Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Wir befinden uns im Jahr 2017. Längst ist die Konsumgesellschaft, in der wir leben, in eine Instant-Gesellschaft übergegangen. Wir sind an den Luxus gewöhnt, alles sofort zu bekommen. Jede Anstrengung erscheint allzu schnell als unerträglich. Mit dem Ausbau der neuen Medien ist eine weitere Beschleunigung eingetreten. Der ältere Teil der Generation, die man "Millennials" nennt (geboren zwischen 1982 und 2004) hat diesen Wandel unmittelbar miterlebt und wurde durch ihn geprägt. Die Jüngeren sind in eine digitale Welt geboren und kennen sie nicht anders. Auf humorvolle Weise wird in diesem Buch ein Blick darauf geworfen, wie der immer wiederkehrende Generationenkonflikt auf dem Rücken der Jüngsten und mit dem internetfähigen Handy als Buhmann ausgetragen wird.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2017
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Bevor ich mit dem eigentlichen Buch beginne möchte ich mich herzlich bei allen Erstleser*innen bedanken: Ali Cengiz, Giovanna Cozzupoli, Rita Rupsch und Roland Rupsch. Außerdem danke ich auch allen, die indirekt an der Schaffung des Buches mitgewirkt haben, indem sie Stoff für Anekdoten und Beispiele geliefert haben, insbesondere meine Schüler*innen und Kolleg*innen in Hagen, sowie, in gewisser Hinsicht, allen Ausbilder*innen an der Universität Münster, die mich mit dem Grundwissen ausgestattet haben, um das Thema überhaupt in Angriff nehmen zu können.
Ihnen danke ich bei dieser Gelegenheit auch schon einmal dafür, dass Sie für dieses Buch Interesse zeigen, es sich vielleicht sogar schon gekauft haben. Wenn Sie noch unsicher sind, ob sich die Lektüre des Buches überhaupt lohnt, kann ich vielleicht einige kleine Hinweise auf die mögliche Eignung dieses Buches geben. Wenn Sie ungefähr in meinem Alter sind, könnte Sie der nostalgische Rückblick interessieren, den ich hier wage. Vielleicht haben Sie junge Kinder und fragen sich, was zwischen digitaler Kindertagesstätte und stetiger Verwünschung des Handys als Agent des Teufels ein unbeschadetes Aufwachsen Ihres Nachwuchses überhaupt möglich ist. Eine direkte und pauschale Antwort liefere ich nicht, aber möglicherweise enthält das Buch einige neue Perspektiven und Denkanstöße, um die Frage in einem ganz neuen Licht zu betrachten. Vielleicht wollen Sie aber auch einfach ein wenig über die Kuriositäten lachen, die meine Altersgruppe geprägt haben und die uns eigentlich verbieten, die heutige Jugend von einem hohen Podest aus zu beobachten. In jedem Fall wünsche ich Ihnen, dass Sie beim Lesen dieses Buches eine Menge Freude haben.
Einstieg und Grundlagen
Kernfragen und Anliegen
Generationen, Zeitalter und Gesellschaften
mein Leben zwischen Golfern und Millennials
Füttere nicht die Trolle!
harmloser Spaß im Netz
Probleme aus dem Netz
Erziehung und Schule mit neuen Technologien
Aufstieg der Smartphones
angekommen in der Gegenwart
meine Hassfreundschaft mit dem Smartphone
Zwischenfazit
die Instant-Gesellschaft und die Medien
viel zu große Auswahl
Angst vor Redundanz
Kampf um Quoten
postfaktische Politik und Gesellschaft
neue Rolle der Informationsmedien
wie uns die digitale Wende beeinflusst
Erfolgsgeschichten und Peinlichkeiten
die digitalisierte Jugend
definierende Eigenschaften und Zuschreibungen
Weltbild und Eigenständigkeit
Biographie
Lebensstil
Eskapismus und Internetsucht
Überstimulation
Selbstdarstellung
Identitätssuche
Gender-Identitäten
Integration
Cyber-Mobbing
Wertewandel
Medienkompetenz
Elternhäuser in der Instant-Gesellschaft
körperliche Überlegenheit
geistige Überlegenheit
monetäre Gewalt
soziale Gewalt: Selbst- und Fremdwahrnehmung
Überforderung
Überbehütung
Autorität durch Vorbildfunktion
Lernen zwischen Handy und Anachronismus
Konzentrationsverlust und Lernschwierigkeiten
das harte Los, Lehrer zu sein
digitales Lernen als Segen und Fluch
Wissen und Wahrheit
Denkprozesse und Gedächtnis
Google und Wikipedia
digitale Medien in der Schule
Motivation und Transparenz
Erlebnisse und Erfahrungen
Vermischung von Leben und Lernen in der
Institution
notwendige Konsequenzen
die Schwierigkeit, bestehende Systeme zu
verändern
Ist Wandel überhaupt möglich?
Perspektiven für die Schule
Mini-Reformen im Unterricht
Brauchen wir ein neues Internet?
Was kann die Erziehung leisten?
Welche Entwicklung ist ersichtlich?
"Hallo. Mein Name ist Wolfgang, und ich bin ein Millennial."
Mit diesem Satz stellte ich mich meinen Schülern1 vor, als ich bei einer kurzen Recherche im Computerraum herausfand, dass auch ich noch zu der selben bemitleideten und gleichzeitig so ungeliebten Generation gehöre, wie meine lieben 13er. Netterweise haben mich die Schüler direkt mit den Worten "Hallo Wolfgang", zurück gegrüßt.
In diese Situation waren wir geraten, als wir uns für die Vorbereitung auf das Englisch-Abitur mit einem von Prof. Dr. Tomas Chamorro-Premuzic verfassten Artikel aus der britischen Tageszeitung "Guardian" befasst hatten2. Der Artikel trug den Titel "Are Millennials as bad as we think?" und enthielt eine eher unrühmliche Auflistung der verschiedenen Konflikte und Zwiespälte, mit denen die Generation, die man als Millennials bezeichnet, scheinbar aufwachsen. Außerdem war der Artikel in einem leicht reißerischen Ton geschrieben, was zum Unmut der Betroffenen beitrug. Zuvor hatte ich jedenfalls noch eben diesen Artikel mit der Klasse analysiert und diskutiert und mich insgeheim und mit einem gewissen Hohn selbst von dieser Kritik ausgenommen. Dann fragte eine Schülerin nach einer Definition des Begriffs "Millennial", und plötzlich saßen wir im selben Boot. Nach einer kurzen Pause, in der ich total bedröppelt vor dem Bildschirm saß und die Schüler ihr Grinsen nicht verbargen, schaute ich noch einmal schnell bei einer zuverlässigeren Quelle als Wikipedia nach und stellte immerhin fest, dass ich ja eigentlich am ganz späten Ende der Generation Golf bin und deshalb noch gar nicht zu den Millennials gehöre. Und die Golfer kämen ein wenig besser weg, versprach ich. Was die Schüler daraufhin auf der Projektionsfläche lesen konnten überzeugte sie nicht wirklich, also musste ich mich am Ende dann doch geschlagen geben. "Sorry, aber Sie sind genauso kacke wie wir.", kam die wenig ermutigende Zusammenfassung.
Fairerweise muss man erwähnen, dass Chamorro-Premuzic auch eine gewisse Teilschuld bei der Elterngeneration und den Institutionen, sowie den neuen Medien sieht und den Millennials auch einige positive Fähigkeiten zurechnet. Aber insgesamt zeichnet sich das gleiche betrübliche Bild ab, das von einer sehr langen Reihe an kritischen und allgemein negativ-problematisierenden Beschreibungen der Jugend getragen wird, die in vielfältiger Weise online und offline in Büchern, Blogs, Reportagen und Fernsehsendungen publiziert und nur von sehr wenigen Gegenreden, dann meist von der betroffenen Generation selbst, kontrastiert wird. Und die immer wieder benannten Probleme spiegeln sehr deutlich die Debatten wieder, denen ich bei Diskussionen im Lehrerkollegium, auf Fortbildungen und Lehrertagungen beiwohnen konnte.
"Die Schüler ändern sich. Alles ändert sich." Als ich über den Flur ging, traf ich auf zwei Kollegen, die wohl ein längeres Gespräch abgeschlossen hatten, und einer von ihnen sprach nach einer längeren Pause mit nachdenklicher Stimme diese Worte. Mit diesem Spruch fasste er sehr gezielt die vielen Debatten zusammen, die sich zuvor in unserem Kollegium über die Lebenswelten der Schüler und die Auswirkungen auf ihr Lernverhalten ereignet hatten. Es war ein hervorragendes Fazit, aber auch ein Anlass für mich, mir die Frage zu stellen, ob die Schüler wirklich anders geworden sind, und wenn ja, warum. Und wie können wir damit umgehen?
Als frisch gebackener Inhaber eines zweiten Staatsexamens hatte ich die außergewöhnliche Freude, erst einmal quer durch das Ruhrgebiet zu tingeln und Vertretungsstellen zu besetzen, bis ich meine Schule gefunden hatte. Dadurch konnte ich wenigstens einen Einblick in eine Reihe von Schulen erhalten und in einigen Lehrerzimmern Mäuschen spielen, wo sich die Veteranen über ihre Wahrnehmungen zu der Entwicklung der Schülerschaft austauschten. In einfachen persönlichen Gesprächen kam schon einmal der Ausdruck "... und in jedem Jahr wird es schlimmer", vor, aber die fachlichen und offiziellen Besprechungen in Schulkonferenzen waren trotz ihrer inhaltlichen Kongruenz etwas gemäßigter. Die waren aber rar, weil es der Stundenplan und das teils gewaltige Kollegium, sowie die Organisationsstrukturen oft nicht hergeben. Dafür hat man dann Fachtagungen, Teilkonferenzen und Fortbildungen. An meiner kleinen Waldorfschule trifft man sich dagegen an fast jedem Donnerstag für zweieinhalb Stunden mit der ganzen Besatzung und bespricht Themen des Schulalltags. Das habe ich zu schätzen gelernt, weil ich in den letzten acht Jahren meiner Lehrtätigkeit auch manchmal mit Situationen konfrontiert worden bin, die mich nachdenklich gemacht haben. Außerdem werden Kollegen vertrauensseliger, wenn man ein echter Lehrer und keine Aushilfe mehr ist, also habe ich auch so einige Beschwerden und Grübeleien angetragen bekommen.
Die Konferenzen helfen, zu sortieren, und im Verlauf des Schuljahres haben wir mehrere Sitzungen gehabt, die in regelrechte Selbsthilfegruppen ausgeartet sind. Dabei gab es auch zahlreiche interessante Vorträge von Kollegen und Hinweise auf Literatur und Maßnahmen von anderen Schulen. Der Tenor war aber insgesamt recht klar: Es herrscht eine große Besorgnis um die Unterrichtbarkeit der Schüler und deren Befinden im Rahmen der Schule. Berichtet wurde über Verschleißerscheinungen in Form von Schulangst und Burnout schon in jungen Jahren, vor dem wir uns an unserer K-13 Schule (einer Schule, an der die Schüler vom ersten bis zum dreizehnten Schuljahr verweilen) eigentlich sicher gefühlt hatten. Gleichzeitig kamen oft auch Fälle auf, in denen Schüler schon im achten Schuljahr das Gefühl bekamen, alles gelernt zu haben, was sie im Leben gebrauchen können. Für den Rest würden sie sich nicht mehr interessieren oder könnten alles, was sie sonst gebrauchen könnten, viel schneller selbst lernen, statt die Schulbank zu drücken. Aus diesem oder ähnlichen Hintergründen würden manche Schüler die Schule schwänzen oder sich so sehr im Unterricht langweilen, dass sie diesen eigentlich nur noch mit Unsinn verbrächten. Andere Schüler in den oberen Klassen hätten ihren Lernfortschritt gar nicht mehr im Auge. Es wirke geradezu so, als würden sie im Gottvertrauen, dass sie irgendwie schon bestehen würden, die letzten Schuljahre einfach absitzen, während sie Übungsmöglichkeiten wie Hausarbeiten und Schreibaufgaben nur noch sporadisch erledigten. Das Fach Mathematik, bei dem das Schicksal scheinbar seit jeher für jedes Kind eine Münze wirft, um zu entscheiden, ob es das Fach gut oder gar nicht bewältigt, scheint diese Münze auf der einen Seite verbogen zu haben. Logische Verknüpfungen zwischen den zahllosen Einzelteilen, die das Grundregelwerk der Schul-Mathematik ausmachen, könnten gar nicht mehr hergestellt werden. Gemein ausgedrückt würde den Schülern das logische Denkvermögen abhanden kommen.
In den Konferenzen wurde darüber beraten, wie der eindeutig nicht wünschenswerten Entwicklung entgegen gewirkt werden könnte, aber es wurde auch Ursachenforschung betrieben, um einen Ansatzpunkt zu finden. Dadurch bewegte sich die Diskussion immer wieder auf den Hauptschuldigen zu, den ein Großteil des Kollegiums zum Bösewicht auserkoren hatte: Den Lebenswandel der Schüler, bei dem neben einer Priorisierung von Parties und sonstiger Freizeitgestaltung auch das Internet und sein allgegenwärtiger Agent, das Handy, eine gewaltige Rolle spielen. Fairerweise sei hier angemerkt, dass kleinere Arbeitskreise dann doch noch einmal einen genaueren Blick auf die Schule geworfen haben, statt sich in der Hoffnung, das Problem durch ein einfaches Stellschräubchen zu lösen, vehement für eine Durchsetzung des Handyverbots einzusetzen.
Warum schreibe ich also dieses Buch? In meinem Studium der Erziehungswissenschaft und der artverwandten Disziplinen an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster wurde ich oft mit dem Thema des Aufwachsens in einer digitalisierten Gesellschaft konfrontiert. Die Befunde und Kommentare, die ich vorgetragen bekam oder lesen konnte, stellten vielseitig dar, wie die Vertreter der Sozialwissenschaft und dadurch die älteren Generationen die Auswirkungen der neuen Medien auf Kinder und Jugendliche wahrnehmen. Nun, da ich inzwischen seit acht Jahren selbst als Lehrer tätig bin und mit Kindern und Jugendlichen arbeite, habe ich in zahllosen Gesprächen viele Eindrücke erhalten und die andere Seite dieser Geschichte geschildert bekommen. Alle diese Eindrücke möchte ich in erster Linie für mich sortieren. Dass ich mich für Belletristik entschieden habe, statt ein wissenschaftliches Sachbuch zu schreiben, hat seine Grundlage darin, dass ich mir meiner Limitationen sehr bewusst bin und mir nicht anmaßen kann, die Wahrheit über alles zu wissen, was dieses Thema betrifft. Außerdem ermöglicht mir das Genre eine Wortwahl, die mir wesentlich mehr liegt, als staubtrockene Formulierungen, die zwar eine Kunstform für sich sind, die ich aber als sehr ermüdend empfinde. Wie dem auch sei: Meine Expertise dauert, wie geschrieben, bislang acht Jahre. Mein Studium habe ich an einer renommierten Universität absolviert, aber auch da bin ich nur einem kleinen Ausschnitt der gesammelten wissenschaftlichen Befunde ausgesetzt worden und bin selbst kein Forscher, der sich auf dieses Feld spezialisiert hat. Außerdem bin ich Lehrer in Nordrhein-Westfalen. Was ich lernen und beobachten konnte und kann beschränkt sich daher auf eine sehr ausgewählte Gruppe von Jugendlichen in einem geographisch und kulturell sehr eingeschränkten Feld. Dennoch habe ich nicht vor, frei von der Leber zu schreiben und lediglich meine persönliche Meinung und Interpretationen zu präsentieren. Statt dessen werde ich mich möglichst auf die Verfügbare Fachliteratur und ausgiebige Recherchen stützen. Die Quellen werde ich am Rand vermerken, und wenn es weitere Literatur oder erläuternde Anmerkungen gibt, werde ich sie ebenfalls einfügen.
Im Folgenden möchte ich also nun der Frage nachgehen, ob die als Millennials bezeichnete Generation ihrem scheinbar schlechten Ruf gerecht wird, ob sie wirklich so anders ist, als alle ihre Vorgänger und welche Rollen insbesondere der technologische Fortschritt und der Umgang der Elterngeneration damit spielen.
Auch wenn ich auf die zugeschriebenen Besonderheiten der Millennials später noch einmal genauer eingehen will, möchte ich an dieser Stelle zunächst einmal ein wenig Aufklärung über den Generationsbegriff an sich betreiben. Wenn Sie mit dem Terminus vertraut sind wird das jetzt leider ein wenig müßig, und sofern Sie nicht schon beim Lesen des ersten Abschnittes Google bemüht haben, schreibe ich an dieser Stelle auf, was das alles zu bedeuten hat. Bei dem Generationsbegriff, so wie er hier verwendet wird, geht es um einen soziologischen, also gesellschaftswissenschaftlichen Fachbegriff. Der Sozialwissenschaftler Karl Mannheim führte den Generationenbegriff im frühen 20. Jahrhundert in die Soziologie ein und legte dadurch das Fundament für die entsprechenden verallgemeinernden Beobachtungen. Es handelt sich um eine mehr oder weniger pauschale Einteilung von Altersgruppen, die bestimmte weltpolitische, technologische oder gesellschaftliche Entwicklungen durchlebt haben und dadurch eine gewisse Mentalität, Überzeugungen und Lebensweisen miteinander gemein haben.
Die Einteilung nenne ich pauschal, weil konstant in Schritten von 15 Jahren vorgegangen wird. Das macht aber auch sehr viel Sinn, weil ansonsten auf zahllosen Ebenen ebenso zahllose unterschiedliche Generationen ausgemacht werden müssten. Es müsste jeweils einen eigenen Generationsbegriff für jede Kultur, jeden politischen Raum, jeden historischen oder technologischen Umbruch geben und so weiter. Das wäre unheimlich kompliziert und wenig praktikabel. Tatsächlich schwirren momentan immer mehr Begriffe durch die Gegend, bei denen Wissenschaftler und nicht-Wissenschaftler versuchen, einer beobachteten Gruppe für ihre besondere Situation einen passenden Namen zu verpassen. Das Intervall von jeweils 15 Jahren hat bislang jedenfalls ganz gut für die Gesellschaften des westlichen Kulturkreises funktioniert, weil es einfach und überschaubar ist.
Es gibt trotzdem gewisse kulturelle Unterschiede auch innerhalb dieses eng gesteckten Rahmens. Wenn Sie Begriffe lesen, wie Generation X, Y oder Z, Baby-Boomer, 68er oder Generation Praktikum, sind das zusätzliche Einteilungen oder Benennungen, die parallel zu dem einheitlicheren soziologischen Begriff bestehen und bestimmte als sehr prägend empfundene Umstände betreffen. Ich beschränke mich, um das Buch lesbar zu halten, auf die zwei Generationen, die sich im Sprachgebrauch innerhalb von Deutschland bislang durchgesetzt haben. Wie erwähnt gehe ich jetzt erst einmal auf die Generation ein, an deren späten Ende ich geboren bin, während sich der wesentliche Teil des Buches mit der Generation befasst, die als Millennials bezeichnet werden3.
Dem Autoren Florian Illies ist es zu verdanken, dass die so genannte "Generation Golf"4 durch sein gleichnamiges Buch neben einem chicen Spitznamen auch eine Definition ihres Lebensgefühls und ihres generellen Charakters erhalten hat. Achten Sie darauf, dass der Begriff wesentlich für Deutschland gültig ist. Eine ähnliche Definition, die auf eine ähnliche Altersgruppe bezogen war (geboren von 1965-1980), aber vor dem Hintergrund des Zeitgeists Nordamerika betrachtet wurde, nahm der Kanadier Douglas Coupland vor. Er prägte die ebenfalls oft aufzufindende Bezeichnung "Generation X" in seinem ebenfalls gleichnamigen Buch. Er griff diese schnippisch gemeinte Bezeichnung seiner Zeit anders als Illies in einem Roman auf, statt ein Sachbuch zu verfassen5.
Es lohnt sich natürlich, Illies' Buch zu lesen, und wer es schon kennt, den will ich nicht langweilen. Daher will ich nur die Kurzform bemühen. Generation Golf, das sind diejenigen Deutschen, die in relativem Frieden aufgewachsen sind und sich durch die wirtschaftliche und politische Sicherheit weitestgehend frei entfalten konnten. Sie konnten die Früchte des Wirtschafts-Booms ernten, den ihre Vorgänger erarbeitet hatten, ohne die moralischen Konsequenzen zu tragen, und erscheinen im Großen und Ganzen als egoistisch, hedonistisch, unpolitisch und konsumorientiert. Insgesamt keine besondere Auszeichnung. Immerhin bleibt, dass die Generation Golf laut Illies auch ein besonderes Selbstbewusstsein auszeichnet, mit dem sie ihr Leben selbstbestimmt hat gestalten können. Außerdem gab es für die Generation nur wenige wirkliche Prüfsteine, an denen sie sich hätte beweisen können, auch wenn das ein ziemliches Luxusproblem gewesen sein dürfte.
Insgesamt kann ich mich als 1984er zwischen späten Golfern und frühen Millennials, was die allgemeinen Zuschreibungen angeht, nur zwischen Pest und Cholera entscheiden, wie es aussieht. Naja, gnädigerweise erwähnen die meisten Autoren zumindest am Rande, dass man eine Generation nicht so einfach über einen Kamm scheren kann und dass es Ausnahmen gibt.
Als Grundlage dieses Buches ist es auch notwendig, einen Blick auf zwei weitere Labels zu werfen, die die Soziologie und andere Wissenschaften oder auch einfach populäre Publikationen in die Welt gerufen haben. Während ich bei den verschiedenen Gesprächen, die ich geführt habe, erstaunt war, dass die verschiedenen Generationsbegriffe kaum jemandem wirklich bekannt sind (und ich musste ja auch ein wenig recherchieren, um die genauen Differenzierungen vornehmen zu können), dürften die Gesellschafts- und Zeitalterbegriffe weniger problematisch sein, weil sie überall in unserem Alltag herumschwirren.
Autoren aus allen möglichen Disziplinen haben in den vergangenen Jahrzehnten Namen herausgearbeitet, um den jeweiligen Zeitgeist in einer geeigneten Form einzufangen. Eine große Kategorie ist die Benennung der Epochen oder Zeitalter. Hier geht es eigentlich immer um die Frage, was unsere Zeit am Meisten prägt, und ist teilweise hochgradig subjektiv oder an das jeweilige Thema gebunden. Informationszeitalter, digitales Zeitalter, Kommunikationszeitalter und andere Begriffe wurden schon für die verschiedenen Prägungen verwendet und sind im Kern sehr neutrale Bezeichnungen. Sie bauen alle auf einem die Welt verändernden Ereignis, einem Durchbruch, einem epochalen Ereignis oder einer graduellen Entwicklung auf, die erst durch die wachen Augen der jeweiligen Personen zutage gebracht wurden.
Ein Nebenprodukt dieser Zeitalter ist immer auch die Gesellschaft, die aus ihr hervor geht. Und die Namen dieser Gesellschaften sind eher selten von Enthusiasmus geprägt. Hier zeigt sich ein ähnlich kritisches Bild, wie bei den Generationen nach den Baby-Boomern und Gen-X-ern, die sich auf den Lorbeeren ihrer Vorgänger ausgeruht haben, ohne viel Eigenes zu schaffen. Oft wird zum Beispiel gewarnt vor einer Konsum-, Überfluss-, oder Wegwerfgesellschaft. Die Begriffe sind auch heute noch allgegenwärtig, und obwohl es schon seit dem Beginn der Industrialisierung Naturschutzbewegungen gegeben hat, ist die ganze Bewegung in den 70er und 80er Jahren noch einmal besonders stark aufgeblüht. Dies schuf eine völlig neue Art der Aufmerksamkeit für unsere Umwelt. Plötzlich war es gar nicht mehr okay, Atommüll einfach stumpf in den Ärmelkanal zu werfen, und auch mit der Endlagerung in einem Hochsicherheits-Salzstollen war man irgendwie nicht zufrieden. Plastik war plötzlich gefährlich wie Blei, und Recycling und Mülltrennung wurden zu Dingen, an die man sich zwangsweise gewöhnen musste.
Wenn zwischendurch von einer Industriegesellschaft gesprochen wird, kann man ein wenig aufatmen, bevor man dann zum Beispiel Ulrich Beck begegnet, der wiederum vor einer Risikogesellschaft gewarnt hat und in seinem gleichnamigen Buch eine zeitgenössische Einschätzung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen präsentiert, auch wenn das Buch inzwischen ein wenig in die Jahre gekommen ist und eher als historische Referenz interessant ist6.
So sehr es sich auch um eine Verkürzung einer Gesamtbetrachtung eines gesellschaftlichen Zustands handelt sind diese Label sehr praktisch zur Orientierung. Für meine eigene Bestandsaufnahme habe ich mich für den Begriff "Instant-Gesellschaft" entschieden. Ironischerweise ergab eine kurze Recherche im Internet bereits, dass dieser Ausdruck, an den ich dachte, schon von zahlreichen anderen Sprechern und Autoren genutzt worden ist, also kann ich ihn mir leider nicht ans Revers heften. Überhaupt baut ein substantieller Teil meiner Ausführungen in diesem Buch auf angelesenem Fachwissen auf, das ich wesentlich mit eigenen Erfahrungen und Reflexionen ergänze. Die bisherigen Advokaten der "Instant-Gesellschaft" nutzen den Begriff sehr unterschiedlich. Der US-amerikanische Pastor Greg Laurie erläuterte sogar in einem Vortrag unter Verwendung genau der Begriffe, die ich im ersten Entwurf für die Spitzmarke vorgesehen hatte, wie die Gesellschaft immer mehr durch das Bedürfnis geprägt ist, alles sofort und möglichst ohne eigenes Schweißvergießen zu bekommen und besonders offen für Stimmen zu sein, die eine schnelle und einfache Lösung für alltägliche und sogar weltbewegende Probleme versprechen7. Dies sei auch ein spirituelles Problem. Laurie ist bei der Darstellung der Problematik sehr humorvoll und selbstreflektiert, ähnlich wie der ebenfalls US-amerikanische Journalist und Schriftsteller Bill Bryson, der in seinem Buch "Streiflichter aus Amerika" über seine Erfahrungen mit Garagentoren berichtet und feststellt, dass unsere Gesellschaft, oder zumindest die US-Amerikanische, begeistert von der Idee ist, die modernen Technologien alle Dinge des Alltags erledigen und vereinfachen zu lassen, wobei sie oft eher genau das Gegenteil tun8. Allein für die Erzählung über Garagentorheber sollte man das Buch mal gelesen haben. Diese beiden Beispiele werden durch eine ganze Reihe von Kabarettisten und Autoren ergänzt, die diese Entwicklung mit Kritik, Spott oder Sorge betrachten und damit den Begriff überformen.
Die "Instant-Gesellschaft", wie sie von mir bearbeitet wird, hat zunächst zwar auch einen negativen Beigeschmack, aber diesem geht eine positive Prämisse voraus. Als direkter Begleiter der Konsumgesellschaft leidet sie zwar unter dem Problem der Behäbigkeit und mangelnden Umsicht, ist aber gleichzeitig mit der Fähigkeit gesegnet, produktive, intellektuelle und soziale Aspekte des eigenen Lebens ohne große Mühe zu bewältigen. Ihr Problem ist, dass sie noch nicht gelernt hat, das dadurch gegebene riesige Potential effizient oder intelligent zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen. Einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung dieser Gesellschaft hat die digitale Wende geleistet9. Diese bezeichnet einen Prozess, der in den 70ern startete und durch den der technologische Fortschritt mit immer schnelleren Computersystemen und deren Kommerzialisierung in die Gesellschaft integriert wurde und das Leben nachhaltig veränderte.
Zwar bin ich nicht am Anfangspunkt der digitalen Wende geboren, bin aber in einem wesentlichen Teil ihrer Blütezeit aufgewachsen. Dies werde ich im folgenden Abschnitt gewissermaßen als Zeitzeugenbericht darstellen. Es muss aber erwähnt werden, dass auch hier einige Verzerrungen existieren. Manche Technologien waren lange verfügbar, bevor sie in Deutschland eingeführt oder alltäglich wurden, und mein Heimatstädtchen war bei der Einführung und Nutzung neuer Medien sicherlich genauso wenig ein Pionier wie meine eigene Familie.
1 Schon an dieser Stelle möchte ich um Entschuldigung dafür bitten, dass ich die geschlechtliche Differenzierung in diesem Buch nicht durch eine der gängigen Methoden, wie das Gendersternchen oder das Symbol für "beiderlei Geschlechts" vornehme. Wenn es Sie tröstet: Ich habe das Gendersternchen beim Schreiben des Buches konsequent genutzt und habe es zugunsten des Redeflusses von Hand wieder entfernen müssen, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm. In der Regel meine ich immer beide Geschlechter, und wenn nur eines gemeint ist, werde ich es ausreichend klar machen.
2https://www.theguardian.com/media-network/media-network-blog/2014/jan/24/millennials-generation-gap
3 Entsprechend der Strauss-Howe-Generationentheorie sind Millennials diejenigen, die zwischen 1982 und 2004 geboren sind. Die beiden Herren sind auch die Schöpfer der Bezeichnung.
4 Illies, F. Generation Golf. Frankfurt am Main, Fischer, 2001.
5 Coupland, D. Generation X. Aufbau, 1994.
6 Beck, U. Politik in der Risikogesellschaft. Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1988.
7 hier ein Ausschnitt eines Vortrags: https://www.youtube.com/watch?v=S6ntRMULjkE Es gibt noch zahlreiche weitere Artikel und Internetseiten, auf denen der Begriff verwendet wird, aber ich beziehe mich auf Laurie, da sein Vortrag die früheste für mich zurückverfolgbare Erwähnung enthält.
8 Bryson, B. Streiflichter aus Amerika. Goldmann, 2002.
9 Eigentlich heißt der Begriff "digitale Revolution", aber da ich keinen Anlass sehe, diesen geradezu kämpferischen Begriff zu nutzen, verbleibe ich lieber bei dem Ersatzwort "Wende". Bitte verzeihen Sie mir also die absichtliche Ungenauigkeit.
Bei der Vorbereitung dieses Kapitels fiel mir auf, wie unheimlich schwierig es ist, sich an meine Kindheit und Jugend zu erinnern. An sich ist mein Gedächtnis sehr gut, aber tatsächlich oder rein nach meinem Gefühl hat sich mein alltägliches Lebensumfeld so deutlich verändert, dass es aus der heutigen Sicht fast nicht mehr nachvollziehbar ist. Und ein wenig kann ich es verstehen, wenn mich Schüler ungläubig anstarren, wenn ich ihnen davon erzähle, dass wir die ganzen digitalen Annehmlichkeiten, die heute so selbstverständlich und teils unentbehrlich sind, weder hatten, noch vermissten. Es ist im wörtlichen Sinne für heutige Jugendliche schon gar nicht mehr vorstellbar, wie ein Leben ohne Google, Facebook, Wikipedia und ein internetfähiges Handy überhaupt funktionieren konnte. Trotzdem habe ich es dann doch mit der Hilfe einiger Gespräche mit meiner Familie und Altersgenossen hinbekommen, die Zeit meines Aufwachsens zu rekonstruieren und werde sie nun skizzieren.
Meine Familie war weder besonders wohlhabend, noch bettelarm. Wir lebten in Greven, einer relativ kleinen Stadt nördlich von Münster, in einem Einfamilienhaus in einer ruhigen Wohngegend. Das Wohngebiet wurde neu erschlossen, so dass dort fast ausschließlich junge Familien lebten. Dadurch hatten meine drei Geschwister und ich reichhaltigen Kontakt zu sehr vielen weiteren Kindern gleichen Alters direkt in der Nähe. Der nächste Kindergarten und die Grundschule waren fußläufig zu erreichen, es gab eine riesige Wiese zum Spielen und einen ebenso großen Spielplatz direkt hinter unserem Haus. Die Bedingungen unseres Aufwachsens waren also für moderne Verhältnisse absolut großartig. Inzwischen ist die Wiese aber wesentlich bebaut, und das Waldstück mit dem Bach, an dem wir gespielt und Dämme und ein Drittel Baumhaus gebaut haben, wurde abgeholzt und zubetoniert, um ein weiteres Wohngebiet zu ermöglichen.
Wir hatten neben all diesen schönen Gegebenheiten aber auch Videospielkonsolen und einen Familiencomputer. Der hatte zunächst keinen Zugang zum Internet und stand im Arbeitsraum meines Vaters. Das Gerät war wenig reizvoll für uns Kinder, außer für die wenigen Videospiele und lustigen Programme, wie "Paint" oder "World Map". Geschrieben wurde am Computer nicht, zumindest erst einmal. Meine Eltern wussten, dass es sinnvoller war, das handschriftliche Arbeiten nicht aus den Augen zu verlieren, und wollten nicht, dass wir Hausarbeiten und Referate auf Word schrieben.
Auf dem Rechner lief aber auch "Leisure Larry" von der Software Firma Sierra, ein Spiel, das so eigentlich gar nichts für Kinder ist, wobei es für heutige Verhältnisse eher zahm wirken dürfte. Der wesentliche Inhalt des Spiels war es, eine Figur durch eine Nachbarschaft zu steuern und Befehle einzutippen, die sie dann ausführte. Ziel des Spiels war es, innerhalb eines bestimmten Zeitlimits ein Date ausfindig zu machen und mit ihm zu schlafen. Wir, also mein großer Bruder (12) und ich (10), waren weniger daran interessiert, dem armen Larry bei der Schürzenjagd zu helfen, bevor er sich am Morgen das Hirn mit einer Pistole raus pustet. Wir fanden einfach das Spiel an sich witzig. Es faszinierte uns schon als Kinder, dass man fast alles schreiben konnte, und das Spiel konnte so ziemlich jeden noch so albernen Unsinn verstehen, den wir eingaben. Meistens teilte es uns zwar lediglich mit, dass das, was wir Larry befahlen, totaler Stumpfsinn war, aber es war trotzdem ulkig. Das Spiel hatte nur zwei Haken: Es handelte sich um ein vollständig englischsprachiges Videospiel. Um es zu spielen saßen wir mit einem Wörterbuch neben dem Rechner. Dadurch lernten wir tatsächlich schon viele Vokabeln. Aufgrund des Inhalts des Spiels waren das allerdings hauptsächlich die Wortfelder "Beziehungen", "Alltagshandlungen", "Barbesuch" und "Flirten", aber im Endeffekt war es doch ganz okay. Zweitens musste man, um zu beweisen, dass man schon 18 war, eine Reihe von Fragen beantworten (auch auf Englisch). Bis ich herausfand, dass es ein Tastenmakro gab, mit dem man die Fragen umgehen konnte, arbeiteten wir viel mit "trial and error" und eigneten uns ein wenig Hintergrundwissen an, um die politischen oder geschichtlichen Fragen beantworten zu können.
Trotz der tollen Spielereien hatte der Rechner noch kein CD-Laufwerk, und dass wir damit im technologischen Neandertal waren wurde mir erst durch den Besuch eines Experten an meiner Schule bewusst, der ungefähr im achten oder neunten Schuljahr stattfand. Wofür der Mann ein Experte war? Ich weiß es nicht mehr. Was er getan hat, worüber er aufgeklärt hat oder was überhaupt sein Anliegen war ist vollkommen im Nebel meiner Erinnerungen verloren gegangen. Was ich noch weiß ist, dass er uns eine CD mitgab, die den Titel "Im Netzwerk gefangen" trug. Mitschüler sagten mir, es enthalte ein "point-and-click" Abenteuer, in dem ein Teenager irgendeinen Kriminalfall aufdeckt. Die CD lag bei uns nur herum, und ich war ein wenig enttäuscht, es nicht spielen zu können. Aber so super wird das Spiel nicht gewesen sein, weil es auf dem Schulhof nicht zum großen Thema gemacht wurde und ich keinen sozialen Nachteil davon hatte, es nicht spielen zu können.
Eine Internetverbindung hatten wir erst kurz vor der Jahrtausendwende. Zuerst wählten wir uns mit einem analogen 56k Modem ein, einem von diesen lauten Dingern, die über die Telefonleitung das Internet nutzen und deshalb das Haustelefon blockieren, wenn man online ist. Ja, man konnte nicht telefonieren, wenn man im Netz war, und nicht ins Netz, wenn man telefonierte. Relativ schnell wechselten wir dann aber zu einem DSL-Modem. Natürlich hatten wir keine Flatrate abonniert. Die Möglichkeit gab es da zwar schon bei einigen Anbietern, aber kaum jemand in unserer Gegend hatte irgendeine Verwendung dafür. Mit der Möglichkeit, privat und beruflich E-Mails zu nutzen, fremdelten viele noch, und ich kenne zahlreiche Eltern, die heute immer noch keine E-Mail-Adresse haben, die sie regelmäßig nutzen oder abrufen. Immerhin handelt es sich bei diesen Menschen um die Generation knapp über meiner. Und man darf nicht vergessen, dass die Gebühren für die Nutzung des Internets ziemlich hoch waren. Das machte den regelmäßigen Gebrauch nicht besonders attraktiv, gerade weil ganz zu Beginn die allerschlimmsten Hacker, Viren, Würmer und Betrüger unterwegs waren, die den Leuten durch Programme und andere Wege kostenpflichtige Dienste über die Telefonrechnung aufschwatzten oder einfach die Datenverbindung klauten, um auf Kosten des Opfers im Netz zu surfen und Gott weiß was in dessen Namen anzustellen.
Für die Jugendlichen bot das Netz auch nicht den allergrößten Reiz, wenn es um die Gestaltung der eigenen Freizeit ging. Zur Unterhaltung nutzte man die gängigen Videospielkonsolen oder widmete sich halt offline-Aktivitäten. Multiplayer-Spiele spielte man mit Freunden oder den eigenen Geschwistern am selben Bildschirm, oder man sah einem Freund beim Spielen zu und wechselte sich ab. Letztens sah ich noch einige Bilder im Netz, auf denen eine typische LAN-Party aus den 90ern zu sehen ist. Fröhliche junge Leute schleppen körbeweise Kabel, Tower, Monitore und noch mehr Kabel nebst Fressalien und Getränken entweder zu Fuß oder im Kofferraum eines Autos an und bereiten sich darauf vor, den Rest des Tages oder des Wochenendes in einem Raum zusammen mit mehr oder weniger bekannten Leuten zu verbringen. Der Aufwand würde sich ansonsten ja gar nicht lohnen, und geplant war das Event sicherlich schon lange im Voraus.
Erlauben Sie mir bitte an dieser Stelle einen kleinen Exkurs, bevor ich zum Bericht zurück kehre.
Bei dem Versuch, mich an möglichst viele Einzelheiten aus meiner Jugendzeit zu erinnern, fiel mir auf, dass ein Kritikpunkt, der dem Internet zugeschrieben wird, eigentlich weder ein Produkt der heutigen jungen Leute, noch des Internets an sich sein dürfte. Dieser Kritikpunkt betrifft die (fehlende) Kommunikationskultur, die sich durch Unhöflichkeit und Maßlosigkeit auszeichnet, und die durchzogen ist von Sexismus, Rassismus und so ziemlich jedem anderen unschönen -ismus geprägt ist. Aber warum sind Menschen im Netz so wie sie sind? Eine Erklärung ist, dass das Internet anonym ist und man mutiger und eher bereit ist, unangenehme Positionen zu äußern, weniger Hemmungen hat, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen und sich verbal auch nicht zurückzuhalten. Das trifft meines Erachtens durchaus zu, aber ein wichtiger Faktor, der bei diesem schlechten Ruf zum Tragen kommt und in den Berichten und Publikationen zu dem Thema "Jugend im Netz" allzu selten zum Tragen kommt, ist das so genannte "Trolling".
Es gibt Nutzer, denen die Anonymität des Internets die Möglichkeit bietet, den inneren Spaßvogel zu erwecken. Diese Menschen ziehen durch die Foren, Youtube-Kommentare, Beratungsseiten oder Gästebücher und ziehen ernsthafte Themen ins Lächerliche, indem sie provokante Nachfragen schreiben, so tun als verträten sie eine vollkommen abwegige Haltung zu einem sensiblen Thema oder einfach irgendeinen Unsinn schreiben. Das Ziel ist es, Leute zu ködern und zu provozieren, damit diese selbst eine extreme Position äußern, sich aufregen oder auf irgendeine andere Art heftig reagieren. Das amüsiert dann den "Troll", der es dann oft auch nicht bei einem Eintrag belässt, sondern seine Ziele weiter anstachelt.
Das Problem ist natürlich, dass im Netz nur wenige Möglichkeiten bestehen, eine ernsthafte und eine im Scherz vertretene Meinung voneinander zu unterscheiden. Dadurch werden "Trolle" zu Multiplikatoren für die bestehende Grundgesamtheit von unangenehmen Personen und deren Gedankengut. Mit großer Wahrscheinlichkeit gibt es im Internet weit weniger böse Menschen, als es den Anschein hat. Manche sind einfach nur Menschen mit einem Dachschaden, die sich auf Kosten anderer einen Spaß gönnen, indem sie einen Zankapfel in den Raum werfen und dem Spektakel zugucken, das sich daraus entfaltet. "Trolle" sind ein wenig wie der eine Typ, der bei einer ernsthaften wissenschaftlichen Debatte mit am Tisch sitzt und aus Frustration darüber, dass er nicht mitreden kann, irgendwann anfängt, Unsinn oder abwegige Kommentare in das Gespräch einzuwerfen, um das Thema zu wechseln oder das Gespräch kaputt zu machen.
An dieser Stelle muss ich zugeben, dass ich den Wendepunkt zwischen dem ursprünglichen Internet und dem so genannten "Internet 2.0" nicht mitbekommen habe. Ganz ursprünglich war das Internet ein Kommunikationsnetzwerk zwischen einzelnen Rechnern des US-amerikanischen Verteidigungsministeriums und wurde dann aufgrund seiner Nützlichkeit zum weltweiten Netz ausgebaut. Die erste Instanz wurde in den 80er Jahren hauptsächlich von Universitäten und Unternehmen verwendet. Es war für den normalen Nutzer nicht attraktiv. Am Ende der 80er fand eine Kommerzialisierung statt. Nach und nach wurden Möglichkeiten eingeführt, das Internet benutzerfreundlicher zu gestalten und ihnen eine aktivere Rolle bei der Nutzung einzuräumen. Aber erst ab 2003 war die Kommerzialisierung mehr oder weniger abgeschlossen.
Es waren über den Verlauf dieser großen Zeitspanne fünf wesentliche Neuerungen, die dem Netz den Weg ins Herz der Nutzer ebneten. Es gab Suchmaschinen, mit denen man schnell Internetseiten zu Themen finden konnte, die einen interessierten. Man konnte auf Seiten aufmerksam werden, die man ansonsten nie hätte ausfindig machen können, und das wahrnehmbare Angebot und die Unabhängigkeit von den vorgegebenen Seiten der Anbieter erweiterte sich drastisch. Eine komplett eigene Internetseite einzurichten war noch sehr lange schwierig, aber man konnte sich eine Subdomain holen, die man sehr einfach mit einem Baukastenprogramm zusammen stellen und relativ frei gestalten konnte. Dadurch wurde das Internet zu einem aktiv genutzten Medium. Auch die Interaktivität erhöhte sich durch die Entstehung sozialer Netzwerke. Daneben entstanden auch Netzwerke und Banken für Daten, Informationen und Unterhaltung. Auch wurde durch online-Banking und Dienste wie PayPal das spontane und impulsive Einkaufen auf Seiten wie dem Auktionshaus eBay und dem Versandhändler Amazon möglich. Der Vergleich zwischen dem alten Internet und dem Internet 2.0 ist etwa der zwischen einem kargen Ödland, in dem man nachts orientierungslos herumstolpert, und einem gigantischen und bunt beleuchteten Vergnügungspark, der immer geöffnet hat, mit Karussells und Attraktionen, aber auch Infoständen und Verkaufsbuden an jeder Ecke.
So etwa um 1998 herum, als ich 14 und mein großer Bruder 16 war, bot das Netz also schon weit mehr Möglichkeiten, sich auszutoben - und Gefahren. Erst kurz davor hatte ein Betrüger unseren Eltern irgendwie eine sehr heftige Rechnung eingebrockt, und ich hatte meinen Vater davon überzeugt, dass es sinnvoller wäre, eine Flatrate zu abonnieren, als das Internet ganz aus dem Haus zu schaffen. Damit rannte ich offene Türen ein, auch wenn die Flatrates nicht gerade billig waren. Denn während wir Kinder Online-Communities für uns entdeckten, war mein Vater von den zahlreichen politischen Foren begeistert, die ihm die Möglichkeit gaben, vom Arbeitszimmer aus aktiv zu werden. Der Nebeneffekt war, dass wir den einen Rechner, den die Familie hatte, unter vier bis sechs begierigen Personen aufteilen mussten, die alle extensiven Tätigkeiten nachgehen wollten. Meine Mutter war mit dem Internet nie ganz warm geworden, aber sie spielte gerne Solitär. Meine beiden Brüder und ich fanden Gefallen an einem Online-Videospiel, und mein Vater nahm in den politischen Foren allmählich so richtig Fahrt auf, was auch zu Kontakten führte, die er zu pflegen hatte.
Auf einer Entdeckungsreise im Netz stießen meine Brüder und ich auf eine Seite mit dem Namen "Cycosmos". Es handelte sich um einen Chatroom. Das Besondere war, dass man sich einen Avatar, also eine Figur, erstellen konnte, mit der man per Mausklick quer durch einen großen Raum gehen konnte. Wenn man etwas eintippte, erschienen die Schriftzeichen direkt über der Figur. Man schrieb also nicht an alle im Raum, sondern nur an diejenigen, die ihren Avatar gerade in der Nähe platziert hatten. Dadurch entstand eine gewisse Dynamik, aber auch viel Platz für Unsinn. Mein Bruder (16) erstellte sich einen Mann mit einem Autoreifen unterm Arm und begann in einer Art Rollenspiel zunächst, anderen ihre imaginären Autos zu reparieren oder ihnen den Ersatzreifen zu "verkaufen", fand aber recht schnell heraus, dass man das Forum auch nutzen konnte, um Mädchen anzusprechen. Er lernte dort schließlich seine erste langjährige Freundin kennen. Ich hatte statt dessen nur Unsinn im Kopf, weil ich keinen echten Nutzen in dem Forum fand und vielleicht noch etwas doof im Kopf war. Ich erstellte mir einen dicken Mann in einer Priesterrobe und rannte Menschen hinterher, die ich zu meiner Kartoffelsekte zu bekehren versuchte - mit mäßigem Erfolg.
Wir spielten aber sehr gerne auch ein Videospiel mit dem Titel "Ultima Online". Man konnte sich einen Charakter erschaffen, der entweder Handwerker, Magier oder Krieger war, und in einer riesigen Welt herum laufen, Ressourcen ernten, Waffen und Rüstungen bauen, Monster bekämpfen oder mit anderen Spielern Gespräche führen. Das funktionierte ähnlich wie bei Cycosmos. Wichtig war, dass man "incharacter" bleiben musste, also die Atmosphäre eines Fantasy-Romans beibehalten musste, indem man seine Spielfigur auf eine bestimmte Art sprechen ließ und entsprechend auch handelte. Im Spiel gab es natürlich neben zahlreichen tollen Leuten viele Spielverderber, die sich nicht an die Regeln hielten, aber insgesamt war es eine Menge Spaß.
Geregelt wurde das Spiel über ein Forum. Meine Schüler haben mir übrigens neulich gesagt, dass der Begriff fast niemandem unter 16 mehr geläufig ist, was ich gruselig finde. Jedenfalls gab es zwei Dinge, an die ich mich erinnere und wegen denen ich das mit den "Trollen" und der fragwürdigen Kommunikationskultur erwähnt habe. Im Organisationsforum wurde immer wieder dazu aufgerufen, die eigene Meinung zu einem Thema mit mehr als nur einem Ja oder Nein kundzutun und diese ausführlicher zu verschriftlichen. Ein Administrator schrieb etwa: "Leute, schreibt bitte nicht dauernd als Antworttext 'Ja' in die Betreffzeile und dann keinen Text in die eigentliche Nachricht." - ein gefundenes Fressen für die Spieler, die darauf hin einen großen Spaß daran fanden, in die Nachrichten "kein Text" zu schreiben, wodurch sie gewissermaßen ja einen Text hatten. Wenn im Forum jemand eine unpopuläre Meinung hatte und dafür von jemandem gescholten wurde gab es dafür immer wieder etwas, das man heute vielleicht als "Meme" bezeichnen würde. Wer Mist erzählte bekam vom nächsten User ohne weiteren Kommentar ein Bild als Nachricht, auf dem eine junge Person dabei ist, über das Geländer einer Brücke zu steigen. Das Bild enthielt die Textzeile "Du nervst, geh sterben!". Wenn ein Nutzer nach allen Regeln der Kunst fertig gemacht wurde, weil er etwas Dummes geäußert hatte, also "geflamed" wurde, gab es fast immer irgendeinen Nutzer, der ein animiertes Bild hinterließ, auf dem eine Person mit einem Flammenwerfer ein Zimmer in Brand setzt.
Ich erwähne das, weil die ersten Trolle schon im Netz unterwegs waren, als es noch in den Kinderschuhen steckte. Es handelte sich dabei nicht um Menschen, die durch das Internet sozialisiert wurden oder mit neuen Informationstechnologien aufgewachsen waren, und es handelte sich auch nicht um ein kulturell gewachsenes Phänomen des Internets. Vielmehr liefert das Internet den Menschen eine Plattform, um eine inhärente charakterliche Eigenheit vor einem gigantischen Publikum auszuleben. Das Netz ist ein umgekehrter Katalysator für den emotionalen Schmutz, den wir von außen in es herein tragen, oder eine Lupe für unsere verborgenen unangenehmen Seiten. Daher sehe ich es eher als Brutstätte, nicht als Ursprungsort für soziale Übel unserer Gesellschaft oder der verrohten Jugendkultur. Aber dazu schreibe ich später separat noch etwas, anstatt meine "Memoiren", um die es in diesem Abschnitt geht, noch weiter zu unterbrechen.
Ein großes Problem entstand zusammen mit den vielen Annehmlichkeiten aufgrund der Annahme von Eltern und Kindern, dass das Netz ein sicherer Ort ist. Immerhin hatte doch jeder Nutzer einen Computer im Haus, der über eine Standleitung ins Netz verbunden wurde. Und viele Eltern gingen wohl davon aus, dass das Internet etwa so funktionierte, wie das Fernsehen, also dass es zwar neben den offiziellen Staatsseiten auch private Sender gibt, dass diese aber angemeldet seien und kontrolliert würden. Spätestens die Telekom oder die anderen Anbieter würden über seltsames Surfverhalten Bescheid geben können, oder? Dass man trotzdem im Wesentlichen anonym ins Netz gehen und allerhand Unfug anstellen konnte, war vielen nicht bewusst. Es gibt einen sehr unterhaltsamen Werbespot zur Sicherheit im Internet, in dem eine naive Mutter immer wieder zur Tür geht und erst Neonazis, dann Prostituierte, eine Verbrecherbande und einen gewalttätigen Videospielcharakter ins Haus lässt, um sich mit ihrem Sohn zu treffen. Am Ende gibt sie einem Mann, der ihrer Tochter seinen Hasen zeigen möchte, diese an die Hand. Der Spot endet mit der Nachricht "Im wirklichen Leben würden Sie Ihre Kinder schützen.", und bietet einen Dienst zur Sicherung des Internetzugriffs für Kinder an. Über die Gefahr aus dem Netz wurde seither immer wieder aufgeklärt und gewarnt.
Das Problem der Jugendgefährdung allerdings ist vorrangig mit Placebos und wirkungslosen Barrieren behandelt worden, und teilweise kann man da niemandem wirklich einen Vorwurf draus machen, weil Hürden zum drüber Springen da sind. Eine markante Ausnahme bilden sinnfreie Aktionen wie das 2009 eingeführte Stoppschild für Seiten mit Verdacht auf Kinderpornographie, das ungefähr die gleiche Erfolgsrate hatte, wie sein Gegenstück im Straßenverkehr. Der Kabarettist Volker Pispers sagte dazu einmal, dass das Stoppschild eigentlich passend für die ganze Initiative ist. Man hält kurz an, guckt ob niemand kommt, und fährt weiter. Und die rein formalen Abfragen auf Seiten mit Jugend gefährdenden Inhalten, ob man denn schon 18 sei, ist auch nur eine reine Sicherheitsmaßnahme, damit sich der Betreiber nachher darauf berufen kann, gewarnt zu haben. Um Jugendschutz geht es hier weniger.
Viele Grundlagen des positiven Umgangs mit den technologischen Errungenschaften lagen auch in den vorhandenen sozialen Netzwerken, wesentlich in den Elternhäusern und der Erziehung. Meine Teilgeneration, welches Label sie auch immer tragen mag, wuchs im Zwiespalt zwischen dem anhaltenden Technologie-Boom und den bestehenden Werten ihrer Elterngeneration auf. Und ich glaube, dass es gut so war, auch wenn das eine erwartbare Aussage für jemanden ist, der sich ansonsten eine verkorkste Kindheit eingestehen müsste. Für uns war das Internet, waren Konsolen mit immer besserer Grafik und viel mehr Inhalten, waren neue Wege der Kommunikation und Vernetzung witzige Gimmicks, Spielereien, ja, Spielzeug. Im besten Fall waren es dankbar zur Kenntnis genommene Hilfen für den Alltag, aber nichts, was man wirklich ernst nehmen oder sein Leben davon nachhaltig beeinflussen lassen musste.
Meine Mutter erklärte mir, dass ich eine Neuerung ausgelassen hatte, die ich hier nachholen muss. Eine Sache, die an mir so ziemlich vorbei gegangen war, für meine Elterngeneration aber wohl eine umfassende Änderung des Alltagslebens darstellte, war die Befreiung des Telefons von seiner Schnur. Damals konnte man froh sein, wenn man ein verlängertes Kabel bei der Deutschen Post beantragen konnte, die sich damals übrigens noch um das Telefonnetz kümmerte. Ein Telefonat konnte ansonsten nur dort geführt werden, wo sich der Apparat befand. Nun konnte man aber längere Gespräche führen und gleichzeitig andere Dinge erledigen, sich allgemein frei bewegen und bei Bedarf auch in ein Zimmer gehen, um Lärm oder unerwünschten Zuhörern zu entgehen. Es war also mehr als nur praktisch, sich vom Telefonhalter wegbewegen zu können. Wir jungen Menschen waren dankbar, dass wir die Telefonate mit unseren Freunden, die immer sehr wichtig waren und auf keinen Fall von den neugierigen Eltern mitverfolgt werden durften, im eigenen Kinderzimmer durchführen konnten. Manchmal nahmen wir das Telefon auch mit ins Zimmer, wenn wir auf einen Anruf warteten, was dann oft zu Stress mit dem restlichen Haushalt führte.
Es gab mit der Zeit natürlich auch im Bereich der Software Neuerungen, die für die Schule heute ebenso wenig wegzudenken sind. Powerpoint war beeindruckend, aber nicht jeder nutzte es in meiner Klasse, und Lehrer wurden durchaus mal sauer, wenn ein Schüler einfach nur eine Handvoll Stichwortkarten benutzte und eigentlich im Endeffekt nur vorlas, was auf der Präsentation zu lesen war. Handschriftliches war so wichtig, dass sogar den Kindern mit entsetzlichen Handschriften geraten wurde, bitte auf den Computer zu verzichten. Wir hatten vielleicht Fernseher und Konsolen in unseren Zimmern, aber wir hatten auch Ruhezeiten und Eltern, die uns die Hölle heiß gemacht hatten - nein, hätten -, wenn wir an einem Abend vor dem nächsten Schultag noch bis spät Abends gespielt hätten. Wir spielten wirklich viel, aber meistens im Beisein von Freunden oder Geschwistern, und dann lieber Spiele, die man direkt zusammen spielen kann, als Einzelspieler-Spiele. Wir hatten aber auch genügend Anreize, auch mal nach draußen zu gehen, Fahrrad zu fahren oder einfach irgendwas zu spielen. Es gab zwar den einen oder anderen Gameboy bei uns in der Schule, aber nur wenige haben mit dem Gerät dann auch im Unterricht gespielt. Es war auch einfacher für die Lehrkräfte, die Verbannung dieser reinen Unterhaltungselektronik zu legitimieren. Natürlich waren wir keine lieben Engel, die nur da saßen und dem Lehrpersonal begeistert zugehört haben, aber wir waren uns bewusst, dass man sich in einem gewissen Rahmen zu benehmen hat und dass das, was wir lernen, später wichtig sein könnte, selbst wenn "später" die nächste Klassenarbeit war. Bei der Frage nach Handys spaltete sich meine Teilgeneration dann aber ein wenig.
Handys gab es für den gewöhnlichen Verbraucher auch schon vor der Jahrtausendwende, aber teilweise waren sie sehr teuer und klobig. Die frühen Modelle hatten für heutige Verhältnisse eine recht wackelige Verbindung und keine gute Tonqualität. Klingeltöne waren Reihen von elektronischen Pieptönen, und auch wenn viele der alten Handys schon ein Telefonbuch enthielten, war der Speicher der Geräte damit schon so ziemlich ausgelastet. Nicht einmal für Musik war Platz. Dafür brauchte man noch einen tragbaren Kassetten- oder CD-Spieler. Das Display war deshalb klein, weil es nur die angerufene Nummer enthielt oder kurze Textnachrichten anzeigen musste. Diese Nachrichten musste man über das Tastenfeld eintippen, und mit dem Telefonieren und Senden von Kurznachrichten hatten sich die Funktionen und Vorteile des Gerätes bereits erschöpft. Viele sahen darum im Besitz eines Handys keine wirklich große Bereicherung ihres Lebens. Man musste es mitschleppen, und wenn man unbedingt schnell irgendwo anrufen musste gab es Telefonzellen an jeder Ecke, also war es überflüssig. Es waren zunächst die Eltern, die das Handy positiv aufgriffen. Sie begrüßten die Möglichkeit des Erwerbs eines Handys, weil es mehr Sicherheit bot. Würde irgendetwas passieren und keine Telefonzelle in der Nähe sein, würde das Kind zu Hause anrufen oder von dort aus angerufen werden können.
Das war es aber schon. Denn darüber hinaus war das Handy ein eher unwillkommener Gast bei jedem erdenklichen Anlass. Fast ausschließlich spiegelte sich in den Medien das Bild des Wichtigtuers, der zu den unpassendsten Zeitpunkten ein mehr oder weniger großes Handy herausholte, um mit irgendeiner Person auf der anderen Seite lautstark Gespräche über finanzielle Geschäfte zu führen, auch wenn es die Menschen in seinem Umfeld unheimlich störte. Schauplätze waren dann klassische Konzerte, Theater oder Restaurants. Handys waren nur sozial akzeptiert für diejenigen, die aus beruflichen oder besonderen Gründen auf ihren Gebrauch angewiesen waren, und ansonsten begegnete man denjenigen, die scheinbar grundlos ein Handy hatten und sich wohl lediglich als wichtig empfanden, mit einer gewissen Abneigung.
Irgendwann um die Jahrtausendwende gab es aber einen Bruch. Handys wurden recht plötzlich salonfähig und für den normalsterblichen Nutzer erschwinglich. Teilweise machten die Jugendlichen auch Druck bei ihren Eltern, um an ein Handy zu gelangen, das sie entweder über einen separaten Vertrag laufen ließen oder über den Vertrag der Eltern nutzten. Die überwiegend Jugendlichen wurden also mehr oder weniger flächendeckend mit diesen Geräten versorgt. Die meisten Handys hatten immer noch nur zwei Funktionen, nämlich Anrufe zu tätigen und getippte Kurznachrichten zu versenden. Trotzdem nutzten die Jugendlichen den zweiten Dienst, der auch mal bis zu 20 Cent pro Kurznachricht kosten konnte, so ausgiebig, dass den Eltern gewaltige Telefonrechnungen ins Haus flatterten und diese nicht selten das Handy ihrer Kinder schnell wieder einkassierten. Dasselbe passierte dann, als durch neue Geräte kostenpflichtige Downloads, hauptsächlich von Musik, möglich wurden. Das Problem war, dass der Gebrauch des Handys wie auch der des Internets am Computer und des Festnetzes fast ausschließlich über den selben Telefonvertrag geregelt wurde und keine Obergrenzen existierten, während die Tarife, wie zuvor beim Internet daheim, sehr hoch waren. Dieses Problem wurde gelöst, als die Telefonanbieter Pre-paid und Flatrates anboten, die den Datenverbrauch und das Kaufverhalten kontrollierbar machten. Die monströsen Rechnungen verschwanden vom Tisch, und die Geldbörsen der Eltern konnten erst einmal aufatmen.
Obwohl es erste Smartphones, also ganz generell internetfähige Handys, schon in den 90ern gab, verhielt es sich mit ihnen ähnlich wie mit dem Internet der selben Zeit. Zuerst einmal war die Technik noch nicht so ausgereift, und das Internet war auch noch nicht bereit für die Symbiose. Logischerweise waren diese Geräte auch noch deutlich teurer, als normale Handys, boten aber kaum Funktionen, die man wirklich als Bereicherung oder absolute Notwendigkeit sehen konnte. Warum, so lautete die Frage, sollte man unterwegs unter erschwerten Bedingungen (dem kleinen Bildschirm, dem Fehlen einer ordentlichen Tastatur und Maus, sowie der generell schwachen Rechnerleistung und unzuverlässigen Verbindung ins Netz) Dinge tun, die man auch in Ruhe daheim erledigen kann? Und wer auf Reisen wirklich arbeiten muss, kann sich doch einen Notizblock mitnehmen oder sollte sich im Ernstfall lieber einen Laptop zulegen. Die hatten sich zum Ende der 80er ja auch kommerziell durchgesetzt.
Genauso wie die ersten erfolgreichen Laptops brachte Apple das erste moderne Smartphone im Jahr 2007 auf den Markt, welches das alte Handy ablöste und genauso wie das Notebook seinem Vorgänger den Namen abknöpfte. Noch heute werden meine Schüler ein wenig sauer, wenn ich ihnen gegenüber von Smartphones spreche, weil sie es aufgrund der Tautologie (weißer Schimmel, nasses Wasser) als herablassenden Begriff empfinden. Alle Handys sind smart. Es gibt heute keine "Dumbphones". Diese Umkehrung des Begriffes ist übrigens bei Kritikern des modernen Smartphones beliebt, wie es scheint. Diese beziehen sich einerseits auf den mangelnden Weitblick und die fehlende Intuition der Geräte, die bei automatischen Korrekturen auf berühmt witzige Weise versagen oder andere logische Mängel aufweisen. Aber schon zu Beginn dieser neuen Ära wurde der Verdacht laut, dass diese Geräte, immerhin erst seit 2007 so richtig im Einsatz, die Denkfähigkeit und Eigenständigkeit der Jugend zunichte gemacht hätten. Wirkliche Maßnahmen wurden aber nicht ergriffen, und ergriffen waren nur die Erwachsenen, weil das neue Spielzeug nun auch unterwegs eine Menge Spaß bereiten konnte.
Inzwischen ist die Lage natürlich ganz anders, und es ist fast müßig, jetzt einen Kontrast zu beschreiben. Der aus unserer heutigen Perspektive als grauenhaft mühselig erscheinenden Lebensweise steht eine unheimliche Leichtigkeit gegenüber, und wir sitzen an einer reich gedeckten Festplatte, die umstandsloses und hemmungsloses Schlemmen verspricht. Wenn nötig kommen die Informationen wie in einem Schlaraffenland direkt in unseren Hals geflogen. Ein (relativ) schneller Zugriff auf das Internet ist hierzulande fast überall jederzeit möglich und bezahlbar, und so ziemlich jedes Haushaltsgerät verfügt inzwischen über eine Möglichkeit, kabellos von einem Computer oder Smartphone bedient zu werden oder selbst eine permanente Verbindung zum Internet zu haben. Ob man nun seinen Kaffee per Webcam überwachen lässt, eine Meldung von seinem Toaster bekommt, wenn er fertig ist, oder einen Kühlschrank besitzt, der twittern kann; Alles ist im Netz oder kann einen Zugriff darauf haben, egal wie sinnvoll es erscheint.
Die Leistung der Standrechner, Smartphones, Tablets und Notebooks verbessert sich immer noch in einem rasenden Tempo. Was früher einen ganzen Raum ausfüllte passt heute in eine Hand, und der Speicherplatz einer SD-Karte von der Größe eines Fingernagels ist teilweise größer als die Festplatte eines Standrechners von vor weniger als 20 Jahren. Zwischenzeitlich hatten und haben Computer eine Halbwertszeit von etwa zwei bis drei Jahren, nicht weil sie dann kaputt sind, sondern weil sie dann mit den Anforderungen der neuesten Programme oder Apps nicht mehr mithalten können oder nicht über die notwendigen Fähigkeiten verfügen, die seitdem neu hinzugekommen sind. In Filmen und Erzählungen gab es schon zu meiner Kindheit das Klischee der zeitreisenden Person aus dem Mittelalter, die in die Neuzeit gerät und sich bewundernd bis verängstigt über die "pferdelosen Kutschen" äußert. Wenn ich daran denke, wie Internet-Router, Drucker, Computer, Tablets und Smartphones durch die Luft Daten miteinander austauschen und sich stetig miteinander vernetzen, während sie Programme in erstaunlichem Detail abspielen und komplizierteste Prozesse durchführen, kann selbst ich als mehr oder weniger technologisch versierter Mensch manchmal das Gefühl bekommen, dass wir eine gewisse Form der "Zauberei" geschaffen haben. Und ein technologischer Zenit ist scheinbar noch nicht wirklich erreicht worden.
Mein liebstes Beispiel aus meinem eigenen Erleben ist der Moment, in dem mich meine Mutter gebeten hatte, sie beim Kauf eines neuen Laptops zu beraten. Ich besorgte ihr etwas, aber es war halt kein Laptop. Ich hatte im Laden vergessen, explizit darauf hinzuweisen, dass es auch wirklich ein Laptop sein sollte. Statt dessen packte sie ein Notebook aus. Zuerst war sie ganz zufrieden und dankbar, aber sehr schnell stellte sich eine gewisse Skepsis ein. Sie schaute das Ding an und fragte sich sofort, warum die Benutzeroberfläche denn so seltsam angeordnet sei, was diese ganzen vollkommen anderen Zeichen bedeuten und was denn bitteschön eine App sei. Besonders regte sie sich aber über die ständige Werbung auf, die sie immer wieder bombardierte, Apps, die sie beim Öffnen daran erinnerten, dass sie sich zu registrieren habe, die Vollversion kaufen solle oder neue Features gegen einen Aufpreis kaufen könne. Selbst ich hatte es ein wenig schwer, ihr geliebtes Spider-Solitaire zu finden und es direkt auf den Desktop zu verlinken, so dass sie sich nicht jedes Mal durch einen Dschungel an Apps und Verlinkungen arbeiten musste. Aber auch hier zeigte sich die ständige Vernetzung, denn das Spiel funktionierte nicht, wie meine Mutter es vom alten Rechner gewohnt war. Immer wenn ein Spiel beendet war erschien eine Nachfrage, ob sie das Ergebnis denn auf Facebook und Twitter teilen wolle oder einen Blick auf weitere tolle Spiele-Apps werfen wolle. Das konnte ich ihr nicht abstellen. Keine Frage: Meine Mutter war nicht glücklich damit. Sie stellte dann eine Frage, die ich sehr programmatisch finde: "Warum belästigt mich der Laptop ständig mit Werbung? Ich habe das Ding doch gekauft." Zuerst habe ich ihr erklärt, dass es so ein wenig ist wie mit den Tageszeitungen, die eigentlich nur noch aus Werbung bestehen, weil sie sich darüber zum großen Teil finanzieren. Aber um ehrlich zu sein habe ich nicht den nötigen Einblick in die Firmenpolitik der Notebook-Hersteller, um nachvollziehen zu können, ob es wirklich etwas mit der Finanzierung zu tun hat und das Notebook ansonsten viel teurer oder schlechter ausgerüstet wäre, oder ob andere Marktinteressen dahinter stecken.