Lass mich dein Herz berühren (2-teilige Serie) - Sarah Morgan - E-Book

Lass mich dein Herz berühren (2-teilige Serie) E-Book

Sarah Morgan

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Beschreibung

WIE EIN STERN IM DUNKEL DER NACHT
Glamouröse Partys, betörende Frauen - nichts kann die Eiseskälte vertreiben, die den berühmten Architekten Lucas Jackson erfüllt, seit sein kleiner Sohn sterben musste. Gequält von Schuldgefühlen zieht er sich auf seinen einsamen Landsitz zurück. Da taucht überraschend seine Assistentin Emma auf. Ein Unwetter zwingt sie zum Bleiben - die ganze Nacht. Und während der Schneesturm draußen vor den Fenstern tobt, existieren für Lucas plötzlich nur noch Emmas schöne braune Augen, ihre sinnlichen zarten Lippen. Kann Emmas Wärme die Erstarrung in Lucas lösen?

UNTER DER GOLDENEN WÜSTENSONNE
Golden leuchtet die Sonne über der Wüste, entfacht ein Feuer der Leidenschaft in Avery. Doch sie darf nicht vergessen: Scheich Malik hat sie nur aus einem Grund auf diese Wüstenreise mitgenommen - um seine verschwundene Braut zu suchen. Was sollte er auch sonst vorhaben?

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Seitenzahl: 408

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Sarah Morgan

Lass mich dein Herz berühren (2-teilige Serie)

Sarah Morgan

Wie ein Stern im Dunkel der Nacht

IMPRESSUM

JULIA erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: 040/60 09 09-361 Fax: 040/60 09 09-469 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Christel BorgesGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2012 by Sarah Morgan Originaltitel: „A Night of No Return“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIABand 2097 - 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg Übersetzung: Bettina Röhricht

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2013 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733700041

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

Vor diesem Abend graute Lucas mehr als vor jedem anderen des Jahres.

Am Anfang hatte er versucht, sich abzulenken – mit wilden Partys, Frauen, Arbeit –, aber irgendwann festgestellt, dass der Schmerz blieb, ganz egal, was er tat. Er konzentrierte sich auf die Gegenwart, aber die Vergangenheit war nun einmal ein Teil von ihm. Es waren Erinnerungen, die nicht verblichen, eine Wunde, die nicht heilte, und ein Schmerz, der tief in seinem Innersten tobte.

Dem konnte er nicht entkommen, und deshalb verbrachte er diesen Abend immer an einem Ort, an dem er sich ganz allein ausgiebig betrinken konnte.

Er war von seinem Londoner Büro zu dem Landsitz in Oxfordshire gefahren, den er gerade restaurierte – nur um für sich zu sein. Ausnahmsweise einmal war sein Handy ausgeschaltet und würde es auch bleiben.

Schneeflocken wirbelten wie wild vor der Windschutzscheibe, sodass er kaum etwas sehen konnte. Zu beiden Seiten der Straße türmte sich der Schnee in hohen Verwehungen, die für unerfahrene, nervöse Autofahrer sicher tückisch waren. Lucas Jackson war weder unerfahren noch nervös, und seine Stimmung war noch unheilvoller als das Wetter.

Lucas biss die Zähne zusammen und versuchte, das Heulen des Windes auszublenden, das klang, als würde ein Kind weinen. Noch nie war er so froh gewesen, die zwei Steinlöwen zu erblicken, die beidseitig der Einfahrt zu seinem Anwesen thronten. Trotz des miserablen Wetters fuhr er mit hoher Geschwindigkeit die Auffahrt entlang, die durch einen ausgedehnten Park zum Hauptgebäude verlief.

Lucas passierte den zugefrorenen See, die Brücke, die über den Fluss führte, und dann erreichte er endlich Chigworth Castle. Eigentlich hätte ihn der Umstand, dass er so ein prachtvolles Anwesen besaß, mit Stolz und Zufriedenheit erfüllen müssen. Doch wie immer verspürte er beim Anblick des Schlosses nichts. Aber mittlerweile hatte er sich damit abgefunden, dass er nicht so empfand wie andere Menschen. Er hatte die emotionale Seite seiner Persönlichkeit verdrängt und war bisher nicht in der Lage, etwas anderes zuzulassen.

Immerhin fühlte er beim Anblick des imposanten Gebäudes, das sowohl dem Mathematiker als auch dem Architekten in ihm gefiel, eine gewisse distanzierte Wertschätzung. Proportionen und Aufbau waren nahezu vollkommen. Das Torhaus mit seinen Verzierungen wirkte elegant und vornehm. Und das Schloss selbst, mit den mächtigen Mauern und Zinnen, war beeindruckend und weckte nicht umsonst das Interesse von Historikern aus der ganzen Welt. Dass Lucas ein geschichtlich bedeutendes Bauwerk bewahrte, erfüllte ihn mit einem Anflug von beruflichem Stolz. Doch auf persönlicher, emotionaler Ebene empfand er nichts.

„Rache ist süß“ – dieses alte Sprichwort konnte Lucas nicht bestätigen. Und momentan interessierte ihn nicht einmal die historische Relevanz des Hauses, sondern nur dessen Abgelegenheit. Denn Kontakt zu anderen Menschen wollte er an diesem Abend um jeden Preis vermeiden. Einige der oberen Fenster waren erleuchtet, wie Lucas stirnrunzelnd feststellte. Eigentlich hatte er seinen Angestellten doch ausdrücklich freigegeben.

Er fuhr über die Brücke, die über den Festungsgraben gespannt war, und unter dem Rundbogen über der Einfahrt hindurch, dann kam sein Wagen schlitternd im Hof zum Stehen. Schnee stob in alle Richtungen. Wäre Lucas nicht so früh aufgebrochen, hätte er es womöglich gar nicht bis hierher geschafft. Seine Angestellten räumten zwar die Zufahrten auf dem Anwesen, doch der Weg hierher führte über gewundende kleine Landstraßen, die von den Behörden eher vernachlässigt wurden. Lucas dachte kurz an seine treue Assistentin Emma, die wieder bis spät im Büro geblieben war, um seine Reise nach Zubran vorzubereiten, einem reichen Ölstaat am Persischen Golf. Zum Glück wohnte sie in London und hatte es nicht weit bis nach Hause.

Lucas stieg aus, ging über den dichten Schneeteppich und stand kurz darauf in der dunklen Eingangshalle. Zu seiner Erleichterung begrüßte ihn weder die Haushälterin noch ein anderer Angestellter. Er war ganz allein.

„Überraschung!“, rief plötzlich ein ganzer Chor von Stimmen, und das Licht ging an. Geblendet blieb Lucas stehen.

„Alles Gute zu meinem Geburtstag!“ Mit schwingenden Hüften und einem listigen Lächeln auf dem wunderschönen Gesicht kam Tara auf ihn zu, griff an sein Revers und küsste ihn mit ihrem scharlachrot geschminkten Mund. „Ich weiß, du hast mir mein Geburtstagsgeschenk für nächste Woche versprochen, aber so lange kann ich nicht warten. Ich will es jetzt haben.“

Starr blickte Lucas in die weltbekannten blauen Augen des Models – und fühlte noch immer nichts. Langsam, aber nachdrücklich löste er ihre Hände von seinem Mantel. „Was, verdammt noch mal, tust du hier?“, fragte er leise.

„Meinen Geburtstag feiern.“ Seine nicht sonderlich begeisterte Reaktion rief Taras berüchtigtes Schmollen hervor. „Da du ja nicht zu meiner Party kommen wolltest, habe ich sie hierher verlegt. Deine Haushälterin hat uns reingelassen. Warum hast du mich eigentlich noch nie hierher eingeladen? Das Schloss ist einfach toll – wie eine Filmkulisse!“

Lucas blickte sich um und bemerkte, dass die prachtvolle Eingangshalle mit ihren alten Gemälden und Wandteppichen mit Luftschlangen und glitzernden Luftballons geschmückt war. Neben einer riesigen Geburtstagstorte stapelten sich bunt verpackte Geschenke, und die bereits geöffneten Champagnerflaschen wirkten auf ihn angesichts seiner düsteren Stimmung wie Hohn. Noch nie in seinem Leben war Lucas weniger zum Feiern zumute gewesen.

Sein erster Gedanke war, dass er seine Haushälterin feuern würde. Doch dann fiel ihm wieder ein, wie einschmeichelnd Tara sein konnte. Sie war sehr talentiert darin, Menschen zu manipulieren. Dass ihr das mit ihm nie gelungen war, frustrierte sie sehr.

„Ich habe dir doch gesagt, dass heute kein guter Tag für mich ist“, entgegnete er.

Tara zuckte nur die Schultern. „Ich weiß ja nicht, welche Laus dir über die Leber gelaufen ist, aber du vergisst es bestimmt, wenn du dir einen Drink genehmigt und ein bisschen getanzt hast. Dann gehen wir nach oben und …“

„Verschwinde“, befahl Lucas.

Ihre Freunde, die er nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte, verstummten entsetzt. Tara mit ihrem unerschütterlichen Ego erwiderte jedoch lächelnd: „Lucas, sei nicht albern, das meinst du doch nicht ernst.“

„Verschwinde“, wiederholte er. „Und vergiss deine Freunde nicht.“

Ihre Augen nahmen einen harten Ausdruck an. „Wir sind mit einem Reisebus gekommen, und der Fahrer ist erst für ein Uhr bestellt.“

„Sieh dir doch mal das Schneetreiben an. Um ein Uhr fährt hier in der Gegend nichts mehr. Der Bus sollte besser innerhalb der nächsten zehn Minuten eintreffen, sonst werdet ihr hier eingeschneit. Und ich kann dir versichern: Das wollt ihr ganz bestimmt nicht.“

Ob es an seinem kalten Ton lag oder an seinem drohenden Gesichtsausdruck, wusste Lucas nicht. Doch zumindest schien Tara langsam zu begreifen, dass er es ernst meinte. Ihr wunderschönes Gesicht, das schon unzählige Titelblätter geziert hatte, war vor Wut und Demütigung verzerrt. Als sie ihn mit ihren Katzenaugen ansah, war ihr makelloser Teint fast so weiß wie der Schnee, der draußen alles zudeckte.

„Wie du willst“, erwiderte sie. „Dann feiern wir eben woanders und lassen dich mit deiner grässlichen Stimmung allein. Jetzt weiß ich auch, warum deine Beziehungen immer scheitern. Du hast zwar sowohl Geld als auch einen scharfen Verstand und bist ein guter Liebhaber, Lucas Jackson. Aber ein Herz hast du nicht.“

Lucas hätte ihr die Wahrheit sagen können: nämlich dass sein Herz so tief verletzt worden war, dass er nie darüber hinwegkommen würde. Er hätte Tara erklären können, dass die Zeit nicht alle Wunden heilte und er der beste Beweis dafür war. Und er hätte ihr anvertrauen können, wie erleichtert er darüber war. Denn einem bereits gebrochenen Herzen konnte niemand mehr etwas anhaben.

Ja, das alles hätte er Tara erzählen können, doch das hätte weder ihr noch ihm etwas gebracht. Also ging er einfach an ihr vorbei zu der breiten Eichentreppe, die von der Mitte der Eingangshalle nach oben führte. Heute bereitete ihm der Anblick der perfekten Proportionen keinen Genuss – die Treppe war lediglich ein Fluchtweg für ihn, weg von den Menschen, die in sein Allerheiligstes vorgedrungen waren. Ohne sich zu verabschieden, eilte Lucas in sein Schlafzimmer, von dem aus man auf den Festungsgraben blickte.

Es war ihm egal, dass er die Gäste vor den Kopf gestoßen hatte – und dass er wieder einmal eine Beziehung beendet hatte. Wichtig war nur, dass er diesen Abend und die Nacht irgendwie überstand.

Er war ein kaltherziger, von Ehrgeiz getriebener Workaholic.

Normalerweise war Emma sehr geduldig, doch als sie sich nun bemühte, den Wagen auf der Straße zu halten, war nichts davon zu spüren. Es war Freitagabend, und eigentlich hätte sie es sich zu Hause mit Jamie gemütlich machen sollen. Stattdessen fuhr sie ihrem Chef quer durch die englische Landschaft hinterher. Nach der vergangenen Woche war das wirklich das Letzte, was sie jetzt brauchte. Ich habe schließlich ein Privatleben! dachte Emma aufgebracht. Zumindest hätte sie eins, wenn ihr Chef wüsste, dass es ein Dasein außerhalb der Arbeit gab.

Lucas Jackson hatte keine emotionalen Bindungen und war ganz offensichtlich der Meinung, dass seine Angestellten auch keine haben sollten. Er interessierte sich nicht für Emma als Mensch, sondern nur für ihre Arbeitsleistung. Es hatte auch keinen Sinn, ihm zu erklären, wie sie empfand, denn Gefühle waren ihm völlig fremd. Ja, Lucas Jacksons Leben hatte mit ihrem absolut nichts gemeinsam. Wenn Emma auf ihren Parkplatz im Schatten des markanten Glasbaus fuhr, in dem das weltberühmte Architekturbüro Jackson & Partners seinen Sitz hatte, kam es ihr manchmal vor, als sei sie auf einem anderen Planeten gelandet. Das futuristische Gebäude, das Nonplusultra an hochmodernem Design und Energieeffizienz, nutzte Tageslicht und natürliche Belüftung optimal. Vor allem aber war es ein Symbol für die kreativen Visionen und die Genialität eines Mannes: Lucas Jackson.

Doch Voraussetzung für kreative Visionen und Genialität war, dass man sich ganz auf eine einzige Sache konzentrierte. Und die Folge war nun einmal ein getriebener, schwieriger Mensch. Eher Maschine als Mensch, dachte Emma düster und versuchte, durch das dichte Schneetreiben die Straße zu sehen, um nicht im Graben zu landen. Als sie zwei Jahre zuvor angefangen hatte, für Lucas Jackson zu arbeiten, hatte es ihr nichts ausgemacht, dass sie nie über Persönliches sprachen. Das wollte sie bei der Arbeit ohnehin nicht. Und eins würde ihr niemals passieren: dass sie sich in ihren Chef verliebte. Aber in ihren Job hatte sie sich verliebt. Die Arbeit war spannend, interessant und Lucas der perfekte Arbeitgeber. Dabei hatte sein Ruf sie so nervös gemacht, dass sie sich um ein Haar nicht einmal um die Stelle beworben hätte.

Entgegen ihrer Befürchtungen hatte er sich als äußerst professionell, intelligent und großzügig in Bezug auf ihr Gehalt entpuppt. Emma fand es aufregend, für ein Unternehmen zu arbeiten, das einige der bekanntesten Gebäude der letzten Jahre entworfen hatte. Kein Zweifel: Lucas Jackson war wirklich ein Genie.

Die Kehrseite der Medaille: Er konzentrierte sich so ausschließlich auf seine Arbeit, dass alles andere in den Hintergrund trat. Die vergangene Woche war dafür ein gutes Beispiel. Die Eröffnung des Ferrara Spa Resorts in Zubran stand bevor, ein innovatives Ökohotel am warmen Persischen Golf. Deshalb hatte Emma noch mehr als sonst gearbeitet, Unmengen Kaffee getrunken und bis in die Nacht hinein geschuftet, um wichtige Dinge fertig zu bekommen. Eigentlich schlief sie um zwei gerne, und zwar nicht an ihrem Schreibtisch, aber sie hatte sich nicht beschwert.

Allein der Gedanke an Freitag hatte es ihr möglich gemacht, durchzuhalten. Da fing nämlich ihr Urlaub an: Emma nahm sich jedes Jahr über die Feiertage zwei Wochen frei. Und diese Zeit hatte sie sich immer wieder vorgestellt, wie ein Marathonläufer die Ziellinie – das Licht am Ende des Tunnels.

Dann hatte es angefangen zu schneien und nicht mehr aufgehört, bis London am Freitag fast menschenleer war. Vom Büro­fenster aus sah Emma, wie einige Kollegen früher Feierabend machten und über die dicke Schneeschicht zu ihren Autos schlitterten. Als Assistentin von Lucas konnte sie anderen Mitarbeitern dieses Privileg gewähren, und schließlich waren er und sie die einzigen Personen im Gebäude.

Der wie immer hochkonzentrierte Lucas schien ihre Bemerkung, dass die dichten Flocken London langsam in eine Schneewüste verwandelten, gar nicht zu hören. Als sie dann, lange nachdem er aufgebrochen war, das Büro verlassen wollte, bemerkte sie den Ordner auf seinem Schreibtisch. Er enthielt wichtige Unterlagen für Lucas’ Reise nach Zubran sowie Papiere, die er noch unterschreiben musste. Er würde per Hubschrauber von seinem Landwohnsitz abgeholt werden und nicht noch einmal ins Büro zurückkommen.

Emma konnte nicht fassen, dass er die Unterlagen liegengelassen hatte. Er vergaß nie irgendetwas, sondern war der am besten organisierte Mensch, für den sie je gearbeitet hatte. Und ausgerechnet an diesem schneesturmumtosten Tag musste so etwas passieren.

Emma versuchte, ihn anzurufen, solange er noch in London unterwegs war, erreichte jedoch nur seine Mailbox. Wahrscheinlich telefonierte er ununterbrochen. Lucas schien sein ganzes Leben mit Telefonieren zu verbringen. Sie hätte natürlich einen Kurier beauftragen können, scheute sich jedoch, die wichtigen Unterlagen jemandem anzuvertrauen. Vielleicht war das übertrieben, aber sollte der Ordner verloren gehen, dann wäre sie ihren Job losgewesen.

Emma spähte durch die Windschutzscheibe ins Schneetreiben. Anstrengende Aufgaben machten ihr nichts aus, doch sie hatte einen Grundsatz: Am Wochenende wollte sie auf keinen Fall arbeiten. Und aus irgendeinem Grund – vielleicht wegen ihrer Referenzen, wegen ihres ruhigen Auftretens oder weil er vor ihr beinahe monatlich eine neue Assistentin hatte einstellen müssen – hatte Lucas Jackson diese Bedingung akzeptiert, allerdings auch eine ironische Bemerkung über ihr „wildes Privatleben“ gemacht.

Hätte er auch nur das geringste Interesse an Emma als Mensch gehabt, wäre ihm schnell klargeworden, dass für „wilde“ Dinge in ihrem Leben kein Raum war. Manchmal sah sie sich in Lifestyle-Magazinen, die ihre Schwester gelegentlich kaufte, Fotos von Promipartys an. Selbst ging sie jedoch kaum feiern. Ebenso wenig ahnte Lucas, dass nach dieser aufreibenden Arbeitswoche ein perfektes Wochenende für sie darin bestand, auszuschlafen und Zeit mit Jamie zu verbringen. Doch das alles wusste er nicht, weil er sie nie nach privaten Dingen fragte.

Emma bedachte den Ordner auf dem Beifahrersitz mit einem bösen Blick, aber sie hatte keine Wahl. Niemand sollte ihr vorwerfen können, sie würde ihre Arbeit nicht gewissenhaft erledigen.

Seit Jahren hatte kein Ereignis so viel Aufmerksamkeit erregt wie die Eröffnung des ökologisch gestalteten Ferrara Spa Resorts. Zur Einweihungsfeier würde alles kommen, was Rang und Namen hatte. Bei ihren telefonischen Besprechungen mit Avery Scott, der Besitzerin von Dance and Dine, war Emma ganz wehmütig geworden. Ihr Unternehmen organisierte die gesamte Party, und sie hatte ihr verraten, dass die internationalen prominenten Gäste bei Jahrgangschampagner in einem Festzelt feiern würden, das einem Beduinenzelt nachempfunden war. Dann würde es ein für Zubran typisches Bankett unter dem Sternenhimmel geben, und im Anschluss konnten die Gäste einen eigens erbauten „Suq“ – eine Art arabischer Markt – erkunden, der mit landestypischen Spezialitäten und verschiedenen Attraktionen lockte. Um Zubran als spannendes Urlaubsziel zu präsentieren, würden Bauchtänzerinnen, Wahrsagerinnen und Falkner auftreten, bevor der Abend mit dem spektakulärsten Feuerwerk aller Zeiten zu Ende ginge.

So wie ich hat sich bestimmt Aschenputtel gefühlt, als man ihr gesagt hat, dass sie nicht zum Ball darf, dachte Emma niedergeschlagen. Sie zitterte, weil ihre Autoheizung sehr schwach war, und zog ihren Mantel enger um sich. Dann gestand sie sich zu, einen Moment lang von Sonnenschein und Palmen zu träumen und die Frauen zu beneiden, die auf der Gästeliste standen, wahrscheinlich gerade ihre Koffer packten und bei der Feier nur eins tun mussten: elegant und glamourös aussehen.

Auch ohne in den Spiegel zu schauen, wusste Emma, dass sie ganz und gar nicht glamourös wirkte. Sie sah genauso erschöpft aus, wie sie sich fühlte. Und im Gegensatz zu den Promis würde sie einfach froh sein, wenn sie vor Mitternacht ins Bett kam. Wenn es allerdings so weiterschneite, mussten sie und Jamie die kostbaren freien Tage drinnen verbringen …

Während sie sich erneut bemühte, den Wagen auf der vereisten Straße zu halten, klingelte ihr Telefon. Emma hoffte, es sei Lucas, der sich endlich auf eine der diversen Nachrichten meldete, die sie ihm hinterlassen hatte. Aber es war Jamie – natürlich! Schließlich erwartete er sie ja schon seit über einer Stunde.

„Wo bist du denn, Emma?“, fragte er besorgt, und sofort hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich gewünscht hatte, zu der Einweihungsfeier nach Zubran reisen zu können.

Weil die Straßenverhältnisse so gefährlich waren, fuhr sie zum Telefonieren an den Rand. „Ich musste länger arbeiten, entschuldige bitte. Ich habe dir aber eine Nachricht hinterlassen.“

„Wann kommst du denn?“

„Hoffentlich bald“, erwiderte Emma und beäugte skeptisch das Schneetreiben. „Aber bleib lieber nicht meinetwegen wach.“

Er sagte nichts, aber sie wusste, dass er aufgebracht war. Sein Schweigen steigerte ihre Schuldgefühle nur noch. Während Jamie in Sorge gewesen war, hatte sie sich ausgemalt, was für ein Kleid sie zur prachtvollsten Feier des Jahrzehnts anziehen würde. „Wir werden noch das ganze Wochenende und die nächsten zwei Wochen Zeit füreinander haben“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen. Als er noch immer nichts sagte, fuhr sie seufzend fort: „Ach, Jamie, sei bitte nicht traurig. Du weißt ja, dass ich am Wochenende normalerweise immer freihabe, aber das heute ist ein Notfall. Lucas hat sehr wichtige Unterlagen im Büro vergessen, die ich ihm jetzt bringen muss.“

Als Emma schließlich auflegte, verfluchte sie Lucas Jackson mit Ausdrücken, die sie sonst niemals in den Mund nahm. Warum hatte er die dämlichen Unterlagen nur vergessen? Und warum war er nicht ans Telefon gegangen, als sie ihn angerufen hatte? Dann hätten sie sich auf halber Strecke treffen können.

Emma wusste, sie würde sich erst beruhigen, wenn sie den Ordner abgeliefert hätte und nach Hause fahren könnte. Ihr Kopf schmerzte, und sie sehnte sich danach, sich ins Bett zu kuscheln.

Aber immerhin konnten sie und Jamie die gesamten zwei Wochen der Weihnachtsferien zusammen verbringen – während ihr erfolgreicher, ehrgeiziger Chef in Zubran Geschäftstermine mit dem Sultan wahrnehmen und mit Promis unter dem Sternenhimmel feiern würde. Ich bin nicht neidisch, dachte Emma entschlossen. Kein bisschen.

Inzwischen konnte sie kaum noch etwas sehen und hatte sich schon zweimal verfahren. Auch ihr Navigationsgerät war heillos überfordert. Nachdem sie gefühlt im Schritttempo eine verschneite Straße entlanggefahren war, erreichte sie endlich die Zufahrt zu Chigworth Castle.

Zwei Steinlöwen schienen sie von links und rechts der offenen Tore anzufauchen. Emma warf ihnen einen düsteren Blick zu. Das Anwesen wirkte ungefähr so freundlich und herzlich wie sein Besitzer … Als sie die Auffahrt entlangschlitterte, pochte der Schmerz in ihren Schläfen wie verrückt. Ich bin schon wieder falsch, dachte sie verzweifelt, weil sie einfach kein Haus entdecken konnte. Oder konnte ein einzelner Mensch tatsächlich so viel Land besitzen?

Sie sah einen Park, einen See und dann eine Brücke, über die sie mit durchdrehenden Reifen fuhr. Und da war es: ein von einem Graben umgebenes kleines Schloss, dessen hohe, wunderschöne Fenster und sandfarbene Steinmauern in warmes Flutlicht getaucht wurden.

„Es hat sogar Zinnen“, flüsterte Emma.

An den Zinnen hing Schnee, und aus einem Schornstein stieg Rauch in die kalte Luft. Im Turm an einer Ecke des Baus war ein Fenster erleuchtet. Sprachlos betrachtete Emma das Anwesen. Nie im Leben hätte sie vermutet, dass Lucas Jackson so etwas besaß. Er war berühmt für seine hochmodernen Entwürfe. Und jetzt das – ein imposantes, wunderschönes und sicher historisch bedeutendes Gebäude. Ein kleines, aber vollkommenes Schloss.

Klein? Emma lachte ironisch. „Klein“ war wohl eher die Bezeichnung für ihre Bleibe in einer ziemlich heruntergekommenen Gegend Londons. Von dem winzigen Zimmer aus blickte sie auf eine Bahnlinie, und jeden Morgen um fünf Uhr wurde sie von den Flugzeugen geweckt, die von Heathrow abhoben. Nicht gerade idyllisch.

Etwas Idyllischeres als das Schloss konnte sie sich dagegen kaum vorstellen. So viel Platz, ein riesiger Park unter einer Schneedecke, in dem sicher im Sommer unzählige Glockenblumen blühten. Es war einfach perfekt – so perfekt, dass sie fast geweint hätte.

Stimmt doch gar nicht, ermahnte Emma sich, es ist viel zu abgelegen. Sie fuhr weiter über die kleine Brücke, über die man auf die andere Seite des Burggrabens gelangte. Nirgendwo war ein Mensch zu sehen.

Dann entdeckte sie durch den Torbogen Lucas’ schnittigen Sportwagen, der schon fast eingeschneit war. Er war also hier, auch wenn er nicht ans Telefon ging.

Erleichtert darüber, dass auch sie heil angekommen war, blieb Emma kurz im Wagen sitzen, bis ihr Herz wieder langsamer schlug. Dann nahm sie den leidigen Ordner und stellte den Motor aus. Nur zwei Minuten, beschloss sie. Sobald sie die Unterlagen abgegeben hatte, würde sie sich auf den Heimweg machen.

Schon beim Aussteigen rutschte sie aus und stieß sich, weil sie den Ordner zu schützen versuchte, Ellenbogen und Kopf. Einen kurzen Moment lag sie ganz benommen da, dann stand sie vorsichtig auf und ging, verärgert und nass, in Richtung Eingang.

Heftig drückte Emma minutenlang auf die Klingel. Diese kleine Rebellion tröstete sie ein wenig, aber niemand öffnete. Als ihr geschmolzener Schnee aus den Haaren in den Kragen rann, schauderte sie und klingelte erneut. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, dass jede Menge Personal im Haus war und sofort öffnen würde.

Als sich auch beim dritten Klingeln nichts tat, versuchte sie ohne wenig Hoffnung, die Tür zu öffnen. Zu ihrer Überraschung gelang es ihr sofort. Zögernd blieb Emma auf der Schwelle stehen. Normalerweise betrat sie nicht einfach so fremde Häuser. Andererseits hatte sie keine Lust, die Unterlagen wieder zurück ins Büro zu bringen.

„Hallo?“ Vorsichtig steckte sie den Kopf zur Tür herein – in der Erwartung, einen Alarm auszulösen. Als nichts geschah, trat sie in die Eingangshalle. Dunkle Holzvertäfelung, Wandteppiche, großformatige Ölgemälde und eine riesige Treppe hätten wohl in jeder Frau die Sehnsucht nach Rhett Butler geweckt, der herbeieilen und sie mit seinen starken Armen umfangen würde.

„Hallo?“, sagte Emma noch einmal und schloss die Tür, damit nicht die ganze Wärme entweichen würde. Was es wohl kosten mochte, so ein riesiges Gebäude zu beheizen? Sie bemerkte offene Champagnerflaschen, Ballons, Luftschlangen und eine Torte, mit der irgendetwas nicht stimmte. Offenbar wurde hier gefeiert. Allerdings waren keine Gäste zu sehen, und es herrschte eine Stille, die schon fast unheimlich wirkte. Fast rechnete Emma damit, dass jemand hinter den schweren Samtvorhängen hervorsprang, um sie zu erschrecken.

Als ihr unbehaglich zumute wurde, ermahnte sie sich streng: Du meine Güte, es ist doch nur ein Haus. Und alleine war sie sicher auch nicht. Lucas musste hier irgendwo sein, vermutlich mit einer ganzen Horde Gäste, nach der Anzahl der Champagnerflaschen zu urteilen.

Emma ging zu einer großen Tür, öffnete sie und sah eine Bibliothek. An allen Wänden standen hohe Bücherregale voller alter, in Leder gebundener Werke. Vorsichtig lugte sie in alle Räume im Erdgeschoss und ging dann die Treppe hinauf. Ich kann doch nicht das ganze Haus nach ihm absuchen, dachte sie. Da fiel ihr wieder ein, dass sie Licht in einem Turmfenster gesehen hatte. Sie versuchte, ungefähr die richtige Richtung anzusteuern, und lief einen langen, mit Teppich ausgelegten Flur entlang, bis sie vor einer schweren Eichentür stand.

Emma klopfte einmal und öffnete dann die Tür. Dahinter befand sich eine Wendeltreppe. Oben angekommen, stand Emma in einem großen runden Zimmer mit Fenstern zu allen Seiten und einem riesigen Kamin, in dem ein Feuer brannte. Aus dem Augenwinkel sah sie ein Himmelbett mit moosgrünen Samtbehängen. Doch ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf das niedrige Ledersofa. Denn auf dem lag, die Füße auf der Armlehne und eine Flasche Champagner in der Hand, ihr Chef.

„Lucas?“

„Ich sagte doch, du sollst verschwinden.“

Sein Ton war so scharf, dass Emma zurückwich. In den Jahren, die sie schon für ihn arbeitete, hatte er nicht ein einziges Mal so mit ihr gesprochen.

Schon nach nur einem Blick wusste sie, dass er sturzbetrunken war. Das überraschte Emma, denn sie hatte es sehr selten erlebt, dass Lucas die Beherrschung verlor oder sich gehen ließ. Dennoch war sie gekränkt. Immerhin war ihr der Freitagabend verdorben worden, während er sich offenbar prächtig amüsiert hatte. Sein Telefon war nicht aufgrund wichtiger geschäftlicher Anrufe besetzt gewesen, sondern er hatte es ausgeschaltet, um sich hier im Warmen in aller Ruhe zu betrinken. Sie dagegen hatte auf den vereisten Landstraßen Kopf und Kragen riskiert. Und jetzt besaß er auch noch die Frechheit, sie hinauswerfen zu wollen. Emma, die sich normalerweise nicht schnell ärgerte, spürte heiße Wut in sich aufsteigen.

Sie wollte schon die Unterlagen auf den Tisch knallen und ihn dann seine Ein-Mann-Party weiterfeiern lassen, als ihr ein Gedanke kam. Lucas hatte sie eben geduzt, und das tat er normalerweise nicht. Wahrscheinlich verwechselte er sie mit jemand anders. Nun musste sie an die Ballons, die Champagnerflaschen und die Torte denken.

„Lucas, ich bin es: Emma“, sagte sie langsam und deutlich.

Als er mühsam die Augen öffnete, sah sie darin ein unheilvolles Glimmen – ein eindeutiger Hinweis auf seine Stimmung. Aus irgendeinem Grund hatte Emma das Gefühl, Lucas habe sie berührt, obwohl sie gar nicht in seiner Nähe war. Ihr wurde warm.

So hatte sie ihn noch nie erlebt. Normalerweise war Lucas immer sehr gepflegt, elegant und sorgfältig gekleidet. Er trug handgenähte italienische Anzüge und maßgeschneiderte Hemden, gab sich in jeder Hinsicht nur mit dem Besten zufrieden und kannte sich mit sämtlichen schönen Dingen des Lebens aus. Doch heute Abend war alles anders. Er wirkte geradezu bedrohlich. Das hatte nicht nur mit seiner Stimmung zu tun, sondern auch mit seiner äußeren Erscheinung. Sein Hemdkragen stand offen und zeigte seinen muskulösen Oberkörper mit den schwarzen Härchen. Ein dunkler Schatten war auf seinem Kinn zu sehen. Doch am meisten beunruhigte sie, dass er kurz davor war, die Kontrolle über sich zu verlieren.

Emma reagierte so, wie sie es auch bei einem gefährlich knurrenden Rottweiler getan hätte: Sie blieb wie erstarrt stehen und versuchte, ruhig zu wirken. „Ich bin es doch, Emma“, wiederholte sie beschwichtigend. „Sie scheinen zu glauben, ich … ähm, ich sei jemand anders.“

Das unerträglich lange Schweigen, das nun eintrat, zerrte an ihren Nerven. Dann endlich bewegte Lucas sich leicht und fragte: „Emma?“ Seine Stimme hatte eine tödliche Sanftheit und beruhigte sie nicht im Geringsten.

Als ihr auffiel, dass ihre Hände zitterten, ermahnte Emma sich verärgert: Es ist doch nur Lucas. Sie kannte ihn seit zwei Jahren und wusste, dass er ziemlich hart war, aber weder bösartig noch gewalttätig. „Ja, ich bin es. Ich versuche schon seit Stunden, Sie zu erreichen. Warum gehen Sie denn nicht ans Telefon?“

„Wer, verdammt noch mal, hat Sie hier reingelassen?“

„Niemand. Ich habe geklingelt, aber keiner machte auf. Und da bin ich …“ Sie verstummte.

„Verstehe. Da sind Sie eben einfach so in mein Haus spaziert. Sagen Sie mal, Rotkäppchen, schlendern Sie öfter so durch den Wald, wenn der Wolf auf Beutefang ist?“

Als er sie mit seinen tiefblauen Augen durchdringend ansah, hatte Emma das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie lockerte ihren Schal ein wenig. Ob es an seinem Ton lag oder an seinem Blick – auf jeden Fall schlug ihr Herz heftig. Sie atmete tief ein und erwiderte: „Wenn Sie ans Telefon gegangen wären, hätte ich nicht einfach so hier eindringen müssen.“

„Mein Telefon ist ausgeschaltet, und ich habe die Tür nicht geöffnet, weil ich keine Gesellschaft wollte.“

Nun platzte ihr endgültig der Kragen. „Meinen Sie, ich bin zwei Stunden im Schneesturm über lebensgefährliche Landstraßen gefahren, weil ich mich nach Ihrer Gesellschaft sehne? In der letzten Woche bin ich täglich etwa fünfzehn Stunden in den Genuss Ihrer Anwesenheit gekommen. Das genügt mir vorerst.“ Sie fühlte sich ungerecht behandelt, und das machte sie wütend. „Ich bin hergekommen – übrigens trotz großer Unannehmlichkeiten –, um Ihnen die Unterlagen zu bringen, die Sie vergessen haben und morgen dringend benötigen.“

„Morgen?“, wiederholte Lucas, als sei dieser Tag noch weit entfernt. So weit, dass er ihn vielleicht gar nicht mehr erleben würde.

„Ja, morgen“, erwiderte Emma entgeistert. War Lucas wirklich so betrunken? „Die Einweihung des Ferrara Spa Resorts in Zubran. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?“ Sie warf den Ordner auf einen Tisch. „Bitte schön. Damit habe ich meine Pflicht erfüllt. Sie können sich bei mir bedanken, wenn Sie wieder nüchtern sind.“

Im Zeitlupentempo stellte Lucas die Champagnerflasche ab. „Sie sind hergefahren, um mir die Unterlagen zu bringen?“

„Allerdings.“ Inzwischen kam ihr das selbst schon ganz verrückt vor. „Sie brauchen sie schließlich, und ich wollte sie keinem Kurier anvertrauen.“

„Sie hätten sie doch Jim geben können.“

Jim war Lucas’ Chauffeur. „Er ist übers Wochenende nach Dublin geflogen“, entgegnete Emma zögernd. Wie konnte es sein, dass Lucas das nicht mehr wusste?

„Also haben Sie beschlossen, die Unterlagen persönlich vorbeizubringen.“ Lucas’ Augen glitzerten, während er ganz langsam den Blick von oben nach unten über Emma gleiten ließ, als würde er sie zum ersten Mal richtig wahrnehmen.

„Ja“, bestätigte sie knapp. Dass sie nicht gerade vorteilhaft aussah, ärgerte sie. Lucas’ Perfektionsansprüchen würde sie sicher niemals genügen, aber es hätte ihrem Selbstbewusstsein gutgetan, wenn ihr Mantel nicht vor Schnee und Schlamm getrieft hätte. „Ich wünschte allerdings langsam, ich hätte mir nicht diese Mühe gemacht. Offenbar wissen Sie das ja nicht zu schätzen.“

„Sie bluten am Kopf, und Ihr Haar ist ganz nass. Was ist denn passiert?“

Ich blute? Erstaunt berührte Emma ihren Kopf und spürte eine große Beule. Tatsächlich, sie blutete. Wie peinlich! „Ich … ich bin beim Aussteigen gestürzt. Es ist nicht weiter schlimm.“

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie beide in dem Zimmer allein waren. Das fühlte sich ganz anders an, als wenn sie sich zu zweit im Büro aufhielten. „Ich werde jetzt gehen und Sie Ihre Party weiterfeiern lassen.“ Unwillkürlich fragte sie sich, wo wohl die anderen Gäste waren.

„Ach ja, meine Party.“ Lucas lachte ironisch und ließ den Kopf auf die Sofalehne sinken. „Ja, Sie gehen besser, Emma. Jemand wie Sie sollte jetzt nicht hier sein.“

„Jemand wie ich?“ Sie verharrte mitten in der Bewegung. „Ich nehme an, Sie meinen damit Personen, die nicht in Ihren elitären gesellschaftlichen Kreisen verkehren?“

„Nein, das meinte ich nicht. Aber es ist auch egal.“

Doch seine Worte hatten Emma getroffen. „Mir ist es aber nicht egal. Ich habe gerade mein Leben aufs Spiel gesetzt und jemanden enttäuscht, der mir viel bedeutet – nur um Ihnen die Unterlagen zu bringen. Ein kleines Dankeschön wäre schon nett gewesen. Manchmal können gute Manieren wirklich nicht schaden.“

„Ich bin aber nicht nett. Und ganz sicher kein guter Mensch“, entgegnete Lucas so bitter, dass Emma wie vor den Kopf gestoßen war.

„Lucas …“

„Verschwinden Sie, Emma. Verschwinden Sie, und machen Sie die verdammte Tür hinter sich zu.“

2. KAPITEL

„Was für ein undankbarer, verbohrter, unverschämter …“

Wütend schimpfte Emma vor sich hin, als sie die Treppe hinunterstürmte.

„Verschwinden Sie, Emma“, hatte er gesagt. Nur zu gern, dachte sie aufgebracht. Zumindest hatte sie ihre Pflicht erfüllt: Lucas hatte die Unterlagen erhalten. Jetzt konnte sie endlich mit reinem Gewissen die freien Tage mit Jamie genießen.

Emmas Schritte hallten durch die riesige Eingangshalle. Noch immer hatte sie keine andere Menschenseele gesehen oder auch nur ein Geräusch gehört. War die Party verfrüht zu Ende gegangen?

Ich sagte doch, du sollst verschwinden. Wen hatte Lucas damit nur gemeint? Das kann dir völlig egal sein, ermahnte Emma sich. Sie öffnete die schwere Eingangstür und zog ihren feuchten Mantel enger um sich, als sie hinter ihr zufiel. Es schneite inzwischen so stark, dass Emma ihre Fußspuren nicht mehr sah und ihr Auto unter einer dicken Schneedecke lag.

Vorsichtig, um nicht noch einmal zu stürzen, ging Emma zum Wagen und schob den Schnee von der Windschutzscheibe. Hoffentlich war die Brücke überhaupt noch passierbar! Als sie gerade einsteigen und den Motor anlassen wollte, wurde ihr plötzlich klar, was sie an der Torte merkwürdig gefunden hatte: Sie war völlig unberührt gewesen.

Einen Moment lang stand Emma da, ein Bein schon im Wagen, das andere auf dem verschneiten Boden. Offenbar war die Feier beendet gewesen, noch bevor man den Kuchen angeschnitten hatte. Ich sagte doch, du sollst verschwinden.

Sie stieg ein. Doch als sie mit den vor Kälte steifen Fingern den Motor starten wollte, grübelte sie weiter nach.

„Verflixt noch mal!“ Sie ließ die Hände sinken und lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze. Lucas hatte ihr gesagt, sie solle verschwinden. Und das einzig Kluge wäre, genau das zu tun. Er will allein sein, rief sie sich in Erinnerung. Also lass ihn in Ruhe. Was auch immer Lucas Jackson für ein Problem hatte, es ging sie nicht das Geringste an.

Ohne etwas zu sehen, blickte Lucas starr in das langsam erlöschende Kaminfeuer.

Er war zwar betrunken, aber leider nicht so sehr, wie er es gerne gewesen wäre. Der Schmerz war so heftig wie eh und je. Es war, als würde ihm wieder und wieder ein Messer ins Herz gerammt werden. Und nichts, was er tat, würde den Schmerz lindern. Mühsam stand Lucas auf, schleppte sich zum Korb mit Feuerholz und zog ein Scheit heraus.

„Das sollten Sie lieber nicht tun. Am Ende brennen Sie noch das ganze Schloss nieder“, hörte er eine Frauenstimme sagen. Lucas, der zu halluzinieren glaubte, drehte sich um.

Emma stand vor ihm, mit vor Kälte rosa angehauchten Wangen, Schneeflocken im dunklen Haar und einem Blick, den man als „frostig“ bezeichnen konnte. Lucas war nicht sicher, ob sie aufgebracht oder trotzig war. Er richtete sich langsam auf.

„Ich dachte, ich hätte Ihnen gesagt …“

„… dass ich verschwinden soll? Stimmt, das haben Sie, und das war ziemlich unhöflich“, entgegnete sie kühl. „Wenn Sie so mit Menschen umgehen, haben Sie es eigentlich verdient, allein gelassen zu werden.“ Als sie ihren Schal löste, fielen tauende Schneeflocken auf den dicken Teppich.

„Genau das will ich ja“, antwortete Lucas betont langsam. Er spürte, dass seine heftigen Gefühle ihn jederzeit überwältigen könnten.

„Ja, das sagten Sie.“

„Und warum sind Sie dann immer noch hier?“

„Ich mische mich in Ihre Angelegenheiten ein“, erwiderte Emma und streifte einen durchnässten Handschuh ab. „Allerdings aus ganz eigennützigen Gründen: Ich möchte mir nicht während meines gesamten Urlaubs Sorgen machen, dass Sie vielleicht volltrunken ins Kaminfeuer gestürzt sind.“

„Warum sollte Sie das kümmern?“

„Weil ich mir dann einen neuen Job suchen müsste.“

„Sie können ganz unbesorgt sein.“ Lucas umfasste das Holzscheit so fest, dass die Borke ihm schmerzhaft in die Hand schnitt. „So betrunken bin ich noch nicht, obwohl ich mir alle Mühe gebe.“

„Und genau deshalb kann ich nicht ‚verschwinden‘.“ Sie zog sich den zweiten Handschuh aus und ließ ihn fallen. „Ich möchte nicht, dass Ihr Tod mein Gewissen belastet.“

„Ich werde doch nicht sterben.“ Lucas wurde wütend. „Sie können ganz ohne Gewissensbisse gehen. Und zwar am besten sofort.“

„Ich gehe erst, wenn Sie mir erklären, warum unten alles nach einer Party aussieht, Sie aber allein im Haus sind“, entgegnete Emma hartnäckig.

„Ich bin ja gar nicht allein“, antwortete Lucas. „Leider. Sie sind ebenfalls hier, und ehrlich gesagt, verstehe ich nicht ganz, warum. Ich habe mich Ihnen gegenüber ausgesprochen unhöflich verhalten. Allein aus Selbstachtung sollten sie mir einen Kinnhaken versetzen und sofort kündigen.“

„So etwas passiert nur in Hollywoodfilmen. Im echten Leben kann es sich kaum jemand leisten, seine Arbeit einfach so hinzuwerfen“, stellte sie fest. „Und nur jemand, der so viel Geld hat wie Sie, würde so etwas vorschlagen.“ Zitternd zog sie ihren durchnässten Mantel aus und trat näher an den Kamin. „Ich würde meine Selbstachtung verlieren, wenn ich jemandem den Rücken kehre, dem es nicht gut geht.“

„Emma“, begann Lucas, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Es stimmt zwar, dass Ihnen Empathievermögen und gewisse andere menschliche Eigenschaften fehlen, zum Beispiel ein Gewissen. Andererseits sind Sie, zumindest meistens, ein angenehmer Chef. Also wäre es ziemlich dumm, einfach zu kündigen. Ich liebe meine Arbeit nämlich. Und was den Kinnhaken betrifft: Ich habe noch nie jemanden geschlagen, auch wenn ich letzte Woche im Supermarkt kurz davor war. Aber das ist eine andere Geschichte. Außerdem sind meine Hände so kalt, dass ich sie wahrscheinlich gar nicht zur Faust ballen könnte.“ Sie bewegte probeweise die Finger.

Entgeistert und verärgert stellte Lucas fest, dass Reichtum und Erfolg offenbar nicht genügten, um in Ruhe gelassen zu werden. „Sie lieben also Ihre Arbeit?“, sagte er angespannt. „Dann gebe ich Ihnen eine Anweisung: Verschwinden Sie, oder Sie sind gefeuert.“

„Sie können mich nicht entlassen. Wie ich meine Freizeit verbringe, ist nämlich ganz allein meine Sache.“

„Bisher waren Sie doch immer so darauf bedacht, am Wochenende nicht zu arbeiten. Warum müssen Sie ausgerechnet heute gegen diese Regel verstoßen?“, fragte er wütend. „Bestimmt werden Sie doch ganz dringend irgendwo gebraucht. Was ist denn mit Ihrem spannenden Privatleben?“ Ihm fiel wieder ein, wie sie einmal zu Beginn ihrer Tätigkeit bei ihm einen persönlichen Anruf bekommen hatte. „Sollten Sie nicht auf dem Weg zu Jamie sein?“

„Woher wissen Sie von Jamie?“, fragte Emma überrascht.

„Jedenfalls nicht wegen meines Mitgefühls, und mit meinem Gewissen hat es auch nichts zu tun“, versicherte Lucas schnell. „Ich habe einfach ein gutes Gedächtnis.“

„Sobald ich sicher sein kann, dass es Ihnen gut geht, fahre ich zu Jamie.“

„Es geht mir gut, das sehen Sie doch“, sagte er ungeduldig.

„Nein. Ich sehe, dass Sie allein und betrunken sind, obwohl Sie Alkohol sonst normalerweise kaum anrühren. Das ist alles sehr merkwürdig.“ Nachdenklich blickte sie ihn an. „Ich frage mich auch, warum niemand die Torte angeschnitten hat. Und Sie hatten auch gar keine Zeit, eine Party vorzubereiten …“ Plötzlich verstand sie. „Es war eine Überraschungsparty, stimmt’s? Und Sie haben die Gäste rausgeworfen!“

„Tja, nicht jede Überraschung ist eben gelungen. Und jetzt verschwinden Sie bitte“, sagte Lucas erneut ziemlich grob.

„Ich nehme an, das waren Tara und ihr Gefolge?“ Emmas Gesichtsausdruck verriet deutlich, was sie von dem egozentrischen Model hielt. „Sie hätte Sie nicht in diesem Zustand allein lassen dürfen. Was war denn eigentlich der Anlass für die Feier?“

„Ihr Geburtstag.“ Lucas sah, wie sie erstaunt den Mund öffnete. Sie hatte zarte ungeschminkte Lippen. Und sie trug den schlichten grauen Rock, den sie schon im Büro angehabt hatte, mit einer weißen Bluse und einem hellbraunen Pulli unter ihrem ziemlich nassen Mantel. Emma wirkte vernünftig und nüchtern.

Andererseits war sie immer sehr vernünftig gekleidet und hielt ihr Haar ordentlich mit einer großen Spange zusammen. Emma war in jeder Hinsicht der Inbegriff professionellen Auftretens.

„Sie hat eine Überraschungsparty anlässlich ihres eigenen Geburtstags gegeben?“

„Ja. Ich hatte ihr gesagt, dass es kein guter Tag für mich ist. Aber Tara kann mit einem Nein nicht umgehen.“

„Warum nicht?“

Lucas lächelte ironisch. „Weil sie eine Frau ist.“

„Nein“, sagte Emma ungeduldig. „Ich meinte, warum ist es kein guter Tag für Sie? Ich möchte wissen, warum Sie ihn unbedingt allein und sturzbetrunken verbringen wollen. Ist etwas mit dem Geschäftsabschluss in Zubran schiefgegangen?“

„Wie kommen Sie denn darauf, dass es etwas mit der Arbeit zu tun hat?“

„Weil Ihre Arbeit das Einzige ist, das Ihnen etwas bedeutet.“

Lucas sah sie eine ganze Weile starr an. Dann wandte er sich um und warf endlich das Holzscheit ins Feuer. Sofort züngelten die Flammen hoch und spendeten wohlige Wärme.

Er konnte Emma wegen ihrer Vermutung keinen Vorwurf machen. Sie hatte ja keine Ahnung. Und das war auch gut so. Auf Mitleid oder Verständnis konnte er gut verzichten.

„Sie sollten wirklich nicht hier sein, Emma.“

„Bin ich aber. Und vielleicht kann ich ja helfen.“ Kerzengerade stand sie da, offen und direkt. Eine unschuldige Frau mit Herz, die nicht ahnte, wie düster die Welt sein konnte.

Lucas gab sich alle Mühe, Frauen wie ihr aus dem Weg zu gehen. Für Unschuld bestand in seinem Leben kein Raum. „Nein, Sie können nicht helfen.“ Die Beziehung zwischen ihnen war immer rein geschäftlich gewesen, und Lucas trennte aus Prinzip strikt zwischen Arbeit und Privatem. Eigentlich hatte er geglaubt, dass Emma das genauso sah.

„Sind Sie wegen Tara so aufgewühlt? Das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Ich habe noch nie erlebt, dass Sie auch nur die geringste emotionale Regung in Bezug auf eine Frau zeigen“, sagte Emma unverblümt. „Eigentlich dachte ich, für Sie seien Frauen eher eine Art Accessoire, wie Ihre Manschettenknöpfe. Da tragen Sie ja je nach Anlass auch immer unterschiedliche.“

Das war eine ebenso scharfsinnige wie originelle Bemerkung, dass Lucas in weniger düsterer Stimmung vielleicht sogar gelacht hätte. Doch wie die Dinge lagen, wollte er Emma vor allem loswerden. „Vielleicht sieht es mir ja doch ähnlich“, entgegnete er ein wenig drohend. „Vielleicht kennen Sie mich einfach überhaupt nicht.“ Langsam ging er auf sie zu und bemerkte, dass sie am liebsten zurückgewichen wäre.

„Hören Sie auf, mich einzuschüchtern. Ich will Ihnen nur helfen.“

„Ich will aber keine Hilfe. Weder von Ihnen noch von sonst wem.“

Wenn nichts half, dann doch sicher das. Lucas redete sich ein, dass er Emma einen Gefallen tat, als er sie mit dem Rücken gegen die Ziegelwand drückte. Außer dem Knistern des Feuers war nun nur noch ihr schneller Atem zu hören. Direkt neben ihnen sah man durchs Fenster auf den Schnee, der im Mondlicht glitzerte. Doch Lucas hatte nur Augen für Emmas sinnliche zarte Lippen. Ihr Haar duftete nach Blumen und Holzfeuer.

Er spürte, wie sein Körper heftig reagierte. Schockiert sah Emma ihn mit großen Augen an. Auch Lucas war erschüttert, denn auf das intensive Verlangen, das ihn nun überwältigte, war er nicht vorbereitet. Er musste all seine Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht zu tun, wonach er sich plötzlich so heftig sehnte.

Innerhalb eines Moments hatte sich die Beziehung zwischen Emma und ihm grundlegend geändert. Hier, weit weg von den Glaswänden seines Büros, waren sie plötzlich nicht mehr Chef und Angestellte, sondern ein Mann und eine Frau.

Es liegt bestimmt am Alkohol, dachte er. Verdammt. Diese Grenze überschritt er nie bei Frauen, die für ihn arbeiteten. Und vor allem wusste er, dass er Emma nicht das geben konnte, was sie sich sicher wünschte.

Als Lucas vorsichtshalber auf Abstand gehen wollte, kam sie ihm zuvor, schob ihn weg und entwand sich ihm. „Ich gehe jetzt, damit Sie in Ruhe nüchtern werden können.“

Sie klang wieder ruhig und gelassen. Doch Lucas sah, wie sie nervös die Hände in die Taschen ihres nassen Mantels schob, als würde auch sie sich nur mühsam beherrschen.

Er hatte sie durcheinandergebracht und ihr vielleicht sogar ein wenig Angst gemacht. Das war ja auch meine Absicht, rief er sich in Erinnerung. Er wollte schließlich, dass sie ihn verließ. Doch als sie sich umwandte und ging, bemerkte er plötzlich lauter Dinge an ihr, die ihm noch nie aufgefallen waren. Zum Beispiel, dass ihr seidig glänzendes Haar denselben satten Braunton hatte wie die Holzvertäfelung im Turmzimmer. Und dass sie eine der wenigen Frauen in seinem Bekanntenkreis war, die noch errötete.

Unwillkürlich dachte er an Jamie – den Mann, der zu Hause auf Emma wartete. Er wusste nur, dass sie schon mit ihm zusammen war, seit sie für ihn, Lucas, arbeitete, also seit zwei Jahren. Das bestätigte seine Vermutungen: Emma glaubte an die Liebe.

Erneut griff er nach der Champagnerflasche.

Zum zweiten Mal an diesem Abend stürmte Emma die Treppe in die große Eingangshalle hinunter. Doch diesmal zitterten ihr die Knie und die Hände, und sogar ihr Magen schien gereizt zu reagieren.

Seit sie die Stelle bei Lucas Jackson angetreten hatte, versuchte sie, ihn nicht als Mann zu sehen, sondern als Chef und Arbeitgeber, der ihr Gehalt bezahlte. Natürlich entging ihr nicht, was für eine Wirkung er auf Frauen hatte, denn sie hielt ihm oft genug unliebsame Anrufe vom Leib. Doch es war ihr gelungen, seinen Sexappeal mit einer gewissen Distanz wahrzunehmen – in etwa so, wie man ein schönes Gemälde in einer Galerie betrachtete, das man sich nie ins eigene Wohnzimmer würde hängen können.

Und dann hatte diese sexuelle Anziehung sie plötzlich geradezu überfallen. Das konnte Emma wirklich nicht gebrauchen. Sie war glücklich und zufrieden mit ihrem Leben, mit Jamie. Das alles wollte sie auf keinen Fall aufs Spiel setzen, und erst recht nicht für einen so unhöflichen, egoistischen Kerl wie Lucas Jackson.

Erotische Augen, ein toller Körper und ein scharfer Verstand konnten nicht wettmachen, was ihm auf persönlicher Ebene fehlte. Niemand war Lucas wichtig. Und das war wirklich kein sehr attraktiver Charakterzug, wie sich Emma in Erinnerung rief.

Er hatte sie ganz bewusst durcheinandergebracht, damit sie ihn in Ruhe ließ. Und das hatte sie getan, aber wegfahren würde sie deshalb noch lange nicht. Emma konnte einfach niemanden allein lassen, der sich in so einem Zustand befand.

In der Eingangshalle angekommen, verdrängte sie entschlossen, wie Lucas sie angesehen hatte, als er sie an die Wand gedrückt hatte. Stattdessen betrachtete sie die grellbunte Partydeko, die in der eleganten Halle völlig fehl am Platz wirkte. Irgendetwas an der Party hatte Lucas aufgebracht. Oder er war schon bei seiner Ankunft wütend gewesen. In jedem Fall hatte Emma ihn noch nie zuvor betrunken erlebt.

Da die Deko sicher ebenso unerwünscht war wie die Party, machte sich Emma daran, die Luftschlangen zu entfernen. Dabei fiel ihr ein, dass sie Lucas doch schon einmal betrunken erlebt hatte. Auch damals hatte Schnee gelegen – es musste ziemlich genau ein Jahr zuvor gewesen sein.

Emma hatte allein bis spät am Abend gearbeitet. Als sie in Lucas’ Büro gegangen war, hatte er dort auf dem Sofa gelegen und geschlafen, neben sich eine leere Whiskyflasche. Ohne ihn zu wecken, hatte Emma ihn vorsichtig zugedeckt und noch ein paarmal nach ihm gesehen. Sie hatte ihn nie darauf angesprochen.

Als sie sich streckte, um die letzten Ballons zu entfernen, kam sie darauf, dass es im Vorjahr in derselben Woche gewesen war, möglicherweise sogar genau am selben Tag. Das wusste Emma, weil sie sich jedes Jahr zu Weihnachten Urlaub nahm.

Ob es Zufall war, dass Lucas sich dieses Jahr zur selben Zeit betrunken hatte? Wahrscheinlich schon. Nach der ganzen Hektik musste sich doch jeder mal entspannen, sogar der arbeitswütige Lucas. Wie dem auch sei, es geht dich nichts an, wies Emma sich innerlich zurecht, während sie die Ballons mit ihrem Autoschlüssel zum Platzen brachte.

Aber es ließ ihr einfach keine Ruhe. Wenn es nun kein Zufall war, dass Lucas sich genau zur selben Zeit betrunken hatte wie im Vorjahr – und kein Zufall, dass ein so gewissenhafter Mann wie er so wichtige Dokumente vergaß …?

Schließlich hatte Emma alles beseitigt, was an die Party erinnerte, bis auf die unberührte Torte und die unbenutzten Gläser. Frustriert ließ sie den Blick zur Treppe gleiten. Es war eine ausweglose Situation. Wenn sie wegfuhr, würde sie sich Sorgen machen. Und wenn sie blieb, ging sie das Risiko ein, erneut verbal hinausgeworfen zu werden.

Oder Schlimmeres, dachte sie und errötete. Wenn Lucas nun glaubte, sie würde aus einem ganz anderen Grund bleiben? Denn wie sie vorhin auf ihn reagiert hatte, war ihm sicher nicht entgangen. Dafür hatte er viel zu viel Erfahrung mit Frauen. Sie konnte nur hoffen, dass er zu betrunken war, um sich später daran zu erinnern – und am nächsten Morgen den kurzen Moment vergessen hätte, in dem sie ihn ausnahmsweise nicht als Chef betrachtet hatte. Denn das alles passte ja auch so gar nicht zu ihrem sonstigen Verhalten.

Emma blickte zum Fenster hinaus und sah, dass es noch immer schneite. Ich bleibe noch eine halbe Stunde, beschloss sie. Sie würde noch einmal nach Lucas sehen, hoffentlich unbemerkt, und ihn dann in der selbstgewählten Einsamkeit dieser Schneewüste zurücklassen.

3. KAPITEL

Lucas stand unter der Dusche und spürte das eiskalte Wasser wie spitze Nadeln auf seiner Haut. Er war eindeutig noch betrunken, aber statt der üblichen Benommenheit hatte er das Gefühl, seine Wahrnehmung sei geschärft.

Ihm gingen Dinge durch den Kopf, an die er auf keinen Fall denken sollte. Daran war bestimmt der Champagner schuld. Zum Glück war Emma gegangen, denn sonst wäre Lucas versucht gewesen, sich auf ganz andere Art von seinem Schmerz abzulenken …

Angewidert von sich selbst, stöhnte er auf.

Wieso stellte er sich seine Assistentin plötzlich nackt vor? Das hatte er doch noch nie getan. Aber nun ließ ihn der Gedanke an ihr dunkles glänzendes Haar nicht mehr los. Er hatte diese verdammte Spange herausziehen wollen, damit es ihr auf die Schultern fiel und er tief in die weichen Locken greifen konnte. Lucas hatte sich ihr Haar um die Hände schlingen und Emma an sich pressen wollen, während er sie küsste – als sei sie die Erlösung, nach der er suchte. Doch er durfte sich nichts davon wünschen.

Leise fluchend lehnte er sich gegen die kühlen Kacheln, schloss die Augen und ließ sich das Wasser über den Kopf strömen. Nein, er durfte sich nicht danach sehnen, ihr Haar zu berühren. Und ganz bestimmt durfte er nicht daran denken, Emma zu küssen. Schließlich arbeitete sie für ihn und sollte das auch weiterhin tun. Außerdem gab es ohnehin keine Erlösung von seinem Schmerz.