Ramy und Chris - Doris Bühler - E-Book

Ramy und Chris E-Book

Doris Bühler

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Beschreibung

Nach einer Herzerkrankung verbringt Christina Marton, glücklich verheiratet und Mutter zweier Kinder, vier Wochen in einer Reha-Klinik, die anders verlaufen, als sie es sich vorgestellt hat. Zwar trifft sie viele interessante Menschen, sie verliebt sich aber auch in einen anderen Mann und wird beinahe Opfer eines Verbrechens.

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Doris Bühler

Ramy und Chris

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Woche

2. Woche

3. Woche

4. Woche

Impressum neobooks

1. Woche

Als sie in Bad Seeburg ankamen, fing es gerade an zu schneien. Die dicken weißen Flocken tanzten aus einem grauen, wolkenverhangenen Himmel und legten sich im Nu wie ein zarter weißer Schleier auf die vom letzten Schnee freigeräumten Straßen. Der Kombi, der vor dem Bahnhofsgebäude gewartet hatte und sie in die Waldhof-Klinik bringen sollte, hinterließ eine Spur aus gemusterten Bändern auf der dünnen Schneedecke, als er die Serpentine zum Weiherberg hinauffuhr.

Sie waren zu viert. Eine Frau hatte sich neben Tina Marton gesetzt, während zwei Männer auf der Bank vor dem Heckfenster Platz genommen hatten. Mit seinem Schnauzer erinnerte sie einer der beiden an ihren Onkel Willi aus Stuttgart. Der daneben war ein bulliger Kerl in großkarierter Wolljacke und mit einer Schirmmütze auf dem fast kahlen Schädel. Er war als Letzter eingestiegen, und der Wagen hatte leicht gewankt unter seinem Gewicht.

“Dann mal los!” hatte er gerufen und sich mit Schwung auf die Rückbank fallen lassen.

Die Frau neben Tina war klein und zierlich, nicht mehr ganz jung. In ihrem schwarzen, straff zurückgekämmten Haar zeigten sich erste Silberfäden. Die großen Creolen, die an ihren Ohren hin- und herbaumelten, wenn der Kombi eine Kurve nahm oder über eine schadhafte Stelle im Asphalt rumpelte, gefielen Tina. Vielleicht hätte auch sie das eine oder andere Schmuckstück mitnehmen sollen, überlegte sie und griff instinktiv an ihr Ohrläppchen. Zum Beispiel die Ohrringe, die ihr Volker zu Weihnachten geschenkt hatte, die hätten es ganz sicher mit denen ihrer Nachbarin aufnehmen können. Doch ihr Ehering an der rechten und ein kleiner schmaler Silberreif mit einem blassen Aquamarin an der linken Hand waren der einzige Schmuck, den sie sich für die Reha zugestanden hatte.

Die beiden Frauen schauten einander an. Der Blick der Fremden war nur flüchtig. Obwohl ihr Tina freundlich zulächelte, wurde ihr Lächeln nicht erwidert, - im Gegenteil. Demonstrativ wandte die Frau den Kopf ab und schaute auf der anderen Seite aus dem Fenster. Na gut, dachte Tina und hob die Schultern. Es würde andere in der Klinik geben, nette Frauen, mit denen sie sich anfreunden konnte. Schließlich mußte es nicht gerade diese sein.

Der Fahrer, ein schwarzhaariger junger Mann mit dunklen Augen mochte Türke sein. Oder Araber. Während der Fahrt ließ er das Radio laufen, und die leise, orientalisch anmutende Musik hatte etwas Einschläferndes. Erst dadurch wurde Tina bewußt, wie müde sie inzwischen war. Den Abend zuvor hatte sie mit Packen ihrer Reisetasche verbracht und damit, Notizzettel für Volker und Anweisungen für die Mädchen zu schreiben. Und jedesmal, wenn ihr etwas Neues eingefallen war, etwas, das unbedingt während der nächsten vier Wochen erledigt werden mußte, hatte sie zu Papier und Kugelschreiber gegriffen. Selbst dann noch, als sie längst zu Bett gegangen war und sich schlaflos von einer Seite auf die andere gewälzt hatte. Die vierstündige Eisenbahnfahrt, die nun hinter ihr lag, hatte ihr schließlich den Rest gegeben. Vielleicht hätte sie im Zug ein wenig schlafen sollen, dachte sie, doch es war ihr schwergefallen, die Augen zu schließen und möglicherweise etwas von dem zu verpassen, was es unterwegs zu sehen gab. Jetzt aber rächte sich die Anspannung der letzten Stunden, sie hatte Mühe, die Augen offen zu halten.

“So a Sauwetter!,” brummte Onkel Willis Ebenbild auf der Rückbank. “Und des, wo mer bald Frühling habbe. Da sollt mer doch meine, mit dem Winter sei’s endlich vorbei.”

Der Holzfäller-Typ in der karierten Jacke neben ihm brummte Zustimmung. “Scheinbar dauert hier alles ein bißchen länger."

“Da meget Se recht habbe.”

Die fremde Frau schaute haarscharf an Tina vorüber, als sei sie gar nicht da. Das ärgerte sie, und gerade deshalb betrachtete sie sie nun ihrerseits mit unverhohlener Neugier. Sie war schlecht geschminkt, fand sie. Das Make-up war zu dick aufgetragen, und aus nächster Nähe war die Körnigkeit des Puders zu erkennen. Die schwarzen Striche auf den Lidern hatten keine glatten Konturen, so als hätte ihre Hand beim Aufmalen ein wenig gezittert, und das Rot ihrer Lippen war für Tinas Geschmack viel zu grell. Sie selbst schminkte sich selten, eigentlich nur zu ganz besonderen Anlässen. Und gewiß ging sie dabei geschickter vor, als diese Dame, da war sie sich sicher. Schon bedauerte sie, daß sie ihr Make-up zu Hause gelassen hatte, doch wer hätte ahnen sollen, daß man in einer Reha Verwendung für solche Dinge haben könnte? Die Fremde schaute sie wieder an. Nur kurz, aber voller Verachtung. Ein alternder Star, mutmaßte Tina, eine Ballerina vielleicht, die es nicht verwinden konnte, daß der Zahn der Zeit an ihr nagte, daß von ihrer einstigen Schönheit inzwischen kaum mehr etwas übriggeblieben war. Eine Frau, die alles haßte, was jünger und schöner war, als sie. Naja, jünger vielleicht, aber schöner? Tina seufzte. Eine Schönheit war sie wohl nie gewesen. Ganz ansehnlich, gewiß, aber immer hatte es andere gegeben, die sehr viel hübscher gewesen waren, als sie. Andere, die sie im Geheimen bewundert und beneidet hatte. Inzwischen genügte es ihr, wenn man sie nett fand. So gesehen hatte sie nicht viel zu verlieren, wenn sie eines Tages die Grenze der Vierzig oder gar Fünfzig überschreiten würde.

Nach einer halben Stunde Fahrt tauchte rechter Hand am Straßenrand ein aus Holz geschnitztes Schild auf, und da der Kombi leicht abbremste, war die Aufschrift gut zu lesen: Waldhof-Klinik Bad Seeburg, Rehabilitationszentrum für Herzerkrankungen.

Das Auto bog in eine Auffahrt ein, die sich durch eine parkartige Anlage zog und geradewegs auf ein bezauberndes schloßartiges Gebäude zuführte. Verschneit und romantisch lag es vor ihnen, eng an einen Berghang geschmiegt, eingerahmt von schneebedeckten hohen Tannen. “Heidenei”, brachte Onkel Willis Doppelgänger begeistert hervor, und der Holzfäller pfiff durch die Zähne und meinte: “Kaum zu glauben! Soll das unsere Klinik sein?”

Auch Tina war ein erstauntes “Oh!” über die Lippen gekommen. Nur die Ballerina starrte unbeeindruckt geradeaus, als bekäme sie so etwas Schönes jeden Tag zu sehen.

Der Kombi hielt vor dem Hauptportal. Vermummte Gestalten, die sich vor dem Eingang zu einem Schwätzchen oder auf eine Zigarette zusammengefunden hatten, machten den Neuankömmlingen Platz und standen Spalier, als sie ausstiegen und der Fahrer begann, die Reisetaschen auszuladen und in der Eingangshalle abzusetzen.   

“He, Harkan, bringst uns wieder eine neue Fuhre?” rief ihm ein grauhaariger Mann in abgetragenem Jogginganzug zu, während er Tina anzüglich zuzwinkerte. Sie übersah das geflissentlich und folgte Harkan neugierig die Stufen zur Eingangshalle hinauf. Beim Anblick des Inneren des Gebäudes blieben die Neuankömmlinge erstaunt stehen. Sie alle wußten, wie es normalerweise in einer Klinik aussah, hatte doch jeder von ihnen einen mehr oder weniger langen Klinikaufenthalt hinter sich. Hier jedoch war alles anders. Man schritt über hellgesprenkelten Marmorboden, der, in raffinierten Mustern verlegt, auf der einen Seite von einer kleinen Sitzgruppe aus blauem Leder begrenzt wurde, auf der anderen von der Rezeption und einer Front in die Wand eingelassener numerierter Briefkästen. Die Sitzgruppe war fast vollständig besetzt, und auf den mit Teppichen belegten Fluren und Treppen, die in die Halle mündeten, herrschte ein stetes Kommen und Gehen. Sie waren nicht die einzigen, die neu angekommen waren, und auch viele der Patienten, die ihre Reha an diesem Tag beendeten, hielten sich in der Halle auf und warteten darauf, abgeholt zu werden. Fasziniert schaute sich Tina um, und ihr Blick blieb an einem großen Aquarium in der Ecke der Halle hängen. Selbst aus der Ferne waren die bizarr geformten Felsbrocken darin zu erkennen, die schlanken dunkelgrünen Pflanzen, die sich in einer Fontäne aus Sauerstoffperlen hin- und herwiegten, und eine Unzahl kleiner bunter Fische, die in Schwärmen an der Frontscheibe vorüberjagten. Sie war versucht, hinzulaufen, um es sich genauer anzusehen, sagte sich aber, daß sie noch vier Wochen lang Zeit dazu haben würde, es gebührend zu bewundern. Zunächst war es wichtiger, zuzuhören, was ihnen die Hausdame in kariertem Dirndl zu sagen hatte. Mit einem Lächeln und einer freundlichen Geste hatte sie die Neulinge um sich geschart und sprach nun ein paar herzliche Worte zur Begrüßung.     

Mit Räumen ging es Tina, wie mit Menschen: Manche mochte sie auf Anhieb, bei anderen brauchte sie etwas Zeit, um sich an sie zu gewöhnen. Und wieder andere konnte sie gar nicht leiden, so hübsch sie auch sein mochten. Das Zimmer im Waldhof gefiel ihr sofort, es hatte die Nummer 215 und lag am Ende eines Seitenflügels im zweiten Stock. Da es nicht sehr groß war, enthielt es nur wenige, dafür aber sehr zweckmäßige Möbelstücke. Hell und freundlich, mit vielen Fächern und Schubladen. Am besten aber gefiel ihr das große hohe Fenster, das, neben einem Blick auf den Eingangsbereich der Klinik, auch einen fantastischen Blick auf das Tal freigab, in dem Bad Seeburg lag, als hätte ein Engel es im Darüberfliegen einfach verloren: Schneebedeckte Dächer, im Zentrum eine Handvoll Hochhäuser sowie die Türme zweier Kirchen. In der Ferne, vor der Kulisse einer schroffen Bergkette, war eine Sprungschanze zu erkennen.

In der Anmeldung hatte man ihr empfohlen, sich zunächst einmal im Speisesaal einzufinden, da sonst die Gefahr bestand, daß es nichts mehr zu essen gab. Wo aber war der Speisesaal? Obwohl ihr jemand den Weg beschrieb, verlief sie sich und fand sich nach einigen Irrwegen bei den Trimmradfahrern wieder. Erstaunt blieb sie an der Tür stehen und schaute ihnen zu. Voller Mitgefühl, denn schweißnaß und mit roten Gesichtern radelten sie unermüdlich und mit größter Kraftanstrengung auf der Stelle wie ein Hamster im Laufrad. Dabei ahnte sie, daß auch sie selbst, vielleicht schon morgen, einer von ihnen sein könnte, der um die Wette strampelte. Sie seufzte. Zumindest kannte sie nun schon einmal diese Folterkammer, - was allerdings nicht bedeutete, daß sie sie jemals ohne fremde Hilfe wiederfinden würde. Ein älterer Herr in grün-weißem Sportanzug, der der Tür am nächsten radelte, half ihr wieder auf den richtigen Weg.

Der Speisesaal lag im ersten Stock. Eine automatische Tür öffnete sich, als sie näherkam, und sie blieb stehen, um einen neugierigen Blick hineinzuwerfen, bevor sie eintrat. Auch hier huschten dienstbare Geister in karierten Dirndln durch die Tischreihen. Sie verteilten die Speisen, nahmen Wünsche entgegen und vielleicht auch Beschwerden, - sofern es sie hier überhaupt geben konnte. Sie schienen bemüht zu sein, all ihre Gäste zufriedenzustellen. Doch waren sie wirklich Gäste hier, oder auch wieder nur Patienten? Tina war nie zuvor in einer Reha gewesen, deshalb wunderte es sie, daß sie sich, entgegen ihrer Erwartung, nun doch eher als Gast fühlte, denn als Patient, - was einen Augenblick lang ein unbeschreibliches Hochgefühl in ihr auslöste. Sollte das Patientendasein nun wirklich endgültig vorbei sein? Hatte Dr. Petri recht gehabt? "Sie werden sich wohlfühlen dort", hatte er gesagt, als sie sich anfänglich gegen die Reha gesträubt hatte. Nach wochenlangem Krankenhausaufenthalt hatte sie nicht noch weitere vier Woche ohne ihre Familie sein wollen. Doch er hatte ihr versichert: "Es wird Ihnen guttun, einmal richtig verwöhnt zu werden und auszuspannen. Und danach werden Sie sich gesund und fit fühlen und ein ganz anderer Mensch sein.” Tina seufzte tief. Möge er recht behalten, dachte sie.  

Noch unsicher folgte sie dem Strom der Mittagsgäste, die rechts und links an ihr vorüber ihrem Platz entgegenstürmten, - hungrig von langen Spaziergängen, vom Schwimmen oder vom Auf-der-Stelle-radeln. Und während sie noch mitten im Saal stand und sich umschaute, war eine der netten Dirndl-Damen an ihrer Seite, zog eine Liste aus ihrer Schürzentasche und fragte freundlich: “Sie sind heute erst angekommen, nicht wahr? Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?”

“Marton", antwortete Tina, während ihr Blick über die Tische flog, an denen lachende, plappernde und zufriedene Gesichter zu sehen waren. “Christina Marton”.

“Marton. Richtig, da haben wir Sie ja schon! Tisch Nr. 5, Frau Marton. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?”

Tisch Nr. 5 war ein Vierertisch am Fenster mit Blick in den Park hinter dem Hauptgebäude. Auf der Serviettentasche, die auf dem leeren Platz lag, stand ihr Name. Die drei Leute, die bereits dort saßen, - zwei Männer und eine Frau mittleren Alters, - schauten neugierig von ihren Tellern auf, als sie an den Tisch trat. Eine Sekunde lang wußte sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Man hatte ihr erzählt, daß man sich in einer Reha im allgemeinen duzte, doch sie war sich nicht sicher, ob das überall so war.  

“Hallo, ich bin die Christina", sagte sie und nickte ihnen zu. Die beiden Männer rechts und links von ihr nickten zurück und murmelten ihre Namen, die sie in der Aufregung nicht verstand, die Frau aber, die ihrem Platz gegenübersaß, streckte ihr die Hand entgegen und sagte freundlich: “Hallo Christina, ich bin die Rozalia. Es ist schön, dich kennenzulernen.” Tina lächelte. Das hatte sie nett gesagt, fand sie, und von der ersten Minute an war sie ihr sympathisch.

Der für Tina zuständige Stationsarzt war Dr. Wintrup, sie sollte sich pünktlich um 15 Uhr zur Aufnahmeuntersuchung bei ihm einfinden. Die Zeit war knapp, wollte sie bis dahin die Koffer ausgepackt, den Inhalt in den Schränken verstaut und sich noch etwas frisch gemacht haben. Sie schaffte es nur deshalb, weil sie zunächst einmal alles wahllos in den Schrankfächern verschwinden ließ, um es aus den Augen zu haben. Sie wollte es später noch ordnen und sortieren und so unterbringen, daß sie alles auf den ersten Griff wiederfand, sobald sie es brauchte.

Das Zimmer des Arztes befand sich im entgegengesetzen Flügel des gleichen Stockwerks. Es war leicht zu finden, denn eine Stuhlreihe entlang der den Türen gegenüberliegenden Wand erinnerte an ein Wartezimmer, und dort saß auch schon jemand. Sie prüfte das Schildchen neben der Tür und verglich den Namen des Arztes mit dem, der auf dem Merkzettel stand. Alles war korrekt, also klopfte sie an.

“Es ist noch jemand drin", sagte der Mann, der bereits wartend auf der Stuhlreihe saß.  

Sie sah sich flüchtig nach ihm um. “Ich habe um drei einen Termin", antwortete sie, “und jetzt ist es drei.”

“Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern.”

“Sind Sie etwa noch vor mir dran?” Das Timing schien nicht besonders gut zu funktionieren. “Wann sollten Sie denn hier sein?”

"Ich bin erst nach Ihnen dran", sagte er, “erst um vier.”

“Und dann sitzen Sie jetzt schon hier und warten?”

Er lachte. “Warum nicht? Ich habe doch Zeit. Es ist nicht  uninteressant, den Leuten zuzusehen und sie zu beobachten.”

Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Sollte er, wenn es ihm Spaß machte, dachte sie.  

Sie lief ein paar Schritte weiter und schaute sich den Renoir an, der zwischen den beiden nächsten Türen an der Wand hing. Die Pariserin, - natürlich! Wenn irgendwo in einer öffentlichen Einrichtung ein Renoir-Bild hing, dann war es meistens die Pariserin. Aber sie mochte sie. Während ihrer romantischen Phase als Teenager war sie eine Zeitlang ganz verrückt nach Renoir-Bildern gewesen, hatte eine ganze Wand ihres Zimmers mit den Drucken aus einem Kalenders tapeziert. Später waren sie dann von Pop- und Film-Größen abgelöst worden, - aber sie gefielen ihr noch immer. Inzwischen waren es bereits zehn Minuten über der Zeit. Resigniert ließ sie sich nun doch auf einem der Stühle nieder. Sie ließ zwei Plätz frei zwischen sich und dem Mann und schaute in die entgegengesetzte Richtung, um ihm zu signalisieren, daß sie keine Lust hatte, sich mit ihm zu unterhalten, und daß er es gar nicht erst zu versuchen brauchte.

Der Stationsarzt Dr. Wintrup war ein sehr netter junger Mann. Breit und wuchtig und mit Bart. Ein freundlich lächelnder Buddha, - obwohl... Sie konnte sich nicht erinnern, ob sie jemals einen Buddha mit Bart gesehen hatte. Zumindest schien ihm der Doktor, was seinen Umfang betraf, in nichts nachzustehen. Die Untersuchung bestand zum größten Teil darin, daß er ihr Fragen bezüglich ihres Krankheitsverlaufs stellte und die Antworten dann fein säuberlich in ein Formular eintrug. Danach nannte er ihr die Termine für die cardiologischen Untersuchungen, die am nächsten Tag stattfinden sollten, und er erklärte ihr, wie er sich ihre Behandlung in den kommenden Wochen vorstellte. Zum Abschluß ermahnte er sie, auch ihrerseits alles dafür zu tun, um die Genesung voranzutreiben, indem sie gewissenhaft jede Anwendung wahrnahm und jeder Anweisung Folge leistete. Und während er sie noch darauf hinwies, wie wichtig es für sie und ihr Herz sei, in Zukunft unbedingt ihr Gewicht zu halten, konnte sie nicht umhin, einen Blick auf sein mächtiges Hinterteil zu werfen, das hüben und drüben über den kleinen Sitz seines Drehstuhles hinausragte.

Gegen Abend, nachdem alle Formalitäten erledigt waren, rief sie zu Hause an. Sie konnte sich ausmalen, wie ungeduldig ihre Familie bereits um das Telefon herumschlich und auf ihren Anruf wartete: Volker, ihr Mann und die beiden Töchter Steffi und Lissy. So nahm dann auch Volker gleich nach dem ersten Klingelton den Hörer ab.

"Hallo Tina, bist du's, mein Schatz?"

"Ja, ich bin's."

"Wie geht’s dir denn?” wollte er wissen. “Bist du gut angekommen? Und gefällt dir die Klinik? Glaubst du, daß du es dort vier Wochen lang aushalten kannst?”

Tina lachte. "Ich werde es müssen", sagte sie. "Und ja, ich bin gut angekommen. Die Klinik gefällt mir gut, sie ist viel schöner, als ich sie mir vorgestellt habe."

Nun hörte sie auch die Mädchen im Hintergrund. "Mama?" - "Mama!" riefen sie gleichzeitig ins Telefon. Tina stellte sich vor, wie sie darum stritten, wer den Hörer halten durfte.

"Hast du ein schönes Zimmer, Mami?",  fragte Lissy, die Kleine.

"Und einen Fernseher?", wollte Steffi wissen.

Tina lächelte. "Ja, ich habe beides. Es ist sehr schön hier. Die Klinik gleicht fast einem Schloß, ich werde euch eine Postkarte schicken."

"Adressier sie an mich."

"Nein, an mich. Du weißt doch, daß ich Postkarten sammele."

Volker fuhr dazwischen. "Jetzt laßt mich mal wieder mit der Mama reden."

Maulend räumten sie das Feld. "Tschüß, Mama!" - "Schreib mir mal, Mami!"

"Seid brav, wenn die Oma da ist", ermahnte sie sie noch schnell, "damit sie sich nicht zu sehr aufregen muß."

Dann war Volker wieder am Apparat. "Weiß du schon, wie es mit dir weitergehen wird?", fragte er, "und welche Anwendungen sie für dich vorgesehen haben?"

"Morgen stehen zuerst mal diverse Untersuchungen an: Belastungs-EKG, Echocardiographie... Das Übliche, du weißt schon. Später werde ich dann sicher auch mein Anwendungsheft bekommen."

"Mal sehen, was sie in den nächsten Tagen mit dir vorhaben. Ich werde versuchen, mich so oft wie möglich bei dir zu melden. Gib mir mal deine Durchwahlnummer."

Sie las die Telefonnummer von ihrem Merkblatt ab. 

"Solltest du mich mal nicht erreichen, dann mußt du es eben so lange versuchen, bis es klappt. Innerhalb der Klinik ist das Handy verboten, aber wenn ich draußen unterwegs bin, werde ich es natürlich mitnehmen."

Volker lachte. "Aber vergiß nicht wieder, es einzuschalten, sonst nützt es dir nicht viel."

"Ja ja!" Sie wurde nicht gern an ihre Schandtaten erinnert.

"Gut, dann werden wir jetzt Schluß machen. Ich melde mich morgen nachmittag bei dir, dann wirst du sicher schon Näheres wissen." Und dann fügte er zärtlich hinzu: "Schlaf gut in der neuen Umgebung, mein Liebling. Gute Nacht!"

"Gute Nacht, Bärchen."

Trotz des aufregenden und abwechslungsreichen Tages fühlte sie sich nun doch ein wenig traurig und allein, als sie den Hörer auflegte.

Es wurde keine besonders gute Nacht, denn sie schlief denkbar schlecht. Sie hatte so viel Neues zu verarbeiten, daß es ihr schwerfiel, einfach abzuschalten und zur Ruhe zu kommen. Sie durchlebte noch einmal die Fahrt im Zug, die Ankunft in der Klinik, das Mittagessen im Speisesaal und die Aufnahmeuntersuchung bei Dr. Wintrup. Außerdem fehlte ihr ihr kleines Dinkelkissen, daß sie zu Hause in den Nacken legen oder in den Arm nehmen konnte.

Gleich am nächsten Morgen hatte sie sich einem ausführlichen Test-Programm zu unterziehen. Besonderes Augenmerk legte man natürlich auf das Herz, denn schließlich war sie hier, weil es in den vergangenen Wochen eine ziemlich schwere Attacke zu überstehen gehabt hatte. Es begann im Labor, dann ging es über Röntgen, EKG und Ultraschall zur Echocardiographie. Und auf einmal fühlte sie sich doch wieder ganz als Patient, der von Ärzten, Schwestern und Therapeuten abhängig war. Selbst der Marmorboden in der Halle, die Teppiche auf den Fluren und das hübsch eingerichtete Zimmer konnten nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß sie sich eben doch in einer Klinik befand. Natürlich waren all diese Untersuchungen notwendig, das wußte sie, schließlich hatte sie keinen Wellness-Aufenthalt in einem Luxus-Hotel im Preisausschreiben gewonnen, sondern sollte und wollte so schnell wie möglich wieder ganz gesund werden.

Auf dem Weg zur Echocardiographie landete sie zunächst in der Massage-Abteilung, wo ihr ein hübscher braungebrannter Physiotherapeut zwinkernd erklärte, daß er zwar gern ihr Herz klopfen hören würde, daß er aber für ganz andere Dinge zuständig sei. Ein bißchen atemlos vom Treppauf und Treppab kam sie schließlich vor den richtigen Untersuchungsräumen an, - und stellte bestürzt fest, daß sie nicht die einzige war, die man herbestellt hatte. Die Stuhlreihe entlang der Wand war bereits bis auf den letzten Platz besetzt, deshalb ließ sie sich gegenüber auf den Treppenstufen nieder, die in das nächste Stockwerk führten. Bald schon merkte sie jedoch, daß das keine besonders gute Idee gewesen war, denn nun saß sie buchstäblich auf dem Präsentierteller, und die Augen der Wartenden starrten ihr, aus Ermangelung eines interessanteren Objekts, neugierig entgegen. Am liebsten wäre sie aufgestanden und wieder gegangen, doch da das unmöglich war, tat sie das einzige, was sie in dieser Situation tun konnte: Sie starrte zurück. Dabei fiel ihr auf, daß alle Patienten Jogginganzüge trugen, und daß es sie in den unterschiedlichsten Ausführungen und Variationen gab. Da sah man abgetragene und ladenneue, eintönige und farbenfrohe, langweilige und ausgefallene... Sie waren die Uniform der Patienten. Ihr eigener war lila mit Moosgrün, Volker hatte ihn ihr eine Woche vor der Abreise extra für die Reha gekauft, und die Mädchen hatten ihm bei der Auswahl geholfen. Und ja, sie fand, sie hatten einen guten Geschmack bewiesen.

Außerdem stellte sie fest, daß sie einige der Wartenden bereits kannte. Die Ballerina zum Beispiel, sie trug einen rosa Anzug aus seidig glänzendem Stoff. Dann Onkel Willi, der in einem uralten dunkelgrünen Exemplar steckte, das schon, im wahrsten Sinne des Wortes, so manches Jahr auf dem Buckel zu haben schien. Und auch der Mann war da, den sie am Tag zuvor vor dem Dienstzimmer des Arztes getroffen hatte. Sein Anzug war dunkelblau, mit einem großen V aus Weiß und Hellblau auf der Brust. Da er am intensivsten zu ihr herüberschaute, versuchte sie, ihn einfach zu ignorieren und konzentrierte sich auf die Ballerina neben ihm. Nur manchmal wechselte sie zu Onkel Willi auf seiner anderen Seite hinüber, indem sie ihren Blick einfach über ihn hinwegspringen ließ. Im Grunde hätte sie nicht einmal sagen können, was sie gegen ihn hatte. Wahrscheinlich war es das leicht ironische Lächeln, das er fortwährend zur Schau trug, das ihr nicht gefiel.

Und dann kam Uschi. “Hi, Leute!”, rief sie schon von Weitem. “Wie gehts denn voran? Auf wieviel Stunden Wartezeit muß ich mich denn einstellen?”

Ein Gemurmel war die Antwort, denn Genaues wußte niemand. Mit einem Plumps ließ sie sich neben Tina auf die Treppenstufe fallen und lachte sie an.

“Du bist auch neu hier, stimmt's? Auch gestern erst angekommen?" Und noch während Tina nickte, plapperte sie bereits weiter: “Ich kann schon gar nicht mehr zählen, wie oft sie das hier schon mit mir gemacht haben.”

Sie ließ ihrem Gegenüber keine Zeit, zu fragen, warum, sondern gab unaufgefordert gleich die Antwort darauf: “Ich habe nämlich von Geburt an einen Herzfehler. Ventrikelseptumdefekt, - wird dir wahrscheinlich nichts sagen, oder? Hat mit der Scheidewand in der Herzkammer zu tun."

Als ein Klingelzeichen ertönte, war der Mann mit dem V-Anzug an der Reihe. Er stand auf und verschwand durch die Tür, auf der geschrieben stand: "Beim Klingelzeichen der Nächste bitte". Tina fragte sich, warum er nicht allen anderen den Vortritt ließ, da er doch so gern wartete und Leute beobachtete. Hier hätte er reichlich Gelegenheit dazu gehabt.

Das Mädchen Uschi plapperte weiter drauflos. Sie mochte noch keine zwanzig sein, vielleicht war es aber auch nur ihr wirres krauses Haar, das sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden trug, das sie jünger aussehen ließ, als sie tatsächlich war. Sie hatte funkelnde graugrüne Augen und lustige Sommersprossen über der Nase, und Tina wunderte sich, wie ein Mensch, der von Geburt an an einer Herzkrankheit litt, so vor Lebendigkeit und Frohsinn sprühen konnte. Selbst in ihrem Jogginganzug spiegelte sich ihre Fröhlichkeit wider, denn er war kräftig türkisfarben, mit einer über die Schultern reichenden Passe in wildem grellbuntem Muster.

Sie streckte Tina die Hand hin. “Ich bin die Uschi, und wer bist du?”  

“Christina", antwortete sie und schlug ein, und da sie annahm, daß sie sie als nächstes nach dem Grund ihres  Hierseins fragen würde, machte sie es genauso wie sie und kam ihrer Frage zuvor. “Ich hatte Myocarditis. Eine Virusinfektion.”

Das Mädchen nickte und musterte Tina nun ihrerseits mit ihren flinken graugrünen Augen, die es keinen Moment lang auf einem einzigen Punkt auszuhalten schienen. “Da kannst du aber von Glück sagen, daß du noch so frisch-fröhlich herumlaufen kannst. Ich kenne Leute, die es danach schlimmer erwischt hat.”

Beim Belastungs-EKG traf Tina den Holzfäller wieder. Fast hätte sie ihn nicht erkannt, denn statt seiner karierten Jacke trug nun auch er, wie alle anderen, die übliche Patienten-Uniform: Einen Jogginganzug. Nur auf die Schirmmütze schien er keinesfalls verzichten zu wollen, denn jetzt war es eine weiße statt der roten, die er bei der Anreise getragen hatte.

"Hey, auch da?" Er begrüßte Tina wie eine alte Bekannte. Das war keinesfalls verwunderlich, denn man klammerte sich an jedes bekannte Gesicht, um sich in diesem riesigen Komplex nicht allzu verloren vorzukommen.

"Wie geht’s denn so? Mit dem Essen und dem Zimmerservice zufrieden in diesem feinen Etablissement?”, fragte er mit einem Augenzwinkern.

“Was bleibt uns denn anderes übrig! Hier gefällt's mir immer noch besser, als im Dreibettzimmer im Koblenzer Krankenhaus."

Er nickte und lachte ein tiefes dröhnendes Lachen. "Das kann ich mir vorstellen. Genauso geht's mir auch."

*****

Ich hab mir die Neuen ganz genau angesehen, - jede einzelne. Und zwei von ihnen haben mir besonders gut gefallen: Eine kleine Lebhafte und eine hübsche Brünette. Ich werde sie beobachten und versuchen, so viel wie möglich über sie in Erfahrung zu bringen. Obwohl das für mich gar nicht so einfach sein wird. Oh ja, es ist ein gutes Gefühl, die Gewißheit zu haben, daß das Warten bald ein Ende hat. Es hat viel zu lange gedauert.

Zugegeben, die Pause war notwendig, um mein Umfeld zu beschwichtigen und wieder Ruhe in mein Leben zu bringen. Doch nun ist es an der Zeit, daß ich wieder auf ein interessantes und aufregendes Abenteuer hoffen darf.

Noch hab ich mich nicht entschieden, welcher von beiden ich den Vorzug geben werde, - der kleinen Lebhaften oder der hübschen Brünetten... Man wird sehen. Schließlich habe ich noch fast vier Wochen Zeit...

*****

Es dauerte nicht lange, und die Tage im Waldhof liefen nach einem genau festgelegten Rhytmus ab. Der lächelnde Buddha hatte Tina eine ganze Reihe der unterschiedlichsten Anwendungen in ihr Behandlungsheft geschrieben. Nicht nur Übungen, die ihrem angeschlagenen Herzen wieder auf die Sprünge helfen sollten, sondern auch einige, die fürs allgemeine Wohlbefinden gedacht waren, wie zum Beispiel Mineralbäder zum Entspannen, Massagen, Gymnastik und Bewegungsübungen im Wasser.

Am dritten Morgen hatte sie schon vor dem Frühstück den ersten Termin beim Trimmradfahren. Trimmradfahren wurde hier vornehm als Ergometer-Training bezeichnet. Aus Angst, zu verschlafen, hatte sie sich den Wecker gestellt und war schon eine Viertelstunde vor Beginn an Ort und Stelle. Doch wer saß schon wartend da? Richtig, der V-Mann, der so gern früher kam, um die Leute zu beobachten.   

“Guten Morgen”, grinste er, “heute auch so früh?”

Sie war noch müde. “Ja,” antwortete sie und gähnte, “hab schlecht geschlafen.”

Er grinste noch immer. Eigentlich sah er recht nett aus, stellte sie mit einem schnellen Blick aus den Augenwinkeln fest. Dennoch ließ sie auch diesmal wieder einen Sitz zwischen sich und ihm frei.