokale Läsionen bei Tumoren oder Infarkten), steilen oder rhythmischen Abläufen (z.B. paroxysmale Potenziale bei partieller oder generalisierter Epilepsie), typischen Veränderungen bei Intoxikationen (z.B. Benzodiazepin-induzierte β-Aktivität), neurodegenerativen Erkrankungen (z.B. hypernormales α-EEG bei frontotemporaler Demenz, S. ▶ Link; periodische steile Abläufe bei Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung, S. ▶ Link)

cCT oder cMRT: struktureller Nachweis von Raumforderungen als Ursache organisch bedingter psychischer Störungen (z.B. Hirnblutung, ischämischer Infarkt, Hirntumor, ▶ Abb. 1.5), von atrophischen Veränderungen (z.B. Alzheimer-Erkrankung mit mediotemporal, perihippokampal betonter Atrophie; kortikale Atrophien bei frontotemporalen Lobärdegenerationen) oder Marklagerveränderungen (z.B. bei subkortikaler vaskulärer Enzephalopathie oder entzündlichen Erkrankungen)

SPECT (Single-Photon-Emissions-CT): szintigrafischer Nachweis radioaktiv markierter Substanzen zur Funktionsbeurteilung von Organen (z.B. [123I]-IBZM-SPECT zur Darstellung von Dopaminrezeptoren)

PET (Positronen-Emissions-Tomogramm): szintigrafischer Nachweis radioaktiv markierter Substanzen (z.B. 18FDG ([18F]-Fluordesoxyglukose)-PET zur Darstellung des Glukose- bzw. Energiestoffwechsels als Spezialuntersuchung bei Demenz, ▶ Abb. 1.6)

fMRT (funktionelles MRT): Nachweis einer erhöhten Blutzufuhr in aktivierten Hirnregionen (z.B. bei Hirntumoren)

Polysomnografie: schlafmedizinische Untersuchung mit simultaner Aufzeichnung von EEG (s.o.), EOG (Elektrookulogramm → Augenbewegungen) und EMG (Elektromyogramm → Muskelaktivität) zur Differenzierung von Schlafstörungen (S. ▶ Link)

Abb. 1.5Schädel-MRT (Befundbei Porphyrie). Im T1-gewichteten axialen Schnitt auf Höhe der Sehnervenkreuzung zeigt sich nach Kontrastmittelgabe eine Blut-Hirn-Schranken-Störung in den hirnoberflächennahen Anteilen des orbitofrontalen und temporalen Kortex linksbetont (siehe Pfeile) (mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Zimmer, München).

Abb. 1.618FDG([18F]-Fluordesoxyglukose)-PET. Oberflächenprojektion der Aufnahme des Radiopharmakons 18FDG im Gehirn im Positronen-Emissions-Tomogramm (PET); wärmere Farbtöne bedeuten höhere Aufnahme (siehe Skalierung). a Normalbefund (gleichförmige Aufnahme des Radiopharmakons im Cerebrum und Cerebellum). b Befund bei Alzheimer-Demenz (relativ verminderte Aufnahme des Radiopharmakons temporoparietal bds. und geringer auch frontal bds.) (mit freundlicher Genehmigung von Herrn Prof. Drzezga, München).

1.5 Psychopathologischer Befund

1.5.1 Begriffsbildung

Psychopathologie bedeutet wörtlich die Lehre von den psychischen Erkrankungen, während Psychiatrie die Bezeichnung für das ärztliche Fach ist, das sich mit der Diagnose und Therapie psychischer Erkrankungen beschäftigt. Im engeren Sinn beschreibt die Psychopathologie die subjektivenSymptome (= Beschwerden) und die objektiven Zeichen, die Syndrome (charakteristische, miteinander verbundene Muster von Symptomen und Zeichen) sowie weitere Begriffe und Konzepte, die für das Erkennen der psychischen Erkrankungen von Bedeutung sind.

Diese Begriffe beeinflussen die Vorstellungen über die Natur der Erkrankungen und sollten wissenschaftlich gut begründet und logisch verbunden sein. Dies ist leider nicht immer der Fall. Die psychopathologischen Begriffe entstammen daher zum Teil der Umgangssprache („verwirrt“), oder haben Eingang in die Umgangssprache gefunden („das ist schizophren“). Manchmal entspricht der umgangssprachliche Gebrauch weitgehend der psychopathologischen Bedeutung („verwirrt, depressiv etc.“), in vielen Fällen hat das fachliche Konzept aber nur sehr wenig mit der laienhaften Verwendung zu tun („Alzheimer, schizophren“).

In den letzten Jahrzehnten wurden durch die Vereinheitlichung der psychopathologischen Terminologie in Glossaren (z.B. das AMDP-System zur Dokumentation psychiatrischer Befunde von der Arbeitsgemeinschaft für Methodik und Dokumentation in der Psychiatrie) und Diagnoserichtlinien (z.B. die Internationale Klassifikation der Erkrankungen, ICD) fachliche Fortschritte erreicht, welche die Kommunikation und die Vergleichbarkeit von Informationen erleichtert haben. Einige grundsätzliche Probleme wurden aber noch nicht gelöst:

Psychische Störungen haben mehr mit unseren alltäglichen Gedanken und Empfindungen zu tun, als dies in anderen Bereichen der Medizin der Fall ist, und dies ist auch nicht zu ändern. Der Versuch einer rein artifiziellen, akademischen Psychopathologie mit ganz abstrakter Terminologie würde also an den Problemen vorbeigehen.

Teilweise beeindruckende lateinische, griechische und andere Wortschöpfungen dürfen nicht dazu verleiten zu glauben, dass es sich um ein gut untersuchtes Phänomen von großer Wichtigkeit handelt, das allein wegen des klangvollen Namens stimmig ist (Onomatomanie, der Namenszwang, ist übrigens Symptom einer Zwangskrankheit).

Viele rein deskriptiv gemeinte Termini für Symptome und Zeichen (verwirrt, depressiv etc.) präjudizieren bereits eine diagnostische Entscheidung (Verwirrtheitszustand, Depression etc.). Es gibt aber eben auch Patienten mit einem Verwirrtheitszustand, die nicht verwirrt wirken, und Erscheinungsbilder der Depression, bei denen sich die Patienten keineswegs als depressiv empfinden und auch nicht so erscheinen. Manche vermeintlich beschreibenden Begriffe werden traditionell nur im Kontext bestimmter Erkrankungen eingesetzt (z.B. „verworren“ bei der Manie); hier sollte man seltsamerweise die Diagnose schon vor der Beschreibung des Problems kennen. Es tröstet nur wenig, dass diese undisziplinierte Denkungsart auch in anderen Bereichen der Medizin weit verbreitet ist.

Bei manchen Begriffen muss man einfach nachfragen, was gemeint ist. So kann „Psychose“ für die große Gruppe schwerer psychischer Erkrankungen stehen oder jargonartig für die Schizophrenie und als Adjektiv „psychotisch“ für wahnhaft und halluzinierend ( ▶ Abb. 1.7).

Abb. 1.7 Die Hierarchie psychischer Erkrankungen von den organisch bedingten Störungen bis zu psychogenen und Persönlichkeitsstörungen. Die Begriffe „Psychosen“, „Psychose“ und „psychotisch“ sind im modernen Sprachgebrauch vieldeutig geworden.

1.5.2 Psychopathologische Symptome

Auf den folgenden Seiten werden die Begriffe für einige psychopathologische Symptome, Zeichen und Syndrome aufgelistet und kurz erklärt. Da im vorangehenden Abschnitt einige logische Kurzschlüsse erwähnt wurden, ist gleich hinter manchen Termini durch einen Pfeil (→) angedeutet, bei welchen Diagnosen die genannten Phänomene typischerweise zu finden sein können. Die Störungen sind geordnet nach den Grundfunktionen Wachheit, Bewusstsein, Gedächtnis, Orientierung, Wahrnehmung, Denken, Gedanken und Ideen, Ich-Störungen, Affekt, Antrieb, Motorik und Verhalten.

1.5.2.1 Wachheit

Wachheit (Vigilanz) ist die Voraussetzung zu allen möglichen Erlebnissen (und damit auch für viele andere psychopathologische Symptome). Die Störungen der Wachheit werden als „quantitative Bewusstseinsstörungen“ bezeichnet. Meist handelt es sich um Zustände verminderter Wachheit („Hypovigilanz“):

Somnolenz: schläfrig, leicht weckbar

Sopor: schläft tief, nur durch starke Reize weckbar

Koma: „bewusstlos“, nicht weckbar. Beim Koma können unterschiedliche Schweregrade (z.B. mit der Glasgow Coma Scale) und Arten unterschieden werden.

Bei einigen komaähnlichen Zuständen sind Bewusstsein und Wahrnehmungsfähigkeit der Patienten zumindest rudimentär erhalten, aber der Patient ist nicht imstande zu reagieren (Stupor, akinetischer Mutismus, Locked-in-Syndrom).

1.5.2.2 Bewusstsein

Bei den „qualitativen Bewusstseinsstörungen“ handelt es sich neuropsychologisch um Veränderungen von Aufmerksamkeit, Konzentration und Arbeitsgedächtnis.

Bewusstseinstrübung: verminderte Klarheit der Umgebungswahrnehmung (→ Verwirrtheitszustand?)

Bewusstseinseinengung, Dämmerzustand: verminderte Ablenkbarkeit bei oft traumhaftem Erleben und scheinbar geordnetem Verhalten (→ unmittelbar nach Alkoholintoxikation, epileptischen Anfällen, Verwirrtheitszuständen?)

Dissoziation, „Bewusstseinsspaltung“: psychogene, meist leichte und selbstlimitierende Bewusstseinsstörung in belastenden Situationen (→ kulturgebundenes Symptom, Drogenintoxikation, Persönlichkeitsstörung?)

Bewusstseinsverschiebung: „Bewusstseinserweiterung“ mit intensiver Wahrnehmung (→ Intoxikation, schizophrene oder affektive Psychose?)

Sonderformen sind:

Absence: kurzer Temporallappenanfall unter 30 sek.

Oneiroid: traumähnlicher Zustand mit Derealisation und Depersonalisation, der nach außen geordnet erscheinen kann (→ Schizophrenie, Depression, Manie?)

Trance: zeitlich begrenzte, meist vorsätzlich induzierte Bewusstseinsveränderung (→ Drogeneinfluss, ritueller Akt?).

1.5.2.3 Gedächtnis

Intakte Gedächtnisleitungen sind notwendige Voraussetzungen für eine überlebenswichtige Anpassung an tägliche Erfordernisse. Sie können an verschiedenen Stellen gestört sein. Intakte Aufmerksamkeit und Konzentration sowie Arbeitsgedächtnis sind notwendige Voraussetzungen der Merkfähigkeit. Diese ist Voraussetzung für die Erinnerungsfähigkeit an kurz zurückliegende Ereignisse.

Abb. 1.8 Ein Schädel-Hirn-Trauma kann zu einem vollständigen Bewusstseinsverlust und zu einer Verwirrtheit (roter Doppelpfeil) führen. Nach dem Wiedererlangen des Bewusstseins besteht eine Gedächtnislücke (amnestische Lücke), die zumindest den Zeitraum der Bewusstlosigkeit umfasst, meist aber länger vor das Unfallereignis zurückreicht (retrograde Amnesie) und noch einen Zeitraum nach dem Unfall (mindestens bis zum Erwachen aus dem Koma) umfasst (anterograde Amnesie). Diese Lücke kann im weiteren Verlauf kleiner werden.

Amnesie: Störung des Neugedächtnisses, bei der kürzlich Erlebtes nicht mehr erinnert werden kann (→ amnestisches Syndrom?). Die retrograde Amnesie ist eine Erinnerungslücke für die Zeit vor einem etwaigen Unfallereignis, die anterograde Amnesie betrifft die Zeit danach (→ Schädel-Hirn-Trauma, zerebraler Anfall?; ▶ Abb. 1.8).

Black-out: akute anterograde Amnesie ohne Bewusstseinsverlust (→ Alkohol-, Benzodiazepinintoxikation?)

Ekmnesie: intensives Erleben der Vergangenheit als handle es sich um die Gegenwart (z.B. Flash-back → Drogenabusus, Verwirrtheitszustand?)

Hypermnesie: gesteigerte Erinnerungsfähigkeit (→ Intoxikation?)

Konfabulationen: Gedächtnislücken werden unkritisch und ohne Täuschungsabsicht mit scheinbaren und wechselnden Erinnerungen aufgefüllt (→ Wernicke-Korsakow-Syndrom?)

Mnestische Blockade: retrograde Amnesie (→ funktionell, dissoziativ?)

Paramnesien: überzeugende Erinnerungstäuschungen, Trugerinnerungen (→ schizophrene Psychose?); dazu gehören auch Déjà-vu- und Déjà-entendu-Erlebnisse mit einem vermeintlichen Wiedererkennen, oder Jamais-vu-Erlebnisse mit einem Fremdheitsgefühl in vertrauter Umgebung (→ Temporallappenanfall?)

Selektive Amnesie: fehlende Erinnerung an „wunde Punkte“ (→ psychogen, von der Simulation bis zum dissoziativen Zustand?)

Die oben aufgeführten Überlegungen beziehen sich auf das explizite (= deklarative) Gedächtnis, also auf jene Inhalte, die man mit Worten leicht mitteilen kann. Das explizite Gedächtnis setzt sich aus dem episodischen (autobiografischen) und dem semantischen (enzyklopädischen) Gedächtnis zusammen ( ▶ Abb. 1.9). Das implizite Gedächtnis für Handlungsabläufe, Gefühle und bedingte Reflexe (Konditionierung) kann ebenfalls beeinträchtigt sein. Seine Funktionsstörungen spielen traditionell in der Psychiatrie eine geringere Rolle als in der Neuropsychologie und Neurologie; Beispiele für Störungen des impliziten Gedächtnisses sind Agnosien und Apraxien.

Abb. 1.9Gedächtnisleistungen und gedächtnisrelevante Strukturen.

1.5.2.4 Orientierung

Wenn das episodische Gedächtnis als zerebrales Logbuch nicht ständig aktualisiert wird, kommt es zu Orientierungsstörungen. Logischerweise betrifft dies zunächst die jüngsten Gedächtnisinhalte (Orientierung zur Zeit), während alte, überlernte Inhalte (Orientierung zur Person) stabil verankert sind und zuletzt verloren gehen (Ribot-Gesetz). Ein Verstoß gegen dieses Gesetz (keine Orientierung zur Person, aber zu Ort und Zeit) legt den Verdacht auf eine nicht organisch bedingte Gedächtnisstörung nahe.

Orientierung zu Zeit ↓↓↓↓, Ort ↓↓↓, Situation ↓↓, Person ↓(→ Verwirrtheitszustand, Demenz?)

MERKE

Störungen der bisher aufgeführten kognitiven Leistungen sind starke Hinweise für das Vorliegen „organisch“ bedingter psychischer Störungen auf der Basis relevanter zerebraler und somatischer Erkrankungen.

Orientierung zu Zeit ↓, Ort ↓↓, Situation ↓↓↓, Person ↓↓↓↓ (→ psychogene Gedächtnisstörung?)

1.5.2.5 Wahrnehmung

Die Außenwahrnehmung findet mit sechs Sinnen statt, und innerhalb dieser Modalitäten kann die Verarbeitung nochmals in Bereiche unterschiedlicher Komplexität und Zuständigkeit aufgeteilt sein (z.B. das „where“- und das „what“-System der visuellen Wahrnehmung). Daraus ergeben sich reichhaltige Störungsmöglichkeiten. Sie reichen von Defiziten, die sich leicht beheben lassen, wie etwa die Kurzsichtigkeit mit Hilfe einer Brille. Andere Symptome sind weit belastender und ungleich schwerer zu beseitigen wie z.B. die Fortifikationsspektren der Migräne, Tinnitus und Phantomschmerzen. Diese Wahrnehmungen haben kein äußeres, aber dennoch ein authentisches neurophysiologisches Korrelat im zuständigen sensorischen Areal. Die Betroffenen haben keinen Zweifel am pathologischen Charakter dieser Symptome. Das ist der Unterschied zu Halluzinationen, die von den Patienten zumeist als authentisch und bedeutungsvoll („richtig und wichtig“) erlebt werden, obwohl sie kein äußeres, kein „reales“ Substrat besitzen ( ▶ Abb. 1.10).

Akustische Halluzinationen: Dialogisierende und kommentierende Stimmen sind typische schizophrene Erstrangsymptome; imperative Stimmen befehlen dem Patienten, was er zu tun hat, und sind als Hinweis auf eine Selbst- und Fremdgefährdung zu werten (→ zumeist Hinweise auf eine „funktionelle Psychose“ wie die Schizophrenie; Ausnahme: Alkoholhalluzinose!).

Alkoholhalluzinose: Psychose bei Alkoholismus mit akustischen (!) Halluzinationen (z.B. kommentierende Stimmen, Beschimpfungen)

MERKE

Die Alkoholhalluzinose ist eine Ausnahme unter den organisch bedingten Störungen, da sie im Gegensatz zu den meisten anderen nicht durch visuelle, sondern durch akustische Halluzinationen charakterisiert ist.

Elementare Halluzinationen (Akoasma, z.B. Knallen, Zischen; Photopsie, z.B. Blitzen, Flimmern): entstehen in den primären Sinnesarealen (→ Schizophrenie, neurologische Erkrankungen?)

Gustatorische und olfaktorische Halluzinationen: (→ Aura vor Temporallappenanfällen?)

Haptische, taktile Halluzinationen: gestörte Oberflächensensibilität (→ Polyneuropathie, Delir, Demenz, Schizophrenie?)

Illusionen (produktive, „psychotische“ Gestaltung einer realen Sinneswahrnehmung): (→ sensorische Deprivation, Präpsychose?)

Kinästhetische Halluzinationen (Bewegungshalluzinationen): (→ Migräne?)

Pseudohalluzinationen: ohne äußeres Substrat, bei der sich der Betroffene allerdings der Fehlwahrnehmung bewusst ist (→ Müdigkeit?)

Tunnelvisus: röhrenförmiges Gesichtsfeld (→ Hysterie, stark trichterförmig eingeengter Visus bei Retinitis pigmentosa?)

Visuelle Halluzinationen: (→ organisch bedingte Psychose?)

Abb. 1.10Gemeinsamkeiten und Unterschiede derWahrnehmungsstörungen.

Halluzinationen (sowie Wahn- und Ich-Störungen) werden bei der Schizophrenie als Produktiv- oder Plussymptome bezeichnet. Spezielle Formen der Halluzination:

Charles-Bonnet-Syndrom (rein visuelle, komplexe „szenische“ Halluzinationen): (→ häufig bei Läsionen im visuellen System und reduzierter kognitiver Leistung)

Makro- und Mikropsie (Alice-im-Wunderland-Phänomen → Migräne?)

Schlafbezogene Halluzinationen: hypnagoge (beim Einschlafen) und hypnopompe (beim Aufwachen) Halluzinationen (→ Narkolepsie?)

Eine Reihe von Phänomenen wird sowohl durch Wahrnehmungs- als auch durch kognitive Defizite begünstigt. Symptome zwischen Halluzination und Wahn:

Dermatozoenwahn, Formication: (→ Polyneuropathie, Demenz, Schizophrenie?)

Eigengeruchshalluzinose, olfaktorische Paranoia: (→ Schizophrenie?)

Zönästhetische,Leibhalluzinationen: bizarre Eingeweidesensationen, typisches schizophrenes Erstrangsymptom (→ Schizophrenie?)

Zoopsie: visuelle Wahrnehmung von Tieren („weiße Mäuse“ → Delir?)

Symptome zwischen sensiblen und kognitiven Defiziten:

An-,Hypästhesie: (→ Polyneuropathie, zentrales sensibles Defizit, Dissoziation, Hysterie?)

Anosognosie (Anton-, Hephaste-Syndrom): mangelnde Krankheitswahrnehmung, z.B. Leugnung der eigenen Blindheit (→ neokortikale Läsion?)

1.5.2.6 Denken (formal)

Der Begriff Kognition umfasst alle intellektuellen Leistungen des Gehirns. Der Intelligenzquotient ist ein testpsychologisch fassbares und stark vereinfachtes Abbild dieser umfassenden Leistungsfähigkeit, mit dessen Hilfe sich etwa unterschiedliche Grade der Minderbegabung einteilen lassen ( ▶ Tab. 1.9).

Tab. 1.9

 Intelligenzquotient und Minderbegabung.

Intelligenzminderung

Intelligenzquotient

Entwicklungsalter (Lj.)

Leicht (Debilität)

50–69

9. – 12.

Mittel (Imbezillität)

35–49

6. – 9.

Schwer (Idiotie)

< 35

< 6.

Wachheit, Aufmerksamkeit, klare Wahrnehmung, Durchhaltevermögen und Motivation tragen zur geistigen Leistungsfähigkeit bei. Im diagnostischen Kontext werden die Begriffe Denken und Denkstörungen enger gefasst als es dem großen Konzept von Kognition und Intelligenz entspricht. Nur ganz bestimmte Symptome werden als Denkstörungen bezeichnet. Die Begriffe für die nachfolgenden „formalen Denkstörungen“ erklären sich weitgehend selbst.

Assoziationsstörungen: fehlender logischer Bezug des Gedankengangs; Basissymptom der Schizophrenie nach Bleuler, vgl. S. ▶ Link (→ Schizophrenie?)

Assoziative Lockerung, Zerfahrenheit, Inkohärenz: vom Faseln bis zum unverständlichen Wortsalat (→ Schizophrenie, Depression, Manie?)

Denkverlangsamung, Denkhemmung: wird von Patienten meist als belastend empfunden (→ Depression?)

Gedankensperrung, -abreißen: plötzlicher Stopp eines bis dahin logischen Gedankengangs (→ Schizophrenie?)

Ideenflucht: die große Menge von Ideen kann nicht mehr ruhig in klare Sätze gefasst werden (→ Manie?)

Rumination: zwanghaftes Grübeln (→ Zwangserkrankung, Depression?)

1.5.2.7 Gedanken (inhaltlich)

Wahn- und Zwangsideen werden als „inhaltliche Denkstörungen“ bezeichnet ( ▶ Abb. 1.11).

Überwertige Idee: rational nicht begründbare, „fixe“ Überzeugung, die das Verhalten beeinflusst, aber nicht vollständig bestimmt

Wahn: mit absoluter Gewissheit vertretene, unkorrigierbare und nicht mehrheitsfähige Überzeugung (→ Schizophrenie, monosymptomatische Wahnkrankheit?)

Zwang: als fremd und unvernünftig erlebter, dennoch nicht unterdrückbarer, häufig quälender Gedanke (→ Zwangskrankheit?)

Abb. 1.11Gemeinsamkeiten und Unterschiede vonWahnideen und Zwangsgedanken.

Typische Zwangsgedanken haben mit Aggressivität (Gedanke, verletzt zu werden oder jemanden zu verletzen), übertriebener Ordentlichkeit (Sammeln, Symmetrie) und Sauberkeit (beschmutzt und infiziert werden) oder Sexualität (obszöne Vorstellungen) zu tun.

Typische Wahnformen sind:

Abstammungswahn(engl.: descent delusion): Überzeugung, man sei adeliger Abstammung (→ Manie, Schizophrenie?)

Ansteckungswahn: wahnhafte Befürchtung, infiziert zu werden (→ Schizophrenie?)

Bedeutungswahn, Wahnwahrnehmung: zufälligen Ereignissen wird eine besondere Bedeutung beigemessen (→ Schizophrenie?)

Beeinflussungs-,Kontrollwahn: Überzeugung, ferngesteuert, kontrolliert zu werden (→ Schizophrenie?)

Beeinträchtigungs-,Verfolgungswahn: Patient sieht sich als Opfer (→ Schizophrenie, Depression?)

Bestehlungswahn (→ altersassoziierte kognitive Störungen, Schizophrenie?)

Beziehungswahn: äußere Vorgänge werden auf sich selbst bezogen (→ Schizophrenie?)

Eifersuchtswahn (→ monosymptomatische Wahnkrankheit, Alkoholismus, Schizophrenie?)

Größenwahn (→ Manie?)

Hypochondrischer Wahn: unkorrigierbare Überzeugung von eigener Erkrankung ohne objektivierbaren ausreichenden Grund (→ Depression, Schizophrenie?)

Paranoia: systematisch durchstrukturiertes Wahngebäude, welches meist Verfolgungsgedanken zum Inhalt hat (→ Paranoia als monosymptomatische Erkrankung, Schizophrenie?)

Schuldwahn (→ Depression?)

Verarmungswahn (→ Depression?)

Wahneinfall: plötzliches Auftauchen einer unkorrigierbaren Wahnidee (→ Schizophrenie?)

Wahnstimmung: Empfinden der hohen Bedeutungsaufladung bei alltäglichen Geschehnissen (→ Vorstufe der Schizophrenie?)

Besondere Varianten des Wahns sind die wahnhaftenMissidentifikationen, z.B. das Capgras-Phänomen (vertraute Personen werden als fremd wahrgenommen), das Fregoli-Phänomen (Fremde wirken vertraut) oder diereduplikative Paramnesie (ein bekannter Ort wird als Fälschung empfunden; Übergang zu wahnhaften Erinnerungsfälschungen). Diese können im Rahmen einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis, einer Demenz, aber auch als eigenständige Phänomene auftreten.

Zu den selteneren, gelegentlich isoliert auftretenden Wahnformen gehören die folgenden Phänomene, die häufig – und zu Unrecht – als Syndrome bezeichnet werden:

Dermatozoenwahn, taktile Halluzinose, Formication, Ekbom-Syndrom: s.o.

Dysmorphophobie: Furcht, hässlich auszusehen, die sich in einem Wahn verfestigen kann

Eifersuchtswahn (Othello-Syndrom): ungerechtfertigte Überzeugung von der Untreue des Partners

Liebeswahn, Erotomanie (De-Clérambault-Syndrom): objektiv unbegründete Überzeugung, von einer bestimmten (meist höhergestellten) Person geliebt zu werden

Nihilistischer Wahn (franz.: délire de négation, Cotard-Syndrom): Überzeugung bereits in Teilen oder ganz tot zu sein

Pseudocyesis: eingebildete Schwangerschaft; bei Männern auch als Couvade-Syndrom bezeichnet

Symbiontischer Wahn: kontagiöser Wahn in Kleinstgruppen (Folie à deux, à trois etc.) oder als kulturgebundenes Phänomen ( ▶ Tab. 1.10)

Transitivismus: Patient hält andere für krank, sich selbst jedoch für gesund.

Tab. 1.10

Kulturgebundene seelische Störungen.

Bezeichnung

Vorkommen z.B.

Symptomatik

Amok, Berserkergang, Cafard, Iich´aa, Mal de pelea

Indonesien, Malaysia, USA

raptusartige, unprovozierte Aggression

Ataque de nervios

Lateinamerika

Hitzegefühl, Reizbarkeit, Aggressivität bei geringem Anlass

Brain fag, Burn-out, Surmenage

USA, Afrika

Konzentrationsprobleme mit überwertigen Ideen (die Zerstörung des Gehirns betreffend)

Cargo Cult

Südpazifik, international

wahnhafte Vorstellung, bald in den Genuss großer Reichtümer zu gelangen

Couvade

sog. Männerkindbett

Dhat, Shen-kui

China, Indien

Angst, „den Samen und damit die Lebensenergie zu verlieren“; mit Erschöpfung, Muskelschmerzen

Falling out

Karibik

vollkommene Bewegungsunfähigkeit bei intakter Wahrnehmung

Grisi siknis

Mittelamerika

Weglaufen junger Frauen, da sie meinen, vom Teufel verfolgt zu werden

Karoshi

Japan

Arbeitssucht, eventuell mit Todesfolge

Koro

Südostasien

akute Furcht, die Genitalien könnten sich in den Körper zurückziehen

Latah, Mali-Mali, Myriachit

Indonesien, Malaysia, Sibirien

extreme Schreckhaftigkeit mit Echolalie, Echopraxie

Maskoon, Wiswas

Arabien

Besessenheit

Otaku

Japan

Flucht in virtuelle Welt der Videospiele etc. bis zur Verwahrlosung

Pa-leng, Frigophobie

Südostasien

Angst vor Wind und Kälte, die Erschöpfung, Impotenz und den Tod versuchen könnten; daher Tragen von übertrieben warmer Kleidung

Piblokto (arktische Hysterie)

Eskimos

nach einem Prodromalzustand von Erschöpfung, Depression und Verwirrtheit anfallsartiges Herunterreißen der Kleider, Weglaufen, Herumwälzen im Schnee, Echolalie, Echopraxie und destruktives Verhalten

Shinkeishitsu

Japan

Perfektionismus, Überempfindlichkeit mit Beschmutzungs- und Infektionsangst, sozialer Rückzug

Susto, Espanto, Chibi, Lanti

Mittelamerika

chronische Furcht, „die Seele zu verlieren“, mit Agitation, Anorexie, Insomnie, Fieber, Diarrhö, Introversion, Depression

Taijin kyofusho

Japan

Angst, sich unbeliebt zu machen, eingebildete eigene Mängel, sozialer Rückzug

Ufufuyane

Südafrika

Rufen, Heulen, Neologismen, Paralyse, Konvulsionen, Stupor; vermutete Ursachen: entweder vergifteter Trank zurückgewiesener Liebhaber oder Besessenheit mit Geistern

Uquamairineq

Inuit-Eskimos

plötzliche Paralyse mit Angst, Agitation und Halluzinationen; vermutete Ursachen: Seelenwanderung, Besessenheit

Windigo

Algonquin-Indianer

kannibalischer Wahn

1.5.2.8 Ich-Störungen

In gesunden Tagen genießen wir das Gefühl einer gewissen Gedankenfreiheit und persönlichen Privatheit. Dieses sichere Gefühl der Diskretion und Integrität kann bei bestimmten Erkrankungen verloren gehen.

Depersonalisation: Auflösung der eigenen Identität und Integrität (→ Schizophrenie, dissoziative Störung?)

Derealisation, Dissoziation: Umgebung erscheint unwirklich und fremd (→ Borderline-Persönlichkeitsstörung, Haftpsychose, Schädel-Hirn-Trauma, Schizophrenie?)

Gedankenabreißen, -sperrung: (→ Schizophrenie?)

Gedankenausbreitung (engl. thought broadcasting): die eigenen Gedanken sind nicht mehr verborgen, sondern werden öffentlich ausgestrahlt (→ Schizophrenie?)

Gedankenecho: eigene Gedanken tauchen Sekunden später wieder auf (→ Schizophrenie?)

Gedankeneingebung: Gedanken stammen von fremden Kräften und müssen gedacht werden (→ Schizophrenie?)

Gedankenentzug: die eigenen Gedanken werden von einer fremden Kraft abgezogen (→ Schizophrenie?)

Gedankenlautwerden: (→ Schizophrenie?)

Gefühl des Gemachten, Fremdbeeinflussungserlebnis: das eigene Handeln wird von anderen gesteuert (→ Schizophrenie?)

Nicht alle diese Symptome sind von formalen Denkstörungen abzugrenzen. Bei manchen neurologischen Erkrankungen können ähnliche Phänomene auftreten (z.B. Neglect, Alien-Limb-Phänomen). Darüber hinaus behaupten manche Neurowissenschaftler, dass Patienten mit einer Schizophrenie bezüglich der erlebten Ich-Störungen Recht haben, da das Gehirn vor sich „hinarbeitet“ und wir dies in gesunden Tagen als unsere persönliche Leistung erleben.

1.5.2.9 Affekt

Verhalten wird nicht allein durch rationale kognitive Funktionen gesteuert, sondern ganz wesentlich durch Gefühle. Die Begriffe Affekt, Emotion und Stimmung werden von verschiedenen Autoren etwas unterschiedlich definiert (solange das so ist, muss man sich diese Nuancen nicht merken).

Alexithymie: mangelnde Fähigkeit, eigene (und fremde) Gefühle wahrzunehmen (→ Depression?)

Angst: (→ unspezifisches Symptom vieler somatischer und psychischer Erkrankungen)

Affektinkontinenz (engl.: emotionalism): Neigung zu ungezügelten Gefühlsdurchbrüchen (→ zerebrovaskuläre Erkrankung, Drogenintoxikation, affektive Erkrankung?)

Affektkongruenz, synthym: emotional zur Situation oder Idee passend

Affektlabilität: starke, unkontrollierte und subjektiv inadäquate Gefühlsschwankungen bei geringem Anlass (→ vaskuläre Hirnerkrankung, Depression?)

Depressivität: (→ unspezifisches Symptom vieler somatischer und psychischer Erkrankungen!)

Dysphorie,Dysthymie: Verstimmtheit (→ das kann bei vielen Erkrankungen passieren; Dysthymie: Sonderform depressiver Erkrankungen, S. ▶ Link)

Euphorie: (→ Drogenintoxikation, Manie?)

Gefühl der Gefühllosigkeit: (→ ausgeprägte Depression?)

Gereiztheit: (→ Symptom vieler somatischer und psychischer Erkrankungen)

Hypochondrie: nachhaltige Beschäftigung mit vermeintlichen eigenen Erkrankungen (→ Depression, Angst?)

Insuffizienzgefühl: (→ Depression?)

Läppischer Affekt: (→ hebephrene Schizophrenie?)

Panik: plötzliche, totale und überwältigende Angst (→ Panik, posttraumatische Stresserkrankung?)

Parathymie: inadäquater Affekt, z.B. Lachen bei Beerdigung (→ Schizophrenie?)

Pavor nocturnus: nächtliche Angstattacke, vgl. S. ▶ Link

Phobie: objekt- oder situationsbezogene Angst, vgl. S. ▶ Link

Störung der Vitalgefühle, vitale Traurigkeit: körperliche und geistige Erschöpfung (→ Depression?)

Trema: Vorstadium der manifesten Schizophrenie; nahezu gleichbedeutend mit → Wahnstimmung

Wahnstimmung: Anspannung mit starker Bedeutungsaufladung des Erlebens (→ Vorstadium der Schizophrenie?)

Der Einteilung und „Vermehrung“ von Phobieformen sind kaum Grenzen gesetzt. Dies sind nur wenige Beispiele:

Agoraphobie: Furcht vor dem Einkaufen (gr.: agorein), aber auch vor großen Menschenansammlungen, weiten Räumen etc.

Aichmophobie: Furcht vor spitzen Gegenständen

Akrophobie: Furcht vor Höhen

Antropophobie, soziale Phobie: Furcht vor Menschen

Klaustrophobie: Furcht vor engen Räumen

Venero-,Syphiliphobie: Furcht vor Geschlechtskrankheiten

Zoophobie: Furcht vor Tieren

1.5.2.10 Antrieb

Wille, Motivation und die verfügbare Energie bestimmen, ob und wie intensiv Entscheidungen und Gefühle gezeigt und in die Tat umgesetzt werden. Die wesentlichen Störungen dieses Antriebs sind:

Abulie, akinetischer Mutismus: vollkommene Initiativlosigkeit (→ Frontalhirnprozess, Schizophrenie, schwere Depression?)

Agitation: starke innere Unruhe mit Bewegungsdrang (→ Verwirrtheitszustand, Entzugssyndrom, Schizophrenie, Depression, Manie?)

Ambitendenz, Ambivalenz: Entscheidungsunfähigkeit (→ Schizophrenie, Depression?)

Amotivationales Syndrom: (→ Alkoholabusus, Cannabiskonsum, Abhängigkeit von anderen Drogen, Negativsymptomatik bei Schizophrenie, Depression?)

Apathie: (→ frontodorsale Läsion, Negativsymptomatik bei Schizophrenie, Depression, Faulheit?)

Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (= ADHS): Beschreibung z.B. vom Kinder- und Jugendpsychiater Hoffmann als Zappelphilipp im „Struwwelpeter“, S. ▶ Link

Disinhibition, Enthemmung: (→ frontoorbitale Läsion, Manie?)

Dysexekutivsyndrom: beeinträchtigte Handlungsfähigkeit

Impulsivität: ungebremstes, unreflektiertes, häufig aggressives Verhalten (→ Manie, Persönlichkeitsstörung, Zwangserkrankung?)

Inhibition, Gehemmtheit: (→ frontodorsale Läsion, Depression?)

Katatonie: motorische Sperrung oder Erregung (→ Schizophrenie?)

Libido, sexuelle Appetenz: bei extremer Steigerung: Satyriasis (m), Nymphomanie (w) (→ frontoorbitale Läsion, Manie?)

Logorrhö: gesteigerter Rededrang (→ Manie?)

Raptus: plötzlicher Erregungssturm (→ Intoxikation, Schizophrenie?)

Stupor: äußere Bewegungslosigkeit bei starker innerer Anspannung (→ katatone Schizophrenie, schwere Depression, Panik?)

1.5.2.11 Motorik

Akinese, Hypokinese: Bewegungsarmut (→ akute Neuroleptika-Nebenwirkung, M. Parkinson?)

Abasie, Astasie: Unfähigkeit zu gehen/stehen bei ansonsten intakter Kraft und Beweglichkeit (→ Frontalhirn-, Kleinhirnläsion, psychogen?)

Akathisie: Bewegungsunruhe, Unfähigkeit still zu sitzen oder zu stehen (→ katatone Schizophrenie, Neuroleptika-Nebenwirkung?)

Aphasie, motorische

Aphonie, Stimmlosigkeit: Heiserkeit bis zum kompletten Stimmversagen (→ M. Parkinson, Depression, dissoziativ?)

Desintegrationszeichen, Primitivreflexe: z.B. Blinzel-, Palmomental-, Schnauzreflex, Nachgreifen (→ Frontalhirnläsion, Intoxikation?)

Dissoziative Bewegungsstörung: psychogene Akinese, psychogene Anfälle, Aphonie, Apraxie, Ataxie, Dysarthrie, Dyskinesie, Paresen etc.

Dysarthrie: motorische Sprechstörung (→ bei Funktionsstörungen von Zerebellum oder Basalganglien?)

Dyskinesien: umfassen alle Formen der Hyperkinese: Athetose, Dystonie, Ballismus, Myoklonus, Tremor und Tic, vgl. S. ▶ Link (→ Basalganglienerkrankung, Medikamenten-Nebenwirkung, Schizophrenie?)

Dysprosodie: Störung der Sprachmelodie und Betonung

Echokinese, -lalie, -praxie etc.: echoartige Wiedergabe von Bewegungen, Handlungen und Wörtern (→ Delir, Schizophrenie?)

Floccilegium (Flockenzupfen): Nesteln z.B. an der Bettdecke (→ Delir?)

Kataplexie: plötzlicher Verlust des Muskeltonus (→ Narkolepsie?)

Katatonie: psychotisch bedingte Hyper- oder Hypokinesen inklusive Automatismus, Befehlsautomatie, Echokinese, Manieriertheit, Negativismus; vgl. S. ▶ Link (→ entzündliche, degenerative u.a. Hirnerkrankungen, Schizophrenie?)

Logorrhö: vermehrte Sprachproduktion (→ Manie?)

Mikrographie: (→ M. Parkinson, Neuroleptika-Nebenwirkung?)

Myoklonus: schnelle unwillkürliche Muskelkontraktion mit Bewegungseffekt (→ sehr viele zerebrale und pharmakologische Ursachen möglich, u.a. Epilepsie, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit?)

Nicken: Stupor mit vertikalen Kopfbewegungen (→ abklingende Heroin- und Methadon-Intoxikation)

Poltern: hohe Sprachgeschwindigkeit mit korrekten Formulierungen, aber schwer verständlicher Sprachmelodie

REM-Schlaf-Verhaltensstörung: während der REM-Phasen (engl. Rapid Eye Movement) werden Träume motorisch ausagiert, fremdgefährlich (→ eigenständiges Krankheitsbild oder Symptom einer neurodegenerativen Erkrankung, z.B. einer Demenz mit Lewy-Körperchen?)

Restless legs: vor allem nach längeren Ruhephasen und beim Einschlafen schwer erträgliche Parästhesien mit starkem Bewegungsdrang in den Beinen, eventuell durch Medikamente verstärkt (→ „Restless-Legs-Syndrom“)

Stereotypie: repetitive und nutzlose sprachliche und motorische Muster (→ katatone Schizophrenie, Minderbegabung, unterschiedliche auch neurodegenerative Hirnerkrankungen?)

Tic: schnelle, unwillkürliche, nicht-rhythmische Bewegungen und Vokalisationen unterschiedlicher Komplexität, die sich nur schwer unterdrücken lassen und bei Anspannung zunehmen (→ Tourette-Syndrom?)

1.5.2.12 Verhalten

1.5.3 Psychopathologische Differenzialdiagnostik

Patienten leiden unter Symptomen (z.B. Desorientiertheit, visuelle Halluzinationen, Angst, Zittern, Schwitzen etc.), und Ärzte erkennen Zeichen (z.B. Merkfähigkeits- und Augenbewegungsstörungen, wechselndes Aktivitätsniveau, Tachykardie, Alkoholgeruch, Palmarerythem etc.), die sich zu charakteristischen Syndromen (z.B. Verwirrtheitszustand) zusammenfügen lassen, aus denen sich in Zusammenschau mit der Anamnese (z.B. frühere Behandlung wegen ähnlicher Probleme) diagnostisch der Verdacht auf bestimmte Erkrankungen (z.B. Alkoholintoxikation/-entzugsdelir bei Alkoholabhängigkeit/Wernicke-Enzephalopathie) mit bestimmten Risikofaktoren (z.B. schwierige soziale Situation), Auslösern (z.B. akuter Verlust des Arbeitsplatzes), Entstehungsmechanismen (Pathogenese; z.B. langjähriger Alkoholmissbrauch mit pharmakologischer Toleranzentwicklung, abnehmende körperliche und geistige Leistungsfähigkeit) und gegebenenfalls bestimmter Ätiologie (Ursache; z.B. akute Alkoholintoxikation/-entzug/Thiaminmangel) ableiten lässt.

„Höhere“ geistige Leistungen – und ihre Störungsmöglichkeiten – sind an die Intaktheit von elementaren Funktionen gebunden. Ein deliranter Patient leidet in erster Linie unter einer Bewusstseinstrübung ( ▶ Tab. 1.11; ↓↓↓). Daraus ergeben sich weitere Probleme bei Leistungen (↓↓), die auf Bewusstseinsklarheit mit intakter Aufmerksamkeit, Konzentration, Merkfähigkeit, Arbeitsgedächtnis etc. angewiesen sind. Es wäre dabei unsinnig, zusätzliche Erkrankungen im Bereich von Denken, Affekt und Motorik zu diagnostizieren, wenn diese Funktionen lediglich sekundär in Mitleidenschaft gezogen werden.

Tab. 1.11

 Jeweils zentrale Störungen ↓↓↓ bzw. ↑↑↑ neuropsychiatrischer und psychischer Erkrankungen sind mit weiteren Symptomen (↓↓/↓) bzw. (↑↑/↑) in anderen Funktionsbereichen assoziiert.

Koma

Delir

Demenz

Schizophrenie

Depression

Manie

Angst

Zwang

Wachheit

↓↓↓

(↓)

Bewusstsein

(↓↓)

↓↓↓

(↓)

Neugedächtnis

(↓↓)

(↓↓)

↓↓↓

Orientierung

(↓↓)

(↓↓)

(↓↓)

Wahrnehmung

(↓↓)

(↓↓)

(↓)

↓↓↓

Denken (formal)

(↓↓)

(↓↓)

(↓)

↓↓↓

(↓)

Gedanken (inhaltlich)

(↓↓)

(↓↓)

(↓)

↓↓↓

(↓)

(↑↑)

„Ich“

(↓↓)

(↓↓)

(↓)

↓↓↓

(↓)

(↓)

(↓)

Affekt

(↓↓)

(↓↓)

(↓)

(↓)

↓↓↓

↑↑↑

↓↓↓

(↓)

Antrieb

(↓↓)

(↓↑)

(↓)

(↓)

(↓)

↑↑↑

(↓↑)

(↓↑)

Motorik

(↓↓)

(↓↑)

(↓)

(↓)

(↓)

(↑↑)

(↓↑)

(↓↑)

Verhalten

(↓↓)

(↓↑)

(↓)

(↓)

(↓)

(↑↑)

(↓↑)

(↓↑)

Bestimmte psychopathologische Leitsymptome lenken den Verdacht bereits auf einzelne psychische Erkrankungen. Die Diagnose einer primär psychischen Erkrankung darf jedoch erst gestellt werden, wenn das komplette Muster der Symptome und Befunde dazu passt und wenn ausgeschlossen ist, dass andere somatische und zerebrale Erkrankungen die Störungen verursachen. Es gibt einige chamäleonartige Erkrankungen, die zu allen möglichen psychischen Störungen führen und damit glaubhaft vermeintlich psychische Erkrankungen vortäuschen können, z.B.:

Akut-progredient: Hashimoto-Thyreoiditis, Herpes-Enzephalitis

Akut-intermittierend: komplex-partielle Anfälle

Subakut-rezidivierend: metabolische Störungen (z.B. akute intermittierende Porphyrie, Diabetes mellitus)

Chronisch-progredient: frontotemporale Demenz

Und grundsätzlichimmer: Alkohol, Drogen, Medikamente.