Kurzmitteilung - Navid Kermani - E-Book

Kurzmitteilung E-Book

Navid Kermani

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Beschreibung

Per SMS erfährt der knapp 40-jährige Eventmanager Dariusch in seinem Rückzugsort Cadaques vom Tod seiner entfernten Bekannten Maike Anfang. Naturgemäß ist er zunächst irritiert, sogar bestürzt über die so plötzliche wie abstrakte Konfrontation mit dem Tod. Aber da er die Frau nur flüchtig kennt, findet er zunächst keinen Grund, aus der Routine des Sommerabends auszubrechen. Sein Leben und das Leben als solches wird weitergehen, als wäre sie nicht gewesen. Doch etwas sperrt sich in ihm dagegen, zur Tagesordnung überzugehen. Wieso stirbt Maike Anfang? Wieso stirbt jemand einfach so? Wenn ihr Tod ohne Grund war, muss es dann nicht auch sein Leben sein?

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Hanser E-Book

Navid Kermani

Kurzmitteilung

Roman

Carl Hanser Verlag

Kurzmitteilung ist Teil des Bandes Album, welcher drei weitere Prosawerke Navid Kermanis versammelt, nämlich Das Buch der von Neil Young Getöteten, Vierzig Leben und Du sollst.

ISBN 978-3-446-24715-4

© Carl Hanser Verlag München 2014

Alle Rechte vorbehalten

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Kurzmitteilung

Im Gedenken an Claudia Fenner

(1964–2005)

1

Von Maike Anfangs Tod erfuhr ich durch eine SMS: Tut mir leid, es dir so zu sagen, kann jetzt aber nicht anders. Meine kollegin maike anfang ist gestorben, die mit uns noch whisky trinken war. Einfach so. Ich weiß gar nichts mehr. Liebe grüße, korinna. Als mich die Nachricht erreichte, saß ich in einem Restaurant am Kieselstrand von Cadaqués, einem Ort im Norden der spanischen Costa Brava, kurz vor der Grenze zu Frankreich. Picasso hatte hier einmal ein Haus, in der Nähe auch Dalí, und etwas von ihrer Aura durchflutet noch immer die steinbepflasterten Gassen, die sich schmal und schmäler, kreuz und quer die zwei gegenüberliegenden Hügel hochziehen. Sorgsam konservieren die Einwohner, die meisten zugezogen, das Bild eines Künstlerdorfes am Mittelmeer: mit weißgetünchten, aber geziemend abgeblätterten Mauern und grünen oder blauen Fensterläden, mit prall bestückten Blumenkästen und malerischen Läden für Kunsthandwerk, Delikatessen und Wein, mit Restaurants, die ihre Küche täglich neu auf Kreidetafeln erfinden, und Ateliers, in denen barhäuptige Maler bei weit geöffneten Fenstern ebenso weit geschwungene Striche auf der Leinwand ziehen. Ich selbst bin der Aura erlegen, daß es mich immer wieder nach Cadaqués zurückzieht, mag es auch kaum mehr sein als ein Disneyland für Individualisten. Dem Display zufolge war es der 10. Juli 2005, 18:32 Uhr. Ein blonder Junge von drei, vier Jahren radelte mit Stützrädern an meinem Tisch vorbei, Hemd, Hose und Schuhe aus naturbelassenem Leinen. Die blonden, welligen Haare fielen ihm bis auf die Schultern. Ein bunt geflochtenes Haarband hielt sie an der Stirn zusammen. Die Eltern müssen Künstler sein, Künstler oder jedenfalls Kreative, dachte ich und stellte mir die Frage, ob mein Kind auch so extravagant durch Cadaqués radeln würde. Während ich mich nach den Eltern umschaute, drückte ich mit dem linken Daumen auf den grünen Knopf des Telefons, so daß sich Korinnas Nummer von selbst wählte. Schon beim ersten Freizeichen wußte ich, daß sie sich nicht melden würde. Die SMS hatte sie mir geschickt, eben weil sie nicht mit mir sprechen wollte oder konnte, sich jedoch verpflichtet fühlte, mir die Nachricht von Maikes Tod zu überbringen, so wie jemand anders die Nachricht ihr überbracht hatte. Warum mir? fragte ich mich. Ich kannte Maike Anfang kaum. Ahnte Korinna etwas von der Nähe, die zu erkunden Maike Anfang und ich keine Gelegenheit mehr hatten? Fühlte sie selbst sich mir so nah, daß sie mich an ihrem Schock teilhaben ließ? Oder war es der Grundstock an Professionalität, den sie sich noch angesichts des Todes bewahrte? Einige Wochen zuvor, genau gesagt, am 17. Juni 2005, hatte ich Maike Anfang bei einer Präsentation kennengelernt. Ich hatte den Auftrag bekommen, die Abschiedsfeier für den Vorstandsvorsitzenden der Deutschland-Vertretung von Ford zu gestalten. Das ist mein Beruf: Ich bin zuständig für außergewöhnliche Veranstaltungen, zuständig dafür, daß sie außergewöhnlich werden – Festivals, Events für die Belegschaft großer Firmen, Benefizgalas, Opernbälle, festliche Tombolas, private Feiern sehr reicher Leute, Preisverleihungen, das kulturelle Rahmenprogramm von Messen, Sportveranstaltungen, Parteitagen. Ich berate Unterhaltungsredaktionen des Fernsehens sowie Künstler, Artisten und Entertainer aller Art, vor allem weltweit bekannte Zauberer. Für Festspiele in der Provinz, große Bühnen und Opernhäuser entwickele ich Programmprofile, die überregionale Aufmerksamkeit garantieren, ohne das lokale Publikum zu vergraulen. Ich bin bekannt für mein Gespür, Menschen für die Kultur zu gewinnen, auch und gerade indem ich ihren Horizont erweitere. Meiner Erfahrung nach wollen die Zuschauer keineswegs nur das Gewohnte, Bewährte sehen – aber man muß sie mitnehmen, anstiften, herausfordern, will man sie zu etwas Neuem führen, etwas Unbequemem oder gar Schmerzhaftem. Man darf sie nicht allein lassen. Ich glaube fest daran, daß der Spagat zwischen Publikumstauglichkeit und Avantgarde möglich ist – man muß ihn nur wagen und wollen. Das Kulturprogramm der Fußballweltmeisterschaft 2006 zu betreuen wäre mein Lebenstraum gewesen, nur hatte sich das Organisationskomitee von vornherein auf André Heller festgelegt. Ansonsten bin ich gut genug im Geschäft, um mehrere Monate im Jahr in Cadaqués zu verbringen. Fast schon außerhalb des Orts habe ich vor drei Jahren eine Wohnung an der Küste gekauft, 120 qm, Terrasse, technisch mit allem ausgerüstet, was ich brauche, Ruhe. Und wenn ich nach Hause muß, bin ich dank des TGV schnell in Köln, elf Stunden ab Portbou, dem Grenzort, in dem Walter Benjamin sich umgebracht hat; zweimal umsteigen, in Montpellier und Paris. In der Regel ist der Zug die bessere Option als zu fliegen, weil ich die Fahrt zum Arbeiten oder Lesen nutzen kann. Wenn Zeit ist, mache ich halt in Lyon, Paris oder Brüssel, um Freunde zu besuchen oder Ausstellungen. Um flexibel zu bleiben, müßte ich sonst immer Businessclass fliegen; das wäre auf Dauer zu teuer. Noch bin ich nicht soweit, daß ich nicht mehr rechne. Es reicht für die erste Klasse des TGV ohne Vorausbuchung. Klar, oft werde ich zu Terminen eingeflogen, dann muß ich mir um die Kosten keine Gedanken machen. Manchmal besuchen mich die Auftraggeber in Cadaqués. Sie fliegen nach Gerona, Perpignan oder Barcelona und leihen sich einen Wagen. So war es auch mit Korinna, die bei Ford die Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit leitet und damit beauftragt worden war, eine Überraschungsfeier für den Vorstandsvorsitzenden Patrick Boger zu organisieren, der in die Vereinigten Staaten zurückkehren würde, ein abendfüllendes Programm an öffentlichem Ort, hochkarätig besetzt, zur bleibenden Erinnerung des Scheidenden, seiner Belegschaft und der Stadt Köln. Meinen Namen und meine Telefonnummer hatte sie von Dieter erhalten, dem Generalintendanten der Kölner Bühnen, einem Freund. Für meine Ratschläge bedankt er sich mit Freikarten für die besten Häuser Europas und, wo es sich ergibt, mit Kontakten und Aufträgen. Korinna hatte sich mit ihm getroffen, weil sie für die Feier die Oper anmieten wollte und außerdem mit dem Gedanken spielte, Sänger zu engagieren. Die Abschiedsfeier sollte so speziell sein wie Patrick Boger selbst, eine ehrliche Demonstration des Dankes, aber auch ein Signal an die Kollegen in den USA, daß in der deutschen Vertretung Kreativität und Zusammenhalt gelebt werden – mit diesen Worten schilderte Korinna mir ihren Auftrag, bevor sie mich in Cadaqués besuchte. Ihre erste Mail ist noch in meinem Laptop gespeichert. Als wir im gleichen Restaurant saßen, in dem ich später von Maike Anfangs Tod erfuhr, beschrieb sie mir Boger als einen umfassend gebildeten Charismatiker, der es verstehe, seine Mitarbeiter genauso zu begeistern, wie er selbst sich für alle möglichen Dinge begeistere, für humanitäre Aktionen ebenso wie für Kunst und Theater, für Fußball, den Karneval und überhaupt für die Stadt Köln, in der er acht Jahre lang erfolgreich und mit enormer Außenwirkung gearbeitet habe. Dabei schien er keineswegs aalglatt zu sein. Im Konzern hatte er alle möglichen Maßnahmen durchgesetzt, die der Gesundheit der Mitarbeiter und der Umwelt dienten. So saßen alle Angestellten der Verwaltung auf orthopädisch empfohlenen Stühlen. Auch für die Verwendung von Altpapier in allen Kopierern oder ökologisch angebauten Lebensmitteln in der Werkskantine hatte er gesorgt. Einige seiner Marotten hätte ich bei jemanden in seiner Position nicht für möglich gehalten. Etwa zog er sich täglich zweimal zurück, um zu meditieren, und er hatte auch alle zwei Wochen einen festen Tag, an dem er nicht ins Büro kam, keinerlei Termine annahm und nicht erreichbar war. Korinna meinte, daß Boger sich immer schon solche Freiheiten genommen habe. Sie hatte ein Dossier über ihn zusammengestellt, das sie mir vor ihrer Abreise nach Köln überreichte. Auf den Photos sah er blendend aus, ein braungebrannter, dunkelblonder Mittfünfziger, dem sein Alter nur an den Augenfältchen abzulesen war. Cadaqués würde ihm gefallen, dachte ich, während ich in dem Dossier blätterte; Cadaqués gefällt allen Amerikanern, die etwas übrig haben für Europa. Ich mochte die Leidenschaft, mit der Korinna von ihrem Beruf und ihrem Vorgesetzten sprach. Ich habe so viel mit abgelebten Existenzen zu tun, daß ich froh bin über jede ehrliche Erregung. Schon beim Nachtisch wechselten wir zum Du. Maike Anfang habe ich zum ersten Mal gesehen, als ich zwei Monate später den möglichen Ablauf des Abends präsentierte. Sie war eine von neun oder zehn Mitarbeitern, die um den Tisch eines kleinen Konferenzzimmers bei Ford in Köln-Niehl saßen, und fiel mir nur dadurch auf, daß sie sich weit mehr Notizen machte als die anderen. Ich hielt sie für die Protokollantin. Nach der Sitzung stellte Korinna sie mir als die Kollegin vor, die auf seiten des Konzerns unmittelbar mit mir zusammenarbeiten werde. Maike Anfang sagte mit Nachdruck, daß meine Ideen und die Art meines Denkens sie beeindruckt hätten, die Philosophie einer Kunst, die mit dem Leben verschränkt sei und sich ausdrücke, ohne ausgesprochen zu werden. So gedrechselt sagte sie das. Sie meinte damit vermutlich, daß ich keine bloße Abfolge möglichst prominenter Gastauftritte vorschlug, sondern jeden einzelnen Punkt des Programms mit Texten, Kompositionen und Menschen, die für Boger wichtig waren, eigens erarbeiten wollte. Vielleicht meinte sie auch meinen Sinn fürs Alberne. Mir schwebte vor, mich allen repräsentativen Zwängen und aufgesetzten Ansprüchen zu entziehen und einfach das zu tun, was dem Vorstandsvorsitzenden Spaß bereiten würde, ein Theater seiner Wünsche, eine Schülerparty für einen scheidenden, allseits beliebten Direktor mit den Mitteln eines Weltkonzerns. Deshalb wollte ich die Feier auch nicht in der Oper oder der Philharmonie ausrichten, sondern mitten auf dem Werksgelände ein Spiegelzelt aufbauen lassen. Nicht nur der Betriebsrat, alle Arbeiter sollten sich eingeladen fühlen. Das Zelt, das ich bereits zum siebenhundertfünfzigsten Geburtstag der Stadt Frankfurt an der Oder eingesetzt habe, bietet vierhundert Menschen genügend Platz, um bis zur Frühschicht zu tanzen. Möglichst locker sollte es sein, möglichst fetzig, nicht Klassik, nicht Schlager, sondern Rock ’n’ Roll, Sie wissen, was ich meine? Und alle hatten geschmunzelt. Unverwechselbarkeit könne man nicht kaufen, hatte ich hinzugefügt. Unverwechselbar sei Patrick Boger selbst. Darauf müßten wir setzen. Thomas Quasthoff einfliegen lassen könne jeder Konzern. Aber Thomas Quasthoff dafür zu gewinnen, mit den Auszubildenden des Werks ein ironisches Loblied auf die Mülltrennung im Konzern einzustudieren – das gebe es nur im Betrieb von Patrick Boger. Daß jeder im Raum Thomas Quasthoff kannte, setzte ich voraus, obwohl es sicher nicht stimmte. Ich halte die Leute gern für gebildeter, als sie sind; es hält sie davon ab, mir zu widersprechen, wenn ich mich anschließend über ihre Vorstellungen hinwegsetze. Und pathetisch hatte ich die Botschaft der Abschiedsfeier verkündet: Hier ist einer unverwechselbar, weil er Mensch geblieben ist. Ich war mir von der ersten Sekunde unseres Gespräches an nicht sicher, ob Maike Anfang mir den Sermon abnahm oder nur aus Höflichkeit begeistert tat. Die Emotion, die sie in ihre wenigen Worte und in ihren Blick legte, wirkten so echt, daß ich für ein paar Sekunden drauf und dran war, selbst an eine Philosophie meiner Präsentation zu glauben. Dann fiel mir ein, daß man Emotionen nirgendwo so perfekt anwenden dürfte wie im Geschäftsbereich Kommunikation und Öffentlichkeit eines internationalen Konzerns. Ich dankte Maike Anfang für den Zuspruch und betonte, mich auf die Zusammenarbeit zu freuen. Auf Korinnas Vorschlag hin tauschten wir außer den Karten auch die Handynummern aus und verabredeten, uns nach meiner Rückkehr aus Cadaqués Mitte August auf einen Kaffee oder einen Wein zu treffen. Mit Korinna hatte ich da schon drei Abende verbracht, abgesehen von ihrem anfänglichen Besuch in Cadaqués. Sie war die Attraktivere von beiden, Anfang dreißig erst, von kleinem, aber makellosem Wuchs, lange braune Haare, das schmale Gesicht so dezent geschminkt, daß man das Puder erst spät entdeckte. Die Nase gefiel mir am besten, stupsig wie bei einem Mädchen. Ihre bevorzugte Garderobe aus Männerhemd, Jeans und edlen Sandalen kündete davon, daß sie alles, bloß keine Geschäftsfrau sein wollte. Ihrer Sehnsucht nach Unkonventionellem und geistig Höherstehendem, von der mir nicht klar war, ob sie einem inneren Antrieb entsprang oder sich dem Vorbild ihres Vorstandsvorsitzenden verdankte, kam ich mit meiner Künstlerexistenz und dem Dandyhaften meines Lebens entgegen. Schon als wir uns das erste Mal in Köln wiedersahen, offenbarte sie mir ihre persönlichen Nöte, die mir um nichts wesentlicher oder unwesentlicher erschienen als die Nöte der meisten Mitmenschen, beißende Einsamkeit, die weder zu beantwortende noch abzuwehrende Frage nach dem Wozu-der-ganze-Scheiß, der Eindruck, das eigentliche Leben sei anderswo. In ihrem Fall kam noch der uneingestandene, in der Emphase, mit der sie das soziale und ökologische Engagement ihres Vorgesetzten erwähnte, jedoch unüberhörbare Schuldkomplex hinzu, Propagandistin zu sein für einen Weltkonzern, der vermutlich alle möglichen und also auch die schmutzigsten Geschäfte betrieb. Ich weiß nicht, ob sie mit mir geschlafen hätte; es war mir zu früh, es auf den Versuch ankommen zu lassen. So dringend war mein Verlangen nicht, daß ich bereit gewesen wäre, die Arbeit durch etwaige Komplikationen zwischenmenschlicher Art zu gefährden. Wahrscheinlich hatte sie sich mir auch deshalb so rasch geöffnet, weil sie wahrnahm, daß ich mich für sie interessierte, ohne gleich eine Affäre beginnen zu wollen. Damit entsprach ich noch mehr ihrem intellektuellen Anspruch, dachte ich spöttisch, nachdem ich sie nach unserem ersten Wiedersehen vor ihrem Auto abgesetzt hatte, einem Ford Ka Cabrio, ein erstaunlich bescheidenes Modell für die Leiterin der Abteilung Kommunikation und Öffentlichkeit, wie ich fand. Maike Anfang war anders. Sie war größer als Korinna, bestimmt ein Meter achtzig, und fast in meinem Alter, Ende dreißig. Bei der Präsentation trug sie, was in den mittleren Etagen eines Großkonzerns vermutlich am wenigsten auffällt, eine beige Hose aus glattem Stoff, darüber ein hellblaues, langärmliges Shirt aus gestrickter Baumwolle. Das Gesicht war eindeutig zu breit, ja beinah rechteckig, mit einem Mund, der im Verhältnis viel zu klein war. Um so verlorener ragte die schmale Nase hervor. Die dunkelbraunen, beinah schwarzen Locken, die weit ins Gesicht fielen, konnten an dem Eindruck nichts ändern, daß dem lieben Gott beim letzten Schliff ihrer Schöpfung die Hand abgerutscht sein mußte. Als ich sie später wiedersah, gefiel mir ihr Körper, der schlank, aber nicht durchtrainiert schien, mit Brüsten, die ich gern in den Händen gehalten hätte. Mir gefielen auch die übergroßen Augen mit ihrer grüngrauen Iris, der warme Blick, die Genauigkeit, mit der sie mich betrachtete und mir zuhörte, die zwei Sekunden Verzögerung, mit denen sie mir antwortete, als würde sie jedes einzelne meiner Worte noch einmal bedenken. Ich merkte rasch, daß sie mir gar keine besondere Beachtung schenkte, sondern alles ernst nahm, was um sie herum geschah. Auf Korinna schaute sie mit den gleichen Augen, und selbst Rolf betrachtete sie wie eine Wissenschaftlerin das Objekt ihrer Forschung oder wie ein Kind die Welt, wenn er den Whisky einschenkte. Das fiel mir am deutlichsten an ihr auf: wie sie blickte. Korinna hatte mich am Abend nach der Präsentation angerufen, um mir vom Lob der Kollegen zu berichten, und wir hatten verabredet, noch einmal Essen zu gehen, bevor ich für den Sommer nach Cadaqués verschwände. Als ich in der darauffolgenden Woche das französische Restaurant in der Südstadt betrat, das ich vorgeschlagen hatte, ein Block entfernt von meiner Wohnung in der Merowingerstraße, sah ich Maike Anfang. Korinna hatte ihr vorgeschlagen mitzukommen; ich sei ein netter Typ, und außerdem könne es bestimmt nicht schaden, wenn sie mich schon einmal kennenlerne, bevor im September die Vorbereitung für die Abschiedsfeier beginne. So jedenfalls überlieferte Korinna mir ihre eigenen Worte. Die Erklärung änderte nichts (und sollte vielleicht nichts ändern) an meiner Konsternation darüber, daß Korinna durch ihre Begleitung die Möglichkeit einer intimeren Beziehung zwischen uns beiden auszuschließen schien. Nicht daß ich daran interessiert gewesen wäre zu dem Zeitpunkt – mir mißfiel nur zu erfahren, daß sie nicht interessiert war. Andererseits hielt ich es in der Tat für günstig, Maike Anfangs Bekanntschaft außerhalb des Büros zu machen. Genau daran hatte Korinna wahrscheinlich gedacht, die Abschiedsfeier, nichts weiter, fiel mir ein, unschlüssig darüber, ob mich das Fehlen eines Hintergedankens befriedigte. Während des Essens war ich es, der die meiste Zeit redete, über meine Vorstellungen für den Abend, über meine Projekte und die Künstler, die ich verehre, über Iran und meine Familie. Hier und dort flocht Korinna in meinen Monolog eine Begebenheit aus ihrem Bekanntenkreis oder dem Konzern ein. Maike Anfang stellte nur gelegentliche Fragen. Obwohl mir die Konstellation zu dritt nicht behagte und mir zudem die Themen ausgingen, lud ich die beiden nach dem Dessert noch zum Whisky in die Kneipe hinterm Chlodwigplatz ein, mit der ich Geschäftspartner gern angenehm schockiere. Es ist schäbig und ehrlich, die reine Exotik für Damen aus dem Geschäftsbereich Kommunikation und Öffentlichkeit der Ford AG, mögen sie sich noch so lässig geben mit ihren Bluejeans und den weiten Hemden. Rolf ist Rock ’n’ Roll, Rolf, der sieben Tage die Woche hinter der Theke steht, nicht etwa der Firlefanz, den ich mir für die Abschiedsfeier von Patrick Boger ausgedacht hatte. Ich hatte einen Rosebank bestellt, wegen seines sanften Abgangs die beste Wahl für den ersten Single Malt im Leben. Maike Anfang schmeckte der Whisky wirklich. Wo Korinna die Kennermiene aufsetzte, mit einem Schluck das halbe Glas austrank und mit einem Klasse! auf den Lippen zum nächsten Thema überging, ließ sie dem Getränk Zeit, sich in ihrem Körper auszubreiten. Wie ich es oft bei Menschen beobachtet habe, die beim ersten echten Whisky wachsam genug sind, den Geschmack noch bis in die Unterarme und Pofalten hinein wirken zu lassen, veränderte sich ihre Stimmung wie auf Knopfdruck. Sie sei seit Jahren nicht mehr in einer Kneipe oder Tanzen gewesen, begann sie zu erzählen – und wie oft sie früher ausgegangen sei. Sie sprach zum ersten Mal von sich. Ich erfuhr, daß sie exakt zur selben Zeit studiert hatte wie ich, Theaterwissenschaft im Hauptfach, mit Dissertation über das mittelalterliche Passionsspiel. Meine Eltern kommen aus Iran, und ich hatte auch einmal einen Aufsatz über das schiitische Passionsspiel gelesen, so daß wir den kurzen Rest des Abends über religiöse Formen des Theaters diskutierten und welche Relevanz sie heute haben. Nach dem dritten Whisky brachte ich die beiden noch zum Taxistand am Chlodwigplatz. Sie fuhren in entgegengesetzte Richtungen. Die beiden Frauen küßten sich zum Abschied auf die Wangen, ebenso Korinna und ich, und dann gab es einen Augenblick, in dem Maike Anfang und ich uns gegenüberstanden und uns fragten, ob wir uns auch auf die Wangen küssen sollten. Unserem Verhältnis angemessen wäre ein Händedruck gewesen, immerhin redeten wir uns noch beim Nachnamen an. Aber nun hatten wir beide Korinna geküßt und uns außerdem beim Whisky schließlich doch mehr als nur geschäftsmäßig unterhalten. Also ergriff ich zwar die Hand, die sie mir mit zwei Sekunden Verzögerung reichte, aber näherte meinen Mund ihrer rechten Wange, wenngleich so langsam, daß ich beobachten konnte, ob auch sie ihren Kopf zu mir herüberbeugte. Sie tat es. Danach schauten wir uns verlegen an, lächelnd. Sie wünschte mir nochmals eine schöne Zeit in Cadaqués und bekräftigte, sich auf die Zusammenarbeit zu freuen. Ich solle mich melden, sobald ich zurück sei. Das war am 23. Juni 2005. Eine Woche später saß ich im Thalys nach Paris, wo ich in den TGV nach Montpellier umstieg. In Portbou nahm ich mir ein Taxi, wie immer. Am 10. Juli erreichte mich Korinnas SMS. Der Junge verschwand aus meinem Blickfeld, ohne daß ich die Eltern ermittelt hatte. Plötzlich hörte ich das Gekrächze von Möwen, obwohl die Promenade voll war mit lachenden, lärmenden Menschen. Ich blickte zum Himmel und fing an zu beten. Ich bin nicht gläubig, aber wenn ich etwas Wichtiges vorhabe oder jemand gestorben ist, spreche ich die Fatiha, die erste Sure des Korans, obwohl ich mich gar nicht mehr genau an den Sinn erinnere. Es hat nichts mit Frömmigkeit zu tun. Die arabischen Verse liegen gut auf meinen Lippen und helfen mir über die Sekunden hinweg, in denen ich nicht weiß, was ich tun oder denken soll. Um zu trauern, kannte ich Maike Anfang zu wenig. Seit ich in Cadaqués war, hatte ich drei oder vier Mal an den Abend mit ihr und Korinna gedacht, vor allem an den Augenblick, in dem wir uns gegenüberstanden, unschlüssig darüber, ob wir uns zum Abschied küssen sollten. An andere Menschen hatte ich viel öfter gedacht. Dennoch scheute ich mich, ohne Umstand zur Ordnung meines Tages überzugehen, zur Pasta mit Meeresfrüchten, die mir gleich serviert würde. Ich wählte noch einmal Korinnas Nummer, wartete diesmal, bis sich ihre Mailbox meldete, und bat sie zurückzurufen, sobald sie dazu in der Lage sei. Danach stand ich auf, hielt Ausschau nach dem Kellner und setzte mich wieder, weil ich ihn nicht auf Anhieb entdeckte. Maike Anfang war aus dem Leben radiert worden, und etwas in mir sperrte sich dagegen, die Leere zu übersehen, die sie hinterlassen hatte, nicht weil ich mit ihr befreundet oder sie mir bis dahin wichtig gewesen wäre, sondern weil ich klar vor Augen hatte, daß es genausogut Korinna oder mich oder Patrick Boger oder einen der Menschen, an die ich viel öfters dachte, hätte treffen können, meine Eltern, meine Schwester Minu, meine Freunde, die Frauen, die anders als Korinna mich tatsächlich interessierten. Korinnas SMS ließ auf kein Verbrechen schließen, nicht einmal auf einen Unfall. Bei Alten und Kranken greifen die Mechanismen, mit denen ich mir den Tod vom Leibe halte. Wenn jemand im Krieg stirbt oder bei einem Erdbeben, bleibt er abstrakt genug, um nicht an mein eigenes Sterben zu erinnern. Aber wieso stirbt jemand wie Maike Anfang, dachte ich – wieso stirbt jemand einfach so?