Das Ende des Geldes, wie wir es kennen - Alexander Hagelüken - E-Book

Das Ende des Geldes, wie wir es kennen E-Book

Alexander Hagelüken

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Beschreibung

Bargeld, Zinsen für Sparer, rein staatliche Währungen: Jahrhundertealte Gewissheiten des Geldes sind plötzlich passé. Wer spart, zahlt jetzt drauf. Münzen und Scheine verschwinden, bald auch durch Kryptowährungen, die staatlichem Geld Konkurrenz machen. Alexander Hagelüken, Leitender Redakteur für Wirtschaftspolitik bei der Süddeutschen Zeitung, zeigt, welche Kräfte diese Entwicklungen vorantreiben, wie weit diese international gediehen sind und worauf wir uns einstellen müssen. Ein Weckruf für alle, denen ihr Geld etwas bedeutet.
Läden ohne Kasse, in denen man per Gesichtserkennung bezahlt. Konten, auf denen Nullzinsen das Ersparte schrumpfen lassen. Globale Konzerne wie Facebook, Amazon oder Alibaba, die intime Daten absaugen oder eigene Währungen starten, mit denen man Geld verliert … Was nach einer Albtraumwelt klingt, wird allmählich Wirklichkeit. Auf der Grundlage von Daten aus vielen Ländern und Gesprächen mit internationalen Fachleuten deckt das Buch auf, wie radikal sich der Charakter des Geldes ändert. Alexander Hagelüken entlarvt Mythen über die Aktionen der Zentralbanken, zeigt die Gefahr neuer Finanzkrisen und schildert, wie Digitalkonzerne zunehmend Macht über unser Leben gewinnen. Der Autor sagt, was die Politik tun muss, um das Schlimmste zu verhindern, und vor allem: Wie sich jeder Einzelne vor schleichender Enteignung und Überwachung schützen kann.

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Alexander Hagelüken

Das Ende des Geldes, wie wir es kennen

Der Angriff auf Zinsen, Bargeld und Staatswährungen

C.H.Beck

Zum Buch

Bargeld, Zinsen für Sparer, rein staatliche Währungen: Jahrhundertealte Gewissheiten des Geldes sind plötzlich passé. Wer spart, zahlt jetzt drauf. Münzen und Scheine verschwinden, bald auch durch Kryptowährungen, die staatlichem Geld Konkurrenz machen. Alexander Hagelüken, Leitender Redakteur für Wirtschaftspolitik bei der Süddeutschen Zeitung zeigt, welche Kräfte diese Entwicklungen vorantreiben, wie weit diese international gediehen sind und worauf wir uns einstellen müssen. Ein Weckruf für alle, denen ihr Geld etwas bedeutet.

Läden ohne Kasse, in denen man per Gesichtserkennung bezahlt. Konten, auf denen Nullzinsen das Ersparte schrumpfen lassen. Globale Konzerne wie Facebook, Amazon oder Alibaba, die intime Daten absaugen oder eigene Währungen starten, mit denen man Geld verliert …Was nach einer Albtraumwelt klingt, wird allmählich Wirklichkeit. Auf der Grundlage von Daten aus vielen Ländern und Gesprächen mit internationalen Fachleuten deckt das Buch auf, wie radikal sich der Charakter des Geldes ändert. Alexander Hagelüken entlarvt Mythen über die Aktionen der Zentralbanken, zeigt die Gefahr neuer Finanzkrisen und schildert, wie Digitalkonzerne zunehmend Macht über unser Leben gewinnen. Der Autor sagt, was die Politik tun muss, um das Schlimmste zu verhindern, und vor allem: Wie sich jeder Einzelne vor schleichender Enteignung und Überwachung schützen kann.

Über den Autor

Alexander Hagelüken, Ökonom, ist Leitender Redakteur für Wirtschaftspolitik bei der Süddeutschen Zeitung. Zuvor berichtete er für die SZ aus Berlin und Brüssel und leitete sieben Jahre den Finanz-Teil der Zeitung. Seine Bücher über Ungleichheit (Das gespaltene Land, 2017) und die Rente (Lasst uns länger arbeiten, 2019) haben für lebhafte Debatten gesorgt.

Inhalt

Einleitung: Eine neue Epoche bricht an

1. Eine kurze Geschichte des Geldes: Von Blutrache, Tulpenwahn und Fortschritt

Die Ära des Edelmetalls

Italienische Kredite und chinesisches Papiergeld

Schweden und Briten erfinden die Zentralbank

Geld ist ein schlechter Herr

Von Amerika geht eine Finanzkrise aus

2. Münzen und Scheine verschwinden

Chinesen zahlen per Handy, Österreicher bald per Skistock?

Warum die Deutschen am Bargeld hängen

3. Zahlen per Gesicht, Überwachung pur: Wie Amazon, Alibaba und Apple das Bargeld verdrängen

Better than cash

Der große Datenraub

Die Macht der amerikanischen Tech-Konzerne

Die gläsernen Chinesen

Der Weg zur digitalen Diktatur

4. Vom Recht auf Bargeld: Warum die Bürger zahlen sollen, wie sie wollen

«Die Schweiz wird als letztes Land Bargeld abschaffen»

Wie man mit Bar-Obergrenzen die italienische Mafia bekämpft

Die Macht der Bürger

5. Sparers Alptraum: Eine Welt ohne Zinsen

Deutsche sind zum Sparen erzogen – andere Nationen auch

Gewinner und Verlierer

Arm im Alter

Die Wut auf EZB, Fed & Co.

6. Finanzkrise, Alterung, Stagnation: Was die Zinsen noch lange niedrig hält

USA, Deutschland, Japan: Die Zinsen sinken überall seit langem

Flucht in Sicherheit

Die Alterungswelle

Reiche sparen mehr

Das Ende der Inflation

7. Wie Sparer der Zinsfalle entkommen – und warum das gut für die Demokratie ist

Frösche im Topf

Aktien und Immobilien schlagen Zinsprodukte

Deutsche, Österreicher, Schweizer als Verlierer der neuen Zeit

Mehr Finanzbildung

Der Bankrott des traditionellen Sparers

Die Stunde des Staates

8. Fed, EZB & Co.: Zentralbanken krempeln das Leben der Menschen um

Wie die amerikanische Notenbank vorangeht

Finanzkrise 2008: Der Urknall

Die EZB begann spät

Inflation oder Deflation?

Wie ein Italiener den Euro rettete

9. Globale Risiken und der Corona-Schock

Aufblasen, bis es platzt

Arme Mieter und wackelnde Banken

Ein Koreaner lernt, riskante Übernahmen zu hassen

Corona oder Die Stunde der Abrechnung

Unterwegs in Terra incognita

10. Das Endspiel um den Euro

Währungsunion ohne politische Union

Euro-Problem 1: Billige Schulden

Euro-Problem 2: Teure Exporte

Deutschlands schwarze Null hängt über Europa

Ein Pakt für die Zukunft

Ein Gespenst namens Inflation

11. Kryptowährungen greifen Euro und Dollar an

Weltverbesserer und Weltkonzerne

Der Nakamoto-Mythos oder Die Verklärung des digitalen Geldes

A bit of shitcoin: Der Krypto-Hype

Voll halbseiden

12. Facebooks Digitalwährung Libra: Versprechen und Gefahren

Der Angriff auf Euro und Dollar

Eine Chance für die Armen

Ein großartiges Geschäft

Verbrechen & Co.

Wie sicher Libra ist

13. Wie sich das Konzerngeld stoppen lässt

Facebook macht Konzessionen

Mark Zuckerberg umgarnt die US-Regierung

Andere Digitalkonzerne warten schon

Wie Facebook zum doppelten Gorilla wird

Was die Bürger und der Staat tun können

Dank

Zeittafel zur Geschichte des Geldes

Anmerkungen

Einleitung: Eine neue Epoche bricht an

1. Eine kurze Geschichte des Geldes: Von Blutrache, Tulpenwahn und Fortschritt

2. Münzen und Scheine verschwinden

3. Zahlen per Gesicht, Überwachung pur: Wie Amazon, Alibaba und Apple das Bargeld verdrängen

4. Vom Recht auf Bargeld: Warum die Bürger zahlen sollen, wie sie wollen

5. Sparers Alptraum: Eine Welt ohne Zinsen

6. Finanzkrise, Alterung, Stagnation: Was die Zinsen noch lange niedrig hält

7. Wie Sparer der Zinsfalle entkommen – und warum das gut für die Demokratie ist

8. Fed, EZB & Co.: Zentralbanken krempeln das Leben der Menschen um

9. Globale Risiken und der Corona-Schock

10. Das Endspiel um den Euro

11. Kryptowährungen greifen Euro und Dollar an

12. Facebooks Digitalwährung Libra: Versprechen und Gefahren

13. Wie sich das Konzerngeld stoppen lässt

Personenregister

Einleitung: Eine neue Epoche bricht an

Sobald Zhang Liming ihren üblichen Supermarkt in Tianjin betritt, scannt eine 3D-Kamera ihr Gesicht. Was Zhang Liming einkauft, wird von ihrem Konto abgebucht, ohne dass sie je einen Yuan-Schein zückt. «Das ist bequem», sagt die Rentnerin aus der Millionenstadt im Nordosten Chinas. Werden Gesichtsfotos gespeichert, dienen sie aggressivem Marketing und ausgreifender Überwachung, sagen Datenschützer.

Mit den Verträgen von Tianjin öffneten die westlichen Staaten China 1858 gewaltsam für ihren Handel, auch mit Opium. Mit den Gesichtsscans öffnen chinesische Digitalkonzerne wie Alibaba und Tencent Bezahlwege, die das Einkaufen für immer verändern. Wie viel Gewalt damit den Menschen angetan wird, ist umstritten. Während hunderte Millionen Chinesen auf Bargeld verzichten, warnen Datenschützer wie Marit Hansen vor den Gefahren. Hansen rechnet damit, dass Zahlen per Gesicht auch für Digitalkonzerne wie Amazon oder Facebook zum Thema wird: «Wir sind auf dem Weg zu Welt-Datenbanken mit allen Gesichtern von allen Menschen.»[1] Zahlen per Gesicht statt Geldschein ist zweifellos das Ende des Geldes, wie wir es kennen. Das Scannen unserer Intimsphäre stellt nicht die einzige epochale Veränderung dar, die die Menschheit gerade erlebt. Facebook etwa, dessen soziale Netzwerke drei Milliarden Erdbewohner nutzen, rollt auch die digitale Währung Libra aus. Während Konzernchef Mark Zuckerberg weltweit bessere Bankleistungen verspricht, sehen Kritiker einen Angriff auf Staatswährungen wie Euro oder Yen.

«Neue Zahlungsmethoden wie Libra zwingen uns, über die Rolle des Geldes in der Gesellschaft neu nachzudenken», verkündet Jon Cunliffe, Vizechef der britischen Zentralbank. «Das passiert etwa alle 100 bis 150 Jahre. Wir sind jetzt wieder an so einem Wendepunkt. Geld ist nichts anderes als eine soziale Übereinkunft, die sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert hat.»

Diese soziale Übereinkunft hat die Menschen stets fasziniert – und abgestoßen. Dem einen bedeutet sie Hoffnung auf bessere Zeiten, auf Konsum, Bequemlichkeit und Sicherheit. Der andere verdammt sie als Symbol der Habgier, Mittel zum Krieg oder wie Karl Marx als «allgemeine Hure, Agent in der Schöpfung des Weltmarkts». Zwischen diesen Gegensätzen bewegt es sich.

Geld erwies sich in der Geschichte der Menschheit als Schmiermittel. Der ökonomische Fortschritt ist untrennbar damit verbunden, bis hin zum erstmaligen Wohlstand für breite Massen im 20. Jahrhundert. Die Mehrheit der Menschen strebt diesen Wohlstand an – und hält die Existenz von Geld daher für unverzichtbar. Gleichzeitig stoßen Ausprägungen der monetär basierten Marktwirtschaft bis heute auf Kritik, oft zu Recht, ob es sich um Finanzkrisen, Gewinnmaximierung oder den Graben zwischen Arm und Reich handelt. Klar ist auf jeden Fall, dass das Monetäre eine Ausnahmestellung erreicht hat, die Vergleiche mit sinnstiftenden Religionen provoziert: «Das Geld ist allgegenwärtig, allmächtig und überwindet Zeit und Raum», formuliert der Historiker Gérard Vincent. «Deshalb haben manche in ihm die fetischisierte Gestalt Gottes gesehen.» Geld ist ein Symbol für alles, fasste sein Landsmann Napoleon bündig zusammen.

Doch was passiert gerade mit diesem Geld? An diesem Wendepunkt wie nur alle hundert Jahre? «Ich habe seit Wochen keine Münzen und Scheine berührt. Das fundamentale Wesen des Geldes verändert sich», diagnostiziert Neha Narula, Direktorin am Massachusetts Institute of Technology (MIT).

Was geschieht da? Wieso verschwinden überall auf den Bankkonten die Zinsen für Sparer? Warum verschwindet Bargeld? Gibt es bald nur noch digitale Zahlungsmittel bis hin zu Konzerngeld wie Facebooks Libra? Verliert der Euro das Endspiel um seine Zukunft? Dieses Buch will untersuchen, was da passiert. Und wie sehr globale Trends und mächtige Konzerne hinter dem Ende des Geldes stehen, wie wir es kennen.

Neue Digitalkonzerne wie Alibaba, Amazon und Google greifen das Bargeld an, das bisher Milliarden Menschen unverzichtbar fanden. Neue Digitalwährungen wie Bitcoin oder Libra greifen die Staatswährungen an, die seit Jahrhunderten den Alltag dominieren. Hunderte Millionen Sparer fühlen sich angegriffen, weil Sparprodukte keine Zinsen mehr abwerfen. Ja, manche Bank verlangt sogar eine Gebühr, ein Verwahrentgelt, wenn Kunden für die Zukunft sparen. Das erschüttert die kollektiven Überzeugungen zahlreicher Nationen.

Doch eröffnet das Ende des Geldes, wie wir es kennen, nicht vielleicht auch Chancen? Können sich die Sparer womöglich Anlagen suchen, die attraktiver sind, als es ihre traditionellen Zinsprodukte je waren? Erleichtert es das Leben, weniger bar zu bezahlen? Überwinden Digitalwährungen Schwächen des bisherigen Geldsystems, das zuletzt in immer kürzeren Abständen zu kollabieren drohte wie in der Finanzkrise 2008 und der Eurokrise 2010–​2015?

All diese Fragen verschärfen sich durch einen Jahrhundert-Schock, den die Menschen so wenig erwartet hatten wie eine Rückkehr der mittelalterlichen Pest. Die Corona-Pandemie warf die Erdbewohner 2020 aufs Existenzielle zurück. Alleine mit ihrer Angst, besorgt um das Leben anderer, kaserniert in ihren Wohnungen, überfordert als arbeitende Eltern. Bald lähmte der Schock die Wirtschaft. «Zum zweiten Mal in 12 Jahren haben die entwickelten Länder keine andere Wahl, als 20 bis 50 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts gegen eine mächtige Erschütterung einzusetzen», staunte Nicolas Baverez in Le Figaro. «Niemals in der Geschichte der Wirtschaftspolitik wurde eine Summe in solchem Umfang und solchem Tempo mobilisiert.» Können sich Euro und Dollar angesichts der Corona-Schuldenberge halten? Schlägt die Stunde der Digitalwährungen von Bitcoin bis Libra? Verabschieden die Menschen das Bargeld, weil es das Virus überträgt? Bleiben die Zinsen im Keller und treiben noch mehr wütende Sparer den Populisten zu?[2]

Dieses Buch erkundet Chancen und Risiken des monetären Wandels. Die Geschichte lehrt, dass der Wandel meist beides mit sich brachte. Geld war in immer neuen Mutationen vom Silber-Schekel der Sumerer vor 5000 Jahren bis zur Risikoteilung bei riskanten Subprime-Immobilienkrediten ein Motor des Fortschritts. Aber Geld diente auch wie der Silber-Schekel als Werkzeug der Herrschaft und wie die Subprime-Kredite als Werkzeug von Spekulationen, die die Finanzkrise 2008 auslösten. Es ist blind gegenüber Ungleichheit und Gier. Das erlebten die Niederländer schon 1637 beim Spekulationswahn um die Tulpe, die sie – lange vor Marx – «große Gartenhure» schimpften.

Die Botschaft daraus ist, dass die Menschen den monetären Wandel zu ihrem Nutzen gestalten müssen. Ohne gesetzliche Kontrolle nährt das Werkzeug Geld Spekulationsexzesse. Ohne demokratische Kontrolle nährt es den Reichtum weniger, so dass die Masse im Elend verharrt, während Adlige oder Finanzbarone in Dekadenz schwelgen. Es ging in der Geschichte stets darum, ob die Bürger der sozialen Übereinkunft Geld in seiner aktuellen Form vertrauen konnten. Von den Münzen, deren Goldgehalt Fürsten gern manipulierten, bis zu den virtuellen Zahlenkolonnen unserer Ersparnisse auf der Bank. Im epochalen Wandel von heute brauchen die Bürger einen Kompass, um durch die Welt des neuen Geldes zu navigieren. Ist das Zahlen per Gesicht oder Handy problematisch oder nur bequem? Sollen die Bürger für Bargeld kämpfen? Müssen sie Digitalkonzernen misstrauen, die ihre Daten monetarisieren? Oder sind Plattformen mit Milliarden Nutzern solider als eine Eurowährung, die seit Jahren wackelt? Das Buch will helfen zu verstehen, was das neue – und das alte – Geld heute wirklich wert ist. Dabei versucht es vor allem, die komplexen Entwicklungen verständlich einzuordnen. Wer sich noch genauer für Details und Debatten interessiert, findet mehr in den Anmerkungen am Schluss.

1. Eine kurze Geschichte des Geldes: Von Blutrache, Tulpenwahn und Fortschritt

Das Leben der alten Germanen war wild. Wer jemanden beleidigte oder verletzte, erlebte Vergeltung, die er oft nicht überlebte. Menschen und Tiere hausten unter einem Dach, Hunger war häufig. Der römische Chronist Tacitus schildert ein «dem Trunk und Würfelspiel» verfallenes Volk, das «Feiglinge und Kriegsscheue im Sumpf versenkt». Aber er berichtet auch von einer Entwicklung, die Leben bewahrte: Wer Leid angetan hatte, durfte sich mit einer Gegenleistung retten.

Geld, oder gelt, bedeutet Opfer. «Das Wergeld ist eine Sühne, die bei Totschlag an die Sippe des Getöteten zu leisten ist. Auf diese Weise wird die andernfalls notwendige Blutrache abgewendet, womit das Wergeld eine erhebliche pazifizierende und zivilisierende Wirkung entfaltet», notiert der deutsche Philosoph Otfried Höffe. «Da es oft ebenso bei körperlichen Verletzungen und Beleidigungen zu zahlen ist, bringt es im Vergleich zum grausamen Vergeltungsprinzip ‹Auge um Auge, Zahn um Zahn› einen großen Fortschritt.» Diese Lebensrettung findet sich in zahlreichen Kulturen. Als Mohammed seine Weltreligion gründete, übernahm er das Blutgeld der Beduinen, enorme hundert Kamele. Der Koran erwähnt Zahlungen an die Familie eines Menschen, den man unabsichtlich umgebracht hatte.[1]

Zahlen statt sterben: Das Blutgeld darf als früher Beleg gelten, wie Geld zivilisatorischen Fortschritt schuf. Es finden sich in der Geschichte viele Belege dafür, wie es als Fortschrittsmacher fungiert. Gesellschaftlich wie wirtschaftlich.

Nachdem der Mensch vor zwei Millionen Jahren auf dem Planeten aufgetaucht war, lebte er die längste Zeit ohne Geld. Ein kurzes, karges, bedrohtes Leben, ein schneller Tod. Kapitalismusgegner idealisieren die gemeinsame Wirtschaft von kleinen Gruppen oder die Tauschwirtschaft Gut gegen Gut. In Wahrheit war gerade der Tausch elend mühsam. Er wurde noch mühsamer, als die Jäger und Sammler vor 10.000 Jahren sesshaft wurden. Was, wenn der Bauer Hirse gegen Fleisch tauschen wollte, aber der Viehzüchter Schuhe brauchte und das Rind ohnehin erst später schlachten wollte?

Die Arbeit aufzuteilen, ist produktiver, als wenn jeder mit den eigenen Händen alles Lebensnötige produziert. Je mehr sich die Menschen spezialisierten, desto mehr erwirtschafteten sie – und desto mehr hatten sie zu tauschen. Wie viel Fleisch muss einer für Hirse oder Schuhe hergeben? Was, wenn er die Schuhe wegen des Winters jetzt braucht, das Rind aber erst nächsten Monat fett ist?

Erst mit Geld lässt sich alles umrechnen, direkt zahlen, und Zeitprobleme lassen sich lösen. Für Geld bekommt jeder Fleisch, Hirse, Schuhe und noch viel mehr – ein historischer Meilenstein.

«Geld ist die Wurzel des meisten Fortschritts», behauptet der britische Historiker Niall Ferguson in seinem Standardwerk The Ascent of Money – a Financial History of the World. Eine gute Währung erfüllt drei Funktionen: Sie ist Recheneinheit, Tausch- und Zahlungsmittel sowie Wertspeicher. Die antiken Großreiche, die erstmals richtig arbeitsteilig wirtschafteten, ließen sich nur durch Geld aufbauen, so der israelische Historiker Yuval Noah Harari.

Die Ära des Edelmetalls

Als Währung kann grundsätzlich jeder Gegenstand dienen, der sich zählen lässt. Die Hochkulturen der Ägypter und Chinesen verwendeten Reis, Weizen oder Bittermandeln als Zahlungsmittel. Andere zahlten mit Ochsen, Schafen, Ziegen. Homer referiert vor 2800 Jahren, die Rüstung des Atheners Diomedes sei neun Ochsen wert; jene des Glaukos hingegen, Sohn des letzten Trojaner-Königs Priamos, stolze hundert.

Doch ob Ochsen oder Bittermandeln, dieses Geld starb oder verdarb. Das ist, als ob sich das Geld auflöst. Gesucht wurde Haltbares. Da waren die Steinräder auf Mikronesien ein Fortschritt, allein: ein rückenbrechender. Userfreundlicher erscheinen die harten Kauri-Schnecken, die jahrhundertelang rings um den Indischen Ozean als Währung dienten. Den Jackpot aber gewann das Volk der Lyder, als es vor 2700 Jahren in der heutigen Türkei Gold in Scheiben goss und darauf Bilder prägte. Diese wohl ersten Goldmünzen verbreiteten sich rasch. Die Münzerei trug den Lydern sagenhaften Reichtum ein, wovon ihr König Krösus zeugt – und Midas, dem angeblich alles zu Gold wurde, was er anfasste.

Die Münzen setzten sich durch, weil sie nicht nur haltbar und hübsch waren, sondern auch Vertrauen schufen. Sowohl durch den Eigenwert des seltenen Metalls, das aussieht wie die göttliche Sonne, als auch durch das Porträt des jeweiligen Herrschers. Ein epochaler Moment: Edelmetall wurde für 2000 Jahre zur dominanten Währungsform. Eine Zeitspanne, in der mehrere Weltreiche aufstiegen – und wieder zu Staub zerfielen.

Die Münzen nahmen den Menschen die Tauscherei ab. Sie beschleunigten das Wirtschaften ungeheuer. Adam Smith preist in An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations 1776, wie «die einzelnen Völker zu diesem Zweck verschiedene Metalle benutzten». Erst durch Geld wirkt die unsichtbare Hand des Marktes, der aus egoistischem Handeln Einzelner materielles Allgemeinwohl schafft.

Was der Gründervater der Marktökonomie nicht ahnte: Entwickelt hat sich das Geld zuerst aus anderen Zwecken, in den harschen Zeiten von Menschenopfern und Unterwerfung. Das Wort Geld kommt nicht von Gold, sondern vom angelsächsischen gilt oder guilt, Opfer-Schuld. Die Urwährungen waren Schlachtopfer, so der deutsche Philosoph Christoph Türcke. «Und weil sie schreckliche Währungen waren, waren sie stets vom Wunsch nach weniger schrecklichen begleitet. Kann man nicht ein Menschenopfer durch Rinder ersetzen? Lebendige Wesen durch Metallgebilde? Das Opfer wurde als Begleichung von Schuld interpretierbar: als Zahlung.» Opfertiere wurden zur Maßeinheit von Schuld und anderen Dingen. Das erklärt, weshalb das römische Wort für Geld (pecunia) von pecus (Vieh) stammt.[2]

Ebenso martialisch entstanden die lydischen Goldmünzen, nämlich als Sold für Soldaten. Geld diente immer wieder als Militärwerkzeug. Ab dem 11. Jahrhundert beschleunigten die Kreuzzüge das Finanzsystem, weil der Krieg gegen die Muslime bezahlt werden musste. Als im 14. Jahrhundert Feuerwaffen Ritterschwerter ablösten, warfen Fürsten die Münzpresse an, um ihre Arsenale zu füllen (und etablierten, wie damals die Lyder, Steuern).

Lässt sich deshalb sagen, dass Geld Kriege auslöst? Kaum. Blutige Auseinandersetzungen gab es auch in den zwei Millionen Menschenjahren ohne Geld zuhauf.

Geld wurzelt auch in der Abhängigkeit der Untertanen. Herrscher waren zugleich Götter, deren Tempeln man Tribut leistete. Die Sumerer entwickelten vor 5000 Jahren nicht nur den Tag mit 24 Stunden, sondern auch den Silber-Schekel, der einem Sack Gerste entsprach. «Die Tempelverwalter kalkulierten damit Pacht und Schulden, und das war faktisch Geld», schildert der amerikanische Anthropologe David Graeber. Mancher Bauer versank in Schulden, seine Kinder wurden Sklaven. Geld, folgert der anarchistische Bestsellerautor, drückt immer Unterdrückung aus.[3]

Aber das muss man nicht so sehen. 1215 erlaubte die englische Magna Carta Bauern, dem Grundherren Geld statt Naturalien zu geben. Das machte sie unabhängiger, zuvor durften sie auch kein Vieh verkaufen. Geld bedeutete für sie mehr Freiheit. Ebenso als die Zahlung von Brautgeld das Ius primae noctis ablöste – das angebliche Recht von Gutsherren, Frauen vor ihrer Hochzeit zu vergewaltigen. Im 19. Jahrhundert hielten Fabrikherren Arbeiter abhängig, indem sie sie mit überteuertem Essen und teuren Behausungen bezahlten; Löhne, die Gewerkschaften durchsetzten, bedeuteten mehr Freiheit.

Geld ist einfach ein Werkzeug. Es bricht Verhältnisse der Unterdrückung nicht von selbst auf. Doch wenn sich die Welt durch die Magna Carta oder Gewerkschaften demokratisiert, verstärkt es diese Entwicklung. Und es hilft, die Menschen aus den Ketten der Armut zu befreien. Erst durch Münzen statt Tauschen, dann durch Entwicklungen wie Kredite, Papiergeld, Aktien.

«Finanzinnovationen waren unverzichtbar für die Entwicklung vom elenden Bauern, der mit eigenen Händen alles Lebensnötige produzierte, bis zum heutigen Wohlstand», bilanziert Niall Ferguson. Und je besser es der Masse ging, desto mehr forderte sie bei Fürsten und Industriebaronen Rechte ein.

Italienische Kredite und chinesisches Papiergeld

Im 12. Jahrhundert kam das Finanzsystem durch norditalienische Kaufleute und Geldhändler in Schwung. Sie gingen ihren Geschäften auf Tischen unter freiem Himmel nach. Dabei saßen sie auf Bänken, banchieri. Daher kommt das Wort für Geldhäuser, das noch heute gilt. Die Kaufleute setzten auf personalisierte Kreditpapiere. Das war effizienter, als Truhen mit Münzen herumzuschleppen, die Räuber und Piraten anzogen. Diese Kredite breiteten sich massiv aus, sie ließen den Handel aufblühen. Und sie leiteten den Abstieg des Edelmetallgelds ein, der freilich hunderte Jahre andauerte, bis die USA 1971 endgültig aufhörten, den Dollar mit Gold zu decken.

Kredite sind flexibler als Münzen. Ein Kreditpapier lebt jedoch stärker vom Vertrauen der Bürger, als es die sonnengottgleiche Goldmünze nötig hat. Um dieses Vertrauen geht es bei jeder Währung: Um die Gewissheit, dass man für die Goldmünze, das norditalienische Kreditpapier oder den Euro Essen, Kleidung und Obdach erhält.

Und so waren die Jahrhunderte nach den banchieri unter freiem Himmel davon gekennzeichnet, dieses Vertrauen auszuloten, mit allen Höhen und Tiefen. So kam es zu einem Feuerwerk von Finanzinnovationen. Beispielhaft ist der Beginn moderner Banken bei den Medici in Florenz. Die Familie war zunächst wohl ein Gangster-Clan. Zwischen 1343 und 1360 wurden fünf Mitglieder wegen Kapitalverbrechen zum Tod verurteilt. Mit Giovanni di Medici entdeckte die Familie das legale Finanzkapital. Sie ließ Kredite aufblühen und sicherte sich durch Diversifikation ab, wo ihre Vorgänger kollabiert waren, weil sie einzelne Großschuldner hatten. Die Medici wurden unermesslich reich und finanzierten Kunst und Architektur, die man nach dem dunklen Mittelalter als eine Wiedergeburt feierte – französisch Renaissance.

Die Entwicklung des modernen Geldes sah immer wieder spektakuläre Pleiten. In den Niederlanden des 17. Jahrhunderts avancierte die aus Zentralasien stammende Tulpe zur Modeblume der Reichen und Schönen. Die sonst so nüchternen Calvinisten steigerten sich in einen Wahn. Eine Zwiebel kostete in kurzer Zeit 10.000 Gulden, so viel wie ein Haus in bester Amsterdamer Lage.

Normale Bürger konnten damals von 14 Stunden harter Arbeit an sechs Tagen die Woche kaum die Miete in den überfüllten Häusern bezahlen. Jetzt glaubten sie, leicht Geld zu verdienen. Es gab sogar Tulpen-Derivate. 1637 crashte die «große Gartenhure», wie sie Skeptiker tauften. Anleger verloren alles. Im Ellendigen Kerkhof fanden jene ihre Ruhe, die sich umgebracht hatten. Der Tulpenwahn war der Prototyp der modernen Finanzkrise.

An solchen Pleiten waren aber weniger die Finanzinnovationen schuld als die Gier. Und genau wie die Innovationen zeigten ja auch Münzen Schwächen. Regenten wie Frankreichs Philipp der Schöne zerstörten das Vertrauen, indem sie Edelmetall durch billiges Kupfer ersetzten. Schinderlinge hießen die Schummelmünzen im Habsburgerreich. Kaiser Friedrich III. löste damit im 15. Jahrhundert die erste Hyperinflation auf deutschem Boden aus.

Schweden und Briten erfinden die Zentralbank

Solche Skandale begünstigten den Aufstieg des Kreditgelds, auch wenn bei ihm die Vertrauensfrage komplexer ist. Goldmünzen lassen sich einschmelzen, um Essen, Kleidung, Obdach zu bezahlen. Falschmünzern wie Philipp dem Schönen trotzten die Untertanen, indem sie Gold horteten. Die münzfernen Finanzinnovationen müssen sich das Vertrauen erst erwerben. Das gilt für Banken, Börsen (Europas erste 1409 in Brügge) oder Papiergeld (in China ab 1260). So lassen sich diese Jahrhunderte als der Versuch lesen, das Vertrauen in diese Innovationen zu stärken.

Papiergeld wirkt gegenüber Goldmünzen lachhaft wertlos. Um es in der Gesellschaft durchzusetzen, muss Vertrauen geschaffen werden. Dabei half eine Erfindung, die heute die Bevölkerung in Gegner und Verteidiger spaltet: die moderne Zentralbank, die Scheine staatlich ausgibt. Die schwedische Riksbank ab 1656, die Bank of England ab 1694 und einige Vorläufer stabilisierten das Finanzsystem und verbreiteten die Papierwährungen. Die Scheine stimulierten Kredite und Handel und begründeten so das moderne Wirtschaften. «Gold und Silber durch Papier zu ersetzen funktioniert wie ein Wagen, der durch die Luft fliegt», schwärmte Adam Smith.[4]

Je mehr Vertrauen auf diese Weise erworben wurde, desto mehr erzeugte das Kreditgeld Fortschritt und veränderte die Welt. Bald entsprang politische Macht wirtschaftlicher Kraft. Diese verliehen Bankiers wie die Fugger – oder Finanzinnovationen. «Hollands Republik übertrumpfte das Habsburgerreich, weil die erste moderne Börse mehr abwarf als die weltgrößte Silbermine in Südamerika», analysiert Niall Ferguson. Eine münzferne Finanzinnovation lohnte sich mehr, als hunderttausende Indios zu schinden, um Edelmetall für Münzen zu fördern. Spaniens Könige verwechselten Gold mit Wohlstand, vernachlässigten die Wirtschaft – und taumelten von Staatspleite zu Staatspleite.

Ebenso traditionell finanzierte sich der Kriegsherr Napoleon: Durch Plünderung von Naturalien oder Münzen. Seine britischen Rivalen dagegen verschuldeten sich durch neumodische Kreditanleihen, also eine münzferne Finanzinnovation, bei der die Rothschild-Bank führend war. «Ebenso wie Lord Wellington war es der Bankier Nathan Rothschild, der Napoleon 1815 in Waterloo schlug», so Niall Ferguson. «Unternehmensfinanzierung war die Basis des britischen Empire.» Die Briten stiegen zum Champion der Industrialisierung auf, zwischen 1740 und 1840 vervierfachte sich ihre Wirtschaftsleistung. Sie wurden zur Supermacht des 19. Jahrhunderts.

Geld ist ein schlechter Herr

Solche Aufstiegsgeschichten konnten nie das Unbehagen am Geld und seiner Dynamik beseitigen. Zinsen kannte bereits das alte Babylon vor 4000 Jahren. Wahrscheinlich sollten sie das Geld vermehren, wie sich ja auch Viehherden vermehren. Doch schon Aristoteles wetterte vor gut 2000 Jahren, «das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, per Zins jedoch vermehrt es sich gegen die Natur». Weltreligionen wie Christentum, Judentum und Islam verboten die Zinsen mehr oder weniger rigoros. Karl Marx identifizierte das Geld als Agenten des Weltmarkts: «Es ist die allgemeine Hure, die alle menschlichen Eigenschaften in ihr Gegenteil verwandelt.» Silvio Gesell, 1919 sieben Tage Finanzminister der linken Münchner Räterepublik, wollte Zinsen abschaffen. Das inspiriert bis heute grüne Politiker, aber auch damals Adolf Hitler, dessen Programm 1920 die «Brechung der Zinsknechtschaft» vorsah.

«Offenkundig hält ein Phänomen wie Geld nur dann allen Angriffen stand, wenn es für Menschen und Gesellschaft wichtige Eigenschaften erfüllt», bilanziert Otmar Issing, erster Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank (EZB). Was sollte Kreditgeber im 14. Jahrhundert bewegen, den riskanten Seehandel Venedigs zu finanzieren, wenn dies keinen Zins abwarf? Geld ist eben ein Werkzeug. Es erfüllt effizient Zwecke, gute – oder schlechte. «Der Dämon liegt nicht im Geld», sagt Issing, «er steckt in den Menschen selbst.»

Wäre mit der Abschaffung des Geldes schlagartig alles Böse aus der Welt entfernt? «Genauso gut könnte man das Feuer für den Brand verantwortlich machen. Hätte Prometheus den Menschen niemals das Feuer bringen sollen? Mit dem Feuer hat er den Menschen in die Verantwortung für den Umgang mit dieser Innovation genommen.» Geld ist ein effektives Werkzeug. Aber genauso empfänglich für Missbrauch wie eine Schusswaffe.

Seine Effektivität wird dadurch belegt, dass bisher niemand eine effiziente Systemalternative zur monetär basierten Marktwirtschaft entwickelt hat. Nicht zum Geld an sich. Den letzten größeren Versuch, es abzuschaffen, starteten die Massenmörder der Roten Khmer. Und auch nicht zur Marktwirtschaft. Der Marx’sche Sozialismus stürzte als Diktatur Millionen Osteuropäer ins Unglück. Die monetäre Marktwirtschaft brachte dagegen – unterm Strich – Fortschritt.

«Die Zeit der Industrialisierung war eine Zeit des Massenelends und der rücksichtslosen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft: so schrecklich, wie Friedrich Engels sie 1845 in Die Lage der arbeitenden Klasse in England beschrieben hat», so Heinrich August Winkler in seiner Geschichte des Westens. «Aber das Elend wäre ungleich größer gewesen, hätte es die Möglichkeit industrieller Arbeit nicht gegeben. Die Industrialisierung führte nicht zur fortschreitenden Verelendung», wie von Marx vorausgesagt, «sondern zum sozialen Aufstieg des Proletariats.»

Die Marktwirtschaft beschert erstmals überhaupt in der Geschichte hunderten Millionen Menschen Wohlstand, mit guter medizinischer Versorgung und doppelt so langem Leben. Der Nobelpreisökonom Angus Deaton beschreibt in seinem Buch The Great Escape, wie die Menschen des Westens aus dem Gefängnis der Armut ausbrachen und ins Reich des Massenwohlstands kamen. Inzwischen gilt dies auch für manche Schwellenländer wie China.

Die Abwesenheit eines funktionierenden Geldsystems kennzeichnet heute keine glücklichen Nationen, sondern arme wie Nordkorea oder den Kongo. Ähnlich war es in der Geschichte. Als im Mittelalter die Münzen aus dem Alltag verschwanden, fielen die Menschen in Tauscherei zurück. «Vom Ende des achten Jahrhunderts an fiel das westliche Europa in einen Zustand der reinen Landwirtschaft zurück», schreibt der belgische Historiker Henri Pirenne in seiner Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter. Die Menschen nutzten Rinder als Recheneinheit, zuweilen auch Mägde oder Eichhörnchenhaut. Im pompös betitelten «Heiligen Römischen Reich» hausten sie in Hütten und kippten ab vormittags Alkohol, um Infektionen abzuwehren.[5]

Aber natürlich liegen die Kritiker des Mammons von Jesus bis Marx in einem richtig: Das Werkzeug Geld ist blind dafür, wie es eingesetzt wird. Es erzeugt Wohlstand, verteilt ihn aber nicht. Als autoritäre Gesellschaften jahrhundertelang wenige reich werden ließen, während viele hungerten, war es dafür blind. Als die westlichen Kolonialisten Südamerika, Afrika und Asien ausplünderten und seine Bewohner versklavten, war es dafür blind. Geld liegt wie ein Werkzeug in der Hand des Menschen, empfänglich für Missbrauch wie eine Schusswaffe. Der britische Philosoph Francis Bacon formulierte, Geld sei ein guter Diener, «aber ein schlechter Herr».

Der von Marx vorformulierte Sozialismus mag gescheitert sein, seine Kritik an der schreienden Ungleichheit war überfällig. Und sie kam an. Der Wohlstand der Industrialisierung erreichte die Massen, weil linke Parteien und Gewerkschafter dies gegen Könige und Industriebarone erkämpften. Zu den steigenden Realeinkommen der Arbeiter in allen Industriegesellschaften «trugen die Gewerkschaften entscheidend bei», so Heinrich August Winkler.

Das ist die Lehre aus der Geschichte: Die Menschen müssen gestalten, wie das Werkzeug Geld eingesetzt wird, damit es nicht nur ein paar wenigen nutzt, sondern möglichst vielen. Anders als Neoliberale predigen, darf die Markt- und Geldordnung heute genauso wenig laufen gelassen werden wie im 19. Jahrhundert. Sie muss sozial korrigiert werden. Es braucht Demokratie, scharfe Gesetze und starke Interessenvertreter, damit die Massen am Wohlstand teilhaben – und nicht nur ein paar Kapitalbesitzer.

Von Amerika geht eine Finanzkrise aus

Ende des 20. Jahrhunderts setzte sich jedoch ein neuer Laissez-faire-Kapitalismus durch, der gemeinhin als Neoliberalismus bezeichnet wird. Zuvor hatte eine neue Supermacht das britische Empire überflügelt: die USA. Wie einst bei den Briten Rothschilds Anleihen, förderten Finanzinnovationen den Aufstieg, etwa bei Versicherungen, Immobilien und Konsumentenkrediten. Dazu kam der Dollar als globale Leitwährung.

Ab 1980 jedoch entfesselten Präsident Ronald Reagan und seine Epigonen die Finanzmärkte neoliberal. Sie kippten Kontrollgesetze, die die Regierung nach der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre verankert hatte. Sie knebelten Gewerkschaften und senkten Reichen die Steuern. In den USA stiegen die Managergehälter seither um 900 Prozent, während die realen Löhne um 12 Prozent vorankrochen. Die Ungleichheit ist so extrem wie hundert Jahre zuvor, bevor der Wohlstand bei den breiten Massen ankam. Die Neoliberalen erlaubten der Gier, die Herrschaft über die Weltwirtschaft zu übernehmen.

Ganz vorne mischten Investmentbanken wie Lehman Brothers mit. Ihr Chef Richard Fuld versprach Mitarbeitern, filthy rich zu werden, stinkreich. Dann schrie er sie in Einpeitscher-Reden an: «Ihr seid Dreck!» Der Investmentbanker Rudolf Wötzel, den ich Ende der Nullerjahre traf, fühlte sich dort wie in einer totalitären Partei. Er fürchtete, Fuld könne ihn jederzeit feuern. Mit einem Lächeln. Dennoch machten Banker wie er im System der Gier begeistert mit.[6]

Wötzel verdiente bis zu 80.000 Euro, im Monat. Er saß abends in Bars und ließ die Schlüssel seines Porsche durch die Finger gleiten, um Frauen anzulocken. Er dachte sich Deals aus. Einer deutschen Konzernchefin empfahl er, für hunderte Millionen Euro eine Konkurrenzfirma zu schlucken – während deren Chef im Urlaub weilte und den Angriff nicht abwehren konnte. Am 10. September 2001 gab sie ein Kaufangebot ab. Einen Tag später flogen Terroristen in die New Yorker Türme. Die Börse kollabierte, die Konkurrenzfirma wurde billiger. Die feindliche Übernahme gelang.

Heute findet Wötzel so ein Geschäft zynisch. Damals feierte es ein Wirtschaftsmagazin als «Deal des Jahres». Damals war es genauso üblich wie hochriskante Spekulationen. Nach Dekaden irrer Spekulationen läutete 2008 die Pleite von Wötzels Arbeitgeber den Tag der Abrechnung ein. Als Lehman Brothers kollabierte, fegte ein Eissturm über die Weltwirtschaft. Die Konjunktur brach ein wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Subprime-Wertpapiere können eine sinnvolle Finanzinnovation sein. Sie teilen das Risiko eines Immobilienkredits an ärmere Hauskäufer auf mehrere Investoren auf, damit es nicht mehr alleine bei der Bank liegt – die diesen Käufern sonst vielleicht gar keinen Kredit geben könnte. Vor der Finanzkrise allerdings wurden die Subprime-Papiere für waghalsigste Spekulationen missbraucht.

Sie zeigten ihr doppeltes Gesicht, wie Zwiebelderivate im holländischen Tulpenwahn 1637, als die große Gartenhure so viel kostete wie ein Haus: Als Instrument der Gier sprengten sie das Wirtschaftssystem. Geld erwies sich als schlechter Herr, es wurde zur Schusswaffe.