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In der großen Politik und in unserer unmittelbaren Lebenswelt tun sich plötzlich Gräben auf, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Navid Kermani beschreibt anhand von persönlichen Schlüsselerfahrungen - die Totenwaschung des eigenen Vaters, gemeinsamer Musikgenuss, ein Familienbesuch bei Ajatollah Chomeini oder die Hochzeit der Tochter -, wie sich gesellschaftliche Umbrüche im Konkreten auswirken, wo Feindschaft entsteht und warum wir trotz allem unsere Herzen für andere öffnen können, ohne uns selbst dabei zu verlieren.
Die Einheit des Westens, die uns so lange Sicherheit gegeben hat, zerbricht. Kriege und Völkermorde zwingen zu Positionierungen, die wiederum zu neuen Konflikten führen. Die Demokratie mit ihren Kompromissen und Macht-Balancen wird vielen zu kompliziert, doch einfache Lösungen gehen auf Kosten der Schwachen. In sechs großen, literarisch mitreißenden Reden sowie einem Brief an seine Tochter verbindet Navid Kermani eigene Erlebnisse mit historischen Zeitläufen und dem Umbruch, der derzeit in der Welt geschieht. Kein anderer deutscher Schriftsteller vermag es wie er, das Persönliche ins Politische zu wenden und umgekehrt politische Umwälzungen anhand persönlicher Beobachtungen anschaulich zu machen. Und so klingt auch in seinem neuen Buch der einzigartige, immer existentielle, niemals pathetische Ton an, mit dem uns Kermani spätestens seit seiner berühmten Rede 2014 im Bundestag ein ums andere Mal in den Bann zieht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Navid Kermani
Wenn sich unsere Herzen gleich öffnen
Über Politik und Liebe
C.H.Beck
Cover
Inhalt
Textbeginn
Widmung
Eins sein mit allem, was lebt – Brief an Raha Kermani zu ihrem 18. Geburtstag
Gedacht soll deiner werden – Rede auf dem Solidaritätskonzert «Jede:r ist jemand» am 4. Juni 2024 im Berliner Ensemble
Wenn sich unsere Herzen gleich öffnen – Rede beim Demokratie-Konzert zur Spielzeiteröffnung des Gewandhausorchesters am 6. September 2024 im Leipziger Gewandhaus
Die letzte Wasserrutsche seines Lebens – Trauerrede für den Philosophen und Dramaturgen Carl Hegemann am 18. Mai 2025 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, Berlin
Es kann noch schrecklich viel passieren – Dankrede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises am 27. September 2024 im Lübecker Theater
Der Westen, in dem ich geboren bin – Keynote beim Medienempfang des Hamburger Senats am 14. Mai 2025 im Hamburger Rathaus
Um dich im Spiegel zu sehen – Rede zur Hochzeit von Ayda Kermani und Nicolas Gabriel am 30. September 2022 in Palazzolo Acreide, Syrakus
Zum Buch
Vita
Impressum
Für Carl Hegemann 1949–2025
Brief an Raha Kermani zu ihrem 18. Geburtstag
Köln, 17. April 2025
Liebe Raha,
Du hast mich gebeten, Dir zum achtzehnten Geburtstag einen Brief zu schreiben. Das ist ein ungewöhnlicher Wunsch, scheint mir, ungewöhnlich bescheiden, ungewöhnlich ernsthaft, ungewöhnlich offen. Aber vor allem ist es ungewöhnlich nett. Denn darin liegt, so nehme ich es wahr, eine Wertschätzung meiner Arbeit. Wäre ich Bäcker oder Goldschmied, und Du wünschtest Dir von mir zum achtzehnten Geburtstag ein Brot oder einen Ring, würde ich mich ebenfalls freuen und wäre stolz. Will sagen: Sogar dort, wo es um Deine Freude geht, hast Du versucht, mir ebenfalls eine Freude zu machen. Und ich bin sicher, das war Dir mindestens halb bewußt. Ungewöhnlich ist Dein Wesen, das Dich immer und oft zuerst an andere denken läßt.
Zuerst also fühlte ich mich durch Deinen Wunsch, ich geb’s zu, ein bißchen geschmeichelt. Als ich mich an den Brief setzte, merkte ich allerdings, wie schwer das ist. Denn wie soll ich das, was unendlich ist, die Liebe eines Vaters zu seinem Kind, in Worte fassen, wo anfangen, wo aufhören? Du wirst sagen, ich bin Schriftsteller – was anderes wäre meine Aufgabe, als dem einen Ausdruck zu geben, was unsagbar erscheint. Das stimmt, und Liebesbriefe sind eine eigene Gattung der Literatur. Aber dann fiel mir auf, was der eigentliche Unterschied ist zwischen der Liebe zu einer Frau und der Liebe zum eigenen Kind – zusätzlich zu all den anderen Unterschieden, die auf der Hand liegen. Der geschlechtlichen Liebe liegt stets ein Begehren zugrunde, das macht sie körperlich und seelisch aus. Begehren jedoch kann man nur, was man nicht selbst ist. Nur dort, wo zwei verschieden sind – und damit meine ich nicht notwendig die anatomische Verschiedenheit von Mann und Frau –, entsteht der Wunsch nach Vereinigung, sei es im Sinne der Hingabe, sei es im Sinne des Habenwollens. Das eine, die Hingabe, ist maximal selbstlos. Das andere, das Habenwollen, ist maximal egoistisch. Und das Problem ist, das ganze Problem der Liebe, weshalb sie fast zwangsläufig so ein Kuddelmuddel ist, ein oft genug quälender Widerstreit der Gefühle, der Worte, der Handlungen –, das Problem ist, daß man sich in der Liebe sowohl dem anderen hingeben als auch ihn besitzen will.
Eben dieser Widerspruch macht die Liebe so kompliziert, so reich, so verzwickt, deshalb gibt es so viele Gedichte, Romane, Lieder, Kunstwerke über sie, viel mehr als über die elterliche Liebe. Deshalb ist sie so faszinierend, so aufregend, auch so geheimnisvoll und dunkel, deshalb wirst du noch im hohen Alter jedesmal neu von der Liebe überrascht, ja, überwältigt und schachmatt gesetzt. Zum Beispiel wirst du merken, daß das, was selbstlos erscheint, die Hingabe, dich mehr erfüllt als das Bestimmenwollen. Hingabe allein wäre indes auch nicht gesund, außer in den kurzen Momenten der Verzückung oder der Not, wo man ausschließlich für den anderen lebt. Wenn du dich nur hingibst, verlierst du dich und bist nicht mehr die Person, die der andere liebt. Umgekehrt, wenn du nur besitzen willst, liebst du vor allem dich selbst.
Was also tun? Dichter gelten als lebensfremd, und unter allen Deutschen der Verträumteste ist wohl Friedrich Hölderlin. Und doch hat ausgerechnet er das ganze Paradox der Liebe in Worte gefaßt, als er sagte, daß man auch in die Höhe fallen kann. Du kennst den Satz aus den Literaturstunden mit Carl, nehme ich an, und bestimmt hat er ihn Dir besser erklärt, als ich es je könnte, tiefgründiger und philosophischer. Andererseits bist du niemals freier, als wenn du liest, weil ja niemand in deinen Kopf schauen kann, und ich beziehe den Satz, man kann auch in die Höhe fallen, konkret auf die Liebe, die Liebe, wie sie auch Dich noch oft überraschen, überwältigen und schachmatt setzen wird. Ich glaube, Hölderlin meint damit, daß Selbstbewußtsein und Selbstlosigkeit in einem Ausgleich und Wechselverhältnis stehen sollen, Stolz und Demut, Geben und Empfangen, Wollen und Willenlosigkeit, wenn du gleichzeitig den anderen besitzt und dich verschenkst. Daß du dich findest, gerade indem du dich aufgibst. Aber das ist ungeheuer schwer, habe ich herausgefunden, und mit Mama ist es lange Zeit, jedoch nicht bis zum Ende geglückt. Für mich bleibt es das größte Versagen meines bisherigen Lebens, daß unsere Ehe gescheitert ist und wir Euch zwar Mutter und Vater sind, aber nicht mehr Eltern. Daß wir Euch geboren, aber Euch die Familie genommen haben, einen Teil der Familie jedenfalls, das innerste Stück. Lernen solltest Du also besser nicht von mir, wenn Du diesen riesigen Kontinent Liebe nach und nach selbst entdeckst, seine Gärten und Flüsse, seine Gletscher und Wüsten, seine Abgründe und Paradiese. Ich bin aufgeregt, wohin es Dich darin führt und zu wem, und da Du eher zu den stillen Wassern gehörst, die bekanntlich tief sind, will ich Dir einmal sagen, daß Du mich bei unseren abendlichen Spaziergängen am Rhein natürlich um so neugieriger machst, je weniger Du verrätst.
Mit der Liebe der Eltern zum Kind kommt es mir anders vor, viel einfacher. Sie ist – und ich spreche jetzt vom Typus der Liebe, nicht von jedem einzelnen Fall –, die Liebe der Eltern ist ohne weiteres Zutun da, bereits mit dem ersten Blick, noch vor dem ersten Gedanken, wirklich wie eine Offenbarung, so habe ich es erlebt, als die Krankenschwester Dich im Perinatalzentrum der Universitätsklinik Köln vorsichtig auf meine beiden Unterarme legte, damit ich Dich herze, während Mama versorgt wurde. Das war natürlich eine Extremsituation, Deine viel zu frühe Geburt, und wünschen würde man niemandem die Ängste, den Schock, die vielen Wochen, in denen wir von außen in den gläsernen Kasten blickten, wo Du ohne Decke nackt auf dem Bauch lagst, all die Apparate, Schläuche, Kabel und blinkenden Leuchten, die den Armen auf der Welt nicht zur Verfügung stehen, so daß ihre Frühgeborenen keine Chance haben zu überleben. Aber wie es mit Extremsituationen oft ist – man begreift auch extrem. Und daß sich das Leben nicht von selbst versteht und Du ein Geschenk bist – daß jeder Mensch ein Geschenk ist und jeder einzelne Atemzug, das habe ich heute vor achtzehn Jahren ein für alle Mal gelernt.
Nicht, daß es bei Aydas Geburt anders gewesen wäre. Es war mir, vielleicht auch weil sie bei ihrer Geburt schon größer war, nur nicht so klar, so offensichtlich, daß ein Kind Körper und Geist seiner Eltern ist. Und wenn du daran denkst, daß auf der Erde alle Wesen aus ein und derselben Zelle stammen, die durch die Vereinigung zweier anderer entstanden ist, dann weißt du dich verbunden oder sogar eins mit allem, was lebt. So ging es mir, als ich am 17. April 2007 das winzige, verletzliche Wesen ans Herz drückte, das Du warst und wir alle sind.
Nun liegt die Verwandtschaft mit, sagen wir, einer Mücke ein paar Millionen Generationen zurück. Die fühle ich zugegeben im Alltag nicht so stark und schon gar nicht, wenn sie mich sticht. Daß Du aus der Liebe von Mama und mir entstanden bist, das fühle ich jedesmal, wenn ich Dir ins Gesicht sehe, das eine Mischung von uns beiden und gleichzeitig so eigen ist. Eben deshalb, weil dieses Einssein nicht nur eine philosophische Erkenntnis ist, sondern von der Geburt an jeden Tag als etwas Konkretes, Physisches, Schreiendes, Lachendes, Trauriges, Glückliches erlebt wird, kann die Liebe der Eltern nicht verschwinden, sie kann nicht mehr werden oder weniger, sie ist nicht an Bedingungen geknüpft, man kann auch nicht das eine Kind mehr lieben als sein anderes, ich wüßte jedenfalls nicht wie. Man kann wütend auf sein Kind sein, man kann verletzt sein, enttäuscht, vielleicht kann man sich sogar abwenden – all das ist möglich, glaube ich. Aber man kann nicht aufhören, das eigene Kind zu lieben. Deswegen ist die Elternliebe, obwohl sie doch die größte ist, für die Literatur fast uninteressant. Sie ist zu schlicht, zu konstant, zu gewöhnlich, zu überbordend, zumindest aus Sicht der Eltern. Wie gesagt, ich spreche hier vom Typus der Elternliebe, den Du bei den meisten Deiner Freunde antriffst und hoffentlich bei uns. Tatsächlich gibt es auch Eltern, die nicht lieben oder ihre Liebe nicht zeigen, und sie sind schrecklich für ihr Kind. Fast genauso verhängnisvoll, aber zum Glück ebenfalls selten ist ein Zuviel an Liebe, nämlich dann, wenn sie in übergroße Sorge umschlägt. Dann bedrängen und ersticken Eltern ihr Kind, das nicht nur Geborgenheit, sondern ebenso Eigenständigkeit braucht. Nun, da Du achtzehn geworden bist, wird unsere Aufgabe sein, Dir zu vertrauen, egal welche Wege Du einschlägst. Von meiner eigenen Volljährigkeit weiß ich, daß das eine der schwersten, aber auch wichtigsten Aufgaben für Eltern ist.
Ohnehin ist die Sicht der Kinder eine andere. Kinder lieben ihre Eltern nicht bedingungslos, schon gar nicht fühlen sie sich unbedingt geliebt. Deshalb beschreibt Literatur die Liebe zwischen Eltern und Kindern, wenn überhaupt, dann fast immer aus der Perspektive der Kinder, nicht der Eltern. Denk nur an Kafkas Brief an den Vater oder die schmerzlich schöne Erzählung «Kinderseele» von Hermann Hesse, die Du lasest. Auch die Bibel, in der es um das Verhältnis von Gott und Mensch geht, ist weitgehend aus der Sicht des Menschen geschrieben. Das macht sie so wild, so spannend, so abgründig, es geht dort ganz schön hoch her, es werden Geschichten erzählt, die dramatisch sind. Wenn dagegen Gott spricht, so wie im Koran, klingt es sofort erhaben, fast wie eine Symphonie oder ein Gesang. Das kann sehr verlockend sein, sehr wohlklingend, wie wenn einer aus dem Weltall auf die Erde blickt. Aber Gott schaut eben nicht nur wie ein Astronaut auf uns Menschen, er sieht zugleich in jedes einzelne Herz, und wenn er besorgt ist oder enttäuscht, dann wird seine Stimme gewaltig oder sogar bedrohlich, allerdings mehr so, wie ein Gewitter gewaltig und bedrohlich ist. In der Bibel hingegen wird es meist dann laut, wenn der Mensch vor Angst oder Verzweiflung nach Gott schreit. Es ist kein Zufall, daß das Bild für die Beziehung zwischen Gott und Mensch in fast allen Religionen die Liebe zwischen Eltern und Kind ist. So bedingungslos und allumfassend die Liebe der Eltern ist, so natürlich ist das Bedürfnis der Kinder, von den Eltern geliebt zu werden.