Lena - Roswitha Gruber - E-Book

Lena E-Book

Roswitha Gruber

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Beschreibung

Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wird Magdalena im Gadertal in Südtirol geboren. Ihre Kindheit und Jugend ist von politischen Unruhen und von den Kämpfen um Südtirol überschattet. Hinzu kommt, dass sie als älteste von vier Töchtern den Bauernhof ihres Vaters übernehmen muss. Dadurch bleibt ihr großer Traum, Hebamme zu werden, auf der Strecke. Auch die junge Ehe von Magdalena und Friedrich wird in die Auseinandersetzungen um ihr Heimatland hineingezogen. Doch Lena nimmt mit Mut und Gottvertrauen ihre Zukunft in die Hand. Die Bestsellerautorin Roswitha Gruber widmet sich der Schilderung starker Frauen mit außergewöhnlichen Lebensgeschichten. Für jeden ihrer Romane recherchiert sie ausführlich und nähert sich in langen, intensiven Gesprächen dem Schicksal ihrer Protagonistinnen an. Roswitha Gruber lebt und arbeitet in Reit im Winkl.

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Roswitha Gruber

Lena

Eine Südtiroler Bergbäuerin

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

© 2012 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: © Südtiroler Landesarchiv, Bildarchiv Mario und Benjamin Geat, GEATMAB0001323 Lektorat: Gisela Faller, Stuttgart Datenkonvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-475-54169-8 (epub)

Inhalt

Die Vorgeschichte

Es kann der Frömmste nicht ...

Katakombenschulen

Ein begrabener Traum

Erste Liebe

Die Option

Die Eule

Hundefleisch und Wasserrecht

Der Schneider

Im Ehestand

Die Lawine

Friedl oder Heindl

»Bombenstimmung«

Herz-Jesu-Feuer

Das Geheimnis des Schweinetrogs

Die Hausierer

Gewitter

Bergtouren

Neues Leben auf dem alten Hof

Seilwinden

Traktorgeschichten

Ein unverzeihlicher Fehler

Die kleine Köchin

Fünfzehn Kräutersäckchen

Rückblick – Ausblick

Stammtafel

Die Vorgeschichte

Als ich im Jahre 1961, auf meiner ersten Italienreise, im lieblichen Südtirol Station machte und von frischen Feigen, dicken Tomaten und goldgelben Pfirsichen beeindruckt war, spürte ich nichts von den politischen Unruhen, die gerade das Land erschütterten. Auch in den Jahren danach, als die Zeitungen immer wieder von Anschlägen in diesem gebeutelten Land berichteten, bekam ich davon so gut wie nichts mit. Frisch verheiratet, voll berufstätig als Lehrerin, mit der Vorbereitung auf mein zweites Staatsexamen beschäftigt, zwischendurch zwei Kinder zur Welt gebracht, blieb mir keine Zeit, mich um das Weltgeschehen zu kümmern.

Erst im vergangenen Jahr, durch die Begegnung mit Fiona, einer jungen Engländerin, erwachte mein Interesse für die Geschichte Südtirols. Fiona erzählte mir nämlich, sie verbringe dort jedes Jahr eine Woche auf einem Bergbauernhof, wo sie unentgeltlich mithelfe. Als sie dann noch von einer fast neunzigjährigen Altbäuerin sprach, die geistig noch sehr rege sei, gab es für mich kein Halten mehr. Da musste ich so bald wie möglich hin. Sicher, ich hätte über die Geschichte dieses Landes in einem der sehr guten Bücher, die inzwischen über Südtirol geschrieben wurden, nachlesen können, was sich im letzten Jahrhundert dort abgespielt hat. Aber das war es nicht, was mich interessierte. Mich reizte es, einer Zeitzeugin zu begegnen, die mir Geschichte aus erster Hand bieten konnte – das, was im Alltag der normalen Bewohner eines Landes von der Geschichte spürbar geworden war.

Nachdem die junge Engländerin für mich den Kontakt zu den Bewohnern des Bergbauernhofes hergestellt hatte, machte ich mich auf den Weg. Mir wurde fast schwindlig, als sich unser Auto die steile Straße hinaufschob, deren Ränder so gut wie nicht befestigt waren, obwohl es fast senkrecht Hunderte von Metern nach unten ging. Immer enger wurden die Serpentinen, durch die wir uns nach oben schraubten. Dann hatten wir ihn endlich erreicht, den Waldeckhof, das Ziel meiner Wünsche. Eine traumhafte Aussicht belohnte uns erst mal für die abenteuerliche Anreise. Danach lauschte ich tagelang ergriffen den Erinnerungen der alten Bäuerin, von der ich erfuhr, wie die große Politik immer wieder in das Leben jeder einzelnen Südtiroler Familie hineingespielt hatte.

Was die Bäuerin Magdalena Thaler, genannt Lena, mir erzählt hat, habe ich in vorliegendem Buch für Sie niedergeschrieben. Bewusst habe ich darauf verzichtet, entsprechende Zahlen und Fakten hinzuzufügen, damit alles authentisch bleibt. Anhand eines persönlichen Schicksals will ich beschreiben, in welchen Nöten das Südtiroler Volk im vorigen Jahrhundert gelebt hat und wie es sich seine Autonomie erkämpfen musste.

Vielleicht sehen Sie nach dem Lesen des Buches dieses wunderschöne Land – ebenso wie ich – dann mit ganz anderen Augen.

Roswitha Gruber

Es kann der Frömmste nicht ...

Meine Heimat Südtirol ist ein wunderschönes, aber auch ein heiß umkämpftes Fleckchen Erde. In der Schule habe ich gelernt, dass es mal zu Italien und mal zu Österreich gehört hat, dass es mal von den Bayern und mal von den Franzosen besetzt gewesen war. Dabei hatten die freiheitsliebenden Bewohner nie einen anderen Wunsch, als in Ruhe gelassen zu werden und autonom zu sein.

Es war über 120 Jahre vor meiner Geburt, da erlangte einer meiner Landsleute, Andreas Hofer, einige Berühmtheit, weil er im Jahre 1809 die Tiroler dreimal siegreich zum Kampf gegen die französischen Truppen angeführt hatte. Leider musste er das mit seinem Leben bezahlen. Bereits 1810 wurde er auf Befehl des Kaisers Napoleon in Mantua hingerichtet. Seitdem wird er bei uns als Volksheld verehrt. Meine Mutter berichtete mir, dass immer am Andreas-Hofer-Tag, dem 20. Februar, in der Schule Feiern stattgefunden hatten. Bei denen wurde den Schülern – immer dem Alter angemessen – jedes Jahr die Geschichte des Volkshelden erzählt. Danach wurde gemeinsam das Andreas-Hofer-Lied gesungen. In der Kirche muss an diesem Tag auch immer eine Gedächtnisfeier stattgefunden haben, bei welcher die Schützen in ihrer Tracht aufmarschierten. In meiner eigenen Schülerzeit gab es das alles aber nicht mehr. Warum das so war, darauf werde ich später zurückkommen.

Wie sich bald zeigte, hatte unser tapferer Volksheld sein Leben umsonst geopfert, denn schon im selben Jahr ging ein Teil Südtirols an das Königreich Italien, das nur kurzen Bestand hatte, nämlich von 1805 bis 1814, und dessen König der Franzosenkaiser war. Aber bereits im Jahre 1813 wurde der italienische Teil Südtirols von Truppen des neuen Kaiserreichs Österreich besetzt. Und ein gutes Jahrhundert später, noch ehe ich zur Schule ging, bekam ich mit, dass Südtirol noch immer ein politischer Spielball war. Die Erwachsenen redeten in meiner Gegenwart ungeniert darüber, weil sie meinten, davon verstünde ich eh noch nichts.

Solche Themen konnten sie allerdings nur innerhalb der eigenen vier Wände anschneiden. Jedes Wort, das man vor den falschen Leuten aussprach, konnte einem gefährlich werden. Der Erste Weltkrieg war ja nur wenige Jahre vor meiner Geburt zu Ende gegangen und hatte gewaltige Umwälzungen gebracht. Bis zum Tag des Waffenstillstandes (dem 3. November 1918) hatte Südtirol zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört, unter der die Bevölkerung eigentlich ganz zufrieden gelebt hatte. Ab diesem Tag wurde es erneut von italienischen Truppen besetzt, und ein Jahr später, im Herbst 1919, im Vertrag von Saint-Germain, wurde es dem Königreich Italien definitiv zugesprochen, obwohl wir Südtiroler auf keinen Fall Italiener sein wollten.

Als im Jahr 1922 mit Mussolini der Faschismus an die Macht kam, wurde es für uns ganz schlimm, denn nun versuchte man, uns mit Gewalt zu italienisieren. Menschen aus dem Süden Italiens, aus ganz armen Gegenden, wurden nach Norden umgesiedelt, um die hiesige Bevölkerung zu unterwandern. Mit Prämien und allerlei Versprechungen, wie kurzen Arbeitszeiten und guten Posten, lockte man sie in unsere Region. Die Lehrer aus dem Süden brauchten nur fünfzehn Jahre zu arbeiten, um ihre Pension zu erreichen. Die einheimischen Lehrer dagegen wurden sämtlich entlassen und mussten zusehen, wie sie ihr Leben fristeten. Um die deutschsprachige Tradition im Land auszurotten, wurden alle Vereine und sogar die Trachten verboten, auf die wir immer so stolz gewesen waren. Um sich aber gegenseitig zu erkennen zu geben, welcher Gesinnung man war, kamen die Menschen auf die Idee, einheitliche blaue Arbeitsschürzen zu tragen. Diese Schürzen konnte man nicht gut verbieten, und sie werden noch heute mit Selbstbewusstsein bei jeder Arbeit getragen.

Meine Wiege stand aber nicht in dem Teil des Landes, in dem ich jetzt schon seit vielen Jahrzehnten lebe, sondern im Gadertal, das eine ladinische Sprachinsel bildet. Ladinisch ist die gleiche Sprache, die auch in einem Teil der Schweiz gesprochen wird und dort Rätoromanisch heißt. Im Gadertal, von jeher eine sehr arme Gegend, gab es überwiegend Kleinbauern, die kinderreich, aber sonst bitterarm waren. Die meisten der Kinder schickte man, sobald sie der Schule entwachsen waren, ins Eisacktal oder ins Pustertal, damit sie sich ihr Brot selbst verdienten. Dort fanden sie bei größeren Bauern eine Anstellung als Knecht oder Magd. Man schickte sie aber auch noch aus einem weiteren Grund dorthin: Sie sollten dort die deutsche Sprache erlernen. Obwohl sie fleißig und daher gern gesehene Arbeitskräfte waren, wurden sie mit der abfälligen Bezeichnung »Krautwallische« bedacht.

In dem Ort St. Martin in Thurn wurde ich am 25. November 1921 als erstes Kind der Eheleute Emma und Mariangelus Seeber geboren. Da ich nicht der erwartete Sohn war, erhoffte man sich diesen beim nächsten Kind, das meine Mutter zur Welt bringen würde. Das kam zwei Jahre später. Zur Enttäuschung beider Eltern war es wieder ein Mädchen. Es wurde auf den Namen Ida getauft. Wieder zwei Jahre später, also im Jahre 1925, wurde meine Schwester Maria geboren, die man nach Landessitte Moidl rief. Die Enttäuschung meines Vaters über Moidls Geburt war nicht so groß, wie man hätte vermuten sollen. Ja, sie wich, nachdem er sich damit abgefunden hatte, dass ihm das Schicksal anscheinend keinen Sohn zugestehen wollte, allmählich einem gewissen Stolz auf sein »Dreimäderlhaus«.

Genaugenommen wäre es für ihn zu jener Zeit auch gar nicht von Bedeutung gewesen, einen Stammhalter zu haben, denn er besaß weder einen Bauernhof noch einen Handwerksbetrieb, den er einem Sohn hätte vererben können. Sein erlernter Beruf war Sägschneider oder Sägmüller, wie man das anderswo nannte. Auch sein Vater, also mein Großvater Andreas, war Sägschneider. Er besaß zwar auch eine kleine Landwirtschaft, die aber vorne und hinten nicht gereicht hätte, um die stetig wachsende Familie zu ernähren. Klug, wie er war, hatte er den Vorteil zu nutzen gewusst, den ihm die günstige Lage seines Hofes bot. Direkt an einem Wildbach gelegen, war dies der ideale Platz, um mit dessen Wasser eine Sägschneiderei zu betreiben. Das brachte ihm wesentlich mehr ein als die kargen Gründe. Die Bauern aus der Umgebung brachten ihm ihre Baumstämme, und er schnitt sie zu Balken und Brettern, die man als Bauholz oder für Möbel brauchte. Denn seinerzeit wurden die Häuser noch überwiegend aus Holz gebaut, und die Möbel ließ man aus dem eigenen Holz beim Tischler machen.

Meine Großeltern hatten einen Haufen Kinder, von denen sie zehn durchbrachten. Natürlich konnte nur eines davon den Hof mitsamt dem Säge-Betrieb übernehmen, die übrigen mussten sehen, dass sie irgendwie anders unterkamen, um sich zu ernähren. Einige der Töchter hatten das Glück, in einen Bauernhof einheiraten zu können. Mehrere Söhne erlernten ein Handwerk, wie Zimmermann oder Maurer, und ließen sich im Dorf oder in der Nähe nieder. Das eine oder andere Kind blieb aber auch als lediger Knecht bzw. als Magd im Vaterhaus. Meine ersten Kindheitsjahre verbrachte ich zusammen mit meiner Mutter auch unter dem Dach der Großeltern. Meinen Vater bekam ich in dieser Zeit nur selten zu sehen, denn er übte sein Handwerk nicht in der Sägschneiderei des Großvaters aus.

Der Wildbach, der das Sägewerk antrieb, bedeutete nicht nur Segen für die Familie, er stellte auch eine gewisse Gefahr dar. Es gab Zeiten, besonders zur Schneeschmelze oder wenn langanhaltender Regen niederging, dann schwoll er beträchtlich an. Und wie Kinder so sind, sie spielen gern am Wasser, auch wenn man es ihnen noch so verbietet. Man kann sie auch nicht ständig im Auge behalten. Jedenfalls, so wurde mir erzählt, war immer wieder mal eines von den Kindern meiner Großeltern in den Bach gefallen. Man hatte sie fast immer in letzter Sekunde noch retten können, nur einmal kam jede Hilfe zu spät. Es war ein dreijähriger Bub gewesen, den hatte man sehr weit unterhalb der Sägschneiderei nur noch tot aus den Fluten ziehen können.

Obwohl man mir diese Geschichte sehr eindringlich – und nicht nur einmal – erzählt hatte, machte ich mich als Kind auch immer wieder am Bachufer zu schaffen. So folgsam war ich schon, dass ich nicht ins Bachbett stieg, obwohl das im Sommer sehr verlockend gewesen wäre. Ich dachte aber, wenn ich vom Rand aus etwas ins Wasser werfe, dann könne mir gar nichts passieren. Vom Ufer aus warf ich Steine im hohen Bogen in den Bach und freute mich, wenn es recht spritzte. Auch Blumen und Gräser warf ich hinein und freute mich königlich, wenn sie schnell davongetragen wurden und mit den Wellen auf- und abhüpften.

Einmal, da war ich bereits fünf, passierte dann doch ein Unglück. Ich erinnere mich noch, dass ich auf dem nassgespritzten Ufer ausrutschte, die Arme haltsuchend in die Höhe warf und laut aufschrie. Dann spürte ich nur noch, wie mich das kalte Wasser umfing. Das nächste, an das ich mich erinnere, war, dass ich in meinem Bett die Augen aufschlug und die Stimme meiner Mutter hörte: »Gott sei Dank, sie kommt zu sich.«

Die Mutter, die gerade vor dem Haus gearbeitet hatte, war auf meinen Schrei hin sofort zum Bach gestürzt. Aber nicht dahin, von wo der Schrei gekommen war, sondern ein gutes Stück unterhalb. Das war meine Rettung. So hatte sie mich sofort an meiner Kleidung packen und herausziehen können, als ich in Ufernähe vorbeitrieb. Wie sie berichtete, hatte sie viel Wasser aus mir herausgepresst, bis ich wieder atmete. Ich muss noch bewusstlos gewesen sein, als sie mich ins Haus trug, wo sie mir dann die nassen Sachen auszog. Meine Großmutter, Vaters Mutter, gab in der Zwischenzeit heißes Wasser, das im Herdwandl (Herdschiff) immer vorrätig war, in die Zinkwanne, in der wir samstags immer gebadet wurden. Nun setzte man mich außer der Zeit hinein, um mich wieder aufzuwärmen, denn der Bach war ganz schön eisig gewesen. Anschließend packte man mich mit einem warmen Stein ins Bett.

Am nächsten Morgen zeigte sich zur Freude der ganzen Familie, dass ich keinen Schaden davongetragen hatte. Dennoch kam ein großes Donnerwetter über mich, und ich gelobte hoch und heilig, nicht mal mehr in die Nähe des Baches zu gehen. Daran habe ich mich auch gehalten. Trotzdem waren meine Eltern froh, als sie endlich von dort wegziehen konnten, zumal sie noch zwei kleinere Töchter hatten.

In einem anderen Punkt dagegen war ich äußerst folgsam, es ging um die Werkstatt meines Großvaters. An ihn, den wir Kinder allgemein Nene nannten, habe ich nicht allzu viele Erinnerungen. Wir zogen ja schon fort, als ich noch nicht ganz sechs Jahre zählte. Außerdem war er den ganzen Tag außer Haus. Entweder hatte er auf den Feldern zu tun oder in seiner Sägschneiderei. Dort durfte man ihn nicht besuchen. Das hatte man mir streng verboten, weil es dort sehr gefährlich sei. Daran hielt ich mich gewissenhaft. Ich erinnere mich aber, dass manchmal, gegen Abend, bevor das Summen und Kreischen der Sägebänder verstummt war, eine alte Frau auf den Hof kam. Sie wartete stets geduldig, bis der Nene herauskam. Dann reichte sie ihm einen Sack, mit dem er wieder in der Sägehalle verschwand. Wenig später kam er wieder heraus und gab der Alten den Sack halb gefüllt zurück. Sie bedankte sich, hängte ihn sich über die Schulter und trug ihn, schwer gebückt, davon.

Neugierig fragte ich eines Abends: »Nene, was steckst du der Frau immer in den Sack?«

»Holz. Abfallholz. Weißt, Lena, das alte Weibele ist sehr arm. Sie kann sich kein Holz kaufen. Damit sie nicht frieren muss, darf sie sich bei mir immer Holzabfälle holen.«

Das fand ich sehr nett von meinem Großvater. Eines Morgens nun, beim Frühstück, erzählte er uns: »Stellt euch vor, heute Nacht habe ich von der Lisi, dem alten Weibele, geträumt. Sie ging ganz nah an der Säge vorbei, sodass ich erschrocken ausrief: ›Nicht so dicht! Das ist zu gefährlich.‹ Ich sah alles so deutlich vor mir, dass ich nach dem Aufwachen erst nicht wusste, ob es in echt oder nur geträumt war.«

Beim Nachtessen sprach der Nene wieder von dieser Frau: »Jetzt mache ich mir doch Sorgen um die Lisi. Sie hat sich nämlich heute kein Holz geholt.«

Am nächsten Morgen erfuhren wir dann, dass sie am Vortag genau zu der Stunde gestorben war, in der mein Großvater von ihr geträumt hatte. Sie war neunzig Jahre alt gewesen.

Mein Vater Mariangelus, eines der jüngsten Kinder seiner Eltern, war ein äußerst braver und gutmütiger Mensch. Er hat nie jemandem etwas zuleide getan. Auch wenn ihm Unrecht geschah, nahm er es lieber hin, als sich dagegen zu wehren. Von klein auf musste er, wie alle seine Geschwister, in der heimischen Landwirtschaft mithelfen. Dabei lernte er alles, was ein Bauer können muss, und dadurch ist in ihm die Liebe zur Landwirtschaft ins Herz gepflanzt worden. Er wäre also liebend gern Bauer geworden. Den elterlichen Hof konnte er allerdings nicht übernehmen, den bekam traditionsgemäß der erstgeborene Sohn. Nur wenn der ihn partout nicht hätte haben wollen, konnte einer der später geborenen Söhne zum Zug kommen. Mein Großvater, der bereits seinen Ältesten, den Andreas, zusätzlich in das Handwerk des Sägschneidens eingeführt hatte, weil er die Sägschneiderei mitsamt dem Bauernhof übernehmen sollte, bildete auch meinen Vater in dieser Kunst aus. »Auch wenn du keine eigene Sägmühle hast, kannst du als Sägschneider ganz gut verdienen«, machte er ihm die Sache schmackhaft. »Es gibt genügend Bauern, die ein eigenes Sägewerk besitzen, aber von der Sägschneiderei nichts verstehen. Bei denen kannst du gutes Geld machen, indem du deine Dienste anbietest. Dann hast du für dein weiteres Leben ausgesorgt.«

Diese Worte fielen bei meinem Vater auf fruchtbaren Boden. Vor allem der Satz »gutes Geld machen« gefiel ihm. Wenn er schon den heimischen Hof nicht kriegen konnte, so wollte er viel Geld verdienen, damit er sich eines Tages ein landwirtschaftliches Anwesen würde kaufen können. Vielleicht, so überlegte er weiter, tat sich aber auch, wenn er auf die verschiedenen Höfe ging, dabei die Möglichkeit einer Einheirat auf.

Was den Verdienst anging, so hatte der Großvater nicht zu viel versprochen. Auf vielen Höfen war er ein gern gesehener Gast. Für seine Arbeit erhielt er einen guten Lohn, und da er für die Tage seines Verweilens auch immer Kost und Logis bekam, konnte er jeden Schilling beiseitelegen. Damit rückte er seinem großen Ziel jeden Tag ein Stückchen näher. Darüber vergaß er nicht, fleißig Ausschau zu halten nach einer möglichen Einheirat, aber ohne Erfolg. Da er allmählich auf die dreißig zuging und es an der Zeit war, eine Familie zu gründen, hielt er im Jahre 1920 um die Hand eines Mädchens aus der Nachbarschaft an: Emma, meine künftige Mutter. Eigentlich hatte er schon längst sein Herz an sie verloren gehabt, aber sie war arm wie eine Kirchenmaus, und so hatte er lange gezögert, seiner Neigung zu folgen. Meine Mutter stammte zwar auch aus einem Bauernhof, aber sie bekam weder den Hof – der blieb ihrem ältesten Bruder vorbehalten – noch eine Mitgift. Denn sie waren daheim ein Dutzend Kinder gewesen, und man war froh um jedes, das aus der Kost war. Deshalb war auch sie einige Jahre im Pustertal in Stellung gewesen, wo sie Deutsch gelernt hatte. Von dort, aber auch von zu Hause her, war sie mit allen bäuerlichen Arbeiten vertraut, und das jedenfalls passte gut zu Mariangelus’ Plänen, auch wenn sie kein Geld mitbrachte.

Nach der Hochzeit lebte die junge Frau aber vorerst bei ihren Schwiegereltern, wo sie auf dem Hof fleißig mithalf und ihre drei kleinen Gitschen – das ist bei uns der gebräuchliche Ausdruck für Mädchen, also nichts Abfälliges – aufzog, die im Lauf der nächsten Jahre geboren wurden. Ihr junger Ehemann wanderte unterdessen weiterhin von Hof zu Hof, wo er fleißig arbeitete, um möglichst bald das Geld für sein eigenes Anwesen zusammenzukriegen. Zum Teil arbeitete er bei einzelnen Bauern, zum Teil bei solchen, die sich zusammengeschlossen hatten und gemeinsam ein Sägewerk an einem Bachlauf besaßen. Bei allen war er willkommen.

Mittlerweile waren wir ja an Italien angeschlossen, also verdiente er statt der Schillinge Lire und legte diese gewissenhaft für sein großes Ziel beiseite. Im Jahre 1927 glaubte er, endlich genug Geld beisammen zu haben, dass er daran denken konnte, seinen Traum zu verwirklichen. Wie aber an einen Bauernhof kommen? Höfe wurden ja in der Regel von Generation zu Generation weitervererbt. Nur wenn der seltene Fall eintrat, dass ein Bauer ohne direkten Nachkommen starb und weder Nichten noch Neffen den Hof übernehmen wollten, wurde mal einer verkauft.

Wie aber erfuhr man damals davon? Zwar hielt man sich eine Tageszeitung, aber dort hätte man schwerlich ein solches Angebot gefunden. Es gab aber eine wesentlich besser funktionierende Einrichtung, und das waren die überall im Lande regelmäßig abgehaltenen Märkte. Dorthin strömten die Bauern von den Bergen und aus den Tälern, um ihre Erzeugnisse anzubieten. Das war nämlich ihre einzige Möglichkeit, an Bargeld zu kommen. Per Ross, das sie vor einen zweirädrigen Karren spannten, oder mit einem beladenen Esel oder Muli kamen sie, oder sie trugen ihr Zeug in einer Krax selbst auf dem Rücken. Die Städter kamen natürlich auch dorthin. Sie waren es, welche die Waren der Bauern benötigten. Auf dem Markt verkauften die Bauern aber nicht nur, sie kauften auch. Sie und ihre Bäuerinnen deckten sich mit dem ein, was sie benötigten, aber daheim nicht produzieren konnten, wie Kleiderstoffe, Nähgarn, Zucker und Salz sowie Küchengeräte und anderen Hausrat.

Nebenher wurden auf dem Markt aber auch Neuigkeiten aller Art ausgetauscht. Man erfuhr, wer eine Kuh verkaufte oder ein Schwein, und wer die Absicht hatte, ein Pferd zu kaufen. Man erfuhr auch, wer eine heiratsfähige Tochter hatte, die nach einem Bräutigam Ausschau hielt. Und auch, wo ein ganzer Bauernhof zum Verkauf stand, konnte man dort erfahren. Kurzum, auf den Märkten konnte man alles anbieten, und man konnte alles finden. Sie waren gewissermaßen das Internet der damaligen Zeit. Auf diese Weise erfuhr mein Vater dann auch von einem Hof in der Brunecker Gegend, der verkauft werden sollte. Er dankte dem Informanten und wollte sich gleich nach dort auf den Weg begeben. Da warnte ihn dieser noch: »Sei vorsichtig mit dem Kauf. Ich habe gehört, dass der Nachbar kein so gemütlicher Mensch sein soll. Vielleicht wartest du, bis was anderes angeboten wird.«

Aber mein Vater hatte schon so lange vergeblich nach einem Hof Ausschau gehalten, dass er es kaum erwarten konnte, endlich an einen solchen Besitz zu kommen. »Ach was«, sagte er sich, »so schlimm wird es schon nicht sein. Ich bin ein friedfertiger Mensch; das wird schon gut gehen.«

Nach einem Tagesmarsch kam er endlich auf besagtem Hof an, wo man ihn gastfreundlich empfing und über Nacht dabehielt. So konnte er sich am nächsten Tag alles in Ruhe anschauen. Das Wohnhaus mit Wirtschaftsgebäude gefiel ihm gut, und selbst der Viehbestand konnte sich sehen lassen. Mit einem Neffen des verstorbenen Hofbesitzers, der im Auftrag der Erbengemeinschaft handelte, schritt er Wiesen, Feld und Wald ab und war recht zufrieden mit dem, was er vorfand. Sie wurden schnell handelseinig. Damals waren nicht nur die Höfe, sondern auch die Hofkäufer dünn gesät, und weil die Erbengemeinschaft daran interessiert war, bald Bargeld zu sehen, war auch der Preis nicht allzu hoch.

Für meinen Vater erfüllte sich damit ein Traum: Endlich konnte er mit seiner kleinen Familie ein eigenes Haus bewohnen und seine eigenen Gründe bearbeiten! Mit viel Fleiß und großer Begeisterung gingen er und seine Frau die Sache an. Ihre Freude an dem Hof sollte jedoch bald einen Dämpfer bekommen, denn schon nach kurzer Zeit bekam mein Vater die bittere Wahrheit zu spüren, die der Volksmund in folgendem Sprichwort ausdrückt: »Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.« Von Tag zu Tag musste mein Vater mehr einsehen, wie recht der Bauer auf dem Markt gehabt hatte, als er ihn vor dem Nachbarn gewarnt hatte. Dieser Nachbar ließ nämlich keine Gelegenheit aus, uns zu sekkieren (schikanieren).

Darunter hatte die ganze Familie zu leiden, besonders aber mein armer Vater. Wann immer er sich auf einem seiner Felder oder einer Wiese blicken ließ und der Nachbar in der Nähe war, rief er ihm hämische Worte zu. Wo unsere Wiese an die seine grenzte, mähte er einfach ein Stück weit von unserer Wiese ab, er mähte von unserem Getreide mit ab, er erntete von unseren Rüben und von unseren Kartoffeln. Vielleicht denkt manch einer: Wegen ein bisschen Gras oder ein paar Kartoffeln sollte man sich nicht so haben. Aber wir waren eh mit Viehfutter knapp und mit allem anderen auch. So ein kleiner Hof reichte gerade aus, um eine mehrköpfige Familie zu ernähren. Um keinen Streit heraufzubeschwören, schwieg mein Vater aber trotzdem zu allem.

Im Frühsommer darauf, ich war sieben Jahre alt und besuchte die erste Klasse, war ich am Nachmittag mit meinem Vater beim Heuwenden. Wie aus dem Erdboden gewachsen tauchte da der böse Nachbar neben meinem Vater auf. Er hatte einen Stecken in der Hand. Ohne jeden Grund stürzte er sich auf meinen Vater und schlug auf ihn ein. Ich, meinen Vater in Gefahr sehend, hob meinen kleinen Kinderrechen hoch – der war, wie alle Rechen damals, noch ganz aus Holz – und fuhr unerschrocken dazwischen. Der Angreifer, der sich auf diese Weise attackiert sah, schlug nun zornig auf meinen Rechen ein. Da er auf diese Weise abgelenkt war, konnte mein Vater die Zeit nutzen, um sich in Sicherheit zu bringen, während der Nachbar in seiner Wut so lange auf meinen Rechen einschlug, bis er keinen Zahn mehr hatte. So schnell, wie ich aufgetaucht war, ließ ich da meinen zahnlosen Rechen fallen, rannte flink wie ein Wiesel zu meinem Vater und ging mit ihm nach Hause.

Mein Vater war nicht etwa ein Feigling, der sein Kind schutzlos einem Wüterich überlassen hätte, er blieb schon nahe genug, dass er im Notfall hätte eingreifen können. Weil der Nachbar aber nicht mich attackierte, sondern seine Wut nur an dem unschuldigen Rechen ausließ, griff er nicht ein.

Nach diesem Vorfall traute sich mein Vater eine Zeit lang nicht mehr aus dem Haus, wenn er wusste, dass der Nachbar auf seinen Feldern war. Es half aber alles nichts, die Arbeit musste doch gemacht werden. Also musste mein Vater doch wieder hinaus und musste sich nun noch mehr Schmähungen anhören, z. B., dass er so feige sei, dass er seine kleine Tochter für sich kämpfen lasse.

Doch es blieb nicht bei den Schmähreden. Ließ mein Vater mal über Nacht ein Gerät auf dem Hof stehen, war es am nächsten Morgen verschwunden. Egal, ob es eine Hacke, eine Schaufel oder ein Rechen war, es blieb unauffindbar. Einmal, so erinnere ich mich, war unser Pflug, den mein Vater draußen vergessen hatte, weil er ganz plötzlich in den Stall musste, um einer kalbenden Kuh beizustehen, am nächsten Morgen weg. Wir suchten und suchten und fanden ihn schließlich in einer tiefen Schlucht wieder. Es war nicht nur äußerst schwierig, ihn zu bergen, durch den Sturz war er auch an mehreren Stellen gebrochen. Vom Schmied musste er wieder repariert werden, was uns viel Geld kostete, das wir sehr notwendig für anderes gebraucht hätten. Schließlich war es an allen Ecken und Enden knapp in den Jahren nach der Weltwirtschaftskrise.

Außer seinen Nutztieren, das waren fünf oder sechs Kühe, zwei Schweine, acht bis zehn Schafe und etwa ein Dutzend Hühner, hielt mein Vater bei uns auf dem Hof auch einen Pfau. Dass er ein so kostbares Tier besaß, war sein ganzer Stolz. Während seiner Wanderjahre hatte er immer wieder auf dem Hof eines Adeligen zu tun gehabt und war sehr beeindruckt von den Pfauen gewesen, die dort majestätisch über den Hof stolzierten. Dem Besitzer entging es nicht, dass mein Vater immer wieder bewundernd vor seinen Pfauen stehen blieb und sie lange betrachtete. Eines Tages sprach er ihn an: »Prächtige Tiere, nicht wahr?«

»Ja, sie sind einfach wunderbar! Ich kann mich an ihnen gar nicht satt sehen. Am liebsten würde ich auch einen Pfau besitzen«, gestand mein Vater.

Zu seiner freudigen Überraschung sagte da der Adelige: »Gut, weil ich mit Ihrer Arbeit immer sehr zufrieden war, werde ich Ihnen einen Pfau schenken.«

Mein Vater strahlte. Dann aber fiel ihm ein, dass er bei seinem Wanderleben ein solches Tier nicht mit sich führen konnte. Das erklärte er seinem Wohltäter. »Wenn ich meinen eigenen Bauernhof habe, darf ich dann auf Ihr Angebot zurückkommen?«, fragte er dann.

Das durfte er. Und als er den Hof endlich hatte, holte er das kostbare Geschenk so rasch wie möglich ab. Er hegte und pflegte das schöne Tier, und so viel Arbeit er auch hatte, er fand doch jeden Tag die Zeit, genau wie auf dem Hof des Adligen, immer wieder bewundernd stehen zu bleiben, wenn es sein Rad schlug und über den Hof stolzierte. Dem Nachbarn aber war - wie alles auf unserem Hof - auch der Pfau ein Dorn im Auge. Das Tier hatte die Angewohnheit, auf dem Laubbaum vor unserem Haus sein Nachtquartier zu beziehen. Da schlich er eines Nachts dorthin, zog den Pfau am Schwanz herunter und erschlug ihn.

Das war für meinen Vater sehr schlimm, und er ist lange nicht darüber hinweggekommen. Nicht nur, dass er sein geliebtes Tier am Morgen mit zerschmettertem Kopf vorgefunden hatte, er musste sich auch fragen, was der Nachbar uns als nächstes antun würde. Ein Mensch, der ein unschuldiges Tier wie seinen Pfau so brutal getötet hatte, konnte auch zu noch schlimmeren Dingen fähig sein.

Lange wurde in der Familie über diese Missetat diskutiert. Weil die Mutter sah, wie sehr der Vater darunter litt, schlug sie vor: »Mariangelus, verkauf den Hof, und lass uns wegziehen.«

Aber das wollte mein Vater nicht. »Nein, der Hof gefällt mir, und ich habe hart dafür arbeiten müssen«, begründete er das.

»Wir werden anderswo schon einen neuen finden«, versuchte die Mutter ihn zu ermutigen.

Aber der Vater sah es nicht ein, sich von dem Widerling vertreiben zu lassen. »Wenn ich mich still verhalte, wird er irgendwann schon Ruhe geben«, versuchte er sich selbst Mut zu machen.

»Gott gebe, dass du recht hast«, seufzte die Mutter.

Tatsächlich war danach auch für ziemlich lange Zeit Ruhe, und der Vater glaubte schon, aufatmen zu können. Aber dann ging es wieder los, und noch schlimmer als zuvor. Zu unserem Anwesen gehörte auch Wald, ja, es waren sogar wesentlich mehr Hektar an Wald als an Wiesen und Feldern vorhanden. Holz brauchte man nicht nur als Brennmaterial, es bedeutete auch eine nicht zu verachtende Einnahmequelle. Meine Mutter pflegte immer zu sagen: »Der Wald ist die Sparkasse des Bauern.« Sie wollte damit sagen, wenn die Ernte knapp ausfiel, konnte man immer noch auf den Wald zurückgreifen und an die Städter Brennholz verkaufen.

Eines Tages, mein Vater hatte mal wieder im Wald gearbeitet, kam er völlig außer Atem und am ganzen Körper zitternd in die Küche gestürzt. »Jetzt ist Schluss!«, stieß er hervor. »Jetzt müssen wir weg. Hier bin ich meines Lebens nicht mehr sicher.« Dann brach er in Tränen aus. Das war das einzige Mal im Leben, dass ich meinen Vater habe weinen sehen.

»Was ist los? Was ist passiert?«, fragte die Mutter in großer Sorge. Uns Kinder interessierte das natürlich auch, aber es stand uns nicht an, danach zu fragen. Es dauerte eine Weile, bis sich der Vater so weit beruhigt hatte, dass er erzählen konnte: »Wie ich, nichts Böses ahnend, beim Holzaufschichten bin, höre ich plötzlich einen Knall, und im selben Moment saust eine Kugel an meinem Kopf vorbei. Ich schaue mich um, da höre ich ein hämisches Lachen und sehe, wie der Nachbar mit einem Gewehr in der Hand im Gebüsch verschwindet.«

Nun, da sein Entschluss fest stand, versuchte der Vater so schnell wie möglich einen Käufer für sein Anwesen zu finden und hielt gleichzeitig auch schon Ausschau nach einem neuen. Wieder waren es die Märkte in der näheren Umgebung, wo er bekannt gab, dass er einen Hof anbiete und einen kaufen wolle.

Mittlerweile schrieb man das Jahr 1937 – fast zehn Jahre haben wir die Nachstellungen des Nachbarn ertragen! –, und es waren Umstände eingetreten, die es leicht machten, an einen neuen Hof zu kommen, aber gleichzeitig erschwerten sie es auch, ein bäuerliches Anwesen loszuwerden. Auf die Gründe hierfür werde ich später eingehen. Zunächst einmal: Es wurden zahlreiche Höfe angeboten, sodass mein Vater nur auszuwählen brauchte. Die Wahl wurde ihm dadurch erleichtert, dass genau vor Jahresfrist sein Bruder Seppl einen Hof im Eisacktal gekauft hatte, der auf einer Höhe von 1350 Metern lag. Der Nachbarhof, 50 Meter oberhalb davon gelegen, stand ebenfalls zum Verkauf.

»Da habe ich wenigstens schon mal einen gescheiten Nachbarn«, stellte der Vater schmunzelnd fest. Ehe er aber den neuen Hof bezahlen konnte, musste er erst den alten loswerden. Die Nachfrage war allerdings äußerst mäßig. Endlich fand sich aber doch ein Bauer, der sich für unseren Hof im Pustertal interessierte. Natürlich musste mein Vater gewaltig im Preis heruntergehen, sodass er wesentlich weniger dafür erzielte, als er seinerzeit dafür hingelegt hatte. Aber was blieb ihm anderes übrig? Man wusste ja nicht, was sich der Nachbar noch alles einfallen lassen würde. Bevor der Vater mit dem neuen Käufer zum Notar ging, legte ihm die Mutter besorgt ans Herz: »Du musst dem Mann aber sagen, warum wir verkaufen und weggehen wollen. Er muss ja wissen, wo er dran ist.«

»Das ist doch klar, Regina«, erwiderte ihr Mann. »Ich könnte ja nicht mehr ruhig schlafen, wenn ich dem einfach die Katze im Sack verkaufen würde.«

Nachdem der Vater den Käufer also darüber informiert hatte, dass es mit dem Nachbarn nicht so einfach sei, erklärte der gelassen: »Den überlässt du ruhig mir. Den werde ich mir schon biegen.«

Das muss er dann wirklich in die Tat umgesetzt haben. Denn als mein Vater ihn nach Jahr und Tag auf einem Markt wiedertraf, äußerte der lachend: »Mit dem Nachbarn habe ich keine Probleme. Dem habe ich in der ersten Woche schon gezeigt, wo es langgeht. Seitdem lässt er mich völlig in Ruhe.«

Das lag möglicherweise daran, dass der Neue kein Krautwallischer war wie wir. Vielleicht war der Grund aber auch, dass der Neue ein Mann wie ein Bär war und dass dies dem Nachbarn Respekt eingeflößt hatte.

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Stammtafel der Lena Thalergeb. Seeber

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