Leb wohl Mellie - Doris Bühler - E-Book

Leb wohl Mellie E-Book

Doris Bühler

0,0
3,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach dem Tod seiner Großeltern macht sich Linus Wagner auf den Weg, seine Mutter Gabriele zu suchen. In Altenstede, wo sie gelebt haben soll, gibt es allerdings keinen Hinweis auf sie, - im Krankenhaus, in dem er zur Welt gekommen ist, erfährt er den Grund dafür: Gabriele war ein Pseudonym, weil es sich um eine anonyme Geburt gehandelt hat, bei der seine Mutter gestorben ist. Er ist totunglücklich, weil er sie nun nicht mehr kennenlernen kann. Karin Wieland, seine Nachbarin und gute Freundin, die noch immer die kleine Zeitmaschine verwahrt, hat Mitleid mit ihm und übergibt ihm den Timeflyer. Mit ihm reist Linus fünfundzwanzig Jahre zurück in das damalige Altenstede und lernt dort die drei Wagner-Schwestern kennen, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern allein im Wagner-Haus leben. Er bleibt fast ein Jahr lang bei ihnen, um ihnen zu helfen, wo er nur kann. Er ist davon überzeugt, das Lorie, die Älteste, seine Mutter ist. Erst als er merkt, dass sich die Schwestern in ihn verliebt haben, ist ihm klar, dass er nicht länger bleiben kann. Auf dem Rückweg nach Hause macht er noch einen Abstecher in das Krankenhaus, um am Tag seiner Geburt in der Nähe seiner Mutter zu sein. Doch alles kommt ganz anders, als er es sich vorgestellt hat. In seiner Verzweiflung versucht er, die kleine Zeitmaschine zu vernichten, bringt sie beschädigte zu Karin Wieland zurück, die sie weit in die Zukunft schickt, wo sie eigentlich auch hingehört. Denn in unserer Zeit ist die Menschheit noch nicht reif dafür.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 194

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nur wenige Forscher besitzen die Kühnheit, sich mit Dingen zu beschäftigen, die massiv gegen die politische Korrektheit der Physikerzunft verstoßen.

Stephen Hawking

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Der Timeflyer

Linus

Altenstede

Das Wagner-Haus

Im Klinikum St. Georgen

Ein ungewohnter Weg

Die Reise in die Vergangenheit

Auf der Suche nach Gabriele

Die Wagner-Mädchen

Lorie

Das Herbstfest

Versöhnung

Silvia und Melanie

Abschied

Mellie

Auf dem Weg nach Hause

Das Ende des Timeflyers

Prolog

Sie war gerade aus der Stadt zurückgekommen und hatte sich eigentlich eine Weile hinlegen wollen, weil ihr das Knie wehtat, - als das Telefon läutete.

Sie nahm den Hörer ab. „Karin Wieland." Aber niemand meldete sich. Außer verschiedener merkwürdiger Geräusche war nichts zu hören.

„Hallo, wer ist denn da?"

Keine Antwort. Doch die Geräusche klangen nun wie ein Glucksen. So, als ob jemand das Lachen nicht mehr zurückhalten konnte, - oder aber auch ein Schluchzen. „Karin!"

Sie glaubte, die Stimme ihres jungen Nachbarn aus dem Nebenhaus zu erkennen. „Linus, bist du's?"

„Karin!"

Ja, das mußte Linus sein. Zweifellos. „Was ist denn los? Ist was passiert?"

„Ja. Es ist etwas ganz Schreckliches passiert.“ Seine Stimme zitterte, sie klang verzerrt, - zumindest kam es ihr so vor.

„Sag mir, was los ist, Linus. Was ist denn passiert?“

„Ich hab sie so liebgehabt. Jetzt ist sie tot, und ich bin schuld daran.“

„Wer ist tot?"

„Oh mein Gott, warum nur! Ich bin der unglücklichste Mensch auf der Welt."

„Von wem sprichst du denn?"

„Ich bin jetzt auf dem Weg nach Hause.“

Sie wußte nicht, was sie dazu sagen sollte, doch wenn er auf dem Weg nach Hause war...

„Gut, Linus, dann warte ich, bis du hier bist. Dann kannst du mir alles erzählen. In Ordnung?"

„Ja."

Sie horchte noch eine Weile in den Hörer hinein, doch dann kam nur noch das Besetztzeichen, und sie legte auf.

Eine Stunde später sah sie ihn auf der Terrasse hinter dem Haus, er reparierte den Gartenstuhl, von dem die Armlehne abgebrochen war.

„Ist alles wieder in Ordnung, Linus?", fragte sie, als sie durch das Türchen in der Hecke rüber zu ihm in den Garten ging. „Was war denn los?“

Er schaute auf. „Ach, hallo Karin. Jetzt hab ich endlich mal den Dreh gekriegt und mich über den Stuhl hergemacht." Er lachte. „Wenn ich's jetzt nicht mache, wird's dieses Jahr nichts mehr."

Karin hielt erstaunt inne. „Wo bist du denn gewesen?"

„Wo ich gewesen bin?" fragte er verwundert. „Wo soll ich denn gewesen sein? Hier! Ich war heute den ganzen Tag noch nicht weg."

„Hast du nicht vorhin bei mir angerufen?"

Er richtete sich auf und streckte sich. „Ich? Nein. Ich werkle schon die ganze Zeit über an diesem Stuhl herum."

„Da hat jemand angerufen, der hörte sich genauso an, wie du."

„Na sowas!“ Er lachte wieder. „Was hat er denn gewollt?"

Sie schüttelte den Kopf. „Du, das war gar nicht lustig. Er war ganz verzweifelt und unglücklich. Er sprach davon, dass jemand tot sei."

„Wie du siehst, kann ich es nicht gewesen sein."

„Aber er klang wie du. Und er reagierte auch darauf, als ich ihn Linus nannte."

„Da wollte sich bestimmt nur jemand einen Spaß mit dir erlauben“

Erneut schüttelte sie den Kopf. „Er sagte, er käme jetzt nach Hause, und dann wollte er mir alles erzählen."

Er hob die Schultern. „Dann warte halt, bis er da ist, der Jemand, dann wird sich alles klären."

Es ärgerte sie ein bisschen, dass er sie nicht ernst nahm. Doch sie konnte ihn auch verstehen. Wenn er es nicht gewesen war, dann war die Sache für ihn erledigt.

„Hast du Lust auf einen Kaffee?" fragte sie ihn, obwohl ihr immer noch das Telefonat durch den Kopf ging.

„Klar, immer. Aber eine Viertelstunde dauert es noch, bis ich mir sicher sein kann, dass die Armlehne jetzt hält."

„Gut, dann komm rüber, sobald du fertig bist."

„Mach ich. Bis dann!"

„Bis dann", antwortete sie und ging durch das Gartentürchen wieder zurück. Doch irgendetwas lastete ihr auf der Seele. Sie hätte nicht sagen können, was es war.

1.

Der Timeflyer

Karlsruhe hatte sich verändert. Obwohl sich die Innenstadt von Jahr zu Jahr moderner und attraktiver zeigte, gab es doch auch vieles, was in der Vergangenheit schöner und interessanter gewesen war. Schon wenn man mit dem Zug ankam, mußte man feststellen, dass der Hauptbahnhof ein wenig von seinem alten Flair eingebüßt hatte. Die Rolltreppen vor dem Eingang gab es nicht mehr, sie hatten in eine Halle unter der Erde geführt, von wo aus man in alle Richtungen die Stufen zu den einzelnen Tram-Haltestellen hinaufsteigen konnte. Inzwischen war es einfacher. Vor den Toren des Bahnhofs erreichte man die Bahnsteige der einzelnen Straßenbahnen direkt und auf geradem Wege.

Karin Wieland kam regelmäßig jedes Jahr mindestens einmal nach Karlsruhe, doch nicht, um die neue City zu besuchen, zu shoppen oder die neu entstandenen Einrichtungen und Institutionen kennenzulernen, sie kam nach Karlruhe, um hier ihren Urlaub zu verbringen. Urlaub auf eine ganz besondere Art, indem sie sich das Flair des alten Bahnhofs zurückholte, mit der Rolltreppe hinunter in die kleine Halle unter dem Bahnhofsvorplatz fuhr und dann zu der Haltestelle einer der Straßenbahnen hinaufstieg, die sie in die Kaiserstraße brachte. In die Kaiserstraße der 80er Jahre. Sie war der einzige Mensch, der das bewerkstelligen konnte, und das, weil sie etwas an ihrem Handgelenk trug, das zwar aussah wie eine gewöhnliche, vielleicht ein wenig größere Uhr, das aber dennoch keine war: den Timeflyer.

Da gab es die kleine Pension in der Leopoldstraße, in der sie gewöhnlich wohnte, wenn sie sich in Karlsruhe aufhielt, um von dort aus ihre kleinen Ausflüge zu koordinieren.

Dieses Mal machte sie sich auf den Weg zum Kentucky, traute sich sogar, nicht nur vor dem Bistro auf ihn zu warten, sondern nach langer Zeit wieder einmal hineinzugehen. Sie wußte, er würde erst später kommen, - er, um dessentwillen sie die Reisen nach Karlsuhe immer wieder auf sich nahm: Karlheinz Schwarzkopf, der Mann, mit dem sie einst durch die ganz große Liebe verbunden gewesen war, und dem noch immer ihr Herz gehörte.

Einige seiner Freunde waren schon da, sie hatten die kleinen viereckigen Tische zu einer langen Reihe zusammengeschoben, und lachend und schwatzend erzählten sie sich, was sie an Neuigkeiten erfahren hatten.

Karin fühlte sich ein wenig fehl am Platze, da sie vom Alter her längst nicht mehr zu den jungen Gästen passte. Aus diesem Grund hatte sie sich in den äußersten Winkel der Gaststube zurückgezogen, konnte von dort aus jedoch den Eingang gut im Auge behalten.

Und dann kam er plötzlich zur Tür herein: Unverwechselbar ihr Kalle, so wie sie ihn kannte. Er trug eine verwaschene Jeans und die obligatorische nietenbestückte Weste zu einem dunkelblauen Hemd, an dem er die Ärmel aufgekrempelt hatte. Mit lautem Hallo wurde er von seinen Freunden begrüßt, - inzwischen waren es fast zehn der jungen Leute, die sich an der langen Tischreihe niedergelassen hatten.

Karins Herz schlug zum Zerspringen, während sie den Blick nicht von ihm wenden konnte. Oh, wie sie dieses Lachen liebte, die Bewegung, mit der er sich durch das braune Haar fuhr.

Niemand nahm von ihr Notiz, obwohl sie für diesen jungen Mann einmal die größte Rolle seines Lebens gespielt hatte. Doch das war lange her. Der Timeflyer konnte vieles. Er konnte jemanden in jede erdenkliche Zeit transportieren, doch eines konnte er nicht: Er konnte nicht das Alter seines Trägers beeinflussen. Und wenn man, wie Karin Wieland, die sechzig überschritten hatte, dann konnte selbst der Timeflyer die glücklichen Jahre der Jugend nicht zurückbringen.

Schon oft hatte sie darüber nachgedacht, wie es mit dieser kleinen Zeitmaschine weitergehen sollte, wenn sie eines Tages nicht mehr da war. An wen sollte sie sie weitergeben? Oder sollte sie sie vernichten? War sie denn nicht schon so oft in die Vergangenheit gereist, um ihren Kalle wiederzusehen, dass es nun genug war? - Nein, es würde niemals genug sein, sie würde sich immer und immer wieder danach sehnen, ihm zu begegnen. Und dennoch...

Einst hatte sie sogar daran gedacht, nach Hamburg zu fahren, um sich ein Ticket für den Flug nach Tokio zu besorgen, für den Flug, der für ihn der letzte gewesen war. Dann würde sie mit ihm zusammen sterben, und damit wäre auch das Ende des Timeflyers besiegelt. Aber sie hatte Angst davor. Nicht Angst vor dem Sterben, sondern davor, ihren Kalle sterben zu sehen.

Doch irgendetwas mußte ihr einfallen, wollte sie den Timeflyer nicht einem ihr völlig fremden Menschen überlassen, der ihn nicht verstand und nicht ahnte, welches kleine Wunderwerk er darstellte. Ihr kam Bernd Michaelis in den Sinn, dem sie einmal gezeigt hatte, wie er funktionierte, - leichtsinnigerweise, wie sie manchmal dachte, denn auch er schien das ganze Ausmaß seiner Möglichkeiten nicht begriffen zu haben.

Zärtlich strich ihre Hand über das runde Zifferblatt des kleinen Gerätes, das sie an einem ganz gewöhnlichen Lederarmband an ihrem Handgelenk trug. Vielleicht sollte sie es in die Zukunft schicken, wenn sie einmal merken würde, dass es mit ihr zu Ende ging, dachte sie. Weit in die Zukunft, ohne die Möglichkeit einer Rückkehr. In eine Zukunft, wo er vielleicht nicht mehr der einzige seiner Art war und die Menschen inzwischen gelernt hatten, sinnvoll damit umzugehen.

Doch würde es eine solche Zeit jemals geben?

Karin Wieland merkte nicht, wie ihr die ersten Tränen über die Wangen liefen, das wurde ihr erst bewußt, als sie die Gruppe der jungen Gäste im Kentucky auf einmal nur noch wie durch einen Schleier wahrnahm. Es war Zeit zu gehen. Sie legte das Geld für ihre Cola, das sie bereitgehalten hatte, auf den Tisch und stand auf.

Auf dem Weg zum Ausgang mußte sie die lange Tischreihe passieren, und gerade in dem Augenblick, als sie an Kalle vorüberging, schob er, ohne sie zu bemerken, seinen Stuhl mit einem übermütigem Lachen so heftig zurück, dass er mit ihr zusammenstieß. Sie wankte ein wenig, hielt sich an der Lehne eines anderen Stuhles fest. Erschrocken standen sie sich dann gegenüber, starrten einander an: Der junge Mann, noch mit dem Lachen in den Augen, - die alte Frau mit den Tränen...

„Oh, sorry", sagte er und hob bedauernd die Schultern. „Das wollte ich nicht. Ich hoffe, ich habe Ihnen nicht wehgetan."

Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Aber nein", sagte sie, doch ihr Blick strafte sie lügen. Nein, er hatte ihr nicht wehgetan, doch eine Sekunde lang hatten sich ihre Arme berührt, und diese Berührung hatte ihr Herz bluten lassen.

Wie eine Blinde lief sie dem Ausgang zu, sah kaum mehr, wohin sie ging und erreichte schweratmend und ein wenig taumelnd eine Bank auf dem Leopoldsplatz. Mit zitternden Fingern brachte sie den Timeflyer dazu, sie zurück in ihre reale Zeit zu bringen. Und zum soundsovielten Male nahm sie sich vor, in Zukunft endgültig auf ihre Reisen in die Vergangenheit zu verzichten.

Wie jedes Mal, wenn sie aus Karlsruhe zurückkam, fühlte sie sich mehr denn je einsam und allein. In früheren Jahren, als ihre Mutter noch lebte, war sie es gewesen, die sie wieder aufgefangen und aufgerichtet hatte. Obwohl sie nie miteinander darüber gesprochen hatten, wußte Karin, dass sie geahnt hatte, warum sie ihr Leben lang allein geblieben war.

Früher hatte es ja auch noch ihren Posten im Friedrich-Bott-Institut gegeben, - ein durchaus wichtiger Posten im Hinblick auf ihre Zusammenarbeit mit Dr. Weißgerber und Prof. Riechling, den beiden Konstrukteuren des Timeflyers. Allerdings hatte die Leitung der Einrichtung nie von den geheimen Versuchen der beiden Physiker erfahren, bei denen sie von der ersten Stunde an zuerst als Zeugin, später als Testperson agiert hatte. Auch im Nachhinein nicht, in all den Jahren, in denen sie nach Dr. Weißgerbers Tod noch immer für das Institut tätig war. Seit sie es als Rentnerin verlassen hatte, gab es nichts mehr in ihrem Leben, was ihr mehr bedeutete, als die Ausflüge nach Karlsruhe in die Vergangenheit. Doch ihre Gesundheit war inzwischen angeschlagen, ihre Knochen und Gelenke schmerzten, sie litt ein wenig unter Atemnot, und manches Mal schon hatte sie befürchtet, ihr Herz könnte der körperlichen und seelischen Belastung während einer ihrer Zeitreisen nicht mehr gewachsen sein.

In ihrer realen Welt gab es nicht mehr viele Menschen, die ihr etwas bedeuteten. Neben Bernd Michaelis, der sie noch manchmal mit seiner Familie besuchte, gab es nun nur Linus Wagner, einen jungen Mann, der vor drei Jahren mit seinen Großeltern im Nebenhaus eingezogen war und sich aus unerklärlichen Gründen zu ihr hingezogen fühlte. Und auch sie mochte ihn. Da gab es etwas, das sie miteinander verband, was schwer zu beschreiben war. Außer einer Art Seelenverwandtschaft war es wohl auch die Einsamkeit, unter der beide litten. Linus hatte nie eine besonders enge Beziehung zu seinen Großeltern gehabt, und auch Karin hatte keine Familie und keine eigenen Kinder, - obwohl sie eigentlich der Typ Frau war, den sich jedermann als Mutter und später als Großmutter hätte vorstellen können. Das Schicksal hatte jedoch anderes mit ihr vorgehabt, indem es ihr den Mann, den sie über alles geliebt hatte, beizeiten genommen hatte. Wie oft hatte sie von einem gemeinsamen Leben mit Kalle geträumt, vor allem, nachdem sie nach ein paar schweren Jahren endlich zueinander gefunden hatten. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, wie es hätte sein können, Kinder mit ihm zu haben. Eine hübsche lebhafte Tochter oder einen klugen aufgeweckten Sohn, wie beispielsweise Bernd Michaelis, mit dem sie jahrelang im Institut zusammengearbeitet hatte. Oder auch wie Linus Wagner, der Junge, der seit dem Tode seiner Großeltern vor einigen Monaten allein im Nebenhaus lebte.

Doch es hatte nicht sein sollen.

2.

Linus

Wie gewöhnlich kam Linus Wagner durch den Garten, wenn er, wie an diesem Vormittag, seiner Nachbarin einen Besuch abstattete. Es war ein schöner warmer Frühlingstag, die Terrassentür ihres Wohnzimmers stand offen.

„Karin!", rief er und klopfte an die Scheibe. Er vermutete sie in der Küche, deshalb wunderte er sich, als ihr „Komm rein!" aus Richtung der Couch kam.

„Karin?"

Sie saß in einer der Sofaecken, die Beine angezogen und ein aufgeschlagenes Buch auf den Knien. Das Buch klappte sie zu, ohne ein Zeichen zwischen die Seiten zu legen, richtete sich auf und tastete mit den Füßen nach ihren Pantoletten. „Komm rein, Linus", wiederholte sie.

Er war ein wenig erschrocken. „Ich wollte dich nicht stören, Karin. Wenn es dir lieber ist, kann ich auch später wiederkommen."

„Nein, nein, jetzt bist du schon mal da. Trinkst du einen Kaffee mit mir?"

Sein Blick fiel auf die Thermoskanne, in der, wie er wußte, fast den ganzen Tag über ihr Lieblingsgetränk für sie bereitstand. „Aber nur, wenn ich wirklich nicht störe."

„Aber nein." Sie lachte. „Geh in die Küche und hol dir einen Becher, du weißt ja, wo sie stehen."

Zaghaft kam er näher. „Ja gut", meinte er.

Er hatte einen großen braunen Umschlag mitgebracht, den er auf den Tisch legte, bevor er sich auf den Weg in die Küche machte.

„Was ist das?", rief ihm Karin erstaunt nach.

Er lächelte. „Ich werde es dir gleich erklären", antwortete er über die Schulter.

Als er mit einem Becher zurückkam, setzte er sich in den Sessel ihr gegenüber und sah ihr zu, wie sie ihm Kaffee einschenkte. Er dampfte noch.

„Karin, ich verreise morgen", meinte er, nachdem er vorsichtig den ersten Schluck genommen hatte.

Sie war erstaunt. „Du verreist? Wohin denn? Hast du Urlaub? Du hast noch gar nicht erzählt, dass du etwas Derartiges vorhast."

Er hob die Schultern und lächelte, war dann aber gleich darauf wieder ernst. „War mehr so eine spontane Idee."

„Eine spontane Idee?" Sie sah ihn gespannt an, warf dann einen fragenden Blick auf den braunen Umschlag und wartete auf seine Erklärung.

„Ich werde nach Wackenstein fahren."

„Wackenstein? Wo ist denn das? Und was willst du dort?"

Er griff nach dem Umschlag, zog ein Dokument heraus und legte es vor Karin auf den Tisch.

„Dies hier ist meine Geburtsurkunde, und dort steht, dass ich in Wackenstein im St. Georgen-Krankenhaus geboren bin."

Als sie nicht gleich antwortete, fügte er hinzu: „Das St. Georgen ist ein großer Klinikkomplex in der Nähe von Oldenburg. Ich werde dorthin fahren und versuchen, etwas über meine Mutter herauszufinden."

Karin hatte das Schriftstück zur Hand genommen. „Mutter: Gabriele Wagner", las sie, „wohnhaft in Altenstede. Vater unbekannt." Sie schaute Linus an. „Warum hast du das nicht schon längst gemacht? Ich weiß doch, dass du schon seit Jahren versuchst, deine Mutter zu finden oder zumindest etwas über sie zu erfahren."

„Die Großeltern haben mich davon abgehalten. Meine Mutter sei bei meiner Geburt gestorben, hieß es, daraufhin sei ich in ein Kinderheim gekommen, aus dem sie mich irgendwann herausgeholt haben. Ich will wissen, ob es tatsächlich so gewesen ist."

„Und außer den Großeltern gab es keine anderen Verwandten deiner Mutter?"

„Meine Großeltern!" Er winkte ab. „Denen war es doch immer gleichgültig, ob ich etwas über meine Familie herausfinde oder nicht. - Wusstest du eigentlich, dass sie in Wirklichkeit gar nicht meine Großeltern waren? Meine echten Großeltern, meine ich. Sie waren nicht einmal mit mir verwandt."

„Nicht?"

„Nein."

„Wer waren sie dann?"

Er hob die Schultern. „So genau weiß ich das auch nicht. Sie sagten mir, sie seien weitläufig verwandt gewesen mit meinen echten Großeltern, aber ich habe ihnen das nie so recht geglaubt. Wenn es tatsächlich so gewesen wäre, hätten sie viel mehr über meine Familie wissen müssen. Doch im Grunde wussten sie gar nichts."

„Aber wer waren sie dann?" fragte Karin noch einmal.

Und wieder hob er die Schultern. „Ich vermute, sie waren einfach nur ein paar alte Leute, denen man damals Geld dafür geboten hat, wenn sie für mich sorgen. Ich war gerade fünf, als ich zu ihnen kam."

„Und davor?"

„Keine Ahnung, weiter zurück kann ich mich kaum mehr erinnern."

Karin nickte gedankenverloren. „Ich habe mich tatsächlich manchmal gefragt..." Sie brach ihren Satz ab.

„Ja?"

„Ehrlich gesagt, sie haben auf mich nie den Eindruck gemacht, als wären sie liebevolle und besorgte Großeltern für dich gewesen. Sie wirkten so..."

Er nickte. „Ich weiß, was du meinst. Und damit hast du auch recht. Zwar hatte ich bei ihnen immer alles, was ich brauchte, aber mit Liebe haben sie mich nicht gerade überschüttet."

„Warum bis du nicht längst deinen eigenen Weg gegangen? Mit achtzehn hättest du ausziehen können. Jetzt bist du fünfundzwanzig, ein Alter in dem manch einer schon eine eigene Familie hat. Und sogar jetzt lebst du noch immer in ihrem Haus, in ihrer alten Wohnung."

Er lächelte. „Du meinst, wenn ich schon noch hier bin, dann hätte ich inzwischen wenigstens eine Freundin zu mir holen sollen?"

Sie lächelte zurück. „Ja, genau."

Er wurde wieder ernst. „Ich weiß selbst nicht, woran es lag, dass ich es so lange bei ihnen ausgehalten habe. Und dass ich sogar jetzt, nach ihrem Tod noch immer in ihrer Wohnung lebe. Vielleicht war es Bequemlichkeit, vielleicht auch, weil mir die richtige Frau noch nicht über den Weg gelaufen ist." Er seufzte. „Vielleicht hatte ich aber auch tatsächlich Mitleid mit ihnen. Sie waren schon so alt und gebrechlich. Ich habe mich manches Mal gefragt, was sie ohne mich machen würden."

„Nachdem, was du mir gerade erzählt hast, hättest du vielleicht gar nicht so viel Rücksicht auf sie nehmen sollen."

Er nahm erneut einen Schluck Kaffee und nickte dann. „Siehst du, das ist der Unterschied zwischen ihnen und mir. Sie haben wahrscheinlich berechnend gehandelt, als sie zusagten, sich um mich zu kümmern. Aber auch, wenn damals tatsächlich kein Geld im Spiel gewesen sein sollte, dann hatten sie zumindest die Idee im Kopf, dass sie durch mich im Alter versorgt seien. Ich bin anders. Ich hätte gehen können, aber ich habe es einfach nicht übers Herz gebracht, sie im Stich zu lassen."

„Du hast immer gut verdient in deinem Job, und wie ich dich kenne, hast du sie sicher auch finanziell unterstützt... War das nicht genug?" Sie hob abbittend die Hand. „Entschuldige, das geht mich eigentlich nichts an."

Er überhörte ihren Einwand und nickte. „Ja, seit ich selbst verdient habe, habe ich ihnen jeden Monat einen Teil abgegeben. Für sie war das selbstverständlich, als Ausgleich dafür, was sie in all den Jahren für mich getan haben. Versteh mich nicht falsch, es hat mir nie etwas ausgemacht, sie zu unterstützen, aber..."

„...ein bisschen mehr Liebe und Zuneigung hättest du schon erwarten können, stimmt's?"

Er antwortete nicht, starrte nur gedankenverloren in seinen Kaffeebecher.

Karin versuchte, das Thema zu wechseln. „Was hat dich denn so plötzlich dazu bewogen, morgen nach Wackenstein zu fahren und dich in deinem Geburtsort umzusehen?", fragte sie.

Er sah sie lächelnd an. „Nicht plötzlich, ich habe das schon lange im Kopf. Und da mir noch eine Reihe von Urlaubstagen zusteht, dachte ich, ich nutze sie dafür, endlich mal ein bisschen mehr über meine Herkunft herauszubekommen. Mehr, als nur den Namen meiner Mutter. Vielleicht hat sie jemand näher gekannt oder kann sich an sie erinnern. Schon als Kind habe ich mir manchmal vorgestellt, dass sie vielleicht gar nicht gestorben ist, dass mir meine Großeltern, - warum auch immer, - das nur erzählt haben, damit ich endlich aufhöre, nach ihr zu fragen. Wenn ich in Wackenstein nichts herausfinde, werde ich nach Altenstede weiterfahren. Dort hat sie angeblich gewohnt, und vielleicht gibt es dort noch andere, weitläufig Verwandte, die mir etwas über sie sagen können."

Karin nickte. „Ich weiß, wie wichtig dir das ist."

„Ja, das ist mir sehr wichtig. Die Großeltern waren immer sehr streng mit mir, und als ich noch ein Kind war, bestraften sie mich manchmal sehr hart für irgendeine Kleinigkeit, die mir selbst gar nicht so schlimm vorgekommen war. Dann habe ich geweint, mich in eine Ecke zurückgezogen und mir gewünscht, meine Mama käme und würde mich da herausholen..."

Karin schaute ihn voller Mitleid an. Sie mochte diesen großen Jungen, wie sie ihn manchmal im Geheimen nannte. Sie mochte sein hübsches schmales Gesicht mit den grauen wachen Augen, die hellbraunen Locken, von denen ihm immer wieder die eine oder andere aberwitzig in die Stirn fiel. Sie mochte es, sich mit ihm zu unterhalten über Themen, die die Welt bewegten, und manchmal machte es ihr sogar Spaß, mit ihm zu streiten, wenn sie anderer Meinung war, als er. Sie mochte ihn, weil er ein wunderbarer junger Mensch war, und weil er genauso war, wie sie sich einen Sohn gewünscht hätte.

„Fährst du mit dem Auto? Oder lieber mit dem Zug?"

Er lachte. „Für meinen alten Opel wäre es zu viel, das würde er nicht mehr problemlos schaffen. Nein, ich fahre mit dem Zug. Zuerst bis Oldenburg, dann geht es mit Bussen weiter. Und notfalls kann ich mir auch dort einen Wagen leihen."

„Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück bei deiner Suche, Linus. Vielleicht kannst du mich zwischendurch mal anrufen, wenn du das eine oder andere erfahren hast und darüber reden möchtest. Du weißt, ich bin immer für dich da."

Lächelnd griff er über den Tisch nach ihrer Hand. „Natürlich weiß ich das, Karin. Du bist die beste Nachbarin und Freundin, die man sich wünschen kann."

3.

Altenstede

Ursprünglich hatte Linus vorgehabt, sich als erstes im St. Georgen-Klinikum in Wackenstein umzuhören, ob es dort jemanden gab, der Gabriele eventuell in ihrer schweren Stunde beigestanden hatte. Doch dann verwarf er diesen Plan wieder und beschloss, zunächst direkt nach Altenstede zu fahren.