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Bernd Michaelis führt seiner Freundin Carolin den Timeflyer vor, den er heimlich aus dem Tresor seine Chefin entwendet hat. Er schickt sie für drei Minuten in die Vergangenheit, doch sie ändert die Einstellung und reist 25 Jahre in der Zeit zurück. Dort begegnet sie dem weltberühmten Pianisten Ronaldo Carrera, als er noch ein unbedeutender Student war, und sie verlieben sich ineinander. Nachdem Carolin ihm ihr Geheimnis anvertraut und den Timeflyer vorgeführt hat, muß sie in ihre Zeit zurückkehren, doch Ronnie hofft, dass sie sich dort, nach 25 Jahren, bei ihm meldet. Inzwischen hat sie einen kleinen Sohn bekommen, und auch er hat eine Familie. Als sie sich treffen, sehen beide ein, dass sie nach so langer Zeit nicht mehr zusammenpassen. Freunde bleiben sie aber auch weiterhin.
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Seitenzahl: 208
Veröffentlichungsjahr: 2022
Nur wenige Forscher besitzen die Kühnheit, sich mit Dingen zu beschäftigen, die massiv gegen die politische Korrektheit der Physikerzunft verstoßen.
Stephen Hawking
Der Timeflyer
Bernd Michaelis
Geheimnisse
Das Geständnis
Die Reise in die Vergangenheit
Ronald Heltau
Fortsetzung der Geschichte
Bernd, der gute Freund
Ein Abend mit Ronnie
Das Geheimnis wird gelüftet
Allein
25 Jahre - Eine lange Zeit
Die Entscheidung
Freunde
Sie war verrückt nach Krimis. Gefangen von der Geschichte um das Monster von Greenwood-Castle blätterte sie mit fliegenden Fingern eine Seite weiter und… hielt den Atem an. Endlich hatte der Kommissar den Mörder entlarvt, und gerade, als er ihm sein „Es ist vorbei, Mr. Miller!“ zurief und die Handschellen klickten, läutete es an der Wohnungstür.
Carolin Westermann hörte es zwar, doch sie nahm es kaum wahr, weil ihr Bewusstsein noch immer zwischen den dicken Mauern des englischen Schlosses herumgeisterte.
Als es erneut läutete, ein wenig länger und eindringlicher diesmal, hob sie unwillig den Kopf und lauschte. Sie war überzeugt davon, in der nächsten Sekunde ihre Mutter durch den Flur laufen und ihr vorwurfsvoll zurufen hören: „Warum machst du denn nicht auf, Caro?“ Dann erst fiel ihr ein, dass sie allein zu Hause war, Mama war am Morgen zu einer ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen nach Potsdam gefahren.
Seufzend rutschte Carolin von der Bettcouch und suchte nach ihren Pantoletten. Das Klingeln wurde stürmischer.
„Ja, ja“, rief sie, stolperte über eine Ecke des Läufers, und das Buch rutschte ihr aus der Hand, ohne dass sie rechtzeitig ein Lesezeichen zwischen die Seiten hatte schieben können.
„Mist!“, schimpfte sie, und: “Ja, ja, ich komme ja schon.“
Als sie die Korridortüre öffnete, stand Bernd Michaelis davor.
„Ach, du bist es“, sagte sie ohne große Begeisterung. „Was ist denn?“
Er musterte sie prüfend. „Hast du geschlafen?“
„Nein.“ Sie gähnte, als hätte allein schon seine Bemerkung gereicht, um sie schläfrig zu machen. Sie räkelte sich, ohne ihn aufzufordern, hereinzukommen. „Was ist denn?“, fragte sie noch einmal.
Bernd Michaelis zog ein kleines schmales Lederkästchen aus der Brusttasche seines Hemdes und hielt es ihr vor die Nase. „Sieh mal, was ich dir mitgebracht habe.“
„Was ist denn das?“
„Das Ding.“
„Was für ein Ding?“
Er war enttäuscht. „Du weißt doch, der Timeflyer.“ Sollte sie wirklich schon vergessen haben, worüber sie sich erst vor kurzem unterhalten hatten?
„Ach der!“ Obwohl sie noch immer gleichgültig tat, war sie doch jetzt hellhörig geworden. Vielleicht sogar ein bisschen mehr, als das. Sie ging einen Schritt auf ihn zu, überlegte es sich dann aber doch anders. Sie öffnete die Tür etwas weiter. „Komm rein. Du hast Glück, dass ich zu Hause bin, muß heute Überstunden abfeiern.“ Mit einer Kopfbewegung forderte sie ihn auf, einzutreten, gerade rechtzeitig, um ihn vor Frau Meerbold aus dem ersten Stock verschwinden zu lassen.
„Na, wieder zurück, Carolin?“, fragte die Nachbarin im Vorübergehen.
„Zurück?“
„Du warst ganz schön bepackt, als du gestern früh losgezogen bist. Ich dachte schon, du wolltest länger verreisen.“
„Ich? Gestern?“ Carolin sah sie verständnislos an. „Das kann nicht sein, ich war gestern gar nicht zu Hause.“
„Ja eben, ich habe gesehen, wie du gegangen bist. Und du hast mir erzählt, dass du eine Freundin besuchen wolltest.“
Carolin zuckte die Schultern und wandte sich ab. „Keine Ahnung, was sie meint“, raunte sie, während sie die Korridortür hinter Bernd schloss. „Ich bin gestern erst halb zwölf Uhr abends nach Hause gekommen. Nach Ladenschluss war ich mit Nina noch im Kino, und anschließend sind wir was trinken gegangen.“ Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung Hausflur. „Wer weiß, wen sie gesehen hat.“
Bernd folgte Carolin über den Flur in ihr Zimmer. Er war schon mehrfach hier gewesen, wenn auch aus anderen Gründen, als er sich das gewünscht hätte. Sie waren Freunde, das schon, doch manchmal wäre er gern ein bisschen mehr für sie gewesen, als das.
„Was glaubst du, warum ich heute schon so früh bei dir auf der Matte stehe,“ fragte er und grinste. „Du hast doch neulich gesagt, dass du heute allein sein würdest, deshalb dachte ich, wir könnten danach noch zusammen was unternehmen.“
„Danach?“
„Nachdem ich dir den Timeflyer vorgeführt habe.“
„Ach so, - naja, von mir aus. Aber jetzt zeig das Ding erst mal her.“ Sie hatte ihm noch immer keinen Platz angeboten. „Da bin ich ja wirklich gespannt, ob es all die Wunder vollbringen kann, mit denen du so schrecklich angegeben hast.“
Bernd schaute sich im Raum um und suchte nach einem geeigneten Platz, an dem er mit seiner Vorführung beginnen konnte. Die Bettcouch wäre ihm am liebsten gewesen, und während er den heruntergefallenen Krimi aufhob, malte er sich aus, wie schön es wäre, wenn er das bevorstehende Experiment mit ihr zusammen, eng aneinander gekuschelt, durchführen könnte. Er ermahnte sich jedoch, realistisch zu bleiben. Caro war einfach noch nicht soweit, um sich auf sein Werben einzulassen. Das mochte daran liegen, dass die Affäre mit ihrem Kollegen Pascal noch nicht lange genug zu Ende war. Möglicherweise aber auch daran, dass er selbst nicht der Typ Mann war, in den man sich auf den ersten Blick verliebte. Er würde warten. Dass sie Freunde waren, war immerhin noch besser, als gar nichts. Und vorerst mußte ihm das genügen.
Er setzte sich an Carolins Schreibtisch, der, aus der Schrankwand herausgeklappt, etwas mehr als einen Meter in das Zimmer hineinragte, schob einen Behälter mit Stiften und ein halb gefülltes Ablagekörbchen zu Seite und legte das mitgebrachte Lederetui feierlich in die Mitte. Carolin hatte sich einen Stuhl herübergezogen und nahm ihm gegenüber Platz.
„Nun mach’s doch nicht so spannend“, drängte sie ihn.
Ihm gefiel es, dass sie langsam neugierig und ungeduldig wurde. Er mochte das Glitzern in ihren Augen und wenn sie vor Ungeduld auf ihre Unterlippe biss. Betont langsam und mit einem geheimnisvollen Lächeln zog er den Reißverschluss des Etuis auf, - und dann lag es vor ihnen auf dem roten Samt: Das Ding, der Timeflyer, mit dem man Gegenstände in die Vergangenheit oder in die Zukunft schicken konnte.
Carolin war ein wenig enttäuscht, denn dieses angeblich so magische Gerät war an einem schlichten braunen Lederband befestigt und sah nicht viel anders aus, als eine Uhr. Keine gewöhnliche Uhr zwar, dafür war sie etwas zu groß, - in der Größe glich sie etwa Pascals Taucheruhr. Doch genau besehen war es nicht das Zifferblatt in der Mitte, das die Größe ausmachte, sondern es waren die vier beweglichen Ringe und die Reihe diverser Hebelchen und Knöpfe, die um das Zifferblatt herum angeordnet waren.
Carolin beugte sich ein wenig vor, doch sofort hielt Bernd schützend die Hände um das Etui, als fürchte er, sie könnte danach greifen.
Sie schob seinen Daumen zur Seite, er versperrte ihr die Sicht. „Laß doch mal los, damit ich es mir genau ansehen kann.“ Er gehorchte nur widerwillig. „Caro, ich muß vorsichtig sein, verstehst du? Ihm darf nichts passieren. Ich käme in Teufels Küche, wenn…“
„Nein, nein, keine Angst, ich fasse es nicht an. - Und du meinst wirklich, dass man damit einen Gegenstand von einer Zeit in die andere befördern kann? Mit diesem kleinen Ding da? Danach sieht es gar nicht aus.“
„Ich habe es selbst erlebt, Frau Wieland hat es mir einmal vorgeführt. Damals haben wir einen Kugelschreiber verschwinden lassen.“ Er schaute sich suchend um. „Es muß nicht unbedingt ein Kugelschreiber sein. Hast du irgendwo was anderes Kleineres? Dann zeige ich dir, wie es funktioniert.“
Auch sie sah sich um, nahm schließlich eine bemalte Tonfigur aus dem Regal. Es war ein kleiner Clown mit einem lachenden und einem weinenden Auge. „Nimm den da“, sagte sie, „mit dem wird’s doch wohl auch gehen, oder?“
„Sicher. Im Grunde geht es mit allem.“ Bernd nahm ihn ihr aus der Hand. „Jetzt brauche ich nur noch ein kleines Stück Klebestreifen. Oder einen Gummiring, damit wir ihn befestigen können.“
Sie öffnete eine Schublade, kramte darin herum und zog ein paar Gummibänder in verschiedenen Größen heraus.
Bernd nahm eines davon und begann, damit die Figur am Timeflyer zu befestigen. Er tat das sehr vorsichtig und behutsam. Seine Angst, das Gerät zu beschädigen schien aber größer zu sein, als die, dem kleinen Clown zu schaden.
Carolin verfolgte jede seiner Bewegungen, und als er anfing, an den äußeren Ringen der Uhr zu drehen, fragte sie neugierig: „Was machst du denn da jetzt gerade?“
„Mit den Ringen stellt man die Zeit ein, in die wir ihn schicken wollen, und mit dem kleinen roten Hebel die Dauer, die er dortbleiben soll. Du hast gesagt, du warst gestern Vormittag nicht zu Hause, ist das richtig? Gut, dann schicken wir ihn zum gestrigen Vormittag. Und nach fünf Minuten soll er zurück sein und wieder hier bei uns auf dem Tisch liegen. In Ordnung?“
Carolin nickte, ohne den Blick vom Timeflyer zu wenden. „Warte mal!“ Sie hob die Hand. „Erklär‘ mir das ein bisschen genauer. Mit den drei Ringen stellst du also die Jahre ein, die Monate und die Tage. Stimmt’s?“
„Nein, nein, die Jahre muß man in Monaten angeben, die Stunden in Minuten. Der mittlere Ring dazwischen ist für die vollen Tage.“
„Und der rote Hebel zeigt an, wie lange die Reise dauern soll, sagst du?“
Sie tippte mit dem Finger darauf, und hastig zog er das kleine Gerät aus ihrer Reichweite.
„Ja, das sagte ich doch schon. Wenn ich ihn beispielsweise auf Null stellen würde, würde dein Clown gar nicht mehr zurückkommen, sondern er bliebe dort, wo ich ihn hinschicke.“
„Aber er soll ja zurückkommen.“
„Richtig, er soll zurückkommen. Und zwar genau in…, sagen wir mal… in fünf Minuten.“
Carolin dachte nach. „Wenn wir ihn in eine andere Zeit schicken, gibt es ihn vorübergehend zweimal“, sinnierte sie. „Und zwar solange, bis er wieder in seine eigene Zeit zurückgekehrt ist.“
Bernd nickte. „Ganz genau. Du hast es begriffen.“
„Natürlich habe ich es begriffen“, antwortete sie gereizt, „dachtest du, ich sei zu dumm, um das zu verstehen?“
„Aber nein!“ Er streckte die Hand nach ihr aus und fuhr ihr beschwichtigend über die Wange. „Nein, Caro, natürlich nicht.“ Er lächelte. „Nimm’s mir nicht übel, ich bin nur einfach verdammt nervös. Das Ding sollte nämlich gar nicht hier sein, und ich kann erst wieder richtig durchatmen, wenn es wohlbehalten auf seinem Platz im Tresor liegt.“
„Ja, das verstehe ich“, sagte sie, doch er sah ihr an, dass ihr ganz andere Gedanken durch den Kopf gingen. „Los, drück‘ endlich auf den Auslöseknopf. Das ist doch der dicke schwarze, oder?“
Bernd legte seinen Finger darauf. Ganz leicht nur, ohne Druck. „Ja, das ist er. Soll ich jetzt…?“
„Na klar, mach schon.“
Sein Finger zitterte leicht, als er zudrückte. Für den Bruchteil einer Sekunde schloss er die Augen, wie jemand, der sich mit Todesverachtung in eine Gefahr stürzt. Und schon im nächsten Augenblick berührte sein Finger nur noch die Tischplatte, und der Timeflyer mitsamt der kleinen Figur war verschwunden.
Caro blinzelte. „He“, sagte sie und lachte, „er ist tatsächlich weg.“
Bernd nickte. „Jetzt können wir nur hoffen, dass er in fünf Minuten unversehrt wieder zurück ist.“
„Das wird er schon. - Mein Gott, ist das wunderbar! Er ist einfach weg. Und wäre ich gestern Vormittag zu Hause gewesen und hätte gerade an meinem Schreibtisch gesessen, dann hätte ich mich ganz schön erschreckt, wenn er plötzlich vor mir aufgetaucht wäre. Schade, dass es nicht mehr von diesen Dingern gibt. Warum kümmert sich Frau Wieland nicht darum, dass man ihn in größerer Anzahl herstellt? Das wäre der Renner. Sie könnte Millionärin damit werden.“
„Sie hat doch selbst keine Ahnung, wie der Timeflyer aufgebaut ist, und in welcher Weise er funktioniert. Ihr früherer Chef, Dr. Weißgerber hat ihn zusammen mit einem gewissen Prof. Riechling entwickelt, doch die beiden sind längst gestorben. Und vor ihrem Tode haben sie wohlweislich alle Unterlagen vernichtet. Sie waren zu dem Schluß gekommen, dass die Menschheit einfach noch nicht soweit ist, überlegt und gewissenhaft mit solchen Dingen umzugehen. Zum Nutzen aller, anstatt sich damit eigene Vorteile zu verschaffen.“
Carolin nickte gedankenverloren.
„Eigentlich hatte er auch diesen Urtypen vernichten wollen“, fuhr Bernd fort, „das hat er dann wohl nicht übers Herz gebracht. Er hat sich darauf verlassen, dass Frau Wieland ihn hütet wie ihren Augapfel und nichts Unrechtes damit anstellt.“
„Und dass sie ihn sich nicht einfach so klamm heimlich aus dem Tresor stehlen lässt.“ Carolin lachte leise. Bernd seufzte und zog die Stirn in Falten. „Und genau das ist auch der Grund dafür, dass mir jetzt nicht ganz wohl ist in meiner Haut, das kannst du mir glauben. Sie verwahrt ihn im Tresor in ihrem Büro, normalerweise habe ich dazu keinen Zugang. Doch irgendwann hat mir der Zufall die Zahlenkombination in die Hände gespielt, und seither… Der Gedanke, ihn mal auszuprobieren ist mir einfach nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Und da sie heute und morgen nicht im Büro ist…“
„Aber was nützt ihr das Ding, wenn es nur im Tresor herumliegt?“
„Vielleicht benutzt sie es doch noch manchmal.“
„Glaubst du?“
„Ich bin mir nicht sicher, aber ich könnte mir vorstellen, dass sie doch ab und zu noch mal in die Vergangenheit reist. Mir ist nämlich aufgefallen, dass sie ihre Ferien meistens in Karlsruhe verbringt, und dass sie, bevor sie den Urlaub antritt, den Timeflyer immer mit nach Hause nimmt. Man erzählt sich, der Mann, den sie geliebt hat, hätte dort gewohnt, bevor er tödlich verunglückt ist. Vielleicht geht sie manchmal in die Zeit und an die Orte zurück, wo sie mit ihm glücklich war. Auf diese Weise kann sie ihm noch einmal nahe sein.“
„Wie traurig“, sagte Carolin und nickte. „Aber macht das nicht alles noch viel schlimmer?“
Bernd hob die Schultern, dann erst fiel sein Blick auf den Tisch, wo zu seiner Verwunderung der Timeflyer mit der daran befestigten Clownsfigur bereits wieder vor ihnen lag, als sei er nie fort gewesen.
„Sieh mal, er ist zurück“, sagte er zu Carolin, „er ist wieder da.“
Nun bemerkte auch sie ihn. Sie sprang auf. „Tatsächlich, er ist wieder da. Es hat geklappt.“
Bernd griff nach ihm, entfernte die Tonfigur mitsamt dem Gummiband und schickte sich an, das kleine Wunderwerk wieder im Lederkästchen zu verstauen. Carolin hielt ihn am Arm zurück. „Halt, stopp!“ sagte sie. „Ich habe mir was überlegt. Du hast gesagt, dass Frau Wieland damit vielleicht auch heute noch manchmal die Vergangenheit besucht.“
„Ich vermute es.“
„Also funktioniert das Ding auch, wenn ein Mensch damit in eine andere Zeit reist.“
„Ich denke schon.“
„Bernd, bitte, laß es uns ausprobieren. Schick mich in die Vergangenheit.“
„Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?“ Er schaute sie empört an. „Wie stellst du dir das vor. Ich glaube, du weißt nicht, was du da sagst.“
„Das weiß ich sehr wohl. Stell den Timeflyer auf fünf Minuten ein, und ehe du dich versiehst, bin ich wieder hier. Fünf Minuten, Bernd, was wäre schon dabei. Nur fünf Minuten. Bitte!“
Er schüttelte entschlossen den Kopf, zog den Reißverschluss des Etuis zu und verstaute es wieder in seiner Brusttasche. „Kommt gar nicht in Frage. Ich sagte doch schon, ich werde froh sein, wenn er unversehrt wieder im Tresor liegt.“
„Bernie, bitte!“ Schmeichelnd strich sie ihm über den Arm.
„Nein, nein, das Risiko ist mir zu groß. Was glaubst du, was los wäre, wenn dir irgendetwas passieren würde.“
„Mir? Was sollte mir denn passieren? Du stellst die Zeit ein, und wenn ich am gestrigen Vormittag ankomme, dann bleibe ich ganz ruhig auf demselben Fleck stehen und warte, bis die fünf Minuten rum sind.“
„Caro, das kann ich nicht machen, ich kann ihn nicht aus der Hand geben. Und was würde es dir schon bringen? Was erwartest du denn? Du würdest plötzlich fünf Minuten lang allein in deinem Zimmer sitzen und nicht einmal merken, dass der Tag ein anderer ist.“
„Aber das Gefühl, verstehst du? Ich möchte wissen, was für ein Gefühl das ist, wenn man durch die Zeit reist. Bernie, ich tu‘ alles für dich! Wirklich alles, was du willst, wenn du nur Ja sagst. - Hast du mich nicht neulich gefragt, ob ich dich zum Open-Air-Konzert in der Waldbühne begleiten würde? Ja, ich verspreche es, ich komme mit. - Oder möchtest du was anderes? Wir könnten beispielsweise auch ein paarmal miteinander ganz groß ausgehen. Wohin du willst. Ich würde…“
Obwohl ihre Angebote verlockend waren, schüttelte er eisern den Kopf. „Caro, verspricht nichts, was du nicht halten kannst.“
„Ich würde mein Versprechen halten. Wirklich! Du kannst mich beim Wort nehmen. Für lumpige fünf Minuten in der Vergangenheit. Nur ein einziges Mal.“ Sie streckte ihm ihr Handgelenk hin. „Leg mir das Ding an, bitte. Stell es ein, wie du es für richtig hältst. Nach fünf Minuten werde ich wieder hier sein, als sei nichts gewesen. Dann kannst du es in den Safe zurückbringen, und ich werde dich nie wieder darum bitten, es mitzubringen. Und ich werde auch niemandem etwas davon verraten, das schwöre ich.“
Er strauchelte und holte das Etui wieder hervor. „Ich weiß nicht, Caro. Du würdest wirklich ganz brav sitzenbleiben und nichts anrühren? Keinen der Ringe, keines der Hebelchen oder Rädchen, keinen der Knöpfe?“
„Nichts, Ehrenwort, gar nichts. Ich möchte einfach nur wissen, wie es ist. Ich möchte mich in meinem Zimmer umsehen und denken: Jetzt, in diesem Augenblick existiere ich zweimal. Einmal im Laden und einmal hier in meinem Zimmer. Und das an einem Tag, der in Wirklichkeit längst vergangen ist.“
Bernd zog den Reißverschluss wieder auf und starrte den Timeflyer an. „Du weißt, was du mir antust, wenn du dein Versprechen nicht hältst“, sagte er.
„Das weiß ich. Natürlich weiß ich das. Ich würde dich doch niemals in Schwierigkeiten bringen.“
Er seufzte tief. „Also gut! Aber nur…, sagen wir mal: drei Minuten. Die müssen dir reichen.“
„Einverstanden. Drei Minuten. Bis du recht begreifst, dass ich weg bin, werde ich schon wieder hier sein.“
Mit sichtlich schwerem Herzen, aber im Hinblick auf die angekündigten Belohnungen, hob er den Timeflyer noch einmal heraus, legte ihn mit Hilfe des Lederarmbandes um Carolins Handgelenk und schloss die kleine Metalschnalle. Dann nahm er die Einstellung vor. Es war 10.08 Uhr, und das Ziel war die gleiche Zeit am Vormittag des Vortages. 10.11 Uhr würde sie wieder zurück sein.
Noch einmal schaute er Carolin eindringlich an, suchte ihren Blick, von dem er sich Bestätigung dafür erhoffte, dass er sich auf sie verlassen konnte. Doch sie war viel zu aufgeregt, um ihm lange standzuhalten. Ihr Handgelenk zuckte nervös, als er den Auslöser betätigte. - Und dann war sie verschwunden.
Krampfhaft schaute er auf seine Armbanduhr, - auf die normale Armbanduhr an seinem Handgelenk. Nervös verfolgte er den Sekundenzeiger. Mein Gott, dachte er, was würde Frau Wieland sagen, wenn sie wüsste, dass er den Timeflyer einfach an sich genommen hatte, ohne sie zu fragen? Was würde sie von ihm denken, wenn sie wüsste, dass er ihr Vertrauen so schändlich missbraucht hatte, nur um der hübschen jungen Frau zu imponieren, in die er seit Ewigkeiten verliebt war? Dass er ihn leichtfertig in ihre Hand gegeben hatte, obwohl sie keine Ahnung von den Funktionen hatte und im Notfall gar nicht wüsste, wie sie reagieren sollte? Wüsste denn er selbst überhaupt, was zu tun war, wenn etwas schiefginge? Was würde er tun, wenn sie nicht zurückkäme?
Mittlerweile war eine Minute vorüber. Eine endlos scheinende, quälende Minute. Was wäre, wenn der Timeflyer plötzlich versagte? Er wurde, wenn überhaupt, nur noch selten benutzt. Im Laufe der Zeit konnten sich die Rädchen und Ringe abgenutzt haben. Selbst eine gewöhnliche Uhr konnte stehenbleiben, eine Feder konnte überdreht oder die Batterie leer sein. Er wußte ja nicht einmal, ob es in diesem Gerät eine Feder oder eine Batterie oder etwas Ähnliches gab. Was war, wenn die Ringe plötzlich hängenblieben? Oder wenn sie sich gar von selbst verstellten? Wenn die Hebelchen nicht mehr auf die richtige Weise reagierten? Er spürte, wie ihm heiß wurde, wie sich Schweißperlen auf seiner Stirn bildeten.
Inzwischen war bereits die zweite Minute vergangen. Am liebsten hätte er die restlichen Sekunden heruntergezählt wie bei einem Countdown.
Caro hatte versprochen, ihn zum Open-Air-Konzert zu begleiten. Und zusätzlich wollte sie noch mit ihm ausgehen. War das die Angst wert, die er jetzt ausstand? Er nickte, ohne den Blick vom Zifferblatt seiner Uhr zu wenden, ohne den Sekundenzeiger aus den Augen zu lassen. Ja, sie war es wert, sagte er sich. In zwanzig Sekunden würde sie wohlbehalten zurück sein, darauf vertraute er. In fünfzehn Sekunden, dann hatte er es überstanden und konnte sich auf die Belohnung freuen. Sie war das hübscheste und netteste Mädchen, das er kannte, sie würde ihr Versprechen halten. Noch zehn Sekunden bis dahin, noch acht, noch sieben…
Und dann war sie plötzlich zurück! Sie stand an einer etwas anderen Stelle, aber sie war da, und das war die Hauptsachen. Einen Moment lang schloss er die Augen vor Erleichterung. „Manometer, bin ich froh…!“
Als er jedoch den Blick hob und sie ansah, zuckte er zusammen. Es war Caro, die vor ihm stand, zweifellos. Aber irgendetwas an ihr war anders. Hatte sie vorhin nicht ein blaues T-Shirt getragen? - Jetzt trug sie ein rotes. Oder irrte er sich da? Außerdem kamen ihm ihre kurzgeschnittenen dunklen Locken etwas länger vor, als noch vor drei Minuten.
Und dann sah er auch ihre verweinten Augen.
„Um Gottes Willen, Caro, was ist passiert?“
Sie antwortete nicht, schüttelte nur den Kopf. Und mit einer heftigen Bewegung öffnete sie das Lederband mit dem Timeflyer an ihrem Handgelenk und schob ihn zu ihm hinüber, als wollte sie ihn so schnell wie möglich los sein. „Pack ihn ein, und dann geh bitte.“
„Caro!“, er verstand nicht, warum sie so reagierte. Er betrachtete das kleine Gerät, konnte aber nichts Ungewöhnliches daran feststellen. Sie ging zur Tür und hielt sie für ihn geöffnet. „Bitte, Bernd, geh jetzt. Ich möchte allein sein.“
Er war enttäuscht, er hatte sich den Rest des Tages ganz anders vorgestellt. „So erklär mir doch, was passiert ist, Caro. Ich sehe doch, dass etwas nicht stimmt.“ Er versuchte, den Arm um ihre Schultern zu legen, doch sie machte sich heftig von ihm los.
„Ich kann jetzt nicht darüber reden“, sagte sie. „Vielleicht ein anderes Mal, aber jetzt geh bitte. - So geh doch endlich!“ Die letzten Worte schrie sie fast.
Hastig verstaute Bernd den Timeflyer im Etui und schob ihn in die Hemdtasche. Er fühlte sich unglücklich. Hatte er ihr nicht ihren Wunsch erfüllt? Warum benahm sie sich jetzt so sonderbar? Was hatte sie in den vergangenen drei Minuten erlebt? War vielleicht doch etwas schiefgegangen?
Er stand im Treppenhaus, während die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss fiel. Benommen blieb er noch eine Weile stehen und lauschte, hörte das leise Schluchzen des Mädchens, das er eigentlich hatte glücklich machen wollen. Und er verstand die Welt nicht mehr.
„Fällt noch irgendetwas an, Frau Wieland?“
Bernd Michaelis hatte seinen Kopf zur Tür hereingesteckt und schaute seine Chefin fragend an. „Wenn nicht, dann würde ich nämlich jetzt gern Feierabend machen und nach Hause fahren.“
Karin Wieland sah flüchtig vom Computer auf und hielt im Schreiben inne. „In Ordnung, Bernd, Sie können gehen. Um Dr. Webers Unterlagen noch einmal durchzusehen haben wir am Montag früh noch genügend Zeit. Sie haben doch sicher schon alles vorbereitet, oder nicht?“
„Ja, es ist alles fertig.“
„In Ordnung.“
„Dann wünsche ich Ihnen ein schönes Wochenende, Frau Wieland.“
Sie nickte ihm zu, und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Danke, Bernd, das wünsche ich Ihnen auch.“
Als er gegangen war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich an ihrem Schreibtisch zurück und fuhr sich mit einer müden Handbewegung über die Augen. Richtig, es war ja schon wieder Freitag. Über die Sommermonate waren die Freitagnachmittage frei, auch sie sollte endlich einmal Gebrauch davon machen. Ihre Mutter hatte recht, wenn sie behauptete, sie gönne sich viel zu wenig Freizeit, und sie arbeite so verbissen, als gehöre ihr dieses Institut persönlich. Im Grunde war es aber eher umgekehrt, dachte sie lächelnd, sie gehörte dem Institut. Mit Haut und Haaren. Und das nun schon seit über zwanzig Jahren.
Die Ellenbogen auf dem Schreibtisch und das Kinn auf die gefalteten Hände gestützt blickte sie durch das Fenster in den blauen Himmel.
Sie erinnerte sich noch an den Tag, an dem sie als kleine Schreibkraft hier im Friedrich-Bott-Institut angefangen hatte. Ihr war, als wäre es erst gestern gewesen. Und auch jener Tag war ihr noch immer gegenwärtig, an dem ihr Dr. Weißgerber angeboten hatte, für ihn als seine persönliche Assistentin zu arbeiten. Wie stolz war sie damals gewesen! - Jedoch ohne zu ahnen, wie sehr sich mit diesem Tag ihr ganzes Leben verändern würde.