Lebendige Seelsorge 5/2022 - Verlag Echter - E-Book

Lebendige Seelsorge 5/2022 E-Book

Verlag Echter

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Beschreibung

Mit der Seelsorge ist es wie mit einem Pizzateig: Man braucht nur wenige, einfache Zutaten – Mehl, Hefe und Wasser hier, Zeit und Nähe dort – und doch ist die Zubereitung eine höchst individuelle Kunst. Eine große Zahl von Menschen übt sich Tag für Tag in dieser Kunst, viele haben sie sogar zum Beruf erkoren. Gerade weil sie in der Kirche so angenehm selbstverständlich daherkommt, lohnt der vertiefte Blick in der aktuellen Ausgabe der Lebendigen Seelsorge: Wie lässt sich Seelsorge zeitgenössisch verstehen? Wo zeigt sie sich – und welche praktischen Perspektiven gibt es: ökumenisch, literarisch und in großen Pfarreien?

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INHALT

THEMA

Seelsorge: Begriff, Begründung und katholische Perspektiven

Von Elmar Honemann

Seelsorge: Begriff, Begründung und evangelische Perspektiven

Von Kerstin Lammer

Was die katholische Kirche von der evangelischen Perspektive auf Seelsorge lernen kann

Die Replik von Elmar Honemann auf Kerstin Lammer

Amtsautorität reicht nicht – Eine seelsorgliche Kirche braucht Strukturreformen und Fachkompetenz

Die Replik von Kerstin Lammer auf Elmar Honemann

„Lobe den Herrn, meine Seele“?

Was die Seelsorge von alttestamentlicher Anthropologie lernen kann

Von Carolin Neuber

PROJEKT

Wohnen im Haus Gottes

Turmeremit:in im Mariendom Linz

Von Hubert Nitsch

INTERVIEW

„Es tut mir unheimlich gut, dass ich ein ziemlich normales Leben führe.“

Ein Gespräch mit Christian Mario Hess

PRAXIS

Sei gern arm!

Mit Meister Eckhart seelsorgliche Begegnungen ‚gelâzen‘ gestalten

Von Christoph Heizler

„Die schlimmsten Katastrophen bekommen beim Erzählen einen Sinn.“

Telefonseelsorge literarisch

Von Stefan Gärtner

Seelsorge in der XXL-Pfarrei

Von Andreas Feige

Tätige Mitleidenschaft als entscheidendes Moment

Krisenseelsorge im Kontext der Flutkatastrophe 2021

Von Maike Maria Domsel

Nicht mit in den Abgrund stürzen

Sekundäre Traumatisierung und Selbstfürsorge von Fachkräften im Arbeitsfeld sexuellen Missbrauchs Von Andreas Stahl

SEELSORGE UND DIASPORA: BONIFATIUSWERK

Urlaub für die Seele

Einblick in die Arbeit der Tourismuspastoral an der Ostsee auf Rügen und in Stralsund

Von Marion von Brechan

FORUM

Epistemic Injustice als hermeneutische Methode in der Missbrauchsforschung

Von Magdalena Hürten

POPKULTURBEUTEL

18 Volt

Von Stefan Weigand

NACHLESE

Re:Lecture

Von Irme Stetter-Karp

Buchbesprechungen

Impressum

Die Lebendige Seelsorge ist eine Kooperation zwischen Echter Verlag und Bonifatiuswerk.

EDITORIAL

Bernhard SpielbergHerausgeber

Liebe Leserin, lieber Leser,

gerade komme ich von der neuen Bäckerei bei uns im Ort. Das Geschäft, das erst vor einem halben Jahr eröffnet wurde, ist weder ein Backshop noch die Filiale einer Kette, sondern eine Tagbäckerei. Deren ungeschriebenes Konzept heißt: Zurück zum Wesentlichen, aber ohne Schwermut.

Durchs Schaufenster lässt sich direkt in die Backstube blicken. Dort arbeitet der Bäckermeister mit seinem Team. Ein junger Mann, der sein Handwerk unter anderem in Regensburg, Köln und auf Sylt gelernt hat. Sosehr Brot ihn fasziniert, sowenig konnte er sich mit den üblichen Arbeitszeiten anfreunden. Jetzt fängt er morgens erst um sechs Uhr an, um 14:30 Uhr ist dann Feierabend; sonntags und montags ist geschlossen. Das ist nicht nur angenehm für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch der Teig kommt so zu einer längeren Ruhezeit. Hier wird nichts vorgefertigt und eingefroren. Alles entsteht ohne Backtriebmittel mit Sauerteig – und das schmeckt man am Ende im Brot.

Ich finde, dass wir uns vom Konzept der Tagbäckerei eine Scheibe abschneiden können, wenn wir über Seelsorge nachdenken. Auch sie braucht den Mut zu Originalität statt den Rückgriff auf Vorgefertigtes. Sie braucht Personen, die ihren Rahmen so stecken, dass sie selbst gut arbeiten können. Und sie braucht wenige, aber hochwertige Zutaten. Allem voran Zeit und Nähe, wie es Christian Mario Hess im Interview dieser Ausgabe auf den Punkt gebracht hat. Was gute Seelsorge sonst noch auszeichnet, diskutieren Elmar Honemann und Kerstin Lammer in der Kontroverse. Carolin Neuber verrät, was die Rede von der ‚Seele‘ gewinnt, wenn sie mit den Augen des Alten Testaments betrachtet wird. Und in den Praxisbeiträgen berichten unsere Autorinnen und Autoren von Menschen, Orten und Kulturen, von denen sich heute etwas für eine Seelsorge lernen lässt, die diesen Namen auch verdient.

Eine genussvolle Lektüre wünscht Ihnen

Ihr

Prof. Dr. Bernhard Spielberg

THEMA

Seelsorge: Begriff, Begründung und katholische Perspektiven

Den Seelsorgebegriff als ‚heißes Eisen‘ der gegenwärtigen Diskussionen zu postulieren, scheint ambitioniert. Dennoch hängt er mit der zukünftigen Ausrichtung von Kirche aufs Engste zusammen, wenn nicht sogar umgekehrt die Zukunft der Kirche von ihm abhängt: Die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Seelsorgebegriff führt nämlich umgehend zum Kern einer Begründung von kirchlichem Tun als solchem und zeigt im besten Fall eine Perspektive für zeit- und sachgemäße Seelsorge auf. Elmar Honemann

Elementar ist dabei die Weitung jener klischeehaften Engführung, die sich sogar in offiziellen Texten des Vatikans oder von Bischofskonferenzen findet. Wo allein geweihte Priester im Fokus sind, weil Seelsorge nur in sakramentalen Vollzügen gedacht wird, stellt sich die Gretchenfrage: Wie sehr wird dies der Sache selbst gerecht – und wie dysfunktional erweist sich ein Festhalten daran?

BEGRIFF

Bei jeder begriffsgeschichtlichen Rückschau gilt es, sich anachronistischer Arroganz zu verwahren und keine heutigen Maßstäbe an historische Entwicklungen anzulegen. Das Verständnis und die Praxis von Seelsorge pendelten beständig zwischen christlich inspiriertem ‚Lebenscoaching‘ und autokratischer Kirchenzucht, die sich weder auf eine Epoche noch auf eine Konfession beschränkte (vgl. Honemann). Um es an einer typisch katholischen Form zu illustrieren: Ein Beichtgespräch, das vorrangig katechetische oder gar indoktrinierende Absichten verfolgt, hat so gut wie nichts gemein mit einem Beichtgespräch als ‚Versöhnungsdialog‘. Zudem bewirkt allein die Betrachtung von Defiziten und Einseitigkeiten in der Geschichte und Gegenwart der Seelsorge noch keine konstruktive Veränderung zum Besseren. Vielmehr verlangt die fruchtbare Auseinandersetzung mit der angemessenen Ausrichtung von Seelsorge aus katholischer Perspektive, gezielt auch außertheologische Impulse einzubeziehen (im Sinne des Umfassenden, wie es der Begriff ‚kath’holon‘ ausdrückt). Erst aus theologischen wie (sozial-)psychologischen Erkenntnissen lässt sich eine im wahrsten Sinn des Wortes veritable, sprich wahrheitswertige Übersicht zusammenfügen.

Worauf sollte der Begriff ‚Seelsorge‘ angesichts dieser Erkenntnisse sinnvollerweise abzielen? Zunächst sei festgehalten, worauf nicht: Jan Loffeld hat eine auf die Erlösung des Menschen ausgerichtete Pastoral in Frage gestellt, die – jeweils verschieden, aber stark ausgeprägt – beiden Konfessionen klassischerweise als programmatische Maxime und daraufhin seelsorgliche Praxisorientierung diente. Was aber, wenn Menschen sich gar nicht erlösungsbedürftig fühlen (vgl. Loffeld)? Als kreativ wie konstruktiv können die Ansätze gelten, welche die auch säkular anzutreffende Dimension von ‚Lebenssinn‘ als christlich anschlussfähig in den Vordergrund stellen. Allerdings dürfen die Einschränkungen nicht übersehen werden, die eine interdisziplinäre Revue aktueller Forschungsergebnisse zutage fördert: So hat Tatjana Schnell empirische Belege für einen beachtlichen Anteil von ‚existentiell indifferenten‘ Menschen vorgelegt, für die selbst die vermeintlich grundlegende Sinnfrage keine nennenswerte Bedeutung hat (vgl. Schnell).

Elmar Honemann

geb. 1975, Dr. phil., Pastoralreferent; seit 2015 Einsatzreferent für die Pastoralreferent*innen im Bistum Limburg.

Dennoch sind diverse Ansätze zu verzeichnen, die Glaube, genauer: Spiritualität, als Gesundheitsfaktor ins Spiel bringen (vgl. bspw. die Reihe Religion und Gesundheit des Kohlhammer Verlags) oder sich darum bemühen, die Gestaltung von Tauffeiern und anderen pastoralen Anlässen an Ästhetiken und Sprachgewohnheiten auszurichten (vgl. die – offenkundig nicht mehr fortgeführte – Website Portal Milieus & Kirche). Den ProtagonistInnen der milieusensiblen Seelsorge ist grundsätzlich zuzustimmen, nicht einfach überkommene Routinen und Rhetoriken an eine Umwelt zu richten – im Sinne des Seelsorgeauftrags: zu dürfen! –, ohne aufgrund eigener ‚Scheuklappen‘ deren gravierende Veränderung bis hin zu Hyperdiversität wahrzunehmen.

Seelsorge tut nicht nur gut daran, die lebensweltlichen Belange ernst- und aufzunehmen; es hat ihr per definitionem um das Wohlergehen von Menschen zu gehen – ohne sich in einer Feel-Good-Kategorie zu erschöpfen, aber auch ohne dieses legitime Anliegen paternalistisch abzuqualifizieren. Vor allem aber darf sie sich nicht unter der Hand für institutionelle Selbsterhaltungsbestrebungen (bspw. im Sinne von ‚Rekrutierungsbemühungen‘ und ‚Mitgliederbindung‘) instrumentalisieren lassen: Dass Kirche ihren Sinn darin findet, als Mittel (nach Lumen Gentium 1 „Sakrament“) zu gelingendem Leben, Gerechtigkeit und gesellschaftlichem Ausgleich beizutragen, kommt in ihrer Seelsorge zum Ausdruck. Kirchliche Strukturen haben ihr zu dienen – nicht umgekehrt. Insofern ist Seelsorge bei allen institutionellen Prozessen (‚Kirchenentwicklung‘) als Richtschnur in den Blick zu nehmen.

BEGRÜNDUNG

Beim Blick in die Theologie wie in die Praxis zeigt sich die Notwendigkeit einer gründlichen Reflexion seelsorglichen Tuns – und zwar in einem multiperspektivischen Angang: Neben einer kritischen Betrachtung der eigenen Wissenschafts- und Praxisgeschichte sind zeitdiagnostische Wahrnehmungen und idealerweise auch kulturanthropologisch gewonnene Hinterfragungen unverzichtbar, um nicht in einem hermeneutischen Zirkelschluss zu verbleiben. Dafür steht auch das unter pastoralen MitarbeiterInnen kursierende Bon-, nein: Malmot, wie sinnhaft es denn sei, 90 Prozent der Energien und Ressourcen auf 10 Prozent der AdressatInnen zu verwenden. Dabei stammt selbst der angegebene Prozentwert regelmäßiger BesucherInnen von Sonntagsgottesdiensten aus einer anderen Epoche – und das nicht erst seit Beginn der Corona-Pandemie. Denn schon viele Jahre ist bekannt, mit den ‚bewährten‘ Angeboten höchstens zwei oder drei der aktuell zehn Sinus- oder Delta-Milieus überhaupt erreichen zu können. Brisant ist diese Erkenntnis vor allem, weil Seelsorge nicht im luftleeren Raum schwebt, sondern sich zwangsläufig innerhalb solcher soziographischen Grenzen abspielt.

Mag es ein Kairos sein, ‚nur‘ eine Krise oder aber eine tiefgreifende Disruption: Die abnehmenden Ressourcen zwingen die Kirche auf allen ihren Ebenen – von Bistumsleitungen bis hin zu jedem Pastoralteam – zu einer begründeten Klärung, was sie als ‚Kerngeschäft‘ unbedingt und auf Zukunft hin priorisieren möchte. Das ist der Hintergrund der vielzitierten Transformation von Kirche, der sie sich nicht länger entziehen kann. Die Frage danach, wie und vor allem wofür sie als Institution aufgestellt sein soll, entstammt nicht einem akademischen Diskurs. Sie führt unmittelbar zur Diskussion über die folgenreiche Umgestaltung organisationaler Strukturen (vgl. Haslinger). Allerdings hinkt die raumgreifende Diskussion über die Zusammenlegung von Pfarreien nicht nur der flächendeckenden Umsetzung in immer mehr Diözesen hinterher, sondern scheint inzwischen sogar von der noch grundsätzlicheren Anfrage überholt zu werden, ob Pfarreien überhaupt relevante Orte von Seelsorge sind. In der Pastoraltheologie gerade en vogue, lässt sich auch hier die Frage nach dem ‚Raum‘ anführen: Wo denn nun zukünftig Seelsorge stattfinde, verrät auch viel über ihr Was. Sind und bleiben die ‚klassischen‘ Pfarreien ausschlaggebend für Seelsorge?

Was bisher lebensweltlich betrachtet, pastoral diskutiert und ekklesiologisch eingeordnet wurde, lässt sich auch (beileibe nicht nur formal-)juristisch aus dem Gesetzbuch der katholischen Kirche herleiten: Zentrale Rechtsvorschriften, die das Wesen von Pfarreien definieren (konkret: cc. 374.383 i. V. m. 208.216 CIC/1983) sind so zu verstehen, dass sie in der Gewährleistung von Seelsorge ihren eigentlichen Sinn und Zweck haben – und folglich die ganze Struktur der Kirche darauf abzielt. Damit sind natürlich andere Formen und Einrichtungen von Pastoral nicht obsolet. Ebenso wenig ist etwas über die inhaltliche Füllung und Ausstattung der Pfarreien ausgesagt. Beide Male beschränkt sich die Begründung von Seelsorge nicht auf Strukturfragen, sondern umfasst die inneren Bilder und Idealvorstellungen, die ihnen zugrunde liegen.

Hier wie dort ist nun die binäre Logik eines Entweder-oder viel zu unterkomplex gegenüber den multiparadigmatischen Realitäten, in denen sich christliche Praxis wiederfindet. Anstelle von Glaubenskämpfen braucht es eine wechselseitige Ergänzung pastoral durchdachter Unternehmungen – und in all ihren Formen ein Mindestmaß an Energieaufwand, um die Kommunikationsmöglichkeiten des eigenen Systems innerhalb der ‚Umwelt‘ (im Sinne von Niklas Luhmann) realistisch anzugehen: Eine Seelsorge, die ‚am grünen Tisch‘ entworfen wird, taugt auch nur für dort. Als kritisches Korrektiv kann dabei dienen: Wenn sich das, was ich ‚entdecke‘, mit den Kategorien deckt, die mir bereits allzu vertraut sind, handelt es sich wohl um eine verzerrte Wahrnehmung. Dann ist es auch nicht erstaunlich, wenn sich das Formalobjekt (z. B. die Sinnkategorie) im Materialobjekt niederschlägt (als angebliche Suchbewegung aller Menschen nach Sinn).

Nicht umsonst beschäftigt sich die neuere Pastoraltheologie daher mit empirischen Zugängen, als ‚von außen‘ stammendem Korrektiv solcher ‚blinden Flecken‘. Gleichzeitig scheint eine beispielsweise religionswissenschaftlich unterfütterte Beschäftigung mit dem eigenen Tun noch weitgehend uneingeholt zu sein. Frei nach Immanuel Kant könnte erst dies alles beitragen zu einem Aufbruch aus einem selbstverschuldeten Ungenügen von Pastoral angesichts von Transformationsdynamiken. Warum sich dafür nicht etwa auseinandersetzen mit einem linguistisch-spekulativen Ansatz wie von Anna Wierzbicka, die das exegetisch längst ad acta gelegte Unterfangen originärer Jesusworte wieder aufgreift und die ipsissima vox einer extrem elementarisierenden Begriffsanalyse unterzieht, um so die Botschaft des Evangeliums von allen Kultur- und Sprachbedingtheiten zu befreien (vgl. Wierzbicka)? Letztlich braucht es solche tiefansetzenden Diskurse für eine fachliche Läuterung, um – prosaisch gesprochen – aus der Schlacke früherer Ideologien und gegenwärtiger Moden das ‚Silber‘ einer auftragsgemäßen Seelsorge zu heben.

Mit der vorgestellten Begründung von Seelsorge als am Evangelium orientierter, milieu- und andere Grenzen überschreitender Altruismus, der Kirche als Volk Gottes genau dafür in die Pflicht nimmt und darin rechtfertigt, muss nicht befürchtet werden, allzu ‚zeitgeistig‘ oder beliebig das ‚Eigentliche‘ aus dem Blick zu verlieren. Um dem kritischen Potential der normativen Botschaft von Proexistenz gerecht zu werden, helfen eine multiperspektivische Theologie und Praxis von Seelsorge, die sich unvoreingenommen auch mit neuen Methoden und Zugängen befassen, statt tradierte Konzepte und Auslegungsvarianten zu replizieren.

PERSPEKTIVE

Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht: Die anstehende Transformation der katholischen Kirche sollte sich bei der prioritären Ausrichtung an Seelsorge als ihrer innersten Bestimmung und Existenzbegründung nicht an Überbleibseln unhinterfragter Stereotype und auch nicht primär an Interessen erhoffter Zielgruppen in einem fragwürdigen Sinne von KundInnengewinnung orientieren. Es braucht neben wissenschaftlichen Bemühungen gleichrangig die seelsorgliche Aufmerksamkeit für Nöte, in denen Menschen selbstlos im Bemühen um ein Gelingen ihres Lebens unterstützt werden können, und Themen, die auf gesellschaftlicher Ebene hinsichtlich einer Orientierung am Gemeinwohl angemahnt werden.

Geht es um die Sichtung beachtenswerter Ansätze, ist die versierte Analyse von Wolfgang Beck zu vergegenwärtigen, der zufolge sich viele ‚Innovationen‘ als epistemische Mogelpackungen entpuppen, die Altes nur in neuer Gestalt präsentieren, ohne sich dem erforderlichen Risiko des Unsicheren und Unverfügbaren zu stellen – welches aber unvermeidlich mit echtem, komplexem Leben einhergeht (vgl. Beck, 176 – 179). Die Wahrheit (im Sinne einer seelsorglichen Orthopraxie) liegt also – wie so oft im Leben – dazwischen (bzw. ‚auf dem Platz‘, auch wenn hier weniger an Fußball als an die paulinische Erkundung des Aeropags zu denken wäre). Dadurch ist sie aber auch weniger eindeutig zu benennen, was die unspektakuläre und obendrein unbequeme Sinnspitze der hier vertretenen Überlegungen darstellt: Die konkrete Einbeziehung der im Fachdiskurs wiederentdeckten loci theologici alieni ist für und in der zukunftsweisenden Ausrichtung von Seelsorge unabdingbar. In der Personalplanung lassen bspw. die ersten Ansätze zu multiprofessionellen Pastoralteams hoffen, insofern sie durch die Perspektive von SozialarbeiterInnen, die Professionalität von Ehe-, Familien- und LebensberaterInnen sowie die Expertise von SoziologInnen kirchliche Seelsorge umsichtiger machen. Um dabei nicht in das Fahrwasser einer bereits früher, wenn auch nicht immer seriös, kritisierten Professionalisierung von Seelsorge zu geraten, liegt das Heil nicht ausschließlich in diesen oder jenen Berufsqualifikationen von hauptamtlichen Mitarbeitenden. Entscheidend sind die Subjekte von Seelsorge. So bedeutsam eine profunde theologische oder religionspädagogische Ausbildung für die Qualitätssicherung von Seelsorge bleiben wird, gilt es auch hier dem eingangs kritisierten Zerrbild von Katholizität zu wehren. Seelsorge geschieht eben nicht in einer klerikalistischen (oder hauptamtlichen) Engführung, sondern ist zu sehen als biblisch-theologisch begründeter Auftrag für und durch Menschen ohne berufliches Anstellungsverhältnis bei Kirche. Eltern, die ein Kind verloren haben, ‚wissen‘ womöglich besser, worauf es im persönlichen Umgang damit besonders ankommt, als dies von jedem Priester erwartet werden kann; Angestellte, ArbeiterInnen, aber auch junge GründerInnen in prekären Verhältnissen sind weitaus ‚erfahrener‘, was Existenzängste angeht, als noch so empathische PastoralreferentInnen wohl sein könnten. Jene ‚ExpertInnen‘ sind nicht nur als IdeengeberInnen zu verstehen, sie sind schon als seelsorgende GesprächspartnerInnen für andere engagiert und verdienen es, darin unterstützt und vernetzt, je nach Wunsch auch begleitet und zuallererst wahr- und ernstgenommen zu werden.

Die Perspektivbestimmung von Seelsorge in und nach der Transformation kann also auf der einen Seite nicht einer deduktiven Setzung folgen, was Seelsorge an und für sich zu sein hat. Um auf der anderen Seite nicht in die Fallstricke eines rein induktiven Reagierens auf dieses und jenes zu geraten (wozu die Uneindeutigkeit im Zweifelsfall zusätzlich verführt), scheint der von Charles Sanders Peirce stammende Ansatz angezeigt, mit dem, was als mögliche Aufgabe von Seelsorge begegnet, abduktiv umzugehen: Dabei wird die Auswertung der Bemühungen je neuen Reflexionsschleifen unterzogen – im Zusammenspiel von wissenschaftlicher Expertise und theologischer Feldkompetenz, ohne Letztbegründungsanspruch, aber befreit von der Kontingenz, wie sie im letzten auch gerade noch so apodiktisch vertretenen Schulmeinungen innewohnt.

Glücklicherweise nutzen sich die programmatischen Eingangssätze der Pastoralkonstitution des für die katholische Kirche gewissermaßen verfassungsgebenden Konzils („Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände“; Gaudium et spes 1) selbst dadurch nicht ab, dass sie bereits unzählige Male zitiert wurden. An ihnen zeigt sich, wie orientierend die damals formulierten Maximen einer pastoralen (!) Kirche auch in der (post-)modernen Transformation wirken: Das „Herz von Kirche“ schlägt in einer Seelsorge, die sich von biographischen Realitäten ebenso herausfordern lässt wie sie sich mit gesellschaftlichen Unrechtsstrukturen auseinandersetzt (vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz). Dazu braucht es eine Vielzahl von beherzten AkteurInnen, Professionen und Perspektiven, damit auf Zukunft hin Kirche vitalerweise das Herz ‚am rechten Fleck‘ hat.

CETERUM CENSEO

Um nicht emphatisch zu enden: Die Relevanz all dieser Überlegungen steht und fällt damit, ob sie angesichts der harten Fragen der kirchlichen Transformation als Perspektive und Maßstab fungieren können: dort, wo es um Entscheidungen über knappe Ressourcen geht. Unverzichtbar für die Einlösung des seelsorglichen Anspruchs und Auftrags von Kirche ist die ‚Investition‘ in Menschen, in deren Qualifizierung, in ihre Zeit für Erkundungen und Vernetzung und in die fachliche Fruchtbarmachung der genannten Felder. Das Einrichten glanzvoller ‚Zentren‘ und ambitioniert konstruierter Sonderstellen bleibt l’art pour l’art, wenn es unter der Hand die Fortführung alter ‚Komm-Strukturen‘ bedeutet. Denn das Erleben von ehrlichem Interesse und sich entwickelnder Lichtblicke – als Ideal einer „angemessenen und glückenden Pastoral“ (Beck 176) – können sich im Zweifelsfall auch im Beratungs-Chat oder beim Zu-Gast-Sein im Quartier ergeben. Die vom Evangelium motivierte Nähe zu und für Menschen bleibt das A und O von Seelsorge, gleich welcher Epoche. Sonst wird irgendwann nicht mehr von den Herausforderungen der (Post-)Moderne gesprochen werden, sondern von einer nach-transformatorischen Kirche – im Sinne von post mortem. Demgegenüber steht, positiv gewendet und leicht abgewandelt, das Postskriptum der Topologischen Dogmatik von Hans-Joachim Sander: „Glaube wird nicht auf Vergangenheit gebaut, sondern über sie hinaus ausgebaut“ (Sander, 367). Seelsorge auch.

LITERATUR

Beck, Wolfgang, Ohne Geländer. Pastoraltheologische Fundierungen einer risikofreudigen Ekklesiogenese, Ostfildern 2022.

Haslinger, Herbert, Gemeinde – Kirche am Ort. Impulse des Zweiten Vatikanischen Konzils, Paderborn 2015.

Honemann, Elmar, Seelsorge 2.0? Kirchlicher Grundauftrag angesichts sich verändernder Welt – Basisimpulse zu Inhalt und AkteurInnen eines zukunfts-orientierten Seelsorgebegriffs, Münster 2022.

Loffeld, Jan, Der nicht notwendige Gott. Die Erlösungsdimension als Krise und Kairos inmitten seines säkularen Relevanzverlustes, Würzburg 2020.

Portal Milieus & Kirche:www.milieus-kirche.de.

Sander, Hans-Joachim, Glaubensräume – Topologische Dogmatik [Bd. 1: Glaubensräumen nachgehen], Ostfildern 2019.

Schnell, Tatjana, Psychologie des Lebenssinns, Berlin 22020.

Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), In der Seelsorge schlägt das Herz der Kirche. Wort der deutschen Bischöfe zur Seelsorge [Die deutschen Bischöfe 110], Bonn 2022; pdf-upload unter: https://www.dbk-shop.de/media/files_public/b2ef0c90154a7ca99c98aa57df720f88/DBK_11110.pdf.

Wierzbicka, Anna, What Did Jesus Mean? Explaining the Sermon on the Mount and the Parables in Simple and Universal Human Concepts, New York 2001.

[Links zuletzt eingesehen am 12.08.2022]

Seelsorge: Begriff, Begründung und evangelische Perspektiven

In der evangelischen Kirche wird Seelsorge vor allem als spezielle Seelsorge im Sinne des helfenden Gesprächs akzentuiert. Die theologische Begründung hierfür ist, dass die evangelische Theologie dem einzelnen Menschen vor Gott besondere Bedeutung zumisst. Seine Fragen, seine Zweifel, sein Gewissen, seine Glaubenshaltungen und Glaubensüberzeugungen, kurz: worauf er sein Vertrauen setzen kann – das bestimmt nach evangelischem Verständnis über sein Seelenheil. Allein aus seinem Glauben heraus (sola fide) wird er gerettet. Kerstin Lammer

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