Lass dich nicht im Stich - Pierre Stutz - E-Book

Lass dich nicht im Stich E-Book

Pierre Stutz

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Beschreibung

Pierre Stutz führt vor Augen, dass Ärger, Zorn und Wut zum Menschsein gehören, und entschlüsselt, welche spirituelle Botschaft sie bereithalten. Oft verbieten sich gerade spirituell begabte Menschen die »bösen Gefühle«, aber Wut und Zorn gehören ebenso zur »Grundausstattung« des Menschen wie die Liebe. Und ebenso wie der »Eros« lässt sich auch die »Aggression« nicht einfach verdrängen, sondern prägt Denken und Fühlen, Seele und Körpererfahrung. Gefragt ist ein konstruktiver Umgang mit Aggression, der damit beginnt, Selbstvertrauen und den Mut zu entwickeln, sich nicht im Stich zu lassen, sondern sich zu wehren. In sieben Schritten nimmt der Autor den Leser, die Leserin mit auf eine Entdeckungsreise mit dem Ziel, die Kraft der Aggression positiv freizusetzen für einen alltäglichen Friedensweg. Die authentische Lebenserfahrung von Pierre Stutz fließt dabei ebenso ein wie große Stimmen der Mystik und Einsichten der Psychologie.

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Pierre Stutz

Lass dich nicht im Stich

Die spirituelle Botschaft von Ärger, Zorn und Wut

Patmos Verlag

Inhalt

Einladung

Persönliche Einstimmung

Zu viele Verbotsschilder!

Kann man nach Auschwitz Gott noch loben …

Türöffner Fluchpsalmen

Verlorene Kindheit

1Selbstvertrauen entfalten

Ein gesundes Selbstwertgefühl entlarvt Unzufriedenheit

Das Gold im eigenen Dunkeln

Meine Antreibersätze

2Mich wehren können

Mut zur Konfliktfähigkeit ist Sorge um sich selbst

Der dritte Weg

Leidenschaft und Gerechtigkeit

Psychischer Stress

Ich kann mich wehren

Aktiver und passiver Ärger

3Authentisch werden

Aggression verhilft zu ehrlichen Auseinandersetzungen

Aggression und Depression

Aggressionen nicht mehr delegieren

An das Gute im Menschen glauben

Kämpferisch sein

Ich lasse mich nicht mehr leben!

4Selbstverantwortung übernehmen

Ärger hilft, eigene Stärken und Grenzen anzunehmen

Verwandelter Ärger

Widerstandskraft Humor

Der Mythos der verlorenen Zeit

Machtverteilung

Gesunde Distanz

5Mich nicht an Ungerechtigkeiten gewöhnen

Wut verbindet Menschen, die Friedensinitiativen wagen

Empört euch!

Mit klarer Stimme

Mutbürger

Engagierte Gelassenheit

Späte Wut

Ah, endlich auch Kontrolle aufgeben können

Konstruktive Wutausbrüche

Dynamische Meditation

6Die Spirale der Gewalt durchbrechen

Heiliger Zorn fördert gewaltfreien Widerstand

Ich weigere mich

Schöpferischer Hass?

Zornig in Beziehung

Echte Freundschaft fördert Zorn

7Gewaltfrei kommunizieren

Versöhnung ist möglich in Begegnungen auf Augenhöhe

Gewaltfreie Kommunikation

Es tut mir leid

Versöhnung: nicht machbar, aber möglich

Wachsam und kritisch

Vergeben können

Analysen wagen

Versöhnend-segnend unterwegs

Nachklang

Literatur- und Filmtipps

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Leseempfehlung

Einladung

Mich nicht mehr verbiegen lassen

Gefühle wie Wut und Zorn ernst nehmen

sie nach dem tieferen Grund befragen

um nicht in der Gewaltspirale stecken zu bleiben

Mich nicht lähmen lassen

von faulen Friedensstrategien

falsche Versöhnlichkeit entlarven

konfliktfähig Heilung erfahren

Mich nicht kleinkriegen lassen

Empörungen über Ungerechtigkeiten wahrnehmen

sie als Friedensimpuls sehen

der zu tatkräftigem Handeln führt

Mich nicht unterdrücken lassen

von quälender Fremdbestimmung

mit lauter Stimme

gewaltfrei Widerstand wagen

So wie wir dringend eine Versöhnung von Sexualität und Spiritualität brauchen, so brauchen wir eine Verbindung von Aggression und Spiritualität. Sexualität und Aggression sind unsere stärksten Lebenskräfte, die wir in Liebe oder in Angst zum eigenen Wohlbefinden und zum Wohl der Gemeinschaft entfalten können. Sexualität und Aggression sind verwurzelt in unserer tiefen Sehnsucht nach einem Aufgehobensein, einer Rückverbindung (lateinisch »religio«) in einem größeren Ganzen. Unser ganzes Wesen ist auf Beziehung und Kommunikation angelegt. Auch die drei Urwünsche, die wir in allen Märchen, Mythen und heiligen Texten finden, erzählen von unserem

Wunsch nach Anerkennung,Wunsch nach Beheimatung,Wunsch nach Verwandlung.

Diese Urwünsche sind nie zu haben, sondern immer im Werden und sie ereignen sich in der Spannung von Nähe und Distanz. Gesunde Beziehungen leben von leidenschaftlichen Auseinandersetzungen. Genau darum geht es im Ursprung des Wortes »Aggression«. Sich in die Auseinandersetzung hineinzubegeben – so der Wortsinn des lateinischen ag-gredi – ist lebensnotwendig zur Selbstannahme und zur Solidarität. Es bedeutet alltäglich, das Leben zu wählen, für sich, die Mitmenschen, die Natur. Unser Aufstehen am Morgen ist so gesehen ein »aggressiver« Akt (!), der uns einlädt, zu uns zu stehen und geradezustehen für das, was uns wesentlich ist im Leben. Für eine Mehrheit der Menschen ist das Wort »aggressiv« negativ, kriegerisch behaftet: Ein Aggressor geht über Leichen. Genauso wie man herkömmlicherweise meint, dass die Worte »Ärger, Wut und Zorn« für einen spirituellen Menschen kaum vorkommen sollten.

Dagegen möchte ich mit diesem Buch aufzeigen, welche göttliche Urkraft sich darin finden lässt. Weil ich fest überzeugt bin, dass wir keine wahre innere Ruhe, keinen inneren Frieden finden werden und auch nicht überzeugende Friedenswege weltweit, wenn wir diese vermeintlich »negativen« Gefühle abspalten, verdrängen oder bekämpfen. Denn das bedeutet, ständig auf der Flucht vor sich selbst zu sein und im schlimmsten Fall Krieg gegen sich selbst zu führen mit krankmachenden Überforderungsprogrammen, in denen wir nur »reine, gute und schöne« Gedanken und Gefühle haben dürfen. Ich weiß, wovon ich rede. Jahrelang glaubte ich irrtümlicherweise, zu den glücklichen Menschen zu gehören, die keine Wut empfinden. Was habe ich nicht alles geschluckt und in mich hineingefressen: Meine Bauchschmerzen und mein ständiges Erbrechen waren klare Signale meines Körpers, die ich nicht wahrhaben wollte. Auch meine Arbeits-Wut als Work­aholic ließ grüßen! Erst durch ein zweijähriges Burn-out mit 38 Jahren begann meine langjährige Anfreundung mit diesen Urkräften. Eine gesunde Spiritualität hat immer mit einem schonungslosen Wahrnehmen der eigenen (auch religiösen) Sozialisation zu tun, um nicht unbewusst von prägenden, oft angstbesetzten Mustern bestimmt zu sein. In dieser Grundhaltung erzähle ich von meinem Weg, damit alle Lesenden ermutigt werden, ihrem »Aggressions-, Ärger-, Wut- und Zorn-Weg« nachzugehen, und Impulse für einen konstruktiven Umgang mit ihrer Wut entdecken können, um echten Frieden zu wagen.

In den folgenden sieben Kapiteln zeige ich auf, was es bedeuten kann, sich nicht zu verbiegen und sich nicht im Stich zu lassen, um sich selbst und der eigenen Sehnsucht nach Frieden treu zu bleiben. Ich tue dies, wie in all meinen Büchern, indem ich autobiografisch aufzeige, wie ich in einem langen, mehrjährigen Weg einen lebensfördernden Zugang zu meinem eigenen heiligen Zorn gefunden habe. Ich nehme all die Fragen rund um diese Thematik auf, die mir in meinen Vorträgen und in persönlichen Gesprächen als spiritueller Begleiter begegnen. Ich benenne zugleich mit Dankbarkeit all jene, mit denen ich mich verbünde und die mich auch durch Bücher zu einem gewaltfreien Aufstand inspirieren. Ich zeige auf, wie wir nicht nur in unserem Kopf, sondern auch emotional Aggression, Ärger, Wut und Zorn als friedensstiftende Kraft in unseren Alltag hineinweben können.

»Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit«, sagt Elie Wiesel (1928–2016), der kürzlich verstorbene Auschwitz-Überlebende und Friedensnobelpreisträger. Unsere Welt braucht mehr denn je ­beherzte Frauen und Männer, die mit Rückgrat und Zivilcourage Frieden fördern.

Ich danke allen, die mich begleitet haben beim Schreiben dieses Buches, mit ihren Anregungen und kritischen Bemerkungen. Danken möchte ich meinem Lebenspartner Harald, der seit 2005 all meine neuen Bücher als Erster liest und wohlwollend-kritisch begleitet. Auch durch diese Arbeit wird unsere lebendige Konfliktfähigkeit gefördert. Ganz besonders danke ich meinem Lektor Dr. Ulrich Sander, der seit sieben Jahren mich herausgefordert und bestärkt hat, dieses existenzielle Lebensthema zu vertiefen. Ich tue es im Vertrauen, dass immer mehr Menschen zärtlich-wütend unterwegs sind für ein friedvolleres Zusammensein.

Lausanne, 5. April 2017

Persönliche Einstimmung

Mehr sein

als meine Leistung

als prägende Muster

als lähmende Gedanken

Zugang finden

zum unerschöpflichen

Wachstumspotenzial

das tief in uns angelegt ist

Mehr sein

als hartnäckige Reflexe

als dunkle Stimmen

als diffuse Gefühle

Tiefgang wagen

tief ein- und ausatmen

meine Lebendigkeit spüren

meine Grenzen annehmen

Zu viele Verbotsschilder!

In bin in einer Zeit aufgewachsen, in der eine Kultur der Konfliktfähigkeit unterbelichtet war. Natürlich haben wir als Kinder oft gestritten, jedoch immer mit einem schlechten Gewissen und nach jeder Beichte hoffend, dass es nicht wieder passieren würde. Zu dieser Sozialisation gehört auch die Überzeugung, Autoritätspersonen wie Pfarrer, Bürgermeister und Lehrer nicht kritisieren zu dürfen. Innerlich habe ich schon früh dagegen rebelliert, bin jedoch damit allein geblieben.

Weil mich ein großer Gerechtigkeitssinn bewohnt, habe ich immer mehr innerlich die Achtung vor Lehrern verloren, die schwache Schüler/innen vor der ganzen Klasse bloßgestellt haben. Weil ich mich nicht getraut habe, mich für sie zu wehren, habe ich ihnen Nachhilfeunterricht gegeben, da ich es nicht fair fand, dass ich viel weniger Zeit brauchte, um gute Noten zu erhalten, und andere lange lernen mussten und trotzdem scheiterten.

In Berührung mit einem inneren Zornanfall kam ich, als ich als zehnjähriger Messdiener an der Beerdigung eines dreijährigen Kindes den Pfarrer hörte, wie er einen Satz aus dem Buch Ijob vorlas: »Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen, der Name des Herrn sei gepriesen« (Ijob 1,21). Ein innerer Aufschrei, ein körperlich-seelischer Schmerz ergriff mich, und ich hätte am liebsten das Weihrauchfass am Boden zerschmettert als Protest gegen diese Worte. Das war meine erste große Glaubenskrise: »Nein danke, so ein selbstherrlicher Gott kann mir keinen Trost spenden!« Niemanden habe ich davon erzählt, blieb allein mit meiner Auflehnung und ich atmete erst richtig auf, als ich viele Jahre später im Studium erfuhr, dass auch das Buch Ijob nicht aus einem Guss besteht und sich in der Spannung von Auflehnung und Annahme des Leids bewegt. In den meisten Kapiteln begegne ich Ijob als einem Rebellen, der sich zu Recht gegen altkluge Vertröstungen auflehnt.

Mein Vater war Bürgermeister in unserem Dorf. Von ihm habe ich dankbar die Gabe des öffentlichen Auftretens und des Schreibens erhalten, jedoch gekoppelt mit einer großen Konfliktunfähigkeit, die mich tief prägte. Wenn hitzige Diskussionen am Familientisch entstanden, stand er auf und legte sich schlafen! Heilsam war für mich – leider erst nach seinem Tode –, zu erfahren, dass er im Gemeindehaus durchaus einen heiligen Zorn ausdrücken konnte, wenn jemandem Unrecht geschah.

Meiner Mutter verdanke ich den Humor und die Fähigkeit, mit beharrlicher Geduld an einem Projekt dranzubleiben. Mit ihr konnte ich streiten, manchmal leider mit einer emotionalen Erpressung, die nicht nur für ein Kind, sondern auch einen Jugendlichen sehr bedrohlich werden kann, mit Worten wie: »Du bringst mich ins Grab!« Beide Eltern haben mir vorgelebt, dass das Ethos einer Gemeinschaft sich dadurch auszeichnet, wie mit den Schwachen umgegangen wird. Dafür bin ich ihnen heute noch sehr dankbar.

Als junger Erwachsener und in meiner katholischen Ordenszeit lernte ich zu meinem Glück einen kämpferischen Jesus kennen, der Autoritäten kritisieren durfte und gewaltfreien Widerstand wagte. Im Zusammenleben mit anderen Männern im Kloster blieb jedoch das Ausweichen von Konflikten das prägende Alltagsgefühl, was mich oft innerlich vereinsamen ließ. So erstaunt es nicht, dass ich sogar als fünfzigjähriger Mann im Leiten von Männerseminaren immer noch eine latente Angst vor dem »Schweigen der Männer« hatte. Eine Angst, die sich zum Glück nicht bewahrheitet, weil gerade in einem Männerkreis ganz unterschiedliche Männer, Jung und Alt, endlich all ihre Gefühle mitteilen: ihre Kraft und Wut, ihre Bedürftigkeit und ihre Lust, ihren Erfolg und ihr Scheitern.

Empörung und Annahme

Einspruch und Einverständnis

Widerstand und Hingabe

gehören zum Menschsein

Leidenschaftlich-gelassen

die Härte des Lebens

achtsam wahrnehmen

damit sie verwandelt werden kann

Dem Schweren auf den Grund gehen

hinabsteigen in das Unbekannte

es erhellen mit einem leisen Erahnen

des Aufgefangenseins im Fallen

Kämpferisch-gelassen

Tränen fließen lassen

Wut ausdrücken lassen

sich zärtlich halten lassen

Kann man nach Auschwitz Gott noch loben …

… hieß die prägende Frage der kämpferischen Theologin und Friedensaktivistin Dorothee Sölle (1929–2003), die ich in mein Theologiestudium mitnahm und sehr darauf achtete, dass sie präsent blieb und nicht mit klugen theologischen Konstrukten abgeschwächt wurde. Glaube und Protest gehören für mich seither selbstverständlich zusammen. Unvergesslich bleibt mir die Demonstration vor der Luzerner Hofkirche im Dezember 1979, als dem Theologen Hans Küng von Papst Johannes Paul II. die Lehrerlaubnis als Professor für katholische Theologie in Tübingen entzogen wurde. Zugleich sammelte ich Unterschriften, damit das Schweizer Bankgeheimnis aufgehoben wurde, weil mir der Mythos einer neutralen Schweiz, die das Geld unzähliger Diktatoren hortet, unerträglich war und ist.

Äußerlich gehörte ich zu den protestierenden Theologen, innerlich bewohnte mich eine massive Angst vor Liebesentzug. Diese Spannung führte zu einer großen Unausgeglichenheit: Für andere durfte und sollte ich mich wehren, für mich selbst jedoch nicht. Vor meiner Diakonats- und Priesterweihe teilte ich meinem Bischof mit, wie ungerecht ich es finde, dass meine Mitstudentinnen nicht geweiht werden konnten. Noch heute spüre ich einen heiligen Zorn, wenn im Vatikan am Verbot des Frauenpriestertums festgehalten wird, ohne dass diese Männer sich eingestehen, dass dahinter eine große Angst liegt, Macht zu teilen. Mein Bischof Otto Wüst sollte 1985 wissen, dass ich mich bis zu meinem letzten Atemzug für das Priestertum der Frau einsetzen werde. Diese Klarstellung hinderte ihn nicht, mich zu weihen. Verschwiegen habe ich ihm, dass er einen homosexuellen Mann weihte, weil ich zu wenig Zivilcourage hatte, ganz zu mir zu stehen, und ich 17 Jahre lang brauchte, um meine Ursehnsucht, einen Mann lieben zu dürfen und mich lieben zu lassen, auszusprechen. Vielen anderen Menschen konnte ich dieses Recht zugestehen, sie innerlich befreien, mir selbst stand ich im Weg mit dem Verbot, meine tiefen Lebenskräfte, die auch in der Sexualität und der Aggression sich melden können, mit Leib-Geist-Seele in meinen Selbstwerdungsweg zu integrieren.

Türöffner Fluchpsalmen

Was macht ein leidenschaftlicher Gottessucher, dem es verboten erscheint, wütend zu werden? Er schreibt seine theologische Abschlussarbeit über einen Fluchpsalm! Im Sommer 1983 zog ich mich drei Monate in die Bibliothek der Ecole Biblique in Jerusalem zurück, um vom hebräischen Urtext her den Fluchpsalm 35 zu interpretieren.

Erstaunlich, was ich vor 33 Jahren als Quintessenz in meiner 100-seitigen Diplomarbeit schrieb: »Wir brauchen eine Sprache des Leidens, damit die Apathie nicht alles verschluckt. Und genau da können uns die Psalmen mit aller Vorsicht vor zu schnellen Vereinfachungen und falschen Übertragungen eine große Hilfe sein. Dies gilt auch für eine Überprüfung unseres Umganges mit Aggressionen. Die Erkenntnisse der Psychologie können uns zum Verstehen der Psalmen (wie auch für unseren Umgang mit Aggression) helfen. So ist es wichtig zu wissen, dass der Psychoanalytiker Erich Frommvon einer ›gutartigen Aggression‹ spricht, die Angst zugrunde hat. Angst spielt auch in den Psalmen eine Rolle, da vitale Interessen bedroht sind, und es ist lebensnotwendig, dass Menschen sich von der Angst befreien können. Eine der wirksamsten Möglichkeiten, sich von seiner Angst zu befreien, ist, aggressiv zu werden, empfiehlt Erich Fromm… Das Christentum ist in der Gefahr, von einem einseitigen Verständnis der Feindesliebe her zu meinen, die Probleme wie Aggression und Wut seien bei ihm gelöst. Dieser Irrtum führt zu einer eindeutigen Verdrängung und Vereinfachung des Problems.«

Streite, Gott,

gegen alle, die gegen mich streiten,

bekämpfe alle, die mich bekämpfen!

Ergreife Schild und Waffen;

steh auf, um mir zu helfen!

Schwing den Speer und die Lanze

gegen meine Verfolger!

Sag zu mir: Ich bin deine Hilfe!

In Schmach und Schande sollen alle fallen,

die mir nach dem Leben trachten.

Zurückweichen sollen und vor Scham erröten,

die auf mein Unglück sinnen.

Sie sollen werden wie Spreu vor dem Wind;

der Engel Gottes stoße sie fort.

Ihr Weg soll finster und schlüpfrig sein;

der Engel Gottes verfolge sie.

Denn grundlos haben sie mir

Grube und Netz versteckt,

grundlos haben sie sie mir gegraben.

Unvermutet ereile ihn das Verderben;

und sein Netz, das er gelegt hat, fange ihn,

er falle ins Verderben.

Meine Seele aber wird jubeln über Gott

und sich über seine Hilfe freuen.

Psalm 35,1–9

Es gehört wesentlich zu einem geerdeten spirituellen Weg, anzunehmen, dass uns intellektuell einiges sehr klar sein kann und es dennoch Jahre braucht, damit diese Erkenntnisse sich ganzheitlich in uns und in der Kommunikation mit andern entfalten können. Dabei ist die Sprache ein wichtiger Wegweiser zu einem Bewusstseinswandel.

In meinem ersten Buch (»Mein Leben kreist um Dich«) habe ich während zwanzig Jahren alle 150 Psalmen in unsere Sinnsuche hineingewoben. War es ein Zufall, dass ich zuerst mit der Aktualisierung der 50 Klage- und Fluchpsalmen begann? Da fand meine innere Not, mein Aufschrei über die Abschiebung von Flüchtlingsfamilien und die Überforderung vieler Jugendlichen ein Ventil. So konnte ich vorerst wenigstens mit Worten aussprechen, was emotional noch zu wenig Entfaltung in mir finden durfte. Seither klingt das Thema eines spirituellen Umganges mit Aggressionen in meinen Büchern an und wartet, endlich in seiner Komplexität als Versöhnungsweg in einem ganzen Buch entworfen zu werden.

Verlorene Kindheit

Mit 38 Jahren, nach einer dreimonatigen Schlaflosigkeit, einem Burn-out, zwangen mich die Schreie meiner Seele, die Tür meines Verlieses zu öffnen, in dem meine Wut und mein Zorn eingesperrt waren. Es war die Zeit, in der alles, was ich mir mit viel Willenskraft erfolgreich aufgebaut hatte, wie ein Kartenhaus in sich zusammenfiel und ich nur noch der Schatten meiner selbst war. Meine Angst vor der verdrängten Wut war riesig, weil dahinter ein grausames Geheimnis meiner verlorenen Kindheit schlummerte. Als kleiner Junge hat mir ein »netter« Mann sexuelle Gewalt angetan, außerhalb von Familie, Dorf und Kirche. Ein unscheinbarer Täter, sehr »liebenswürdig«, dem niemand zutrauen würde, ein Kind fürs ganze Leben zu schädigen. Mein körperlicher Schmerz und mein Trauma waren so groß, dass ich als Überlebensstrategie aus meinem Körper ausstieg und danach die Brutalität tief in mir vergrub, weil ich nur so weiterleben konnte. In der festen Überzeugung, dass nur mir so etwas passieren konnte, was Jos van den Broek in seinem aufwühlenden Buch »Verschwiegene Not: Sexueller Missbrauch an Jungen« (Stuttgart 1993) spezifisch für männliche Opfer aufzeigt, verdrängte ich diese himmelschreiende Gewalttat. Ich konnte nur durch Vergessen weiterleben. Intuitiv war ich mir sicher, dass niemand mir glauben würde. So verstummte ich, war oft kränklich, verschlossen und wurde im Turnunterricht wegen meines angstgelenkten Körpers regelmäßig ausgelacht und gedemütigt. Ich verlor meine Kindheit und noch schlimmer: Ich traute keinem Menschen mehr! Immer erfolgreich, sehr einfühlsam-solidarisch mit den Verlierer/innen unserer Gesellschaft, war ich innerlich auf der Flucht vor mir und vor der Nähe zu anderen Menschen. Zu meinem großen Erstaunen konnte ich durch das absolute Verdrängen dieser Grausamkeit unglaublich vieles verwirklichen, innerlich blieb ich ein »Steppenwolf«, der oft blitzartig aus einer Gruppe floh, wenn die Gefahr lauerte, an meinen – auch mir nicht mehr bewussten – Urschmerz heranzukommen. Meine zweijährige Lebenskrise habe ich nur dank intensiver Psycho- und Atemtherapie überlebt. Sie war absolut notwendig für mich, weil ich mit dieser Schreckenstat, die in meinem Körper gespeichert ist, nicht mehr weiterleben wollte. Seitenweise schrieb ich in mein Tagebuch »ich gehe zugrunde« bis zu dem Moment – heute nenne ich dies Gnade –, an dem ich diese Worte beim Dominikanermönch Johannes Tauler (1300–1361) entdeckte, der sie als Weg zu einer neuen Lebendigkeit deutete, wie wenn er sie nur für mich geschrieben hätte. Sie wurden mir zur Überlebenshilfe. Es kam mir vor, als ob Johannes Tauler mich ganz persönlich bestärkte.

Inspiriert von ihm schrieb ich in mein Tagebuch:

»Geh zu Grunde! Geh deiner Angst vor Liebesentzug auf den Grund. Geh deiner Überaktivität auf den Grund. Geh deinem vergrabenen Schmerz auf den Grund. Es wird unendlich wehtun: Echte Heilung ist ohne Schmerz unmöglich! Geh deiner verbotenen Wut auf den Grund, schrei sie heraus, tagelang, wochenlang, damit du wieder lebendig wirst und aufrecht gehen kannst.«

Erst in diesem zweijährigen Heilungsprozess wurde mir klar, weshalb ich nicht wütend und zornig werden durfte. Im Ausgraben meiner unterdrückten Wut, die ich dann in einem geschützten Raum ausdrücken konnte, war es nach vielen Jahren mühsam-befreiend möglich, Versöhnung zu wagen. Vergebung ist möglich, jedoch nie ein für alle Mal, sondern (vielleicht) ein Leben lang, immer wieder neu. Ich darf voll Dankbarkeit sagen, dass ich durch meine intensive therapeutisch-spirituelle Persönlichkeitsarbeit an dieser Schreckenstat wachsen und reifen konnte. Zugleich erlebe ich auch jetzt immer noch Momente, in denen ich eine große Angst vor Menschen und vor dem Leben habe. Und ich will nicht verschweigen, dass ich zu viele kenne, die wegen solcher Traumatisierungen sich kaum im Leben zurechtfinden, und nicht wenige, die durch Suizid gestorben sind. Um dieser isolierenden Angst nicht die Leitung meines Lebens zu überlassen, helfen mir nebst dem Geschenk der Liebe in der Partnerschaft mein authentisches Schreiben, meine Verwurzelung in einem göttlichen Urgrund, viele bestärkende Begegnungen und die große Resonanz auf meine Bücher. Wesentlich sind mir auch all jene Erfahrungen, in denen ich mit Verbündeten an Mahnwachen und Demonstrationen und mit den vielen Protestbriefen – dank Amnesty international