Larissas Vermächtnis - Katrin Biber - E-Book
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Larissas Vermächtnis E-Book

Katrin Biber

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Beschreibung

2013 verschwindet Katrin Bibers Schwester Larissa spurlos auf dem Heimweg von einer Party. Kurz darauf wird klar, dass ihr damaliger Freund sie aus Eifersucht ermordet hat. Es folgt eine lange schmerzvolle Zeit für Katrin und ihre Familie. Auch viele Angehörige und Freunde sind mit der Situation vollkommen überfordert. Irgendwann fragt sich Katrin, was ihre lebenslustige Schwester in ihrer Situation wohl getan hätte. Also zieht sie ihre Sportschuhe an und beginnt, ihrer Trauer mit Bewegung zu begegnen – es wirkt! Katrin Biber erzählt, wie sie es geschafft hat, das erste Jahr nach dem Schicksalsschlag zu überstehen und wieder positiv durchs Leben zu gehen. Geleitet hat sie dabei stets das Lebensmotto ihrer Schwester: »Lebe. Lache. Liebe.«

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Seitenzahl: 376

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

»Aufraffen, klarkommen, loslegen« – Prolog oder: Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Monat 1 – »Wo bist du?«: Die Suche nach meiner Schwester Larissa und die grausame Wahrheit

Eine ganz normale Party

Die verzweifelte Suche

Zwischen Bangen und Hoffen

Schmerz und Streit

Eine Welle der Hilfsbereitschaft

Wenn alles zu viel wird

Das Geständnis

Zu schrecklich, um wahr zu sein

Die Suche nach Larissas Körper

Abschied von Larissa

Monat 2 – »Wie soll ich leben – ohne dich?«:Der Versuch, weiterzumachen

Mein erstes Therapiegespräch

Lachen und weinen

Die Last des Alltags

Alles meine Schuld

Wenn der Körper streikt

Monat 3 – »Du bist wirklich tot, oder?«: Mein erster Geburtstag ohne dich

Die Trauer als ständiger Begleiter

Geburtstag ohne dich

Auf Jobsuche

Monat 4 – »Ich will diesen Schmerz nicht mehr spüren müssen!«: Weihnachten und andere Herausforderungen

Das Fest ohne Larissa

Kein gutes neues Jahr

Wie hältst du’s mit der Religion?

Zeit für eine Auszeit

Endlich wieder arbeiten

Monat 5 – »Reiß dich zusammen, Katrin!«: Familienkrisen

Maras Leiden

Verschnaufpause

Eine Familie in der Krise

Monat 6 – »Ich bin schwanger!«: Ein neues und bewegtes Leben

Freudige Nachrichten

SeelenSport für den trauernden Körper

Monat 7 – »Ich kann es schaffen!«: Der Überlebenskampf geht weiter

Höhen und Tiefen

Du bist, was du isst

Mord!

Monat 8 – »Schrecklich, mit deiner Schwester!«: Medien und ständige Konfrontation

Viel zu viel Aufmerksamkeit

Endgültiger Abschied

Wie viel kostet mein Schmerz?

Ungewollte Verletzungen

Eine wichtige Entscheidung

Monat 9 – »Nichts bringt dich wieder zurück!«: Die Verhandlung und eine Reise nach Italien

Durchatmen in Wien

Eine Reise nach Italien

Epilog – oder »Du bist da, du bist immer da!«

Dank

Literatur

Widmung

Für Larissa

Für Anna und Mara

Eine für alle, alle für eine

»Aufraffen, klarkommen, loslegen« –Prolog oder: Warum ich dieses Buch geschrieben habe

Als ich mit siebzehn am Wiener Westbahnhof in einer kleinen Buchhandlung stand und versuchte, etwas Lesbares für die kommenden sieben Stunden Zugfahrt nach Tirol zu finden, ahnte ich nicht, dass mich ein Buch so faszinieren könnte. Als Teenager hatte ich die Werke des Kinderbuchautors Thomas Brezina regelmäßig verschlungen. Im Jugendalter waren dann andere Dinge interessanter geworden, weshalb sich das Lesen bei mir auf schulische Pflichtlektüre reduziert hatte. Doch an jenem Tag fiel mir das Buch Weg der Träume von Nicholas Sparks in die Hände. Manch einer mag nun die Augen verdrehen. Seine Bücher zählen wohl zu den kitschigsten Lektüren auf der ganzen Welt. Aber diese Geschichte hat die 17-jährige Katrin, die sich nach Emotionen und Liebe sehnte, zutiefst berührt.

Das Buch handelt von einem tödlichen Verkehrsunfall mit anschließender Fahrerflucht. Ein Mann, dessen Frau bei einem Unfall ums Leben gekommen ist, begibt sich auf die Suche nach dem flüchtigen Fahrer. Das Ganze ist verknüpft mit einer berührenden Liebesgeschichte.

Die komplette Zugfahrt hindurch verschlang ich diesen spannenden Roman. Mit ihm wurde meine Lust aufs Lesen wieder entfacht. Mehr noch: Ich verspürte nach und nach den Drang, selbst einen Roman zu schreiben. Nur bei der Frage, worum es gehen sollte, war ich ziemlich hin- und hergerissen – ob eine fiktive Geschichte oder doch etwas Historisches, schließlich studierte ich später selbst Geschichte. Dennoch war ich fest davon überzeugt, dass ich einmal ein Buch verfassen würde.

Ich unterhielt mich viel mit meinen drei jüngeren Schwestern Larissa, Anna und Mara darüber und fragte sie um Rat. Meine Schwester Anna träumte davon, dass ich mit einer romantischen Liebesgeschichte die Herzen der Menschen berührte, doch für mich war klar: Mein Buch sollte nicht nur eine schöne Geschichte sein. Ich wollte die Menschen zum Nachdenken bringen. Ja, für mich sollte die Geschichte etwas Sinnvolleres bewirken, als nur die Zeit zu füllen.

Jedes Mal, wenn ich als frischgebackene Studentin zu dieser Zeit in meiner neuen Heimatstadt Innsbruck unterwegs war, zog es mich in eine ganz bestimmte Buchhandlung. Dort stellte ich mir vor, wie mein Buch unter all den anderen liegen würde und darauf wartet, in die Hand genommen zu werden, um vielleicht das Leben dieses Menschen zum Positiven zu verändern. Ob ich das wirklich schaffen könnte?

»Du wirst das so was von schaffen, Katrin! Nicht mit romantischer Literatur, aber vielleicht mit einem historischen Roman. Das könnte ich mir bei dir gut vorstellen«, bestärkte mich Larissa eines Nachmittags, als wir zusammen in einem Buchladen standen und ich meine Träume mit ihr teilte. »Und dann stehst du dort an der Wand. Und ich kann ganz stolz sagen, dass das meine Schwester ist. Ganz sicher! Das wird toll!« Sie zeigte an die Bestseller-Wand und grinste schelmisch, während sie ihre Brust stolz rausstreckte und sich groß machte.

»Du spinnst doch total. Komm, lass uns gehen!«, lachte ich und zog sie zu mir heran, um den Laden zu verlassen.

»Ich weiß doch, wie sehr du ständig darüber nachdenkst, deinen Roman zu schreiben. Deshalb möchte ich dir das hier schenken. Vielleicht inspiriert es dich.« Mit diesen Worten reichte mir Anna wenig später ein wunderschönes Notizbuch, in dem ich meine Gedanken, meine Pläne und Überlegungen zu meinem Buch aufschreiben konnte.

»Wow, Danke!«, sagte ich überrascht und umarmte sie kurz.

»Du schaffst das! Ich glaube an dich!«, zwinkerte sie mir zu. Lange Zeit blieb es leer.

Es ist tragisch, dass schließlich Larissa der Grund für mein Buch sein sollte. Sie wurde 2013 von ihrem Freund ermordet.

2014 habe ich auf einem kleinen Balkon auf der wunderschönen Insel Sri Lanka mein Thema gefunden. Nach einem langen, schmerzvollen Jahr war ich hierhergereist, um Zeit für mich und meine Gedanken zu haben.

Ein Jahr zuvor war meine Schwester gestorben.

Meine Schwester Larissa mit dem ständig lachenden Gesicht und der positivsten und lebensbejahendsten Einstellung, die mir in dieser Form bei keinem anderen Menschen jemals mehr begegnet ist. Doch ausgerechnet sie musste jung sterben.

Mit dabei auf Sri Lanka war meine Großcousine Miriam, gemeinsam wohnten wir bei einer herzlichen singhalesischen Familie. Die tiefsinnigen Gespräche in diesen Tagen mit Miriam haben mich an den Traum, ein Buch schreiben zu wollen, erinnert.

Ich hatte das Notizbuch dabei, das Anna mir geschenkt und in dem ich seit dem Tod Larissas meine Gedanken und Gefühle niedergeschrieben hatte. Es waren so viele Dinge, die mir in dieser Zeit durch den Kopf gegangen waren. Und in jenem November auf Sri Lanka beschloss ich, aus diesen Gedanken ein Buch zu machen. Das erste Kapitel von Larissas Vermächtnis ist dort entstanden.

Warum?

Stephen King erklärt in seinem Buch Das Leben und das Schreiben: »Eigentlich geht es nur darum, das Leben derer, die Ihre Bücher lesen, und Ihr eigenes Leben zu bereichern. Es geht darum, sich aufzuraffen, klarzukommen und loszulegen. Es geht darum, glücklich zu werden, okay?«

Ich möchte das Schicksal meiner Schwester und meinen Umgang damit in die Welt hinaustragen. Weil sie mein großes Vorbild war, wenn es darum ging, das Leben in seiner Vollkommenheit zu genießen. Sie liebte jede Sekunde des Lebens, und ich hoffe, dich als Leserin oder Leser mit Larissas Lebensfreude anstecken zu können. Denn es ist diese Freude, die auch mich wieder ins Leben zurückgeholt hat.

Lies dieses Buch wenn möglich nicht einfach nur durch. Ich würde mich freuen, wenn du es durchfühlst, dich deinen eigenen Gefühlen hingibst und durch dieses Buch hindurchwanderst. Gefühle sind das Großartigste, was wir Menschen besitzen, auch wenn sich manche von ihnen, wenn wir sie zum ersten Mal spüren, gar nicht so angenehm anfühlen. Sie alle haben ihren Grund, ihren Nutzen, und erst wenn wir sie durchleben, können wir wachsen, uns selbst in einer Tiefe begegnen, die uns lebendig werden lässt. Und glücklich.

Auch Trauer ist wie ein großer Topf an Gefühlen. Sie kommen plötzlich mit einer Intensität, die dir zuvor nicht bekannt war. Manchmal sind es zwanzig Gefühle gleichzeitig. Sie reichen von Traurigkeit, Wut, Angst, Sehnsucht über Liebe, Schuld, Zorn und Bitterkeit bis hin zur totalen Verzweiflung und Leere. Dann scheint es plötzlich nur das eine Gefühl zu geben, wenn nur die Wut allein dich beherrscht und du alles zerstören willst oder die Sehnsucht alles überschattet, so sehr, dass du dir dein Herz herausreißen willst, um sie zu stoppen. An anderen Tagen wieder spürst du nichts als Leere und Gefühllosigkeit. Du bist taub. Meine Geschichte soll trauernden Menschen helfen, sich nicht allein mit diesem Topf zu fühlen, sie darin bestärken, dass der Schmerz da sein darf, und ihnen zeigen, dass die liebevolle Erinnerung für immer bleibt. Niemand hat Einfluss darauf, wann der Tod zuschlägt, aber wir haben in der Hand, welche Erkenntnisse wir für uns daraus ziehen, was wir mitnehmen und welche Entscheidungen wir treffen. Ich möchte nicht sagen, dass meine Art zu trauern die einzig richtige ist, doch für manche bietet sie vielleicht einen ersten Ansatz, mit der eigenen Trauer umzugehen.

Diese Trauerreise aufzuschreiben war auch für mich Selbstreflexion und Therapie. Es hat mir geholfen, meine eigene Trauer und meine Gedanken besser zu begreifen. Und nicht nur mir. Auch meiner Familie hat es gutgetan, sich aus einer neuen Perspektive selbst zu betrachten und die eigenen Schritte zu verstehen, auf die jede und jeder von ihnen so unendlich stolz sein darf.

Dabei war das Schreiben in vielen Momenten nicht leicht für mich. Immer wieder dieselben schrecklichen Geschehnisse durchzulesen, zu korrigieren, neu zu schreiben hat viel in mir bewegt. Doch diese Auseinandersetzung war es auch, die mir geholfen hat, zu begreifen, was geschehen ist. Am Ende konnte ich so die schmerzvollen Erlebnisse, die mit dieser Tat in Verbindung stehen, loslassen und die schönen Momente mit meiner Schwester in Erinnerung behalten. Und das wünsche ich mir auch für dich.

Dieses Buch ist für mich auch mein Weg, um Danke zu sagen. Danke für die Anteilnahme der vielen Menschen, die der Tod meiner Schwester so schwer getroffen hat. Gleichzeitig soll das Buch über Trauer und diesbezügliche Verhaltensmuster in unserer Gesellschaft aufklären sowie zum Nachdenken und zum Verändern anregen. Außerdem möchte ich zeigen, wie unser Staat und unsere Gesellschaft mit dem Thema Mord umgehen. Hier gibt es aus meiner Sicht noch großes Verbesserungspotenzial.

Neun Monate: Das ist die Zeitspanne, die das Buch umfasst – beginnend mit dem Todestag meiner Schwester, endend mit der gerichtlichen Verhandlung gegen ihren Mörder. Ein Zeitraum, bei dem es ums Überleben ging und darum, sich wieder lebendig zu fühlen. Monate, in denen Gefühle aufkamen, für die der Begriff »Trauer« nicht ausreicht. Zeit, die oftmals stillzustehen und gleichzeitig rasend schnell zu vergehen schien. Tage, an denen ich glaubte, kein Morgen zu erleben, und an denen ich mich sogar von meiner Familie im Stich gelassen fühlte. Denn am Ende musst du allein den Schmerz tragen und aushalten.

Doch gibt es Hoffnung auf ein neues Leben.

Voller Liebe und Lachen, trotz dieser unerbittlichen Sehnsucht.

Monat 1 – »Wo bist du?«:Die Suche nach meiner Schwester Larissa und die grausame Wahrheit

Die verzweifelte Suche

Am nächsten Tag, Samstag, den 14. September, wachten Domi und ich gegen zehn Uhr auf. Mir brummte der Schädel. Ich griff nach meinem Handy und entdeckte eine Facebook-Nachricht von Dominik:

»Hey, Katrin, weißt du, wo die Larissa is? Sie ist gestern raus bei mir und hat alles bei mir gelassen und ist nicht zurückgekommen. Meld dich mal bei mir.«[1]

Schlagartig war ich wach, setzte mich auf und las die Nachricht bestimmt noch fünf Mal. Wortfetzen schwirrten durch meinen Kopf: Die Wohnung verlassen … mitten in der Nacht … alleine … mich nicht angerufen … nicht mehr zurückgekommen. Ich öffnete meine WhatsApp-Nachrichten, nichts von Larissa. Im Chatverlauf selbst sah ich, dass sie das letzte Mal um 4:39 Uhr online gewesen war. Ich rief sie an – keine Antwort. Hier stimmte etwas nicht. Mein Magen zog sich zusammen, und Panik breitete sich in mir aus. Domi wachte ebenfalls auf und versuchte mich ein wenig zu beruhigen. Sofort rief ich meine Schwester Mara an. Sie hob ab:

»Hey, hast du was von Larissa gehört?«

»Naa, wieso denn? Sie ist doch in Innsbruck?«

Ausführlich berichtete ich vom Vorabend und Dominiks Nachricht. Meine Stimme zitterte.

»Wie jetzt, sie ist einfach so gegangen? Ohne was zu sagen? Aber wohin denn? Sie kennt sich doch nicht einmal aus?«, hörte ich Mara panischer werden.

»Gib mir mal Mama bitte, oder stell das Handy auf laut!«

Auch ihr schilderte ich die Situation und erklärte mehrere Male hintereinander, was Dominik geschrieben hatte.

»Ja, Katrin, das kann doch aber echt nicht sein, oder? Wo soll sie denn bloß sein? Vielleicht weiß Anna mehr, und sie hat sich bei ihr gemeldet? Ich verstehe grad gar nichts.«

»Okay, ich ruf Anna an und sag euch dann noch mal Bescheid.«

Meine Hände zitterten, als ich Annas Nummer wählte. Auch sie hob sofort ab:

»Hey, Anna, sag mal, hast du etwas von Larissa gehört oder gelesen, heute Morgen oder gestern Nacht noch?«

»Nein, warum fragst du?«

Scheiße, verdammt!

Ich erklärte ihr die Situation.

»Sie ist gegangen und nicht wiedergekommen? Aber warum? Haben sie gestritten? Wohin soll sie denn gegangen sein? Was sagt Dominik genau? Warum sollte sie denn einfach so gehen?«, versuchte auch Anna ihre Gedanken zu ordnen und wurde mit jedem Wort hektischer.

Die Angst erfüllte inzwischen meinen ganzen Körper. Was zum Teufel war hier gerade los? Ich beendete das Gespräch mit Anna, um Mara und Mama Bescheid zu geben, dass auch Anna nichts von Larissa gehört hatte. Inzwischen hatte Mama mit Papa telefoniert und ihm alles erklärt. Wir alle wussten, dass das nicht zu Larissa passte, einfach abzuhauen und sich bei keinem von uns zu melden. Dafür war unsere Beziehung viel zu eng.

Nur ein Mensch konnte mir nun näher Auskunft geben: Dominik selbst. Ich nahm ein paar Schlucke Wasser und atmete einmal tief durch, bevor ich nervös seine Nummer wählte. Mit ruhiger, aber besorgter Stimme erklärte er mir, was geschehen war.

»Nachdem wir heimgekommen sind, haben wir noch mit meinem Mitbewohner und seiner Freundin rumgealbert. Dann sind wir ins Bett gegangen. Dort hatten wir auch noch Sex. Danach bin ich duschen gegangen. In der Zwischenzeit hat sich Larissa wohl angezogen, denn kurz darauf hat sie ins Bad geschaut und gesagt, dass sie kurz rausgeht und gleich wieder da ist. Ich dachte, sie will was vom Auto holen, aber sie kam irgendwie nicht mehr. Eine Weile hab ich gewartet, aber mich dann mit dem Gedanken beruhigt, dass sie bestimmt zu dir gegangen ist. Ich bin dann irgendwann eingeschlafen. Ich war echt ziemlich müde. Aber nachdem ich heute Morgen noch immer nichts von ihr gehört habe, dachte ich, ich meld mich mal bei dir.«

Ich war wie erstarrt, als ich versuchte, seinen Worten zu folgen. Kaum einen klaren Gedanken konnte ich fassen, und die wildesten Vorstellungen schossen mir durch den Kopf. Ich hakte nach, und er erklärte mir immer wieder dieselbe Abfolge. Wo sollte sie bloß sein? Was war passiert? Das alles ergab einfach keinen Sinn.

Wir verblieben so, dass ich mich bei ihm melde, sobald ich von ihr hören sollte, und umgekehrt.

Mittlerweile war Mittagszeit. Noch immer kein Lebenszeichen von Larissa! Wieder starrte ich auf den WhatsApp-Verlauf. Keine Nachricht, die ich ihr schickte, kam an. Ein Haken war zu sehen, der zweite fehlte, egal wie oft ich es versuchte. Permanent kreisten zwei Fragen in meinem Kopf: Wo bist du, Larissa? Und warum meldest du dich nicht? Für mich war klar, dass Larissa niemals freiwillig abgetaucht wäre und uns solche Sorgen bereitet hätte. Allerdings konnte ich den Grund – ob Entführung, ein Unfall oder Sonstiges – gedanklich nicht einordnen oder fassen.

Ich musste mit irgendjemandem reden und rief noch einmal meine Mama an. Auch in ihrer Stimme konnte ich die große Sorge und Angst um Larissa spüren.

»Und was hat er dir gesagt? Irgendetwas Neues?«, wollte sie wissen.

Ich gab ihr Dominiks Erzählung wieder.

»Aber das passt doch so gar nicht zu Larissa. Ich kann das einfach nicht verstehen.«

»Mama, was mach ich denn jetzt nur? Ich will wissen, wo sie ist, verdammt.«

»Du solltest zur Polizei gehen, Katrin. Du musst eine Vermisstenanzeige aufgeben. Vielleicht können sie dir weiterhelfen.«

Vermisstenanzeige. Polizei. Die Worte dröhnten in meinem Kopf, dass er schmerzte. Ich begann zu weinen.

Nachdem ich das Gespräch mit Mama beendet hatte, machte ich mich auf den Weg zur Polizeistation. Ich wurde freundlich empfangen und erklärte einem Beamten die Umstände. Er hörte aufmerksam zu und notierte sich ein paar Worte.

»Seit dem Verschwinden Ihrer Schwester ist leider zu wenig Zeit verstrichen, um eine aktive Suche zu starten. Die Polizei kann erst nach 48 Stunden mit der Suche beginnen.«

Ihm waren die Hände gebunden. Mein Verstand wusste zwar, dass die Polizei richtig reagierte und noch nichts unternehmen durfte. Mein Herz allerdings schrie voller Angst um meine Larissa, dass sie doch bitte etwas tun sollten. Aber aus meinem Mund kamen kaum Worte. Der freundliche Polizist nahm meine Daten auf und verabschiedete mich: »Ich werde die Meldung auf jeden Fall trotzdem an meine Kollegen weiterleiten. Kommen Sie doch bitte um 18 Uhr noch einmal vorbei. Vielleicht habe ich bis dahin Neuigkeiten von meinen Kollegen. Mehr kann ich im Moment noch nicht anbieten, so leid es mir tut.«

Drei lange Stunden des Wartens. Domi war inzwischen zu sich nach Hause gefahren, um sich für die Arbeit fertig zu machen. Er musste am Abend bei einem Konzert die Abendkasse betreuen. Auf dem Rückweg von der Polizei schrieb ich Larissas Dominik eine Nachricht, um ihm Bescheid zu geben, dass ich bei der Polizei gewesen war. Seine Antwort kam sofort: »Ich mach mir wirklich Sorgen. Treffen wir uns morgen vielleicht, dann bring ich dir die Tasche? Die hat Larissa nämlich in der Wohnung gelassen. Fuck, hey. Ich weiß nicht, wie ich helfen kann.«

Ich setzte mich auf eine Bank in die Maria-Theresien-Straße, keine fünf Minuten von meiner WG entfernt. Doch dort wollte ich gerade nicht hin. Die Erinnerungen an die letzte Nacht würden mich in meinen vier Wänden erdrücken.

Es war ein lauer Herbsttag, sodass es sich draußen gut aushalten ließ. Die Straße war voll einkaufswütiger Menschen. Doch ich war so sehr mit mir selbst beschäftigt, dass ich die Menge um mich herum kaum wahrnahm. Im Kopf malte ich mir alle möglichen Szenarien aus. Um dieses Gedankenkarussell zu stoppen, nahm ich mein Handy und schrieb einigen meiner Freunde. Außerdem postete ich einen kurzen Satz auf meinem Facebook-Profil: »Hat irgendwer letzte Nacht nach zwei Uhr meine Schwester in Innsbruck beim Ausgehen gesehen? Oder heute irgendwo? Danke für jeden Hinweis!«

Irgendjemand muss ihr doch begegnet sein!, dachte ich.

Die Leute waren schockiert und versuchten, mich mit Nachrichten zu trösten. »Bestimmt taucht sie wieder auf.« »Vielleicht ist sie bei jemand anderem oder hat noch wen getroffen, von dem sie dir nie erzählt hat.«

Bullshit, dachte ich. Was wissen die schon. Die kennen sie doch nicht wirklich.

Mir war bewusst, dass nur ihre eigene Hilflosigkeit aus ihnen sprach, aber ich kannte meine Schwester, und die Reaktionen taten mir weh. Ich wollte keinen Trost, ich wollte sie nur finden.

Stefan, der mit auf der Party gewesen war, meldete sich ebenfalls bei mir. Er erzählte, dass er am Abend ein Video gemacht hatte und es mir gleich schicken würde. Im ersten Moment konnte ich mich an kein Video erinnern. Ich öffnete es. Die Kamera schwenkte abwechselnd zu Larissa und mir, aber auch Stefan selbst filmte sich und sang lauthals ins Objektiv. Wir tanzten zu einem Lied von Macklemore & Ryan Lewis. Das Video zeigte nur uns drei, was bei fast zwanzig Gästen äußerst seltsam war. Diese wenigen Minuten waren so voller Lebensfreude und Liebe zwischen uns beiden. Ununterbrochen schaute ich es mir an, mit jedem weiteren Mal verspürte ich einen verzweifelten Drang, meine Schwester einfach wieder im Arm halten zu können.

»Wo, verdammt noch mal, bist du nur, Larissa?«, weinte ich auf meiner Bank zwischen all den Menschen. Der Text des Lieds durchfuhr meinen ganzen Körper: »And we danced, and we cried, and we laughed and had a really, really good time.«

Endlich.

18 Uhr, und ich konnte erneut zur Polizei gehen. Auf dem Weg spürte ich die kurze Nacht und die Anspannung in meinem Körper. Ich hoffte so sehr, nun endlich Hilfe zu bekommen.

Wieder nahmen sie mich auf der Station freundlich auf und brachten mich in ein helles Büro, wo bereits ein Polizeiinspektor auf mich wartete. Ich erzählte ihm, was mir Dominik über die Geschehnisse der letzten Nacht gesagt hatte. Der Polizist hörte aufmerksam zu und fragte, ob Larissa schon öfter einfach abgehauen sei. Ich schluckte.

»Eine Situation fällt mir schon ein, ja. Aber das war nur für eine Stunde am letzten Geburtstag meiner anderen Schwester Anna. Wir feierten gemeinsam und tranken viel. Es war ein heißer Sommertag, und wir saßen draußen auf Bierbänken. Larissa war aufgedreht und alberte wieder mal rum«, erinnerte ich mich zurück und lächelte kurz, bevor ich dann ernster fortfuhr. »Dann hat sie sich einfach so aus dem Staub gemacht. Keiner wusste, wohin sie gelaufen ist. Wir dachten uns nichts dabei, feierten weiter, und schlussendlich kam sie nach knapp einer Stunde auch wieder daher. Sie wusste selbst nicht, warum sie das gemacht hatte, lachte nur laut und blödelte weiter herum mit uns.«

Der Polizeibeamte sah mich prüfend an und hämmerte zwischendurch in die Computertasten, um alles zu notieren.

Scheiße, warum hast du davon bloß erzählt? Jetzt glaubt er dir nix mehr, ärgerte ich mich.

»Jeder macht doch mal so einen Blödsinn, oder? Sie ist wirklich verlässlich und läuft nicht einfach so weg. Ich kenne sie doch. Wir haben ein total enges Verhältnis, und niemals würde sie sich so lange nicht bei mir melden«, fügte ich hastig hinzu.

Sein Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes.

»Hören Sie. Ich verstehe Ihre Angst, aber ich kann Sie beruhigen. Von 20 Vermisstenfällen lösen sich 19 nach nur wenigen Tagen wieder auf. Vielleicht ist sie diesmal durchgebrannt und bei Freunden untergekommen. Das passiert häufig. Ihre Schwester ist bereits 21 Jahre alt. Das bedeutet, sie ist für sich selbst verantwortlich und erwachsen. Daher können wir erst nach 48 Stunden mit einer offiziellen Suche beginnen. Es tut mir sehr leid. Ich bin sicher, das geht gut aus.«

O Mann. Das kann doch nicht wahr sein, verdammt noch mal!, wollte ich rausschreien, verkniff es mir aber.

»Okay. Ich bin mir aber trotzdem sicher, dass etwas passiert sein muss. Sie macht das wirklich nie sonst.«

»Wie gesagt, mir sind noch die Hände gebunden, um eine aktive Suche zu veranlassen. Warten wir ab, und Sie kommen einfach morgen Mittag noch mal, einverstanden? Vielleicht hat sie sich bis dahin ja schon gemeldet.«

»Okay. Vielen lieben Dank für Ihre Hilfe«, verabschiedete ich mich und schaffte es kaum mehr, höflich zu bleiben.

Als ich draußen war, überkam mich Verzweiflung. Ich fühlte mich vollkommen im Stich gelassen. Emotional und körperlich erschöpft schleppte ich mich in meine Wohnung zurück.

Daheim benachrichtigte ich Dominik kurz per SMS, was inzwischen geschehen war.

»Ich kann und will nicht mehr. Ich denke die ganze Zeit an Larissa und was mit ihr passiert sein muss«, antwortete er.

Meine jüngste Schwester Mara rief mich am Abend an und erklärte, sie komme noch an diesem Tag mit zwei Freunden nach Innsbruck, weil sie das Nichtstun nicht mehr aushalte. Ursprünglich war geplant gewesen, dass Larissa und ich gemeinsam für ein Konzert, an dem auch Anna gesanglich mitwirkte, zurück nach Reutte fahren sollten. So aber konnte ich nicht fort aus Innsbruck. Anna sang an jenem Abend bei dem Konzert, und meine Eltern waren als Zuschauer dort. Wir versuchten irgendwie einen klaren Kopf und Ruhe zu bewahren.

Um etwa 23 Uhr wollte Mara in Innsbruck sein. Bis dahin versuchte ich mich abzulenken, indem ich mit einer Freundin in ein kleines Stadtlokal ging. Trotzdem kreisten meine Gedanken nur um Larissa, und meine Sorgen um sie wurden von Minute zu Minute größer.

Als Mara mit den beiden Freunden in Innsbruck angekommen war, gabelten sie mich in der Nähe der Bar auf, und wir fuhren in Richtung Rum, die Ortschaft, wo Dominik wohnte. Wir erhofften uns, Hinweise bei Larissas Auto zu finden, das sie auf dem Parkplatz vor seiner Wohnung zurückgelassen hatte. Außerdem wollten wir mit Dominik sprechen und Larissas Tasche abholen.

Als wir vor dem Auto auf dem Parkplatz standen, spekulierten wir darüber, was Larissa passiert sein konnte. Egal in welche Richtung wir dachten, wir kamen einfach nicht weiter. Kurz zuvor hatte ich Dominik geschrieben, dass er bitte meinen Post auf Facebook teilen solle. Das hatte er gemacht und mir geantwortet, ich könne mich jederzeit melden, falls ich noch etwas wissen wolle. Er könne ohnehin nicht schlafen. Deshalb rief ich ihn an, als wir nun vor seiner Wohnung standen.

»Dürfen wir hochkommen?«

Der Türöffner summte, und wir gingen in die Wohnanlage. Sie erinnerte an einen großen Motelbau, wie man ihn aus amerikanischen Filmen kennt. Der gesamte Innenbereich war offen, und die Wohnungen reihten sich aneinander. Statt eines Flurs gab es einen langen, balkonartigen Gang mit einem Geländer davor. Eine Art Glasbedachung schützte bei Schlechtwetter. In der Mitte waren Aufzüge und Treppen. Dominiks Wohnung lag nicht im Erdgeschoss, vielleicht im ersten oder zweiten Stock, ganz genau weiß ich es nicht mehr. Er empfing uns an der Wohnungstür.

Wir traten nacheinander ein, und meine Blicke scannten weiter die Umgebung. Sofort fiel mir Larissas Reisetasche ins Auge. Auch Mara musterte den Raum auf der Suche nach irgendeinem Hinweis. Ich kniete mich neben die Tasche und stöberte kurz darin herum. Es schien nichts entnommen worden zu sein.

Wir unterhielten uns ruhig miteinander, und Dominik erzählte uns noch einmal den Ablauf des Abends. Mara bohrte nach jedem Satz nach und hinterfragte alles. Egal, wie oft wir die Ereignisse durchgingen, es ergab keinen Sinn. Wir kamen einfach nicht weiter.

»Wo ist denn die Bettwäsche?«, fragte Mara, als sie in Dominiks Schlafzimmer schaute. Die einzelnen Bettdecken und Kissen lagen ohne Laken und Überzug da.

»Ach, heute ist Samstag. Da hab ich immer Waschtag«, entgegnete er schnell.

Waschtag. Das ist das Letzte, woran ich jetzt denken könnte, ratterte es durch meinen Kopf.

Wir fragten weiter, Dominik antwortete, und dennoch blieben wir ratlos zurück.

»Vielleicht ist sie betrunken irgendwo gestürzt. Ich kenne mich hier in der Gegend nur schlecht aus. Welche Möglichkeiten hatte sie denn, um zu Fuß in meine Richtung zu kommen? Ist nicht auch der Inn gleich in der Nähe?«, erkundigte ich mich bei ihm.

Was, wenn sie dort hineingefallen ist?, stieg plötzlich eine neue Angst in mir auf.

Doch für Dominik schien das keine Möglichkeit zu sein: »Ja, der Inn ist gleich da drüben«, zeigte er mit seinem rechten Arm, »aber da wird sie sicher nicht hin sein. Eher die andere Richtung. Da vorne gibt es nämlich eine Bushaltestelle. Vielleicht wollte sie von da aus zu dir fahren?« Mit dem anderen Arm wies er energisch in die entgegengesetzte Richtung.

Aber für Larissa war diese Gegend genauso fremd. Deshalb ging ich eher davon aus, dass sie überallhin gelaufen sein konnte. Vor allem, weil sie wahrscheinlich betrunken war.

Darüber zu reden brachte uns auf jeden Fall nicht weiter.

»Wir müssen endlich was tun. Wir sollten die Gegend absuchen«, schlug ich Mara und ihren Freunden vor.

Dominik blieb in der Wohnung. Wir bedankten uns bei ihm und kehrten mit Larissas Tasche auf den Parkplatz zurück. Diese hievten wir in das Auto von Maras Freunden. Es war bereits ein Uhr und stockdunkel, doch wir mussten unbedingt etwas tun. Wir konnten nicht untätig bleiben. Schritt für Schritt näherten wir uns zu Fuß dem Inn. Die zwei jungen Männer arbeiteten sich direkt am Ufer entlang, das dicht mit Büschen und Sträuchern bewachsen und noch dazu sehr steil war. Mara und ich liefen über die Brücke und hielten von dort aus Ausschau.

Wir lehnten uns gegen das Geländer und blickten in die tiefschwarze Nacht. Ich konnte nicht mal zehn Meter weit sehen. Mit gebrochener Stimme begann Mara zu sprechen:

»Katrin, warum passiert so was immer nur uns? Können wir nicht endlich mal Ruhe haben? Als hätten der Krebs von Mama und die Scheidung nicht schon gereicht. Ich mag nicht mehr. Wir sollten hier und jetzt einfach hinunterspringen, dann wäre das alles endlich vorbei.«

Obwohl ich in diesem Moment genau das Gleiche dachte und am liebsten sofort gesprungen wäre, sagte ich stattdessen: »Ich weiß es nicht, Mara, ich hab keine Ahnung, warum wir ständig auf die Probe gestellt werden, und ich mag auch nicht mehr. Aber ich weiß, dass wir weitermachen müssen. Erinnere dich, was Larissa mal gesagt hat: Gemeinsam können wir es schaffen. Und dann müssen wir kämpfen, wenn wir sie finden wollen.«

Lebendig, hoffte ich insgeheim.

[1]Im Sinne der besseren Lesbarkeit wurden die Nachrichten von Dominik sprachlich leicht verändert.

Zwischen Bangen und Hoffen

Die letzten Jahre waren nicht leicht gewesen für unsere Familie. Während wir an der Brücke standen und das Plätschern des Flusses hörten, musste ich an diese schwere Zeit zurückdenken.

Im März 2011 rief mich meine Mutter eines Nachmittags an. Sie erzählte mir von einem Besuch beim Augenarzt. Der hatte ein Aderhautmelanom bei ihr entdeckt. Erst nachdem wir unser Gespräch beendet hatten, begriff ich die Tragweite ihrer Aussage. Meine Mutter hatte Krebs! Dadurch konnte ich sie verlieren!

Einen Monat später folgte eine Augenoperation in Innsbruck, bevor es für sie für drei Wochen nach Berlin ging, um dort den Tumor zu bestrahlen. Dazwischen fand die Scheidung meiner Eltern statt. Diese war schon vorher geplant gewesen, und auch der Krebs hatte nichts daran geändert. Für mich war die Scheidung eine Erleichterung gewesen, Mara allerdings war damals erst 14 Jahre alt und litt sehr darunter.

Diese Zeit schweißte meine Schwestern und mich noch enger zusammen. Wir gingen gemeinsam durch Höhen und Tiefen, stützten meine Mutter oft und motivierten sie, weiterzukämpfen. Es war grausam und schmerzvoll, die eigene Mutter so leiden zu sehen. Vor allem die Reise nach Berlin – Anna und ich begleiteten Mama – war eine große Herausforderung für mich als Tochter, aber auch als Schwester. Wir fühlten uns oft hilflos und kraftlos, und Streit und Verzweiflung waren vorprogrammiert – vor allem, weil Anna und ich in unseren Persönlichkeiten und unseren Lebenswelten so grundverschieden sind, dass es schon früher hin und wieder zu Reibereien zwischen uns gekommen war. Gleichzeitig machte ich mir – so widersprüchlich das klingt – schreckliche Sorgen um meine Schwester. Anna litt besonders unter Mamas Diagnose. Sie verbrachte fast jeden Tag mit ihr, und sie sah sie nicht nur als ihre Mutter, sondern auch als ihre Freundin und Ansprechpartnerin. Als Älteste spürte ich nun den Druck, keine Schwäche zu zeigen. In den Tagen in Berlin fehlte mir Larissa schrecklich, mit der es mir so viel leichterfiel, stark zu sein.

Noch vor Berlin hatte es einen Abend gegeben, an dem wir Geschwister ausgegangen waren. Anna saß an der Bar und schluchzte laut, sie wolle nicht weiterleben, wenn Mama sterben würde, und sie könne die Situation nicht mehr ertragen. Larissa und ich versuchten ihr gut zuzureden und sie aufzubauen. Dabei betonte Larissa immer wieder, dass wir nicht aufgeben dürften: »Hörst du, Anna, gemeinsam können wir das schaffen! Wenn du dir was antust, dann tust du doch auch uns was damit an, und das geht doch bitte nicht. Das ist doch dann unfair, gemein und egoistisch. Egal was passiert, wir haben doch noch uns!«

Ich konnte Larissas Angst um Anna trotz ihrer kraftvollen Rede spüren.

Als Anna und ich unsere Koffer für Berlin gepackt hatten, standen wir im Schlafzimmer meiner Mutter und sprachen das Thema noch mal an. Wieder schärfte uns Larissa ein: »Wir geben nicht auf! Wir kämpfen weiter, komme, was wolle. Eine für alle, alle für eine. So wie die Musketiere. Nur sind wir die Muskeschwestern! Schießt uns das Leben ins Bein, schießen wir eben zurück!«

Wie sie es nur immer schafft, mitten in einer schmerzvollen Situation derart viel Kraft aufzubringen, wunderte ich mich leise und stimmte laut zu.

Anna und Mara ebenso, und wir sangen unseren neuen Leitspruch: »Eine für alle, alle für eine!«

Nach außen hin hatte ich immer den Eindruck gehabt, Larissa käme mit der Diagnose meiner Mutter gut klar. Sie wirkte derart stark. Doch während einer schriftlichen Lateinprüfung, in der sie einen medizinischen Text aus der Zeit des Römischen Reiches übersetzen musste, begann sie, die doch eigentlich eine sehr gute Schülerin war, leise zu weinen. Weil sie die Übersetzung des Textes an die schlimme Krankheit meiner Mama erinnert hatte, war die Traurigkeit über sie hereingebrochen.

Komischerweise musste ich, als wir auf der Brücke über dem Inn standen, an dieses Ereignis denken. Und es zeigt mir noch heute, dass sogar die stärksten Menschen schwache Momente haben, in denen sie traurig sind. Aus Larissas Beispiel habe ich gelernt, dass weinen vollkommen okay ist, solange du danach wieder aufstehst und weiterkämpfst.

Ende der Leseprobe