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Welche Archetypen von Bösewichtern gibt es? Was haben Finsterlinge aus modernen Hollywood-Blockbustern mit uralten Monstern der Antike zu tun? Wie werden aus Schurken manchmal Helden, und warum müssen auch Freunde immer wieder Gegenspieler sein? Albrecht Behmel und Elisabeth Brauch haben Verbrecher, Gauner, Monster und Gegenspieler aus den frühen Jahren der Stummfilmzeit (1912) bis ins neue Jahrtausend (2012) hinein gesammelt, geordnet und in eine übersichtliche Bewertungsmatrix gebracht, die es Stoffentwicklern, Produzenten und Regisseuren, aber auch Schauspielern und Game Designern erlaubt, ihr Wissen über das Böse im Bewegtbild klug zu systematisieren und Gemeinsamkeiten sowie Entwicklungsstränge zu identifizieren. Damit leistet dieses Lexikon nicht nur einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung der Frage, wie und wohin sich das Konzept des Antagonisten entwickelte, es ist auch eine kleine Kulturgeschichte der dunklen Mächte in Katalogform entstanden, die erstaunliche Brücken zwischen den Genres, Verwandtschaften und Inspirationen der Charakterentwicklung von Gestalten wie Darth Vader, Mephisto, dem großen weißen Hai und anderen ikonischen Figuren des populären Films offen legt.
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Seitenzahl: 1250
Veröffentlichungsjahr: 2020
Verlag
Title Page
I always say a screenplay is the big plain pizza, the one with tomatoes and cheese. And then the director comes and says, "You know, it needs some mushrooms.” And you go, "Put mushrooms on it.” And then the costume designer throws peppers on it, and – and pretty soon, you have a pizza with everything on it. And sometimes it’s the greatest pizza of your life and sometimes you think, "Well, that was a mistake. We should have left it with only the mushrooms.
Vorwort
Einleitung
Erster Teil: Geschichten
Was sind Geschichten?
Zweiter Teil: Filmevolution
Antagonisten gegen Protagonisten
Dritter Teil: Lexikon
Antagonisten bis 1929
Antagonisten der 1930er
Antagonisten der 1940er
Antagonisten der 1950er
Antagonisten der 1960er
Antagonisten der 1970er
Antagonisten der 1980er
Antagonisten der 1990er
Antagonisten der 2000er
Antagonisten seit 2010
Filmographie
Bibliographie
p004-ebooks_epub
letzte_seite_epub
ibidem-Verlag, Stuttgart
In Erinnerung an Blake Snyder
(1957-2009)
Für meine Frau Afraa, die beste aller Antagonisten, und meine beiden Monster Wieland und Orlando.
I always say a screenplay is the big plain pizza, the one with tomatoes and cheese. And then the director comes and says, "You know, it needs some mushrooms.” And you go, "Put mushrooms on it.” And then the costume designer throws peppers on it, and – and pretty soon, you have a pizza with everything on it. And sometimes it’s the greatest pizza of your life and sometimes you think, "Well, that was a mistake. We should have left it with only the mushrooms.
Nora Ephron in Dreams on Spec
Das Lexikon der Filmschurken verdankt seine Entstehung einem Gedankenaustausch zum Thema "Loglines" mit Blake Snyder, dessen Buch, Save The Cat, mich aufgrund seiner schlichten Tiefe, Genialität und praktischen Anwendbarkeit beeindruckt hatte. Auf Blake Snyders Anregung hin habe ich später begonnen, mich systematisch mit dem Thema "Bösewichter und Schurken im Film" zu beschäftigen. Viele hundert Stunden voller Action, Horror und Spannung später lag das erste Konzept des Lexikons sowie dessen theoretisches Grundgerüst vor. Leider konnte Blake Snyder das fertige Manuskript nicht mehr sehen. Er starb überraschend im Sommer 2009. Ihm und seinem Andenken ist dieses Lexikon gewidmet.
Albrecht Behmel
Freudenstadt im Schwarzwald, November 2019
Das Lexikon der Filmschurken stellt eine Auswahl wichtiger Figuren im Kontext ihrer Verwandtschaft zueinander dar. Wie kaum ein anderes Medium hat der Film Kunst und populären Geschmack miteinander verbunden, ungeheure Vermögen erschaffen, beziehungsweise vernichtet, und in der relativ kurzen Zeit seines Bestehens in fast alle Bereiche menschlichen Wirkens Einzug gehalten.
Somit ist jede filmhistorische Darstellung zwar immer auch kulturwissenschaftlich im weiteren Sinne, doch das Lexikon der Filmschurken hat eine andere Hauptaufgabe, nämlich die Erforschung dessen, was eine gute Geschichte eigentlich ausmacht. Dabei wechseln Geschichten ihre Medien: Filmstoffe stammen oft aus Romanen, Romane aus Erfahrungen oder erzählten Stoffen und diese wiederum aus Erlebnissen oder Träumen. Filme wiederum werden in Computerspiele verwandelt, in Comics oder in Romane ("Das Buch zum Film"), sodass die Figuren, die in diesen Geschichten eine Rolle spielen, sich immer weiter von ihrem ursprünglichen Medium entfernen. Mit seiner enormen sozialen Reichweite ist es stets der Film, das literarische Medium par excellence, in dem alle wesentlichen erzählerischen Fäden zusammenlaufen. Wenn im Folgenden von literarischen Figuren die Rede sein wird, so ist damit folglich nicht die schauspielerische Besetzung oder das Produktionsdesign gemeint, sondern die schriftstellerische, beziehungsweise ideengeschichtliche Konstruktion eines fiktiven Charakters, die allem zu Grunde liegt.
Der Film als Kulturphänomen ist überaus gut erforscht. Ob Genres, Regisseure, Techniken, Studios oder die Wirtschaftsgeschichte des Filmschaffens - die Literatur ist so überwältigend wie die Quellen des Storytelling oder Ratgeber zu Themen wie "Drehbuchschreiben, Entwicklung und Pitch." Interessanterweise ist jedoch das Thema "Bösewicht” oder "Gegenspieler” bislang nur wenig untersucht worden. Auch die Philosophie des Bösen steckt eigentlich noch in den Anfängen, selbst wenn die berühmten Werke Nietzsches, Baudelaires und Hannah Arendts zum Thema schon viele Jahre zurückliegen. Die Erforschung des Bösen im Film ist in gewisser Hinsicht Neuland. Das verwundert, denn die Antagonisten sind neben den Helden, oder sogar noch vor diesen, die wichtigsten Figuren in den meisten filmischen Erzählungen.
Mit dem Lexikon der Filmschurken aus hundert Jahren Filmgeschichte will ich einen kleinen Beitrag zur Schließung dieser Lücke leisten. Das Lexikon richtet sich an Autoren und Entwickler, die sich fragen, wie starke und einprägsame Figuren erschaffen werden können, an Regisseure und Schauspieler, die Verwandtschaften und Stilrichtungen interpretieren möchten, und an Literaturwissenschaftler, die sich für die Genese des Bösen oder Antagonistischen im Film interessieren. Vor allem aber ist es ein Lexikon für Filmfreunde und Menschen, die Geschichten lieben und gerne in fiktive Welten eintauchen.
Zum Zweck der Darstellung wurden einige hundert Antagonisten aus einflussreichen oder bemerkenswerten Filmen herausgesucht und verglichen. Dabei stand der Aspekt des finanziellen Erfolges gleichberechtigt neben dem Aspekt der Bedeutung der Figur und der allgemeinen Bekanntheit. Der Fokus der Auswahl dabei liegt auf den Produktionen Hollywoods, Blockbustern und populären Unterhaltungsfilmen, der traditionellen Domäne der großen Antagonisten.1
Im Lauf der Recherche für das Lexikon entstand ein Raster von Parametern, mittels dessen literarische Figuren im Allgemeinen und Filmschurken im Besonderen kategorisiert werden. Das Resultat ist ein Steckbrief für literarische Figuren, welcher Verwandtschaften und ideengeschichtliche Stammbäume aufzeigt. Literarische Verwandtschaften können dabei jedoch niemals vollständig im Sinne von "lückenlos" dargestellt werden.
Die Filme im Lexikonteil sind chronologisch geordnet. Innerhalb der einzelnen Jahresabschnitte gibt es allerdings in Teilen strittige Anordnungen, etwa wenn Filme in verschiedenen Ländern in unterschiedlichen Monaten erschienen sind, wenn der Premierenmonat nicht (mehr) bekannt ist oder wenn andere Unsicherheiten eine klare chronologische Platzierung erschweren.
1 Oder, nach einem bösartigen Diktum: "American motion pictures are written by the half-educated for the half-witted" St. John Ervine Ney York Mirror (6. Juni 1963)
Erster Teil: Geschichten
Was alle Kulturen, unabhängig von Epoche oder Ort, vereint, ist, dass sie über dramatische Erzählungen verfügen. Wie die sie hervorbringenden Kulturen, haben sich auch die Erzählungen im Laufe der Jahrtausende zwar verändert, sind aber in ihrem Wesen selbst gleich geblieben: Geschichten sind Universalien der menschlichen Zivilisation und Kultur.
Veränderungen betreffen in erster Linie die Länge und Sprache einer Geschichte, die soziale Auswahl der Figuren und die Bedeutung oder Existenz göttlichen Wirkens im Handlungsverlauf. Es verändern sich aber auch die technischen Möglichkeiten des Erzählens, also die verwendeten Medien, von Tonscherben und Höhlenmalereien bis hin zu Downloads aus dem Internet. Gleich geblieben ist die conditio humana, also die Konfrontation des Menschen mit der Natur, anderen Menschen oder Wesen und nicht zuletzt mit sich selbst in Verbindung mit den berühmten Kantischen Fragen: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?
Geschichten sind mehr oder weniger abstrahierte Versuche, auf diese Fragen mit Hilfe von erfundenen Figuren und Konstellationen zu antworten.
Von den frühesten bekannten Erzählungen, wie dem Gilgamesch Epos, den Mythen des Alten Ägypten und des Alten Testaments, über die großen Klassiker, wie Homer und Vergil, bis zu Shakespeare spannt sich ein gewaltiger Bogen, der uns im Heute mit den Anfängen der Kulturen verbindet. Der Bogen reicht, wenn man an das Alter denkt, das mündliche Überlieferungen erreichen können, wahrscheinlich bis in die Steinzeit oder gar zum Anbeginn der Sprache zurück.
Dieser Bogen ist nicht überall gleich stark ausgeprägt. Je nach Epoche verändert sich das Gewicht und die Verteilung, denn literarische Stoffe sind wie Relikte und je nach Zeitalter werden sie unterschiedlich wahrgenommen und respektiert, wie zum Beispiel das uns altehrwürdig erscheinende Nibelungenlied, das jedoch von dem preußischen König Friedrich II. belächelt und geringgeschätzt wurde, aber wenige Generationen darauf von den deutschen Romantikern wie Heinrich Heine wiederum bewundert und sogar verehrt wurde.
Neben dem Entstehungsdatum einer Geschichte ist immer auch das Datum der Deutung von Interesse, wenn es um die Bewertung eines Fundes geht. Das ist in der Archäologie nicht anders als in der Literaturgeschichte. Was heute ein Klassiker ist, war einmal eine Neuerscheinung, die von konservativen Hörern oder Lesern misstrauisch in Empfang genommen wurde. Das betrifft die Zehn Gebote ebenso wie die Werke Mozarts, die Gedichte des Ovid oder auch die Blechtrommel von Günter Grass. Bevor ein Werk zum Klassiker aufsteigen kann, muss es eine geistige Mauer von Intoleranz und Ignoranz durchbrechen, die von den Vorfahren der späteren Fans errichtet wurde.
Im Film verhält es sich genauso. Fantomas,1 ein fiktiver Terrorist der Belle Epoque, ist so ein Fall. Diese Figur erlebte eine ungemeine Popularität bis unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, geriet dann in vollständige Vergessenheit und tauchte in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs erneut auf. Wie ist so ein Phänomen zu erklären? Sind literarische Figuren Moden unterworfen, deren Zyklen ganze Epochen übergreifen können? Sind es tatsächlich die Figuren oder eher die beschriebenen Welten? Sind es die Werte, die in der Geschichte propagiert werden oder ist es die Sprache, die zum Beispiel modernen Lesern den Zugang zu einem alten Stoff erschwert? Wer ist heute noch in der Lage, die Oden des Horaz im Original zu lesen und zu verstehen? Wer kann Texte in sumerischer Keilschrift entziffern? Wie viele Leser beschäftigen sich heute außerhalb der akademischen Welt freiwillig, ernsthaft und auf Dauer mit rätselhaften Denkern wie Hölderlin?
Andererseits gibt es Geschichten und literarische Figuren, die immer populär zu sein scheinen. Im Hinblick auf den Film sind das zum Beispiel Figuren wie Sherlock Holmes, Robin Hood oder Zorro, aber auch Dr. Jekyll und sein innerer Gegenpart Mr. Hyde. Seit den ersten Verfilmungen der Stummfilmzeit werden diese Stoffe unablässig immer wieder neu bearbeitet und interpretiert. Die Frage, die beschäftigt, ist, was macht diese Figuren so erfolgreich und warum gelingt es anderen Figuren nicht, in dieses Pantheon unsterblicher Charaktere einzugehen?
Es gibt eine ganze Reihe von Theorien, die zu erklären versuchen, welchen Grundmustern erfolgreiche Stoffe folgen sollten oder müssen. Darunter fällt auch der berühmte Ansatz von Joseph Campbell, der den Versuch unternahm, möglichst viele Geschichten auf eine ursprüngliche "Monomythe" zurückzuführen, eine Art Grundgerüst für Geschichten, das in fast allen Kulturen zu finden sei.2
Was die Theorie der indoeuropäischen Sprachen oder die Theorie der Evolution für das linguistische, beziehungsweise biologische Feld bedeutet, ist die Theorie der Monomythe für das literarische Gebiet. Es ist die Suche nach der Urzelle, dem gemeinsamen Ahnen und den Regeln der Ausdifferenzierung der Nachkommen in möglichst vielen Verästelungen.
Campbells Theorie und die Werke seiner Schüler erwiesen sich trotz aller Kritik aus den Kulturwissenschaften und der Anthropologie als überaus fruchtbar und einflussreich, vor allem in Bezug auf die kommerzielle Filmindustrie Hollywoods. Das, was heute in Drehbuchschulen überall auf der Welt als "Heldenreise" gelehrt wird, bewährt sich insbesondere für das Format des 90-minütigen Spielfilms als nahezu perfekte Formel. Sie ist beliebig oft zu wiederholen, da bereits kleine Modifikationen im Gerüst der Geschichte für neue Seherlebnisse sorgen können. Die gleiche Geschichte mit einem weiblichen anstatt eines männlichen Protagonisten und dem Handlungsort im Weltall anstatt im Wilden Westen wird als neue Geschichte empfunden. Zuschauer achten stark auf Details wie Besetzung, Produktionsdesign oder Kostüme. Sie achten viel weniger auf die erzählerischen Grundstrukturen der Geschichten. Wäre es andersherum, gäbe es vermutlich keine Filmindustrie.
Das Gerüst guter Geschichten ist derart tief in unserem kulturellen Empfinden verwurzelt, dass allenfalls eine Verletzung der Grundregeln bemerkt wird, nicht aber deren Anwendung. Die Konsequenz lautet, dass neue Geschichten nicht allzu neu sein dürfen, wenn sie einem breiten Publikum gefallen sollen. Genau das ist die Motivation großer Hollywood-Produktionen, nämlich ein großes Publikum zu erreichen und emotional zu berühren, und sei es nur für etwa anderthalb Stunden. Durch eine von starken Bösewichtern, Monstern oder Gegenspielern im weitesten Sinn ausgehende Bedrohung soll sich das Publikum mit dem Protagonisten oder Erzähler einer Geschichte verbünden. Diese Grundkonstellation hat sich seit der Steinzeit nicht verändert.
Im deutschen Film ist diesbezüglich eine eher negative Entwicklung zu konstatieren. Während der frühe deutsche Film eine Vielzahl von großen Antagonisten hervorgebracht hat, wie Hagen von Tronje, Nosferatu und Caligari, treten in zeitgenössischen Filmen nur noch wenige starke Gegenspieler auf. Dieser Trend ist auch in der Landschaft zeitgenössischer Romane aus Deutschland zu sehen. So produziert das britische und amerikanische Kino einen großen Widersacher nach dem anderen und entlässt sie in die Gesellschaft, wie die sich verselbständigende Maske des Guy Fawkes aus dem Film V for Vendetta. Im Vergleich dazu konzentriert sich das bundesdeutsche Fernseh- und Filmschaffen auf biografisch-historische und autorenfilmerische Stoffe, sowie auf Komödien, die naturgemäß einen geringen Bedarf an Gegenspielern haben. Große Fiktion wird weniger gepflegt. Dies erklärt in Teilen den Mangel an bedeutenden Antagonisten aus Deutschland.3
Ausnahmen im Hinblick auf besondere Antagonisten aus Deutschland sind Das Parfüm und Das Leben der Anderen. Doch das Problem bleibt. Die häufig beklagte Ideenlosigkeit des neuen deutschen Films spiegelt sich deutlich in der Abwesenheit großer Antagonisten wider.4 Ob diese Scheu vor Konfrontationen auf literarischen und kinematographischen Schlachtfeldern an der deutschen Geschichte mit ihrem Übermaß an historischen, und damit realen, Schurken, Monstern und Verbrechern liegt, muss Spekulation bleiben.
Geschichten haben auf unterschiedlichste Weise mit Manipulation zu tun. Einmal ist der Vorgang des Erzählens selbst ein Akt der Machtausübung, indem er das Publikum diszipliniert und dazu zwingt, sich mit den Gedanken des Erzählers für eine bestimmte Zeit auseinanderzusetzen. Selbst, wenn die Zuhörer sich diesem Monolog freiwillig aussetzen und oftmals sogar bereit sind dafür zu bezahlen, so bleibt das Erzählen dennoch ein Instrument der Manipulation und der Disziplinierung. Wer das Schicksal einer Figur schildert, hat nicht nur die Geschichte in der Hand, sondern beherrscht auch die Ohren, Augen und oftmals sogar die Herzen seiner Zuhörer. Dieser Effekt tritt vor allem in der konservativsten Erzähl-Umgebung auf, die die westliche Kultur erschaffen hat, nämlich die festliche Oper. Ganz im Gegensatz zum freizügigen Theater der Shakespeare-Zeit sitzt man dort ohne jede Bewegungsfreiheit für einige Stunden fest auf dem Stuhl und ist einer klaren Kleider-Ordnung und Verhaltensnorm unterworfen. Die Zuschauer dürfen sich nur zu vorgegebenen Momenten äußern. Dabei stehen ihnen nur wenige erlaubte Bewegungen zur Verfügung, wenn sie etwa klatschen oder "Bravo" rufen dürfen. Das Aufstehen ist allerhöchstens zum Schlussapplaus üblich und geredet werden darf nur im Flüsterton. Alles andere gilt als schlechtes Benehmen und wird durch tödliche Blicke sanktioniert. Nirgendwo wird der Umstand so deutlich, dass Geschichtenerzählen mit Macht und Disziplinierung zu tun hat, wie in der Oper. Im Kino oder am Familientisch gelten verwandte, wenn auch viel schwächere Regeln, doch auch hier steht auf Regelbruch soziale Sanktion.
Geschichten haben darüber hinaus auf einer geistigen Ebene mit Macht zu tun. Sie lenken die Aufmerksamkeit des Publikums auf einen Sachverhalt, der vom Erzähler oder den Erzählern für relevant gehalten wird. Andere Sachverhalte, die vielleicht zu der Geschichte gehören, aber weniger erwünscht sind, werden je nach Genre gekürzt, ins Lächerliche gezogen oder gestrichen.5
Die Ursprünge solcher Manipulationen liegen weit zurück. So begannen sich beispielsweise in der späten Antike und dem frühen Mittelalter die Kirchenväter zu fragen, welche biblischen Texte kanonisiert werden sollten und welche nicht. Die Konflikte wurden mit allen Mitteln ausgetragen und forderten viele Opfer. Am Ende des Prozesses entstanden die – immer noch unterschiedlichen – Bibeln, wie wir sie heute kennen.
Wie die Werke des Thomas von Aquin oder des Karl Marx erfuhren auch die Werke des griechischen Dichters Homer in der Frühzeit der westlichen Literaturgeschichte politisch inspirierte, teils sehr umfassende Bearbeitungen. Der nach Homer lebende Philosoph Platon erstellte ganze Listen von entsprechenden Vorschlägen für Kürzungen, Verbote und Änderungen, die er in seinem Werk "Politeia" zu rechtfertigen suchte. Darin argumentierte er folgendermaßen: Da Kunstwerke die Wirklichkeit nur nachahmen und somit von der Wirklichkeit entfernt sind, sprechen sie vor allem das Gefühlsleben an und nicht die Vernunft, die von allein zum richtigen Verhalten führt. Da die Gefühle aber der Vernunft entgegengesetzt seien, benötigen diese eine stärkere Kontrolle als die Vernunft, was im Fall der Kunst nur durch Zensur möglich sei.6
Wer die Themen von Geschichten festlegt, ist einflussreich. Wer die Kultur des Erzählens an sich bestimmen kann, wie die großen Studios in Hollywood oder die großen Nachrichtenagenturen, ist sogar überaus mächtig. Es geht um sozialen Zusammenhalt, gemeinsame Perspektiven, gemeinsame Feindbilder, Festigung von Werten und das gemeinsame Erlebnis beim Genuss der Erzählung. Nicht umsonst engagieren sich in vielen Ländern die Streitkräfte für die Filmindustrie, um sicherzugehen, dass die entstehenden Bilder auch im Sinne der nationalen Sicherheit sein werden. Das gleiche Vorgehen zeigen auch Glaubensgemeinschaften, Unternehmen, Institutionen, Parteien und Verbände.
Dabei geht es weniger um einzelne Geschichten, wie zum Beispiel "Top Gun," sondern vielmehr um eine ganze Erzähltradition, die beeinflusst werden muss, wenn eine gesellschaftliche Wirkung entstehen soll. Einzelne Geschichten können das Leben einzelner Menschen verändern. Um ganze Gesellschaften zu verändern, muss ein immerwährender Strom von Erzählungen eingesetzt werden. Dieser Mechanismus ist bewährt und er funktioniert heute ebenso wie früher im Senat des Alten Rom, an den Lagerfeuern der ersten Menschen und an den Fernsehgeräten der Fünfziger Jahre.
Die deutsche Filmförderung zum Beispiel ist im Jahr 1917 entstanden, als General Ludendorff den Wert des Kinos als Propagandainstrument für die Kriegsanstrengungen erkannte und vor den Toren Berlins den Bau groß angelegter Studios ermöglichte. Ludendorff wusste, Geschichten haben mit Macht zu tun. Erst aus der Summe vieler Geschichten, die dem Publikum einen – meist schmeichelhaften – Spiegel vorhalten, entsteht kulturelle Identität, die wiederum konkrete Machtpolitik unterstützen kann. Entsprechende Züge tragen beispielsweise die so genannten "Durchhaltefilme" der Nationalsozialisten, eher heitere Stoffe, die nach den propagandaschweren Wochenschauen vorgeführt wurden, oder die Action-Serien wie "Kampfstern Galactica" aus der Zeit des Kalten Krieges.
Es ist nur eine Frage des Hintergrundwissens, wie tief ein Zuschauer oder Zuhörer in diese stets vorhandene Dimension der Macht einer Geschichte eindringen kann. Homers berühmten Gesänge "Illias" und "Odyssee" haben ebenso eindeutig politischen Charakter wie das Nibelungenlied, die Gesänge des Walter von der Vogelweide oder die Chansons des Kurt Tucholsky: Zu allen Zeiten haben Dichter Partei ergriffen und sich für oder gegen bestimmte politische Richtungen engagiert. Schriftsteller versorgen ihre Leser oder Zuhörer mit Archetypen und Schablonen, mittels derer Lebenswirklichkeiten diskutiert und analysiert werden können. Geflügelte Worte und Anspielungen entstehen, die sich jeder Zensur entziehen. Gemeinsamkeiten entstehen und damit Macht. Tucholsky und Schiller mussten sich ebenso ins Exil begeben wie Ovid viele Jahrhunderte zuvor; Voltaire verscherzte es sich mit der Aristokratie genau wie der Dichter Schubart nach ihm. Ohne die allen gut konstruierten Geschichten innewohnende Macht wären diese und viele ähnliche Schicksale von Schriftstellern und Dichtern nicht zu erklären.
Geschichten lenken die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf Sachverhalte, indem sie abstrakte Zusammenhänge oder Fragen mit emotionalen Aspekten verbinden. Je emotionaler eine Geschichte ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Botschaft der Geschichte nicht nur Gehör findet, sondern auch in Erinnerung bleibt. Dahinter steht ein biologischer Prozess, denn je höher die physische Alarmbereitschaft eines Menschen ist, desto höher ist auch dessen Aufnahmebereitschaft für Informationen. Aus diesem Grund werden moderne TV-Stoffe so geschrieben, dass die Werbepause genau in solche emotionalen Sequenzen fällt, damit die Werbebotschaft eine höhere Wirkung hat. Ob dies tatsächlich eintritt oder nicht, ist indessen umstritten. Tatsache ist, der so genannte Cliffhanger ist weit über die Grenzen der Filmindustrie hinaus sprichwörtlich geworden.
Bereits in den orientalischen Mythen und Berichten des Altertums geht es um die Kämpfe von Herrschern. In der Bibel finden sich Geschichten über Auseinandersetzungen der Menschen untereinander, mit der Natur oder mit Gott, beziehungsweise die Kämpfe Gottes mit anderen Göttern und deren Anhängern. Auch die Kämpfe der Menschen mit sich selbst, mit ihren inneren Dämonen oder ihrem Gewissen finden sich bereits in den frühesten überlieferten Erzählungen. Die Menschwerdung des wilden Enkidu oder die Gewissensqualen seines Freundes Gilgamesch sind Beispiele dafür. Die Werte der handelnden Figuren sind dabei eine zentrale Botschaft jeder Geschichte. Auch dies ist ein Instrument der Macht und es erklärt, warum zu allen Zeiten Geschichten umgeschrieben, verändert, verboten oder bewusst gefördert worden sind. Genau dies meinen Autoren, Verleiher, Produzenten und Regisseure, wenn sie davon sprechen, dass ein Stoff "in der Luft liegt."
Solche Geschichten haben dann häufig das Potenzial, dass sie sich verselbstständigen und sich von ihrem Schöpfer oder Erzeuger entfernen, wie jede andere lebensfähige Kreatur auch.7
Autoren sollten sich stets daran erinnern, dass die meisten Menschen sich ein Bild von Pinocchio machen können, aber nur die wenigsten wissen, wie das Gesicht seines Schöpfers Carlo Collodi aussah. Dieses Experiment kann mit vielen anderen literarischen Figuren gemacht werden, wie etwa mit Don Quixote, der Tigerente, Zorro oder Superman. Fast immer sind die Produkte prominenter als ihre Erschaffer. Dieses Phänomen wird im Übrigen seit jeher auch als Mittel der Machtausübung eingesetzt. Im Fall der Bibel beispielsweise werden ihre vielfältigen Erzählungen ab einem bestimmten Zeitpunkt einfach der Urheberschaft Gottes zugeschrieben, einem Autor, der nur mit allergrößten Schwierigkeiten zu kritisieren ist. Die Stoffe der Bibel haben sich, genau wie viele andere Stoffe der Weltliteratur, längst von den eigentlichen Urhebern und Redakteuren emanzipiert. Andere Stoffe wiederum, etwa Goethes "Faust," haben eine umgekehrte Entwicklung hinter sich, indem sie sich von einem Stoff aus dem ideengeschichtlichen Allgemeingut in den geistigen Besitz eines speziellen Schriftstellers begeben haben, nämlich dessen, der die bedeutendste Bearbeitung angefertigt hat. Die uralte Geschichte des Doktor Faust, der seine Seele dem Teufel verschrieb, ist nun untrennbar mit dem Namen Goethes verbunden, der den Stoff weder erfunden noch als letzter bearbeitet hat.
Eine wesentliche Voraussetzung für beide Entwicklungslinien ist die Erfindung und massenweise Verbreitung der Schrift. Sie erlaubt, quasi "offizielle Fassungen” von Geschichten zu veröffentlichen, was im Rahmen von mündlichen Überlieferungen technisch unmöglich ist.
Kanonisierungen machen eine Geschichte unangreifbar und diejenigen, die über sie bestimmen, zu Machthabern. In manchen Kulturen können solche Vorgänge zu geistiger Blüte führen. Im alten Griechenland und in Rom dienten die Mythen zunächst dazu, das Ansehen der Götter zu festigen und in späteren Jahrhunderten dann konsequent zu untergraben8 und ein neues Zentrum der Anbetung zu schaffen, nämlich den Menschen selbst. Das brachte wiederum eine neue literarische Blüte mit sich. Wenige Kulturen haben sich als so fruchtbar erwiesen wie die des alten Griechenland, dessen Mythen bis heute erzählt und verfilmt werden.
Die Frage, wie man Geschichten definieren und von anderen Formen der Informationsübertragung abgrenzen soll, ist angesichts der Vielfalt literarischer Genres keine einfache. Wo verlaufen zum Beispiel die Grenzen zwischen Anekdoten und Geschichten, Berichten und Nachrichten? Sind Geschichten an eine bestimmte Länge und Ausführlichkeit gebunden und wenn ja, ab wie vielen Wörtern beginnt eine Geschichte? Ab wie vielen Wörtern hört eine Kurzgeschichte auf "kurz" zu sein?
Geschichten haben ein Thema, welches sie aus einer speziellen Sicht heraus darstellen.
Diese Perspektive kann an eine Person oder mehrere innerhalb der Geschichte gebunden sein oder "über den Ereignissen" schweben. Geschichten haben einen Erzähler, der mehr oder weniger dominant auftritt und eine Serie von Ereignissen in einen bestimmten Kontext setzt. Diese Ereignisse müssen irgendwie miteinander verbunden sein. Je kausaler der Zusammenhang dargestellt wird, desto einprägsamer wird die Geschichte.
Dies erreicht der Erzähler mit einem erheblichen Aufwand an Beschreibungen, Dialogen und anderen sprachlichen oder tatsächlichen Bildern und Hilfsmitteln. Klassischerweise gehören dazu Handpuppen, Schautafeln, Musikinstrumente oder Verkleidungen, aber auch stets Gestik, Stimme und Mimik.
Ein zweites Kriterium ist, dass Geschichten immer sowohl verkürzt als auch ausgearbeitet funktionieren können. Sie können durch Nebenhandlungen ausgeschmückt oder sehr reduziert dargeboten werden. Dies ist zum Beispiel bei den Märchen der Gebrüder Grimm zu beobachten, die in ihrer Textform oft geradezu erschreckend spartanisch und schmucklos erscheinen. In Erinnerung bleiben dann meist viel farbenfrohere Eindrücke, die sich zwar nicht in den Texten, wohl aber in den Darbietungen der Vorleser und Darsteller und in der Fantasie des Zuhörers finden lassen.
Geschichten in einem engeren Sinn tendieren zur Ausführlichkeit. Daher müssen sie von folgenden, verwandten literarischen Sub-Formen unterschieden werden, die ihrerseits Bestandteil von Geschichten sein können:
Anekdoten
Witzen
Nachrichten
Kommentaren
Beschreibungen
Ausreden
Lügen
Reden
Gerüchten
Allegorien
Drittens stellen Geschichten stets Konflikte dar, deren Verlauf oft kapitelartig aufgebaut ist. Diese Abschnitte kann man Akte, Szenen oder eben Kapitel nennen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass Figuren auf- und abtreten, je nach Rolle, die sie in dem Konflikt spielen. Außerdem ändern sich möglicherweise Spielort und -zeit. Man könnte auch sagen, dass Geschichten prinzipiell das Element der vergehenden Zeit benötigen. Das ist einer der Gründe, warum Geschichten viel häufiger linear erzählt werden statt non-linear wie etwa "Pulp Fiction." Dies sind Kapitel, die nach der Form "und deswegen…" oder "aber gleichzeitig..." aufeinander folgen.
Alle diese Aspekte berühren einen vierten essenziellen Bestandteil von Geschichten, nämlich die Tatsache, dass im Verlauf der Handlung von einer zentralen Figur mindestens eine Entscheidung getroffen werden muss. Dies ergibt sich automatisch aus dem Aspekt des Konflikts. Wilhelm Tell muss sich entscheiden, ob er auf den anrückenden Gessler schießen soll oder nicht; Pinocchio muss sich entscheiden, ob er sein Leben für seinen Ziehvater aufs Spiel setzen oder ob er für immer eine Holzpuppe bleiben will, und Odysseus muss sich entscheiden, ob er gegenüber dem Gott Poseidon, dessen Sohn Polyphem er geblendet hatte, Buße tun soll oder nicht. Romeo und Julia, Prometheus, die biblische Eva, Max und Moritz, Batman, Herkules und Kapitän Ahab - sie alle stehen vor grundsätzlichen und lebenswichtigen Entscheidungen.
Besonders einflussreiche Geschichten verbinden die Erzählperspektive mit einer Figur, die so konstruiert ist, dass möglichst viele Zuhörer sich mit ihr identifizieren können. Aus diesem Grund wird eine auffällig hohe Zahl von Hauptfiguren als Waisen dargestellt. Ein Kind, das keine Eltern hat, ist auf sich selbst gestellt, was wiederum eine Erfahrung ist, die von jedem Menschen nachvollzogen werden kann. Harry Potter, Moses, Grenouille, Ödipus, die wolfgesäugten Brüder Romulus und Remus, Bruce Wayne alias Batman, der kleine David Copperfield, Oliver Twist, Heidi, der Mutant Wolverine und Schneewittchen sind solche Waisenkinder.
Aus der Sicht des Schriftstellers sind Waisenkinder noch aus einem anderen Grund interessant. Sie befreien den Autor von der Pflicht, ein soziales Umfeld oder eine ausgefeilte Herkunft der Figur zu entwerfen, was wiederum die Möglichkeit mit sich bringt, die Welt der Figur gemeinsam mit dem Leser oder Zuschauer von Null auf zu errichten. Waisenkinder sind geeignet, weil sie eine weitgehend ungestörte Projektionsfläche für die Identifikationswünsche des Publikums zulassen, was die Figur zu unterschiedlichsten Leserschichten kompatibel macht.
Literarische Figuren geraten in Konflikte, die sie zu Entscheidungen zwingen, wobei die inneren Werte der Hauptfigur eine zentrale Rolle bei der Entscheidung spielen, sodass es häufig zu einer existenziellen Krisensituation kommt. Im Verlauf der Krise kann alles, was bisher auf dem Spiel stand, durch ein Ja oder ein Nein eingelöst werden, wie etwa in der Geschichte der Versuchung Christi in der Wüste oder dem Aufeinandertreffen von Darth Vader und Luke Skywalker. Die Größe der Entscheidung, beziehungsweise deren sozialer Wert als Instrument sozialer Macht, misst sich an der Stärke des Widerstandes, dem eine Hauptfigur ausgesetzt ist. Fast immer, und vor allem im Film, tritt dieser Widerstand personifiziert auf, zum Beispiel als Teufel, weißer Wal, Gott, Dämon, Mafiapate oder als femme fatale.9
Fiktive Personen ähneln historischen Personen vergangener Epochen in mancherlei Hinsicht. So glauben wir, Napoleon "irgendwie persönlich zu kennen," selbst wenn wir keinen seiner zahlreichen Briefe gelesen haben. Der uns aus dem Schulunterricht oder aus Filmen bekannte Napoleon ist natürlich nicht identisch mit dem tatsächlichen historischen Menschen, der weitaus komplexer ist als das Bild, das sich das Publikum über die Zeit von ihm gemacht hat. Dennoch erscheint er uns als vertraute Figur. Ein ähnliches trügerisch-vertrautes Verhältnis besteht zwischen dem, was ein Schriftsteller über seine Figuren weiß und was ein Leser über die Figur in Erinnerung behält. Während ein typischer Leser vielleicht ein paar Wochen oder auch nur Stunden mit einem Roman verbringt, hat der Autor einige Monate oder sogar Jahre damit verbracht, Figuren, Welt und Handlung in Einklang zu bringen. In Filmen, die durchschnittlich zwischen neunzig Minuten und zwei Stunden dauern, ist der Unterschied noch stärker ausgeprägt. Viele Drehbücher entstehen über Jahre hinweg.
Erfundene Menschen sind immer das Ergebnis von planmäßigen Reduktionen - nicht nur durch den Betrachter, sondern bereits durch ihren Schöpfer.Wie im realen Leben gibt es daher Figuren, die im Hinblick auf das Thema und die Perspektive mehr oder weniger wichtig sind. Es liegt in der Hand des Schöpfers, diese Gewichtung über den Verlauf der Geschichte hinweg zu verändern.
Dies gilt das der Kern literarischer Konflikte. Figuren entwickeln sich in verschiedene Richtungen und geraten in Widerspruch zueinander. Anders als im realen Leben müssen diese Widersprüche jedoch ausgeräumt oder zumindest diskutiert werden. Geschieht dies nicht, liegt keine Handlung im literarischen Sinn vor, sondern nur eine Abfolge von mehr oder weniger unabhängigen Situationen.
Wie reale Menschen brauchen auch literarische Figuren schließlich Namen und genau wie bei ihren Vorbildern tritt eine Vielzahl von Namensformen auf. In der Literaturgeschichte sind es inbesondere die Antagonisten, die über die interessantesten und beeindruckendsten Namen verfügen. Während der Geheimagent 007 den relativ unauffälligen Namen James Bond trägt, heißen seine Widersacher Dr. No oder Goldfinger. Der Zauberschüler, der den Allerweltsnamen Harry Potter trägt, sieht sich mit einem schwarzen Magier konfrontiert, der sich Lord Voldemort nennt und bereits als junger Mann einen rätselhaften Namen trug, nämlich Tom Riddle. Der Zeichentrick-Hase Roger findet einen Feind in Judge Doom, Dick Tracey muss sich mit Alphonse "Big Boy” Caprice auseinandersetzen und Barton Fink gerät in die Fänge des Madman Mundt. Simbas Gegner heißt Scar und der riesige Fleischfresser, der die Menschen in Jurassic Park jagt, trägt den vielleicht furchterregendsten Namen aller Zeiten, nämlich Tyrannosaurus Rex. Simon Phoenix trägt den Namen eines unsterblichen Vogels, während sein Gegner, Protagonist John Spartan, immerhin auch einen sprechenden Namen führt. Das setzt ihn gleich mit Dirty Harry, der bürgerlich freilich nur Harry Callahan heißt. Weitere sprechende Schurkennamen sind der Joker, der Soup Nazi, Krank, der Schakal, Cyrus "The Virus" Grissom, Dr. Evil, Bricktop und Pascal Sauvage.
Der Name oder Spitzname einer literarischen Figur ist ein Instrument, das Autoren einsetzen, um die Perspektive der Leser oder Zuschauer auf die zentrale Aussage des Stückes und die darin gezeigten Konflikte zu lenken. Ebenso wird damit das Genre zementiert, vor allem bei Kindergeschichten und Komödien, wenn die Schurken albern-bedrohliche Namen tragen wie zum Beispiel Rita Repulsa oder Petrosilius Zwackelmann.
Fiktive Personen wie Anna Karenina, Gulliver oder der Baron Münchhausen gleichen abwesenden Bekannten, über die man spricht. Sie sind nicht körperlich anwesend und können nicht in die Erzählung eingreifen, doch ihr Wesen und ihr Charakter werden dadurch offenbart, dass ihr Handeln und ihr Verhalten erzählt und beurteilt werden - genau wie historische Personen auch. Geschichten können dabei so machtvollen Gehalt entwickeln, dass sich Fangemeinden bilden, die mit mehr oder weniger sinnvollen Mitteln versuchen, auf irgendeine Weise in die Welt der literarischen Figuren einzudringen. Solche literarische Gesellschaften pflegen das Erbe durch Kostüme, Veranstaltungen, Lesungen, Feste und Gedenkveranstaltungen, vor allem in der angelsächsischen Welt. Als Arthur Conan Doyle beschloss, die Karriere des Detektivs Sherlock Holmes zu beenden, kam es zu einem Aufschrei in der Fangemeinde. Goethes Werther beging Selbstmord und löste eine Welle von Nachahmer-Suiziden unter Goethe-Fans aus. Die jeweils neuen Bücher der Harry Potter-Serie wurden bei Erscheinen mit quasi-religiösen, aber spontanen Zeremonien empfangen und die Werke des P. G. Wodehouse werden weltweit in Fan-Clubs gefeiert, die die Welt des Bertie Wooster nachzuempfinden trachten. Auch die diversen Star Trek Gemeinden sind bekannt für außergewöhnliche Fantasie in Bezug auf das Zelebrieren ihrer Helden, extreme Detailkenntnis und für einen geradezu sprichwörtlichen Glauben an die Grundaussagen der Serie. In dem Film "Galaxy Quest" wird diese Geisteshaltung in Perfektion persifliert.
Heldengestalten wie Captain Kirk oder Odysseus erwecken solche Leidenschaften, wenn sie einerseits nachvollziehbar beschrieben sind und sich andererseits durch ungeheure Probleme kämpfen müssen und Prüfungen bestehen, die ihnen das Schicksal oder antagonistische Mächte auferlegt haben. Verfügen die Figuren darüber hinaus über einen stets klar definierten Charakter und bewegen sie sich in einer faszinierenden Welt, so sind die wichtigsten Elemente des literarischen Erfolgs erfüllt.
Kultureller und finanzieller Erfolg stellt sich dann ein, wenn diese Stoffe im Einklang mit dem Zeitgeist auftreten, wie zum Beispiel die Geschichten des Charles Dickens, der in einer Phase des extremen sozialen Wandels das Schicksal der Armen und Ärmsten beschrieb. Er erschuf klar definierte, aber widersprüchliche und somit menschlich positive, beziehungsweise negative, Charaktere.
Dieser geradezu magische Effekt, dass literarische Figuren von echten Menschen nicht immer klar zu trennen sind, wird in vielen literarischen Werken thematisiert, wie zum Beispiel im Fall des Don Quixote, der zu viele Ritterromane gelesen hatte und sich sodann selbst für einen Ritter zu halten begann. Der kleine Junge Bastian Balthasar Bux, der Held der Unendlichen Geschichte, verfügte über ein Zauberbuch, das ihn in das Land Phantásien führte. Ähnliches geschieht in der Reihe "Tintenwelt" und im Karl May Museum von Radebeul, das fiktive Ausstellungsstücke des Werks mit realen Reliquien des Schriftstellers kombiniert. In dem Film "Der Mann der Sherlock Holmes war," geht es ebenfalls um diesen Zusammenhang, denn weder Richter noch Polizisten wollen glauben, dass der berühmte Detektiv die Erfindung eines Schriftstellers ist. Erst als Sir Arthur Conan Doyle persönlich für Aufklärung sorgt, werden die als Hochstapler und Betrüger angeklagten Charaktere von Hans Albers und Heinz Rühmann freigesprochen.
Erscheinen literarische Figuren in Serien, wie etwa Batman oder J. R. Ewing, so tritt ein weiterer Effekt auf, der sie real lebenden Personen noch ähnlicher werden lässt. Sie verändern sich mit der Zeit, reifen und werden durch den gesammelten Erfahrungsschatz des Betrachters interessanter. Dies macht den Zauber von Serienhelden aus und fesselt die Anhänger von Seifenopern weltweit teilweise über Jahre und Jahrzehnte hinweg. Ähnlich wie bei historischen Personen, zu denen neue Quellen auftauchen, verbreitert sich die empirische Basis bei fiktiven Figuren im Laufe der Zeit immer weiter, wodurch der Effekt der Vertrautheit stetig zunimmt. Historische Figuren wie Arminius der Cherusker, Kolumbus, Dietrich von Bern, Xerxes, Kaspar Hauser oder der Schinderhannes treten uns darüber hinaus in den gleichen Medien entgegen wie ihre erfundenen Gegenstücke, nämlich in Büchern Filmen und Bildern, die meist erst lange nach dem Tod der historischen Personen entstanden sind.
Der Film als literarisches Medium legt Geschichten bestimmte Beschränkungen auf, die vor allem damit zu tun haben, dass nur eine bestimmte Anzahl von Minuten zur Verfügung steht, was den Film grundsätzlich von Romanen, insbesondere von ganzen Reihen wie "A Game of Thrones," oder auch mündlichen Erzählungen unterscheidet. Die Erzählungen von "Tausendundeine Nacht" sind auch aus diesem Grund so gut wie unverfilmbar - es sei denn als TV-Serie.
Die meisten kommerziell erfolgreichen Filme dauern bekanntlich zwischen sechzig Minuten und zwei Stunden. In dieser relativ kurzen Zeit müssen alle Aspekte einer Geschichte erfüllt werden, sodass die zentrale inhaltliche Botschaft erfolgreich übermittelt werden kann.
Daher ist es kein Zufall, dass der moderne Film, vor allem der populäre, amerikanische, industriell hergestellte Film, zu einer optimierten und stets wiedererkennbaren Form gefunden hat, die etwas protzig "Blockbuster" genannt wird.10
Diese Art der Geschichte folgt zumeist einer Struktur aus drei Akten. Zudem weist sie eine klare Erzählperspektive auf, indem sie zwischen Protagonist und Antagonist unterscheidet und sie transportiert die Botschaft der Geschichte in einem Haupt- und einem Nebenstrang der Erzählung, die sich gegen Ende des zweiten Aktes miteinander vermischen. Die Antagonisten in diesen Erzählungen haben ihren Platz am Anfang und am Ende der Geschichte. Am Anfang treten sie in die Welt des Helden ein und zwingen ihn zum Handeln. Am Ende stehen sie dem Helden gegenüber und werden zur Rechenschaft gezogen.
Antagonisten dominieren den ersten und den dritten Akt mehr als den zweiten Akt, denn dort geht es um den Protagonisten, der Allianzen schmieden oder sich zeitweise zurückziehen muss, um sich schließlich doch gegen den Antagonisten zu verteidigen. Je mächtiger ein Antagonist im Film erscheint, desto stärker ist sein Auftreten im ersten und im dritten Akt und desto tiefer ist gegebenenfalls sein Sturz am Schluss der Geschichte.
Es ist viel über die Aktstruktur von Filmen geschrieben worden. Für die Zwecke des Lexikons der Antagonisten ist es ausreichend, den ersten Akt, der relativ kurz sein kann, als "Alte Welt” zu bezeichnen. Hier wird die Perspektive des Protagonisten etabliert und der Antagonist angekündigt. Der zweite Akt greift die Alte Welt an. Dies geschieht derart, dass der Protagonist gezwungen wird, sich dem Antagonisten in der einen oder anderen Form zu stellen, was eine "Neue Welt” erzeugt. Der Konflikt gipfelt im Höhepunkt des Aktes. Der dritte Akt verbindet Alte und Neue Welt und schildert die Wiedergeburt von Gleichgewicht und Harmonie. Wie schon Joseph Campbell und Syd Field vor ihm, hat Blake Snyder diese vielfach diskutierte Aktstruktur auf einzelne Geschichten zurückgeführt und daraus Archetypen entwickelt.11
Die Alte Welt eines Protagonisten gerät häufig deshalb ins Ungleichgewicht, weil ein Antagonist danach strebt, diese Welt nach seinen Vorstellungen zu verändern. Antagonisten stehen häufig für den Fortschritt oder Wandel und für den Beginn von Ereignissen. Helden sind dagegen oft im wahrsten Sinne des Wortes reaktionär und wollen oder müssen einen Status Quo Ante wieder herstellen.
Aus diesem Grund sind so viele berühmte Schurken im Film Visionäre und Wissenschaftler, die mit ihren Experimenten über das hinausgehen, was die Allgemeinheit zu akzeptieren bereit ist. Auch Unternehmer eignen sich sehr gut für Antagonisten, denn sie stehen für den bedrohlichen Fortschritt, dem normale Menschen ausgeliefert sind, da für sie keine Aussicht besteht, bald von diesem Fortschritt zu profitieren.
Da kommerzielle Filme Massenware sind und den Geschmack der Mehrheit der Bevölkerung bedienen sollen, darf es nicht verwundern, wenn die Botschaft vieler Blockbuster auch die Befürchtungen und Vorurteile der Mehrheit bedient. So gilt beispielsweise "Geld ist böse," "Wissenschaft ist gefährlich," "sozialer Wandel ist schlecht" oder "gottlos zu leben ist Sünde." Schurken und verrückte Weltveränderer wie Doktor No, Goldfinger, Senator Palpatine und Magneto sehen derlei mit vollkommen anderen Augen. Sie streben danach, die Welt aktiv zu "optimieren,” wohl wissend, dass im Zuge dieser Veränderungen Menschen geopfert werden. Starke Schurken in Blockbustern folgen der Devise "Wo gehobelt wird, da fallen Späne." Eine Sentenz, in der die Philosophin Hannah Arendt die Wurzel allen Terrors zu erkennen glaubte.12
Die Frage, welche Art von Geschichte wir hören werden, ist vermutlich ebenso alt wie die Tradition, zu bestimmten Anlässen und Festtagen Geschichten zu erzählen. Die Motivation, diese Frage zu stellen, hat mit der Erwartungshaltung des Publikums zu tun und dem Wunsch, sich auf die Stimmung der Geschichte einstellen zu können. Viele Antworten sind auf diese Frage denkbar. Möglicherweise lautete die Antwort in der Steinzeit zum Beispiel: "Eine Geschichte über die Jagd auf Wildpferde," also eine Antwort, die das Thema betrifft.
Heutzutage könnte es aber auch eine Antwort sein wie etwa: "Eine Geschichte mit Jackie Chan" oder "eine Geschichte mit den Marx Brothers." Diese Antworten rücken die Darsteller in den Vordergrund und verraten kaum etwas über die dramatische Handlung, wenn man die erwähnten Namen nicht kennt. Dennoch ist die Information "etwas von den Marx Brothers" durchaus exakt, denn wir wissen schon, dass Harpo seine Streiche schweigend spielen wird, Chico den kontaktfreudigen italienischen Einwanderer mimen und Groucho mit aufgemaltem Schnauzer und Zigarre vornehme Damen beleidigen wird. Wahnwitzige Dialoge und Slapstick-Situationen werden sich mit Harfen- und Klaviermusik abwechseln und zum Schluss gewinnen die Underdogs allen Intrigen und Hindernissen zum Trotz gegen die inkompetenten Schurken, die sich unrechtmäßig bereichern wollten.
Wer jedoch Stars wie Sylvester Stallone, Hugh Grant, Bud Spencer oder Whoopie Goldberg nicht kennt, die für eine bestimmte Richtung stehen, ist auf andere Kategorien angewiesen, die das Wesen der zu erwartenden Geschichte ausreichend genau beschreiben. Die geläufigsten sind:
Fantasy
Comedy
Action
Romanze
Thriller
Drama
Krimi
Kaiju
Krieg
Biographie
Horror
Musical
Sci-Fi
Familie
Abenteuer
Mystery
Martial Arts
Western
Historie
Film-Noir
Häufig werden auch folgende Kategorien als Genre verstanden, obgleich sie eher formale als inhaltliche Beschreibungen sind und die Machart, Länge oder die Präsentationsform betreffen:
Nachrichten
Reality-TV
Dokumentarfilm
Talk-Show
Animation
Kurzfilm
Werbeclip
Sport
Dennoch vermitteln alle diese Kategorien eine ungefähre Vorstellung davon, welche Art von Konflikt in der Geschichte auftreten wird, und welche Art von Produktionsdesign zu erwarten ist. In gewisser Weise kann man daher sogar argumentieren, dass die Filme von Quentin Tarantino ein eigenständiges Genre bilden, denn Genre bedeutet Vorhersehbarkeit.
Das Problem der Genre-Bezeichnungen liegt darin, dass es sich dabei nicht um gleichrangige Kategorien handelt. Im Fantasy-Genre zum Beispiel werden mit Sicherheit böse und gute magische Systeme aufeinander prallen – aber werden sie es auf lustige oder grausame Weise tun? Daher werden die Bezeichnungen oft miteinander kombiniert, wie etwa zu Western-Komödie, Action-Thriller und Horror-Parodie.
Andererseits ist so gut wie jede Geschichte ein Produkt des Fantasy-Genres, wenn auch im weitesten Sinne. Die Ideen des Erzählers erscheinen wie durch Zauberhand direkt im Geist des Lesers oder Zuschauers, oftmals Jahrzehnte oder sogar Jahrtausende später. Längst verstorbene Charaktere erwachen zum Leben und durchleiden immer wieder auf ein Neues ihre Abenteuer. Magie ist allgegenwärtig, in Kinderbüchern, Sagen und Märchen, ebenso wie in Thrillern und Science Fiction. Träume und Zufälle, poetische Gerechtigkeit, fremde Lebensformen, technische Wunderwaffen und übersinnliche Erfahrungen sind nicht auf das Fantasy-Genre im engeren Sinn beschränkt.
All diese und noch viele weitere Genres kann man indessen zwei Strömungen zu Grunde legen, die auf die Poetik des Aristoteles zurückgehen. Er setzte voraus, dass es immer die Aufgabe der Kunst sei, das Leben darzustellen. Damit unterschied er zwei wesentliche Typen von Geschichten: Solche, in denen die Figuren edler, stärker und wahrhaftiger sind als im tatsächlichen Leben und solche, in denen die Figuren dümmer, aggressiver und moralisch schlechter sind. Die erste Art von Geschichte nannte er Tragödie, die zweite Komödie.13 Shakespeare indessen vertrat die Ansicht, dass Komödien durch einen glücklichen Ausgang gekennzeichnet seien, während Tragödien den Tod der wichtigsten Figuren mit sich brächten. Beide Ansätze sind für die Analyse der Beziehung zwischen Protagonisten und Antagonisten fruchtbar. So kann eine Geschichte oder ein Akt einer Geschichte für die eine Partei eine Komödie sein und für die Gegenpartei gleichzeitig eine Tragödie. Diese Aufteilung kann sich wiederum je nach Akt beliebig oft wenden.14
Der Begriff des Gegenspielers, Wettstreiters oder Widersachers – so die wörtliche Bedeutung des griechischen Wortes antagonistes – bringt es mit sich, dass eine Vielzahl von literarischen Typen geeignet ist, dieses Etikett zu tragen, wie etwa Schurken in typischen Hollywood-Blockbustern, Monster und Ungeheuer, Außerirdische und in gewisser Weise sogar Naturkatastrophen und Sagengestalten. Es können aber auch Partner, Freunde und Verwandte die zentrale Funktion des Antagonisten erfüllen, die darin besteht, einem Katalysator gleich, das Leben des Helden zu verändern und seine Geschichte in Gang zu setzen.
Katalysatoren beschleunigen oder vereinfachen chemische Vorgänge ohne sich selbst zu verändern. Mit Blick auf Geschichten bedeutet dies, dass Antagonisten nicht zu sehr im Vordergrund der dramatischen Wandlung stehen dürfen, da die Geschichte nicht aus ihrer Perspektive erzählt wird.
Die gängige Vorstellung lautet, dass Geschichten eine Veränderung im Leben des Protagonisten aus dessen Perspektive zeigen. Der Protagonist sei derjenige, dessen "Geschichte erzählt" wird, der im zweiten Akt dominant auftritt und der sich am deutlichsten wandelt. Für die Antagonisten sei Wandlung jedoch nicht immer notwendig. Ein Beispiel dafür ist Reginald Jeeves, der seinem etwas naiven und ungeschickten Arbeitgeber Bertie Wooster nach außen hin zur Seite steht, ihm aber in Bezug auf Fragen modischer Experimente oft sturen und gar schurkischen Widerstand leistet. Bertie Wooster kommt im Verlauf der Geschichten immer wieder erneut zu der Einsicht, dass Jeeves von Anfang an Recht hatte.
Es gibt zahlreiche Antagonisten, die keine Schurken oder Monster im engeren Sinn des Wortes sind, sondern Freunde, Verwandte, Partner, Helfer oder Nachbarn. Eine solche Beziehung pflegen beispielsweise Don Camillon und sein Lieblingsfeind Peppone oder Doktor Faust und Mephisto. Das Problem mit der Hypothese des sich wandelnden Protagonisten ist, dass sich sehr viele Gegenbeispiele besonders für Helden finden lassen, die sich überhaupt nicht verändern. So wandeln sich Helden wie James Bond oder Dirty Harry weder im Verlauf einer einzelnen Geschichte, noch über mehrere Abenteuer hinweg.
In vielen gut erzählten Geschichten andererseits wandeln sich sogar alle Figuren auf die eine oder andere Weise, sodass der Aspekt der Entwicklung nur bedingt dazu taugt, zwischen Antagonisten und Protagonisten zu unterscheiden. Viel tauglicher ist die erzählte Perspektive und die Frage, mit wessen Augen der Leser oder Zuschauer die Handlung sieht und erlebt. Wessen Perspektive teilen möglicherweise Millionen von Zuschauern?
Darüber hinaus ist zu beachten, dass Jeeves etwa nicht der einzige Antagonist des Bertie Wooster ist. Tanten, Verlobte, alte Schulfreunde, Nachbarn, Richter und Freundinnen machen dem schusseligen britischen Aristokraten das Leben schwer. Daraus kann man eine zweite Definition des Protagonisten ableiten, nämlich dass die Hauptfigur einer Geschichte diejenige ist, die am meisten voneinander unabhängige Gegenspieler hat.
Man möchte schließlich einwenden, dass auch die Antagonisten die Hauptfigur ihrer eigenen Geschichte seien. Doch die Erzählperspektive, das Machtmittel des Erzählers, blendet diese potenzielle Vielfalt aus und stellt allein den Protagonisten prominent dar. Mit veränderten Vorzeichen würde eine andere Art von Geschichte entstehen, zum Beispiel das Märchen von Rotkäppchen aus der Sicht des Wolfs.
Damit ist die Frage, wer Antagonist und wer Protagonist sei, aus Sicht der Zuschauer fast immer eindeutig zu beantworten. Selbst wenn tatsächlich jede Figur einer Geschichte aus ihrer Sicht die Hauptrolle spielt und wenn die Frage nach gut oder böse nicht immer klar zu beantworten ist.
Anders wäre auch die Motivation von Antagonisten nicht zu erklären. Immerhin sind es zumeist die Antagonisten, die eine Geschichte auslösen, indem sie aktiv werden. Eine vollkommene Ausgewogenheit zwischen Protagonist und Antagonist ist daher erzählerisch nicht sinnvoll, auch wenn einige Geschichten es dem Zuschauer schwer machen, sich für eine Figur zu entscheiden, wie etwa in "Samurai III. Duel at Ganryu Island."Hier treffen zwei mehr oder weniger ehrenwerte Schwertkämpfer aufeinander, die nicht für gegensätzliche Wertesysteme stehen. Sie sind beide Angehörige der Kriegerkaste und gehören beide zur gleichen Welt. Trotzdem bekämpfen sie einander auf Leben und Tod.
Man kann drei grundsätzliche Konstellationen zwischen Antagonisten und Protagonisten beobachten.
In der Konfliktstellung stehen Antagonist und Protagonist einander gegenüber wie bei einem Duell und lösen ihren Konflikt durch Konfrontation.
In der Konkurrenzstellung rennen Antagonist und Protagonist um die Wette auf das gleiche Ziel zu wie bei vielen Geschichten um Schatzsuchen.
In der Verfolgungskonstellation wird der Protagonist vom Antagonisten – oder andersherum, beziehungsweise im Wechsel – verfolgt wie in Thrillern und Krimis.
Eine vierte denkbare Konstellation ist für dramatisches Erzählen nicht geeignet, auch wenn sie im tatsächlichen Leben hin und wieder existiert, nämlich das Auseinanderstreben zweier Figuren, die einander aus dem Weg gehen, um einen Konflikt oder eine Eskalation zu vermeiden. Filmisches Erzählen benötigt Konfrontationen und Wettstreit. Antagonisten und Protagonisten müssen miteinander ringen und die Aufgabe des Erzählers ist es, diesen Konflikt möglichst facettenreich und mitreißend zu gestalten. Der Protagonist ist dabei diejenige Figur, aus deren Perspektive heraus die Geschichte erzählt wird. Daher muss der Antagonist zumindest von seiner Motivation her so plausibel geschildert werden wie möglich. Je mehr der Leser oder Zuschauer von der Motivation einer Figur weiß, desto mehr Sympathie kann er mit dieser Figur haben. Ein Konflikt ist gut erzählt, wenn der Zuschauer wie ein Richter beide Sichtweisen nachvollziehen kann und für beide – oder keine – Seite ein gewisses Verständnis entwickeln kann. Das Urteil fällt im dritten Akt.
Aus all dem entwickelt sich ein bemerkenswertes Phänomen der Filmgeschichte, nämlich die allmähliche Verwandlung der klassischen Antagonisten in moderne Protagonisten. Die Monster von gestern werden zu den Helden von morgen. Sehr gut zu erkennen ist dieser Wandel am Beispiel der Vampire. In frühen Filmen wurden Vampire als fremdartige Lebensformen dargestellt, gegen die sich die Menschen zur Wehr setzen mussten. Je ausgefeilter die Vampire dargestellt wurden und je mehr über sie bekannt wurde, desto attraktiver wurden sie für die Rolle von Protagonisten, wie etwa die Vampire der Twilight-Serie. Das gleiche Phänomen ist für Mutanten, Auftragsmörder, Dämonen und andere klassische Monster und Feinde zu beobachten, die zunehmend als Protagonisten dargestellt werden. Sogar Zombies sind inzwischen im Begriff, die Grenze von Monster zu Protagonist zu überschreiten, weil mehr über ihr Innenleben bekannt ist. Das macht sie zu attraktiven Vehikeln der Erzählperspektive und da die industriell organisierte amerikanische Filmwirtschaft ständig nach Neuem sucht, das dennoch ans Alte erinnert, geraten die Antagonisten von gestern geradezu zwangsläufig in die Rolle der Protagonisten von morgen.
Schon immer waren Antagonisten dafür geeignet, als Titelhelden aufzutreten. Doch Figuren wie Dracula blieb die Erzählperspektive lange versagt. Mochten sie noch so dominant für den Verlauf der Ereignisse sein wie der Verbrecherkönig und Terrorist Fantomas, so blieben sie dennoch Antagonisten, da die Ereignisse aus der Sicht von moralisch weniger risikofreudigen Charakteren geschildert wurde, die oft schnell wieder in Vergessenheit gerieten.
Dies trifft auch auf die Abenteuer des Sherlock Holmes zu, der wesentlich weniger moralischen Zwängen unterliegt als sein bürgerlicher Freund und Partner Doktor Watson, aus dessen Perspektive die Abenteuer erzählt werden. Wenige Leser kämen auf die Idee, den Doktor als Hauptfigur der Kriminalfälle zu bezeichnen.
Gute Antagonisten müssen, wenn sie ihre Funktion als Katalysatoren optimal erfüllen sollen, an eine Urangst der Zuhörer rühren.15 Diese Verbindung kann auf wenige Archetypen zurückgeführt werden, die über die mehr als hundertjährige Geschichte des Films ebenso konstant geblieben ist wie darüber hinaus, wenn man in die Vergangenheit von Oper, Roman, Märchen, Mythos und Theater blickt. Urängste sind immer mit körperlicher oder seelischer Bedrohung verbunden, mit Existenzangst und mit einem Amoklauf der Fantasie. Sie sind ein Ausdruck des Lebenswillens und der Frage, ob Kampf oder Flucht sinnvoll sei. Berührt ein Antagonist eine solche Stelle im Empfinden der Zuschauer oder Leser, ist das Potenzial einer großen Geschichte geweckt. Urängste werden durch Unbekannte oder technisch, geistig oder körperlich Überlegene ausgelöst. Diese Angst hat der Protagonist anstelle des Zuschauers zu überwinden.16
Das traditionelle Geschichten erzählen gerät aus diesen Gründen geradezu zwangsweise in ein bestimmtes Fahrwasser und stellt Antagonisten in Bezug auf den Protagonisten häufig so dar, dass zunächst einmal ein Alters- und Prestigeunterschied entsteht. Alt gegen Jung ist ein archetypischer Konflikt, mit dem jeder Zuschauer oder Zuhörer etwas anfangen kann.
Die Identifikation des Zuschauers mit dem Jüngeren ist fast zwangsläufig, verbindet sich mit dem Begriff der Jugend doch eine Vorstellung nicht nur von Dynamik, liebenswerter Naivität, Unverbrauchtheit und physischer Schönheit, sondern auch eine Vorstellung von biographischer Zukunft. Antagonisten sind daher häufig älter, reicher und kultivierter als die Protagonisten.17 Sie verkörpern die abtretende Generation, ganz analog zu dem von Sigmund Freud erkannten, beziehungsweise konstruierten Ödipus-Schema. Der junge König löst den alten König ab, denn Vatermord ist eine reale Option innerhalb des Mythos. Auch Intrigen, Prüfungen und Verrat durch die Tochter des Königs sind uralte Motive, die stets wiederkehren. Es ist eine Grundregel von literarischen Dramen, dass Machtpositionen gleich welcher Art attackiert werden. Urängste spielen sich dabei auf beiden Seiten des Konflikts ab. Entscheidend für die sich entwickelnde Dynamik einer Geschichte ist, dass sowohl Protagonist als auch Antagonist ineinander Gegner erkennen, während die Nebenfiguren die Konfliktstellung zunächst nicht wahrnehmen.18
Ein statistisch ermittelter Standard-Antagonist wäre männlich, wohlhabend, intelligent und gebildet. Auffallend viele Antagonisten verfügen über einen höheren Hochschulabschluss wie Professor Moriarty, Dr. No, Dr. Evil oder Dr. Mabuse, um nur einige zu nennen. Des Weiteren haben sie körperliche Auffälligkeiten, etwa durch Narben, Prothesen, Falten oder Gebrechen. Sie sind ferner gewaltbereit und haben fast immer etwas zu verbergen.
Doch noch ein Wort zu den Heldinnen. Erst mit der Romantik und der Moderne, und auch hier noch gar nicht so lange, kamen aktive und rebellische Frauengestalten wie Calamity Jane in Mode. Miss Marple ist, abgesehen von mittelalterlichen Heiligen, möglicherweise die erste richtige Protagonistin der Weltliteratur, die ausreichend interessant für eine ganze Serie von eigenen Geschichten war. Doch der Trend zur Gleichberechtigung ist keineswegs irreversibel. Während Disney mit seinen Prinzessinnen Cinderella, Pocahontas oder Arielle eine ganze Reihe von weiblichen Hauptfiguren zur Auswahl stellt, akzeptiert Pixar beispielsweise praktisch keine Stoffe mit einer weiblichen Hauptrolle. Doch insgesamt nehmen weibliche Hauptrollen zahlenmäßig zu. Lara Croft, Cat Woman, Supergirl und deren jeweilige Klone stürmen die Leinwand und die Bildschirme, freilich mit wechselndem Erfolg wie bei ihren männlichen Kollegen auch.
Die drei zentralen Konfliktebenen in Geschichten sind Mensch gegen Mensch, Mensch gegen Natur und die Inneren Kämpfe eines Menschen. Es gilt auch eine Kombination daraus, denn jede wirklich gute und vor allem kommerziell erfolgreiche Geschichte bietet einen Mix aus allen drei Ebenen, wobei jedes Mal ein Symbol für diesen Kampf gefunden werden muss. So hat Luke Skywalker gegen die Unwirtlichkeit von fremden Planeten zu kämpfen, wie riesige Frostwelten oder sumpfige Urwälder. Außerdem muss er die Soldaten des Imperiums und vor allem seinen eigenen Vater in Schach halten und, das ist der vielleicht schwierigste Kampf, mit seiner Rolle als Jedi zurechtkommen oder in anderen Worten mit der Macht, die ihn durchdringt und die fortan sein Leben bestimmt.
Geschichten, bei denen der Antagonist ein innerer Dämon des Protagonisten ist, sind in vielerlei Hinsicht mit den Theorien Sigmund Freuds über die Trias von Ich, Über-Ich und Es erklärbar, wobei der Protagonist stets die Rolle des Ich übernimmt, während die Antagonisten im Über-Ich oder im Es zu suchen sind. Beispiele für diese Konstellation sind etwa Alfred Hitchcocks "Psycho" und die Geschichte des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Norman Bates leidet unter einer dominanten Mutter, die ihm einredet, dass alle Frauen, außer ihr selbst, moralisch verwerflich seien. Sie steht damit für eine krankhafte Version des Über-Ich, also einer Kompilation von Regeln und Vorstellungen, die mittels rationaler oder quasi-rationaler Erklärungen einen Einfluss auf das Verhalten des Ichs haben. Dr. Jekyll auf der anderen Seite versucht, das Es seiner Person zu befreien.
Auch Dr. Caligari unternimmt einen ähnlichen Versuch, indem er seine Patienten durch Hypnose auf das Unterbewusstsein zu reduzieren versucht. Beide, Dr. Jekyll und Dr. Caligari, sehen im Triebhaften und im Vegetativen des Menschen den wahren Antagonisten der Vernunft und des Humanum. Sie versuchen, diese Urkraft freizusetzen. Das Ergebnis, Mr. Hyde oder der Hulk, ist zum Inbegriff des Inneren Dämonen geworden, der sich selbständig macht und sich gegen seinen Meister aufzulehnen beginnt. Die Werwölfe sind ebenso ein Beispiel für das, was Sigmund Freud als das Triebhafte sah, das sich der Kontrolle der Vernunft und der Kultur entzieht, ebenso wie das Bildnis des Dorian Gray.
Es gehört zu den Privilegien der Filmschurken, dass sie einen Monolog halten dürfen, meistens direkt vor ihrem Ende und / oder wenn sie den Helden in ihre Gewalt bekommen haben. Vor allem in James Bond Filmen ist diese rhetorische Disziplin zu besonderer Reife gekommen. Etwa, wenn Goldfinger auf die Frage von Bond, ob er erwarte, dass Bond reden würde, antwortet: "Nein, Mr. Bond, ich erwarte, dass sie sterben."
William M. Akers ging in seinem Werk über das Drehbuchschreiben "Your Screenplay Sucks!" so weit zu behaupten, dass ein Film ohne Schurken-Monolog prinzipiell fehlerhaft sei. Und er hat Recht. Ohne diese Monologe würde etwas fehlen, denn die Schurken sind eine Hauptattraktion jeder Geschichte. Ohne sie hätten die Helden keine Chance, ihr Potenzial zu entfalten. Thulsa Doom erklärt Conan, dem Barbaren, diese Macht: "What is steel compared to the hand that wields it?"
In ihren Monologen offenbaren Schurken ihre Weltsicht und ihre Motivation, wie zum Beispiel Salieri, der Mozart, freilich erst nach Vollendung der Messe, töten will oder Bill the Butcher, der Anführer einer der "Gangs of New York," der von der disziplinierenden Wirkung der Angst auf seine Anhänger spricht. Andere, beispielsweise Cruella De Vil, sind nur an der Vervollständigung ihrer Garderobe interessiert, doch die meisten Schurken sind Visionäre, wie zum Beispiel Ra's Al Ghul, ein moderner Nero, der Gotham City neu errichten will. Die meisten Schurken sind Darwinisten, deren Ethos sich gegen das idealistische und somit zutiefst anti-darwinistische Hollywoodkino richtet. Die Ironie liegt darin, dass die großen Studios exakt nach den Prinzipien Macchiavellis geführt werden, also nach den Regeln Darth Vaders und nicht nach denen der Jedi Ritter.
Konsequenterweise sind die meisten Schurken Atheisten, ein weiteres Feindbild des klassischen Amerika. Besonders deutlich wird dies in "The Devil's Advocate." Al Pacino spielt darin den Teufel, der auf der Erde eine Anwaltskanzlei betreibt, mittels derer er die Übeltäter der Welt unterstützt. Als sein Sohn, ein moralischer Antichrist, die Unternehmensnachfolge nicht antreten will, offenbart der Teufel ihm etwas Neues über Gott den Herrn:
"Let me give you a little inside information about God. God likes to watch. He's a prankster. Think about it. He gives man instincts. He gives you this extraordinary gift, and then what does He do, I swear for His own amusement, his own private, cosmic gag reel, He sets the rules in opposition. It's the goof of all time. Look but don't touch. Touch, but don't taste. Taste, don't swallow. Ahaha. And while you're jumpin' from one foot to the next, what is he doing? He's laughin' His sick, fuckin' ass off! He's a tight-ass! He's a SADIST!"
Einer der schönsten Monologe findet aber nicht am Rand der Hölle, sondern ganz schlicht auf einem Riesenrad statt. Orson Welles spielt einen totgeglaubten Schmuggler, der in "Der dritte Mann" darüber sinniert, welchen Wert das menschliche Leben hat:
"You know what the fellow said – in Italy, for thirty years under the Borgias, they had warfare, terror, murder and bloodshed, but they produced Michelangelo, Leonardo da Vinci and the Renaissance. In Switzerland, they had brotherly love, they had five hundred years of democracy and peace – and what did that produce? The cuckoo clock."
Einer der besten Monologe in Verteidigung der typischen Schurkeneigenschaft Gier wird von Gordon Gekko gehalten, einem korrupten Finanzier der "Wall Street." Der entscheidende Satz lautet:
"The point is, ladies and gentleman, that greed – for lack of a better word – is good. Greed is right. Greed works. Greed clarifies, cuts through, and captures the essence of the evolutionary spirit."
Neben der Tatsache, dass Bösewichter häufig über einen höheren Bildungsgrad verfügen als die ihnen zugeordneten Protagonisten, fällt auf, dass viele kahlköpfig sind. Die Glatze ist eine symbolgeschichtlich interessante Erscheinung und natürlich auch eine schlichte Maßnahme der Kostümierung, um einen optischen Unterschied zum Protagonisten herzustellen.
Tatsächlich ist es so, dass Ausstatter und Designer sich für ihre Filme immer neue Arten von Glatzen überlegen müssen, die bedrohlich wirken, wie etwa im Fall der Klingonen, deren Glatzen im Verlauf der Star Trek Evolution immer mehr Rippen und Rillen bekommen. Wenn Patrick Stewart, der selbst eine Glatze trägt, mit kahlköpfigen Monstern wie der Borg-Königin konfrontiert wird, muss das Produktionsdesign dafür sorgen, dass Unterschiede erkennbar sind.
Zwar sind viele Neugeborene kahlköpfig, doch ist die Glatze eher ein Symbol für Alter und Männlichkeit. Diese beiden Aspekte sind für viele Monster von zentraler Bedeutung, wie etwa für Eli Damaskinos, ein uralter Vampir, der seinen Sohn mit einem Virus infiziert, um die Rasse der Vampire zu stärken. Auch die "Hellraiser," Gollum und der Kurgan aus "Highlander" sind uralte Wesen, deren Geheimratsecken mit diesen Attributen unzertrennlich verbunden sind. Xerxes aus "300" schmückt seine Glatze mit Perlenketten, die seine Dekadenz zum Ausdruck bringen sollen. Doch das ist bei Monstern mit Glatze eher unüblich. Die Glatze ist ein Bekenntnis zu radikaler Vereinfachung und Schlichtheit. Sie ist eine Reduktion auf das Wesentliche. In der Filmgeschichte war dies ein geradezu notwendiger Schritt, da die Schurken ja, anders als ihre Gegenspieler, die Helden, häufig rücksichtslose Individualisten und Egoisten sind.
Die rituelle Kopfrasur war bereits in der Antike und im Mittelalter ein Symbol der Entschlossenheit. Fromme Ritter schoren sich die Köpfe, ehe sie in die Schlacht zogen. Nonnen, Mönche und tibetanische Adepten, ließen sich den Kopf rasieren, wenn sie ins Kloster eintraten, während sich ägyptische Priester nicht rasierten, sondern die Haare ausrissen. Der kahle Kopf symbolisiert seit uralten Zeiten Unumkehrbarkeit und den Eintritt in ein neues Regelsystem. Besonders in der Filmwelt steht die Glatze für eine gewisse Radikalität und den bewussten Verzicht auf die Normenwelt der Haar tragenden Mehrheit. Dies trifft vor allem auf die Welt der Frauen zu, wo die Glatze ein noch viel stärkeres Signal ist als bei den Männern.
Manche Monster und monströse Gegner des Guten haben ihre Haare entweder verloren oder bewusst abrasiert. Zu Letzteren gehören beispielsweise Bane aus "Batman" oder Gru, der "Despicable Me." Viele Mutanten oder Monster haben keine Haare, wie die Vampire Eli Damaskinos und Nosferatu oder das "Alien" Xenomorph. Anderen Kahlköpfen, wie Lord Voldemort, Red Skull oder Mr. Freeze, sind die Haare wiederum im Zuge ihrer Experimente ausgefallen. Das berührt einen anderen Aspekt der Glatze, nämlich das Symptom einer schweren – moralischen – Vergiftung. Zu dieser Gruppe gehört auch Gollum, der von der schwarzen Magie des Rings der Macht korrumpiert wurde und sein Leben auf unnatürliche Art und Weise verlängert. Dies ist wiederum ein zentrales Attribut klassischer Schurken. Dracula, Darth Vader, Voldemort, Mr. Freeze und der Mutant Apocalypse lehnen sich alle gegen den Lauf der Natur auf und streben nach Unsterblichkeit.
Des Weiteren ist die Glatze einerseits ein Attribut von Mavericks, also Figuren, die es mit Regelwerken nicht so genau nehmen. John McClane aus "Stirb langsam" ist ein solcher Typus, ebenso wie Raymond Reddington aus "Blacklist," Jason Statham als "Transporter" oder Denton Van Zan aus "Reign of Fire." Auch Vin Diesel ist als "Riddick" ein Helden-Schurke, dem es gelingt, sich die Invasionsarmee seiner Feinde untertan zu machen. Andererseits bleiben Glatzköpfe als Kulturphänomen natürlich auch reine Bösewichter. Einige Beispiele hierfür sind Dr. Evil, Fantomas, Lord Voldemort, Obadiah Stane, John Doe oder Bullseye. Von all diesen ist John Malkovich durch viele seiner Rollen vielleicht zum Inbegriff des glatzköpfigen Schurken geworden: Kahl, intelligent, gebildet, sarkastisch und rücksichtslos.
Neben der Glatze ist eine weitere Äußerlichkeit unter Schurken weit verbreitet, nämlich die Farbe Schwarz.19 Warum verbinden die Menschen moralische Eigenschaften mit Farben? Ist es geistige Bequemlichkeit oder ist es ein Relikt aus prä-alphabetischen Phasen unserer kulturellen Entwicklung? Oder ist es eine geniale Kombination zweier Gefühle, beziehungsweise Wahrnehmungen, die sehr subjektiv sind, die aber objektiv daherkommen?