Liebe 1968 - Alexander Bunde - E-Book

Liebe 1968 E-Book

Alexander Bunde

4,9

Beschreibung

Emil ist engagiert und ehrgeizig. Er sieht gut aus, sein Leben ist abwechslungsreich, in seiner Freizeit steigt er gerne in den Boxring. Und er sucht nach neuen Wegen, um nach oben zu kommen. Durch die Begegnung mit der vornehmen Anne erfährt sein Leben eine entscheidende Wendung. Eine leidenschaftliche Liebesbeziehung beginnt. Als sich Anne aufgrund eines Missverständnisses von ihm trennt, verliert er die Orientierung. Er geht immer mehr Risiken ein, legt sich mit seinem Vorgesetzten an und setzt sein Leben im Boxring aufs Spiel. Andere Frauen kreuzen seinen Weg und er flüchtet in erotische Abenteuer. Doch die Beziehungen enden nach kurzer Zeit, noch immer fühlt er sich mit Anne verbunden. Höhen und Tiefen zeichnen seinen Lebensweg, bevor er Anne schließlich wiedersieht. Eine vage Ahnung wird zur umwerfenden Gewissheit.

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Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen wäre rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Wenn Du auch in die Höhe führest wie ein Adler und machtest Dein Nest zwischen den Sternen, dennoch will ich Dich von dort herunterstürzen, spricht der HERR.

Prophet Obadja

1.

Die Sonne versteckte sich hinter einer milchigen Wolkendecke, die Straßen, ja, die ganze Stadt schien in einem eintönigen Grau zu versinken. Menschen hasteten mit eingezogenen Köpfen dahin, um sich vor Kälte und dem beißenden Wind zu schützen. Emil Weinberger fröstelte, als er sich an diesem kalten Märzmorgen hinter das Steuer seines Wagens klemmte und den Motor startete. Er stieg kräftig aufs Gas, denn seit einigen Tagen wachte sein Chef wie ein Cerberus auf sein Erscheinen, um eventuelle Unpünktlichkeiten zu ahnden. Emil war in einem Unternehmen beschäftigt, das mit Baumaschinen beim Wiederaufbau des zerstörten Wien nach dem Zweiten Weltkrieg gutes Geld verdient hatte. Seine Aufgabe war die Abrechnung von Werkstattarbeiten, ein Job, der Fachkenntnis und Genauigkeit erforderte. Was seine Arbeit zusätzlich erschwerte, war die schlechte Lesbarkeit der ölverschmierten Aufzeichnungen der Meister und Mechaniker.

Es mochte kurz vor acht Uhr gewesen sein, als er den großen Wagen in einer Parklücke abstellte und durch die breite Einfahrt des Firmengeländes trat. Er schritt an den im Hof abgestellten Maschinen vorbei zum Bürogebäude, das sich in einem Seitentrakt befand, stieg schnell in den ersten Stock, ging einen langen schmalen Korridor entlang und öffnete die letzte Türe. Kaffeegeruch und Zigarettenrauch strömten ihm entgegen, als er seine beiden Kollegen begrüßte. Da er nirgends seinen Chef erblicken konnte, wollte er schon erleichtert seinem Schreibtisch zustreben, als sich eine Tür an der hinteren Wand des Büros öffnete und Gustav Kumpf, sein Chef, den Raum betrat. Sein schmales, glatzköpfiges Haupt wurde von zwei stechenden, tiefliegenden braunen Augen dominiert, die umso mehr auffielen, da seine Augenbrauen fast nicht sichtbar und sein Mund schmallippig war. Kumpf hatte an der rechten Schläfe eine schräg verlaufende, circa fünf Zentimeter lange Narbe, deren Ursprung eine Kriegsverletzung war. In der Firma munkelte man, dass seine Reizbarkeit auf seine Verletzung zurückzuführen war. Sicherheitshalber warf Emil einen schnellen Blick auf seine Armbanduhr. Es war Punkt acht Uhr.

„Guten Morgen, Herr Weinberger. Sie brauchen nicht auf die Uhr zu schauen. Wenn Sie bei Ihrer Arbeit so präzise wie bei Ihrer Zeiteinteilung wären, würde es mich freuen.“

Emil fand es unfair, vor allen Kollegen kritisiert zu werden. „Könnten Sie mir bitte genau sagen, worum es geht?“, entgegnete er ärgerlich.

„Worum es geht?“, ereiferte sich Kumpf, „wenn Sie Ihre Abrechnungen besser kontrollieren würden, wüssten Sie es von selber.“

Emil merkte, wie sich Kumpfs Gesicht vor Zorn rötete. Das war kein gutes Zeichen, schon begann er zu brüllen: „Ich muss jede Kleinigkeit nachprüfen. Ich habe es satt, schließlich habe ich anderes zu tun, als den Oberlehrer zu spielen und Fehler auszubessern!“

Wütend schleuderte er das Pack Papiere, das er gerade in den Händen hielt, Rechnungen und buchhalterische Belege, in die Luft. Perplex betrachtete Emil, wie die Papiere langsam zu Boden flatterten. Ohne sich darum zu kümmern, verschwand Kumpf in seinem kleinen Büro und knallte die Tür hinter sich zu. Nachdem sich Emil gefasst hatte, begann er kopfschüttelnd die Unterlagen einzusammeln.

„Nach diesem Theater brauchen wir, glaube ich, frische Luft“, sagte Emil und öffnete das Fenster.

Seine beiden Arbeitskollegen wirkten ebenfalls bedrückt, es schien, als hätte Kumpfs Ausbruch ihnen die Arbeitsmotivation genommen. Peter war ein junger, dicklicher Mann, der leicht schielte und eine Zigarette nach der anderen rauchte. Der andere Kollege hieß Norbert, er war ein hoch aufgeschossener Typ, seine langen oberen Schneidezähnen und der halbgeöffnete Mund ließen einen beim Betrachten an einen Hasen denken. Geistesabwesend kritzelte er mit dem Bleistift auf einem Blatt Papier herum. Alle drei lümmelten lustlos auf ihren Sesseln herum.

Endlich zog Emil aus der untersten Lade seines Schreibtisches einen Auftrag heraus. Er hatte die Bearbeitung immer vor sich hergeschoben. Die Abrechnung einer Generalüberholung eines Motors war eine schwierige Aufgabe. Die lange Liste der ausgetauschten Ersatzteile und die schwer lesbaren, ölverschmierten Eintragungen der Mechaniker mussten erst entziffert werden.

Es wird schwierig sein, hier keine Fehler zu machen, dachte Emil. Weitere Schwierigkeiten mit Kumpf schienen vorprogrammiert.

Er war froh, als endlich Arbeitsschluss war. Nachdenklich setzte er sich in seine Citroën DS. Er konnte sich dieses große Auto nur deshalb leisten, weil der Bruder seines Freundes im Autohandel tätig war und es ihm zu sehr günstigen Konditionen verschafft hatte. Die DS war ein avantgardistisches Auto. Es hatte Vorderradantrieb und eine hydropneumatische Federung, war sehr bequem und besaß gute Fahrleistungen. Die Typenbezeichnung DS war eine Abkürzung für das französische Wort Déesse, was so viel wie Göttin heißt. Daher wurde dieses Auto mit dem weiblichen Artikel tituliert und man sagte daher immer „die DS“. Früher war Emil mit dem Fahrrad ins Büro gefahren, seitdem er mit dem Auto fuhr, fiel die Möglichkeit, wenigstens ein bisschen Bewegung zu machen, weg. Das führte dazu, dass sein ursprünglich sehniger Körper nach und nach die Spannung verlor und seine Muskeln weich wurden. Emil glaubte, dass er noch zu jung sei, um Übergewicht herumzuschleppen und suchte nach einer sportlichen Betätigung. Er wollte nicht nur Sport betreiben, um fit zu bleiben, nein, er wollte auch seine Körperkraft einsetzen, das Risiko, das Totalitäre des Seins oder Nichtseins, die Dramatik reizten ihn. Dies und ein fast zwanghaftes Bedürfnis, seine Stärke demonstrieren zu können, führten ihn zum Erstaunen und Entsetzen seiner Familie zu einem gefährlichen Sport, dem Boxen. Immer, wenn er einen Boxkampf sah, faszinierten ihn die Schnelligkeit der Bewegungen und die Geschicklichkeit der Kontrahenten sowie deren Bereitschaft, alles zu geben, entweder zu siegen oder unterzugehen.

Vor einem Jahr entschloss er sich daher, wenn auch entgegen dem schärfsten Widerstand seiner Mutter und seiner Schwester, mit dem Boxen zu beginnen. Bergmann, der Trainer im Boxclub, sagte ihm zwar damals, dass er für den Einstieg schon etwas alt sei und nicht über die athletischen Voraussetzungen verfüge.

„Du bist zwar groß und hast eine gute Reichweite, aber dir fehlen die körperlichen Voraussetzungen. Du bist zu hager und zu wenig kompakt für diesen Sport.“

Trotz dieses Vorurteils ließ sich Emil nicht entmutigen und begann mit dem Training. Sehr schnell erlernte er die komplizierten Bewegungsabläufe und beeindruckte mit seiner Technik. Seine Rechte war hart, sehr hart, eine gefährliche Waffe. Doch trotz seiner Fortschritte unterband Bergmann Emils Ambitionen, mit dem Kampftraining im Ring, dem sogenannten Sparring, zu beginnen.

„Du bist noch nicht austrainiert, deine Rechte ist zwar knallhart, aber insgesamt fehlen dir Power und Widerstandskraft, Angriffe zu parieren und Treffer zu verdauen.“

Also musste sich Emil noch eine Zeitlang mit den Übungen an den Geräten und dem Einlernen von Bewegungsabläufen, die er gemeinsam mit Kameraden trainieren konnte, begnügen.

Nach dem unerfreulichen Zwischenfall im Büro hatte Emil das Bedürfnis, seinen Ärger und seinen Groll durch ein intensives Boxtraining abzubauen. Er steuert die DS durch Nebenstraßen die er oft als Abkürzung wählte. Die Straßenbeleuchtung warf einen trüben Schein auf die Fahrbahn und die dunklen, alten Häuser verstärkten in ihm ein Gefühl der Verdrießlichkeit. Das Clublokal war eine langgestreckte Holzbaracke und lag am Rande einer Gartensiedlung, Straßenlaternen erhellten mit ihrem fahlen Licht diese Vorstadtszenerie. Wenn die Straßenbahn in einer engen Schleife bei der Baracke vorbeifuhr, kreischten die Räder. Im Clublokal gab es eine kleine Kantine, eine Garderobe mit Duschen, einen größeren Raum mit einem Hochring und einen großen Gymnastikraum mit Übungsgeräten. Hinter der Baracke wurden im Sommer die Vergleichskämpfe mit anderen Vereinen ausgetragen. Es gab dort einige Sitzreihen mit Holzbänken. Im Winter und in der kalten Jahreszeit wurde meistens in Sporthallen gekämpft.

Als er ins Clublokal eintrat, wehte ihm ein säuerlicher Geruch von kaltem Schweiß entgegen. Nachdem er sich umgezogen hatte nahm er seine Übungshandschuhe aus dem Spind und begann das Training mit Schnurspringen und gymnastischen Übungen. Viele seiner Kameraden mussten in ihren Berufen schwere körperliche Arbeit leisten. Sie waren kräftige Burschen mit athletischem Körperbau. Darunter war einer, der bereits wegen Strafdelikten mit dem Gesetz in Konflikt geraten und vorbestraft war. Wie so oft im Leben sich Gegensätze anziehen, war er vom smarten Emil beeindruckt. Der Bursche, er hieß Eduard, unterhielt sich gerne mit Emil. Eduard boxte bereits seit seinem sechzehnten Lebensjahr. Das war nicht nur an seinem drahtigen Körper, sondern auch an den typischen Gesichtsmerkmalen zu sehen, die von vielen Kämpfen zeugten. Er unterstützte Emil von Beginn an, gab ihm Ratschläge und machte auf Fehler aufmerksam. Ein anderer im Club fiel durch seine ordinäre Ausdrucksweise und durch seine Brutalität auf. Er hieß Konrad und boxte nicht nur aus sportlichem Ehrgeiz, er prügelte sich auch außerhalb des Clubs. Wenn er im Ring boxte, versuchte er, sich durch fiese Tricks Vorteile zu verschaffen.

An den Sandsäcken wurde unter der Aufsicht von Franz Bergmann intensiv geübt. Dieser gab von Zeit zu Zeit Anweisungen und demonstrierte die richtige Ausführung von Schlägen. Nun nahm Emil den Sandsack in Arbeit. Er bearbeitete den baumelnden Sack mit Haken und Geraden und trommelte gewaltig auf das Trainingsgerät ein. Jeder Kontakt verursachte ein dumpfes Geräusch und er stellte sich vor, Treffer bei einem imaginären Gegner zu landen.

„Hör mal“, sagte Bergmann, der langsam herankam, „du hältst deine Ellbogen noch immer zu weit auseinander. Dadurch entsteht eine Lücke über deiner Gürtellinie. Ich würde dir binnen Sekunden eine Gerade verpassen, dass dir Hören und Sehen vergeht. Aber sonst bewegst du dich gut und deine Rechte ist ein wahrer Hammer.“

Bergmann war untersetzt, die typischen Narben über den Augenbrauen und die verbogene Nase zeugten von vielen Gefechten im Boxring. Er hatte ein gutmütiges, fleischiges Gesicht und seine entspannten Gesichtszüge wirkten beruhigend. Er merkte alle Fehler bei seinen Schützlingen und war für seine fachmännischen und treffsicheren Bewegungsanalysen in Boxkreisen bekannt.

„Ich werde dir einmal etwas sagen“, Bergmann legte väterlich seinen Arm um Emils Schulter, „ich glaube, wir können schön langsam in den nächst höheren Gang schalten. Wenn du willst, kannst du mit dem Kampftraining beginnen. Du hast dich physisch stark verbessert, jetzt ist es an der Zeit, im Ring dein Können unter Beweis zu stellen.“

„Es war mir auf die Dauer ohnehin schon langweilig, immer nur auf den Sandsack zu dreschen“, sagte Emil, froh darüber, endlich in den Boxring steigen zu können.

„Aber Achtung! Das Üben an den Geräten ist zwar wichtig, aber doch sehr theoretisch. Beim Sparring werden sich laufend die Kampfsituationen ändern und Fehler bestraft. Und das wirst du spüren, obwohl beim Sparring versucht wird, nicht voll zu schlagen. Ich möchte nicht, dass sich jemand beim Training verletzt, es kommt mir auf eine gute Technik an“, erklärte Bergmann. Er machte eine Pause und warf einen prüfenden Blick auf Emil.

„Von mir aus kannst du es heute probieren“, sagte er dann, „boxe eine Runde mit Eduard, er ist ein guter Techniker und hat Erfahrung. Du kannst nur profitieren von ihm.“

Im Raum, wo der Hochring stand, wurde intensiv geübt. Schläge trafen auf schweißtriefende Körper und der schnell gehende Atem der Boxer erzeugte ein pfeifendes Geräusch.

„Ich möchte, dass du mit Emil boxt“, sagte Bergmann zu Eduard, „boxt eine Runde, wenn ihr wollt, eine zweite.“

Dann wandte er sich Emil zu: „Achte auf deine Deckung, keinen Leichtsinn. Halte Eduard mit deiner Führungshand auf Distanz, bereite Angriffe gut vor, so wie du es in der Theorie gelernt hast. Eduard wird es dir nicht leichtmachen. Also fangt an, ihr seid dran.“

Emil zog seinen Kopfschutz über und stieg in den Ring. Am Anfang war er verkrampft. Bergmann stoppte hin und wieder und verbesserte seine Bewegungsabläufe. Wenn Eduard mit seinen Fäusten durchkam, wurde Emil durchgeschüttelt. Er versuchte zwar mit seiner langen Linken auf Distanz zu boxen und wartete auf Möglichkeiten, seine Rechte einzusetzen, doch es blieb bei einem Versuch. Eduard jedoch gelang es immer wieder, in die Halbdistanz zu kommen und Emil mit Haken zu treffen. Es dauerte nicht lange, bis Emil einen Wirkungstreffer einstecken musste. Obwohl Eduard nicht voll durchgezogen hatte, sah Emil Sterne und verspürte einen stechenden Schmerz in der Nase. Eduard stoppte sofort und ließ Emil eine paar Sekunden Zeit, um sich zu erholen. Ein paar Augenblicke später kassierte Emil einen Leberhaken, ging zu Boden und krümmte sich vor Schmerz.

„Dein alter Fehler, Emil“, sagte Bergmann, der ihn beobachtet hatte. „Die Ellbogen sind zu weit offen.“ Er betrachtete Emil kritisch. „Hast du genug oder willst du weiterboxen?“

„Weiter“, stieß Emil mühsam durch den Zahnschutz hervor.

Sein Angriffswillen war nun entfacht und sein Stolz meldete sich, er wollte keine jämmerliche Figur abgeben. Seine Bewegungsabläufe wurden lockerer und er hatte noch genug Kraft, das Tempo zu erhöhen, und fand auch manche Möglichkeit, Eduard zu treffen. Bergmann beobachtete die beiden unablässig und gab laufend Ratschläge. Nach der zweiten Runde stoppte er.

„Na, ein Nehmer bist du gerade nicht, Emil. Frage nicht, wenn Eduard voll geschlagen hätte. Aber du hast ein Kämpferherz und in der zweiten Runde war ich zufrieden mit dir. Was dir fehlt, ist Erfahrung im Kampf. Daher ist jetzt Ringtraining angesagt. Ab in die Kantine mit euch beiden und trinkt ein Bier auf meine Rechnung.“

Es war Ausdruck von Anerkennung, wenn Bergmann Bier spendierte. In der Kantine bestellte Eduard zwei Flaschen Bier bei Barbara, die die Kantine betrieb. Sie war eine reife, groß gewachsene, vollschlanke Brünette, mit Vorliebe trug sie Kleider, die ihre Figur betonten.

„Hast du dich von Franz Bergmann auch zum Boxen überreden lassen? Willst du dich ebenso verprügeln lassen wie die anderen hier im Club?“, sagte sie zu Emil gewandt.

„Mach dir keine Sorgen Barbara, so schlimm war es auch wieder nicht“, schwächte Emil lächelnd ab. Barbara sagte nichts, warf aber einen vielsagenden Blick auf Emil, bevor sie wieder an die Bar zurückkehrte.

„Hör nicht auf die Frauen, Emil“, sagte Eduard, „die meisten sind gegen das Boxen, aber wenn sie einen Kampf sehen, sind sie fasziniert. Beobachte einmal Frauen bei Boxkämpfen, sie bewundern uns, sie leiden mit uns.“

Nachdem Eduard sein Bier ausgetrunken hatte, stand er auf und klopfte Emil auf die Schulter. „Ich hoffe, es war nicht zu heftig für dich heute, aber glaube mir, nur bei einem harten Training lernt man. Sicherlich hätte ich mich zurücknehmen und dich schonen können, aber dein nächster Partner würde dich dann umso erbarmungsloser auseinandernehmen. Ich glaube, es war eine gute Einstimmung für dich. Jetzt weißt du, was es bedeutet, im Ring zu stehen.“ Er verließ Emil und ging in die Garderobe.

Emil spürte noch die Wirkung der Schläge. Nachdenklich nippte er an seinem Bier, Barbara gesellte sich wieder zu ihm.

„Deine Nase blutet, Emil“, sagte sie und wischte mit einem Papiertaschentuch vorsichtig das Blut weg. Dabei neigte sie sich zu Emil und gewährte ihm, gewollt oder nicht, Einblick in den Ausschnitt ihrer Bluse. Der Duft eines aufdringlichen Parfums strömte in seine ramponierte Nase.

„Das habe ich gar nicht bemerkt, ich hoffe, dass mir Eduard nicht die Nase verbogen hat“, sagte Emil, stand auf und ging zu einem Spiegel, der an der Wand hing. Kritisch betrachtete er sein Gesicht, die Nase schien nicht weiter verletzt zu sein.

„Trinkst du noch Kaffee mit mir? Ich lade dich ein“, sagte Barbara mit ihrer dunklen Stimme, als Emil zum Tisch zurückkehrte.

„Das ist sehr nett von dir, Barbara, aber dann kann ich die ganze Nacht kein Auge zudrücken.“

„Vielleicht brauchst du das nicht“, sagte Barbara zweideutig und lächelte. Emil war irritiert und tat, als ob er ihre Anspielung nicht verstanden hätte.

„Es war heute mein erstes Sparring, ich bin etwas angeschlagen, ich werde jetzt nach Hause fahren. Aber das nächste Mal gerne, Barbara“, fügte er hinzu.

2.

Der Wecker läutete und läutete, endlich reagierte Emil und stellte ihn ab. Am liebsten hätte er dieses Ding zertrümmert. Gähnend schlurfte er zum Waschtisch. Bevor er mit dem Rasieren begann, schöpfte er aus dem Waschbecken mit beiden Händen kaltes Wasser, um sein Gesicht einzutauchen und um den Schlaf aus den Augen zu vertreiben. Kritisch betrachtete er sich im Spiegel, wie jeden Morgen beunruhigte es ihn, dass sich seine kräftigen schwarzen Haare in den Ecken bereits zurückzuziehen begannen. Emil war immer unzufrieden mit seinem Aussehen, doch die meisten, die ihn kannten, fanden ihn sympathisch und gut aussehend. Waren es die blauen Augen, die von dichten Augenbrauen überlagert wurden, oder die gerade Nase und die nach vorne gewölbte Unterlippe, die kühn und herausfordernd wirkten, oder vielleicht die leicht nach oben gezogenen Mundwinkel, der Anflug eines milden Lächelns?

Als die Großmutter starb, hatte er ihre kleine Wohnung geerbt und war er von seiner Mutter ausgezogen, um allein zu leben. Die Wohnung befand sich in einem schönen alten Haus aus der Gründerzeit, jener Epoche im 19. Jahrhundert, als im Zuge der Industrialisierung Hunderttausende aus den Ländern der Monarchie in die Hauptstadt zogen, um hier zu arbeiten. Gegenüber war ein unbebautes Grundstück, umrahmt von einer Holzplanke, überwuchert von Gräsern und Sträuchern und Tummelplatz für allerhand Getier. Wenn Emil aus dem Fenster blickte, sah er bei schönem Wetter in der Ferne die Hügel des Wienerwaldes und vom Frühjahr bis zum Herbst schienen die Strahlen der untergehenden Sonne direkt ins Zimmer und überzogen Möbel und Gegenstände mit einem goldenen Schimmer. Die Möbel waren alt, gut und gerne fünfzig Jahre, bis auf einen modernen Schreibtisch, den seine Mutter gekauft hatte, als er noch zur Schule ging.

Als Schüler hatte er immer nur das Notwendigste getan. Ein bisschen väterliche Strenge hätte seinen Lernwillen sicherlich angeregt, doch sein Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, nur mit Mühe und seiner Mutter zuliebe hatte er die fünfjährige kaufmännische Mittelschule abgeschlossen. Obwohl er seine Schwester sehr gern mochte, beneidete er sie wegen ihres angeborenen Ehrgeizes, denn sie tat, was er versäumt hatte, sie studierte erfolgreich und erschloss sich gute Entwicklungsmöglichkeiten.

Gegen Mittag rief ihn seine Schwester in der Firma an und lud ihn zu einem Fotoabend ein. Studienkollegen hatten einen Vortrag über Griechenland zusammengestellt, den sie in einem kleinen Saal der Universität präsentieren wollten. Emils Lust hinzugehen hielt sich in Grenzen, aber da er nichts vorhatte, beschloss er hinzufahren. Der Dia-Vortrag, obwohl wirklich gelungen, war nicht gut besucht, es war eigentlich eine geschlossene Veranstaltung, weil sich die meisten Besucher bereits kannten. Emil war beeindruckt von den antiken Tempeln, dem hellblauen Himmel, vom Grün der Vegetation, das im starken Sonnenlicht silbrig glänzte und vor allem von der tiefen Bläue des Meeres. Beim Betrachten der Bilder konnte Emil die Aura Griechenlands direkt spüren.

Unter den Anwesenden war eine junge Frau, die seine Aufmerksamkeit erregte. Was an ihr auffiel, war die aufrechte Kopfhaltung. Emil fragte sich, ob dies Ausdruck ihres Selbstbewusstseins war oder bloße Arroganz. Er konnte es nicht deuten, aber sie gefiel ihm außerordentlich mit ihren lebhaften und anmutigen Bewegungen, mit ihren blonden Haaren, die in schönen Wellen bis zur Schulter herabfielen. Ihre Lider waren geschminkt und verstärkten das helle Blau ihrer großen Augen, in denen eine melancholische Verträumtheit lag. Gerade dieses Spannungsfeld zwischen ihrem selbstbewussten Auftreten und der Nachdenklichkeit, die über ihrem Gesicht lag, machte sie interessant, zumindest für Emil. Immer wieder wurden seine Blicke von ihr angezogen, er betrachtete die kleine geschwungene Nase und die vollen, leicht aufgeworfenen Lippen. Sie war vollschlank, ihre fast zu stark ausgeprägten weiblichen Rundungen waren nicht zu übersehen. Ein paar Mal hatten sich schon ihre Blicke gekreuzt und die Tatsache, dass sie sich nicht abwandte, ließ in ihm freudige Erregung aufsteigen, wenngleich ihre Miene nicht verriet, was sie dachte oder fühlte.

„Wir gehen jetzt ins Café gegenüber, kommst du mit, Emil?“, fragte ihn seine Schwester nach dem Vortrag. Ursprünglich wollte er nach Hause fahren, doch er wurde von der Blonden wie von einem Magnet angezogen. Als sie das Café betraten, suchte er nach einem Vorwand, um sie anzusprechen. Sollte er fragen, wie ihr der Vortrag gefallen hatte? Doch dann fand er diesen Annäherungsversuch ziemlich platt.

„Haben Sie etwas dagegen, wenn ich an Ihrem Tisch Platz nehme?“, fragte er schließlich und kam sich plump und unbeholfen vor, seine Stimme verriet Unsicherheit.

„Überhaupt nicht“, sagte sie zu seiner Erleichterung mit einer angenehmen, weich klingenden Stimme. Emil dachte krampfhaft nach, mit welchem Thema er eine Konversation in Schwung bringen könnte und verwünschte sich, weil ihm nichts einfiel.

Sie half ihm aus dem Dilemma: „Waren Sie schon einmal in Griechenland?“

Endlich wurde Emil entspannter und begann, sich mit ihr zu unterhalten. Es entwickelte sich ein langes Gespräch über Länder die sie bereist hatten, sie diskutierten über aktuelle Themen und er stellte erfreut den Gleichklang ihrer Gedankengänge und Überlegungen fest. Er erfuhr, dass die junge Frau, die vorhin die Diapositive präsentiert hatte, Eva hieß und ihre beste Freundin war. Eva war so wie sie eine Pharmaziestudentin, beide standen vor dem Abschluss ihres Studiums.

„Sag doch Du zu mir, ich heiße Anne“, sagte sie und lächelte ihn an. Es war das erste Zeichen einer beginnenden Intimität und Emils Herz machte einen kleinen Freudensprung.

Anne begann zu erzählen, über ihre Eltern und die Apotheke, die ihnen gehörte, über die Schulzeit und über das Studium. Er hatte den Eindruck, dass sie trotz der Wohlhabenheit ihrer Eltern bescheiden erzogen worden war. Schon früh musste sie im Haushalt und in der Apotheke aushelfen. Ihre Offenheit veranlasste Emil, nun auch über sich und sein Umfeld zu erzählen. Er spürte eine immer stärker werdende Zuneigung zu dieser jungen Frau, ihre Ausstrahlung weckte in ihm angenehme Empfindungen.

Vom Nebentisch neigte sich Eva herüber und bot Zigaretten an. Anne bediente sich.

„Ausnahmsweise eine“, sagte sie.

Emil nahm ihr die Streichhölzer aus der kleinen Hand und zündete die Zigarette an.

„Du rauchst nicht?“

„Nein, ich habe aufgehört, Sport und Zigaretten vertragen sich nicht gut.“ Emil hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, das hätte er nicht sagen sollen. Er ahnte, welche Fragen diese Eröffnung nach sich ziehen würde und hatte sich nicht getäuscht.

„Welchen Sport betreibst du denn?“

Vorerst versuchte Emil, sich mit einer Verallgemeinerung aus der Affäre zu ziehen.

„Du wirst lachen, ich betreibe einen Sport zur Selbstverteidigung!“

„Da gibt es einige, ist es Judo?“, bohrte Anne weiter. Schon um zu wissen, wie sie reagierte, musste er damit herausrücken, dass er boxte, überlegte er.

„Nein, ich bin Amateurboxer“, sagte er. Es klang wie ein Schuldeingeständnis und er lief rot an.

„Waas, du bist ein Boxer!“, ein leiser Ausruf des Entsetzens entfuhr Anne, „ein brutaler Sport! Das hätte ich nie gedacht von dir!“

Ihre Reaktion war viel heftiger, als er befürchtet hatte, und das irritierte ihn.

„Ich bestreite noch keine Wettkämpfe“, sagte er einschränkend, „ich bin derzeit nur Trainingspartner für die Kampfmannschaft.“

Er machte eine Pause und taxierte Anne, um zu erfahren, ob ihr Interesse ihm gegenüber abgenommen hatte.

„Boxen ist Sport total, dabei geht es um Sein oder Nichtsein“. Emil sah sich veranlasst, ein leidenschaftliches Plädoyer für seinen Sport abzugeben.

„Boxen erfordert nicht nur Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Kraft, sondern auch ein gutes Auge und taktisches Talent. Beim Boxen lernt man viel über sich selbst, denn ohne Mut kann man diesen Sport nicht ausüben.“

Anne schwieg noch immer und aus Angst, ihre Sympathie zu verlieren, trat er die Flucht nach vorne an.

„Ich kann deine Einstellung zum Boxsport verstehen“, sagte er erregt, „meine Familie ist auch dagegen. Wenn du glaubst, dass ich primitiv bin, weil ich boxe, dann tut es mir sehr leid, gerade wenn du es glaubst, tut es mir leid, sehr leid, Anne“, sagte er niedergedrückt und man sah ihm seine Verzweiflung an. Einem Impuls folgend nahm er ihre beiden Hände. Anne war sichtlich überrascht, doch ließ sie ihre Hände in den seinen ruhen und schaute ihm prüfend in die Augen, als ob sie einen Blick in sein Inneres werfen wollte.

Als sich die Gruppe zum Gehen anschickte, kam seine Schwester in Begleitung eines jungen Mannes auf ihn zu, um sich bei ihm zu verabschieden. Emil kannte den Mann nicht und es interessierte ihn im Augenblick auch nicht, er war zu sehr mit sich und Anne beschäftigt. Auf keinen Fall wollte er, dass Anne ihn verließe, ohne ein weiteres Treffen mit ihm zu vereinbaren. Er zahlte, half Anne in den Mantel und um sich zu versichern, dass sie ihm nicht entschwand, fasste er sie wieder bei der Hand und verließ mit ihr das Café.

„Gehen wir noch ein paar Schritte gemeinsam?“

Anne schwieg, hakte sich jedoch bei Emil ein, als er ihr den Arm bot. Sie schlenderten über die von vielen Straßenlaternen erhellte Ringstraße, die umliegenden Prachtbauten erschienen ihnen in einem angenehmen, gelblichen Licht. Tagsüber hatte der Föhn geweht, es war noch immer angenehm warm und man konnte den herannahenden Frühling erahnen. Starke Gefühle bewegten Emil, die sich scheinbar auf Anne übertrugen, denn ihre Schritte wurden immer langsamer, bis beide wie auf einen geheimen Befehl stehen blieben und sich küssten. Emil spürte die weichen Lippen von Anne, die sich warm und geschmeidig anfühlten. Schon nach ein paar Schritten küssten sie sich wieder. Sie wurden nicht müde sich zu küssen, immer wieder hielten sie an, um sich zu umarmen. Emil hatte einen Arm um die Hüfte von Anne geschlungen, eng aneinander gelehnt gingen sie verträumt durch einsame Straßen und Gassen der Innenstadt und schienen von der Umwelt nichts zu merken. Waren ihre Küsse anfangs zärtlich und innig, wurden sie in der Folge immer kühner. Träumerisch schlenderten sie Arm in Arm zurück, sich immer wieder küssend. Am nächsten Tag wollten sie sich wieder im selben Café treffen.

3.

Emil war schon lange vor dem vereinbarten Zeitpunkt im Café. Es war ein gediegenes Wiener Café mit Marmortischen, neben den Fenstern gab es Nischen mit gepolsterten Bänken, die mit bordeauxrotem Velours überzogen waren. Er setzte sich in eine solche und bestellte Wermut. Voll Ungeduld schaute er immer wieder auf seine Armbanduhr. Der vereinbarte Zeitpunkt war vorüber und er wurde nervös. Trotz der starken Gefühle, die sich gestern zwischen ihnen entwickelt hatten, war er sich über Annes wirkliche Zuneigung nicht sicher. Er hatte Angst, dass sie seine einfachen Verhältnisse irritieren könnten.

Endlich kam Anne, sie trug eine elegante Jacke aus Silberfuchspelzen und darunter ein modisches Kostüm, das ihren Körper betonte. Emil schluckte, seine Zweifel von vorhin wurden wach und er fragte sich, ob Anne, trotz allem, was gestern vorgefallen war, für ihn erreichbar sei. Noch während er überlegte, ob er sie zur Begrüßung küssen sollte, umarmte sie ihn und setzte sich neben ihn auf die gepolsterte Bank.

„Entschuldige bitte meine kleine Verspätung, eine Mitarbeiterin in unserer Apotheke ist krank geworden. Ich musste meinem Vater helfen und dann für morgen meinen Koffer packen.“

„Ich hatte schon große Angst dass du nicht kommen würdest“, sagte Emil.

Anne lachte. „Wie kannst du so etwas denken, Emil.“ Der Ober kam und fragte nach ihren Wünschen. Emil bestellte noch einen Wermut und für Anne eine Tasse Tee.

„Ich möchte nicht neugierig sein, habe ich mich verhört oder hast du tatsächlich vom Kofferpacken gesprochen?“

„Du hast richtig gehört, ich reise nach Genf. Mein Vater hat mir dort ein Praktikum in einem pharmazeutischen Unternehmen ermöglicht.“ Diese Ankündigung traf ihn wie ein Schlag.

„Wir werden uns bald für längere Zeit nicht sehen können“, sagte Anne bedauernd.

Emil gewann langsam seine Fassung wieder. Seine Stimme klang rau, als er fragte: „Was heißt bald, Anne?“

„Ich fahre schon morgen Vormittag und um dir die ganze Wahrheit zu sagen, ich bleibe sechs Monate in Genf.“

„Es ist sicherlich sehr wichtig für dich und eine tolle Chance, aber ich muss das erst verarbeiten, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt.“

Es entstand eine Pause und Emil sagte dann, indem er die Worte langsam und eindringlich formulierte: „Ich werde auf dich warten.“

Annes Gesicht überzog eine feine Röte. Sie lehnte sich an Emil und gab ihm einen langen Kuss auf die Wange.

Dann sagte sie besänftigend: „Emil es tut mir leid, wenn dir das nahegeht, mir geht es eigentlich auch so, aber ich kann das Praktikum nicht aufschieben. Ich komme sicherlich zwischendurch nach Wien und im Herbst bin ich für immer zurück ...“

Emil fasste ihre Hände und sagte eindringlich: „Komm Anne, gehen wir, es ist unser letzter Abend, setzen wir uns in mein Auto und küssen wir uns die ganze Nacht, damit wir uns nie wieder vergessen.“

„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist“, sagte Anne und ihre blauen Augen nahmen einen verschwommenen Ausdruck an.

Als Emil bezahlt hatte, nahmen sie ihre Mäntel und verließen das Café. Anne ging still neben Emil, der ihre Hand hielt. Er sperrte das Auto auf, ließ Anne Platz nehmen und setzte sich ans Steuer.

Als er den Motor startete, fragte Anne leise: „Wo willst du denn hinfahren, Emil?“

„Irgendwohin.“

„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, sagte sie besorgt.

„Hab keine Angst, Anne, vertrau mir“, sagte er und steuerte den Wagen Richtung Vorstadt.

„Du hast ein großes Auto, kannst du dir das leisten?“

„Ich habe es gebraucht gekauft. Mein Freund hat mir dabei geholfen. Sein Bruder ist im Autogeschäft tätig, es war ein Gelegenheitskauf.“

Sie hüllten sich längere Zeit in Schweigen. Emil fuhr bei einem Gasthaus vorbei und blieb am Ende der Straße stehen. Von dort führte nur mehr ein Karrenweg in den nahen Wald. Eine Straßenlaterne warf ein fahles Licht in das Wageninnere, als er die Scheinwerfer abdrehte.

„Mit wie vielen Mädchen warst du schon hier, Emil?“

„Ich kenne dieses Plätzchen, weil meine Schwester und ich früher oft mit den Großeltern hier waren, wenn wir Ausflüge machten“, und nach einer kurzen Pause, „wenn du möchtest, können wir aber wieder zurückfahren.“

Anne sagte nichts, sie schien nachdenklich. Einige Zeit verging und Emil startete schüchtern einen Annäherungsversuch, er küsste Anne auf die Wange und nahm ihre Hand. Dann zog er Anne ganz nahe an sich heran und küsste sie auf den Mund. Als er ihren weichen Mund spürte und ihr Parfum ihn einhüllte, durchströmten ihn angenehme Gefühle. Anne umarmte Emil und erwiderte seinen Kuss.

„Anne, ich liebe dich, warum musst du mich verlassen, du brichst mir das Herz.“

„Ich komme ja wieder“, sagte sie zärtlich.

Sie erfanden immer neue Wege, sich zu küssen, und Emil spürte, wie sich in ihm alles zu drehen begann. Wie zufällig streifte er den Busen von Anne und nichts geschah. Auch als er ihren Busen anfasste, reagierte sie nicht. Da brach das Verlangen wie ein aufziehendes Gewitter über ihn herein. Seine Hand fasste unter den Rock von Anne. Seine Hand zitterte vor Erregung, als er sie zwischen ihre Schenkel schob.

„Anne, ich sehne mich so sehr nach dir, ich erleide Höllenqualen.“

„Emil wir müssen vernünftig sein.“

Sie löste sich von ihm und zog ihre Pelzjacke über ihren halbnackten Leib. Einige Minuten lagen sie eng aneinandergeschlungen. Emil überlegte, ob er seinem Verlangen nachgeben oder sich zügeln sollte. Doch Begierde überflutete ihn und war stärker als seine Bedenken. Er öffnete die Bluse von Anne, löste das Häkchen ihres BHs und zog den Pelzmantel weg. Ihr Busen war gut entwickelt und füllig für eine junge Frau, die Rundungen ihrer Hüften und ihre Schenkel ebenso. Anne versuchte ihren Körper zu bedecken, doch er hinderte sie sachte, brachte die Rückenlehnen der Vordersitze in eine horizontale Stellung und rückte näher zu Anne, denn die Lenkradschaltung war ihm im Weg. Dann beugte er sich über sie und versuchte, in sie einzudringen.

„Nein, nein, nein“, stieß sie hervor und drängte ihn weg. Hastig deckte sie sich mit ihrer Jacke zu.

„Du bist sehr unvernünftig, Emil“, sagte sie, aber es klang nicht böse.

„Ich will nicht vernünftig sein“, antwortete Emil mit rauer, gepresster Stimme.

„Wir müssen jetzt zurückfahren“, sagte sie, ohne darauf einzugehen.

„Ich kann mich nicht von dir trennen, ich begehre dich so sehr.“

„Jetzt bist du nicht nur unvernünftig, sondern auch noch schlimm“, sagte Anne in gespielt vorwurfsvollem Ton, „ich kenne dich erst einen Tag.“ Ernster werdend fügte sie hinzu, „wir sind sehr weit gegangen, lass uns die Grenzen nicht überschreiten, auch wenn es schwer fällt.“

Emil seufzte.

„Ich habe eine Frau noch nie so geliebt wie dich. Aber ich möchte nicht, dass du etwas bereust. Ich werde auf dich warten und wenn es zehn Jahre dauern sollte.“

Zärtlich fasste er ihre Brüste. Er spürte eine Veränderung bei Anne. Sie hielt ihn fest umklammert und ihre Fingernägel gruben sich in seinen Rücken. Da schob er sachte sein Becken unter sie. Sie berührten sich leicht und Emil suchte in den seltsam weit geöffneten Augen von Anne nach einem Einverständnis für das, was nun geschehen würde. Er fasste sie an der Hüfte und zog sie an sich. Langsam, fast millimeterweise ließ sich Anne herabsinken, bis Emil einen Widerstand spürte. Anne hielt einen Augenblick inne, doch dann fasste sie Emil fest an den Schultern, spannte ihren Oberkörper und mit einem kräftigen Zug ließ sie sich auf Emils Lenden fallen. Emil ließ ein paar Augenblicke verstreichen, und, ohne die Vereinigung zu lösen, richtete er sich auf und küsste sie mit all seiner Liebe, sie hatte ihm soeben das Kostbarste geschenkt hatte, das sie ihm schenken konnte. Dann begann er, sich vorsichtig zu bewegen.

„Bleib ruhig, Liebster“, flüsterte Anne, hob und senkte behutsam ihr Becken, „aber sag mir bitte wann.“

Emil tauchte in ein Meer wohliger Empfindungen, alles fühlte sich warm, weich und geschmeidig an. Bewegten sie sich anfänglich langsam und sinnlich, nahmen nach und nach die Intensität und das Tempo ihrer Bewegungen zu. Anne hatte die Augen geschlossen und schien wie in Trance nur mehr mit ihrem Unterkörper zu spüren. Emil ahnte, dass er bald die Kontrolle verlieren würde, er bewegte sich auf den Höhepunkt zu, er musste abbrechen, er hatte es versprochen.

„Jetzt“, stieß er hervor.

Er packte Anne an den Hüften und wollte sie von seinen Lenden wegziehen. Doch sie löste sich nicht von ihm, alle Schranken waren nun niedergerissen, Emil glaubte zu explodieren und seinen Körper zu sprengen, als er sich in Anne ergoss.

Einige Minuten vergingen und offensichtlich wurde ihnen bewusst, was geschehen war. Sie hatten von der verbotenen Frucht gegessen und Emil fühlte leise Schuldgefühle in sich aufkommen. Sie kuschelten sich aneinander, gewärmt von Annes Jacke, die sie über sich ausgebreitet hatten.

Anne, als ob sie seine Gedanken erraten hätte, sagte bedrückt: „Wir haben mit dem Feuer gespielt und haben gebrannt. Ich hoffe, du kannst die Verantwortung übernehmen, wenn unsere Liebe Folgen haben sollte, du weißt, was ich meine?“

Emil umarmte Anne und sagte: „Hab keine Angst, ich kann dich jetzt nicht mehr, nach all dem was passiert ist, alleine lassen. Und ich kann ohne dich nicht mehr leben.“

Eine Flut von Liebesbeteuerungen sprudelte aus ihm heraus und er drückte Anne fest an sich. „Ich gehe mit dir nach Genf und wenn ich dort die Straßen kehren muss oder sonst was.“

Anne streichelte seine Haare und sagte nachdenklich: „Ach Emil, was für ein Dummkopf du doch bist, wie stellst du dir denn das vor?“

„Es ist ganz einfach“, sagte er mit dem Brustton der Überzeugung, „ich kündige meine Anstellung, oder ich nehme Urlaub, oder ich werde krank, irgendetwas wird mir schon einfallen. Und dann fahren wir am Samstag mit dem Auto nach Genf. Du kannst deine Bahnkarten zurückgeben.“

„Emil, Emil, Liebster, hör bitte auf zu träumen. So einfach ist das nicht. Du wirst nicht Hals über Kopf Wien verlassen können, du musst sicherlich deinen Arbeitsvertrag einhalten, abgesehen davon, wie deine Familie reagieren würde, wenn du plötzlich alles hinwirfst und weggehst.“

Anne setzte sich auf und begann, sich langsam anzukleiden. Emil wollte jedoch eine Lösung und sagte trotzig: „Ich kann und will mich nicht von dir trennen, wir gehören von jetzt an zusammen.“

„Emil, Emil, Liebster, du bist ein hoffnungsloser Optimist“, sagte sie und küsste ihn liebevoll. „Hoffnungslos?“, stieß Emil hervor, „wie sollen wir denn weiterleben? Werden wir es ertragen können, uns zu trennen, morgen schon? Ich werde krank, wenn ich daran denke!“

„Und wie glaubst du, dass es mir geht? Ich spüre dich noch so stark in mir, als ob du ein Teil von mir wärst.“

Anne schwieg einen Augenblick und sagte dann eindringlich: „Mein Vater hat sich sehr exponiert, damit ich diese Stelle bekomme. Er wäre total blamiert, wenn ich nicht fahren würde. Es ist unmöglich, ich kann jetzt nicht alles umstoßen.“

Emil verfiel in eine tiefe Melancholie, mit vielen Seufzern begann er sich anzukleiden.

Anne küsste ihn zärtlich und streichelte ihm durch das Haar. „Emil, Liebster, es ist ja nur für ein paar Monate und zwischendurch werden wir uns sehen.

Ich schreibe dir, wie es mir geht und wann wir uns wiedersehen können.“

Emil fiel ihr um den Hals und drückte sie fest an sich als ob er sie nie wieder loslassen würde.

„Emil, wir müssen jetzt fahren, so schrecklich es auch ist, dass wir uns trennen müssen“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme.

Emil saß zusammengesunken hinter dem Lenkrad, als ob alles Leben aus ihm gewichen wäre. Er startete das Auto, seine rechte Hand suchte die ihre, Anne legte ihren Kopf auf seine Schultern, langsam steuerte er mit einer Hand das Auto durch die leeren Straßen, um den Augenblick des Abschieds hinauszuzögern. Die Fahrt kam ihm viel zu kurz vor, als Anne auf einen schicken Kleinwagen deutete.

„Dort steht mein Auto, Emil.“

Emils Kehle war wie zugeschnürt, mit fahriger Hand kritzelte er seine Adresse auf einen Zettel und gab ihn Anne.

„Sag mir, wann ich nach Genf kommen kann. Ich möchte dich so schnell wie möglich sehen.“

„Gib mir ein paar Tage Zeit. Aber sobald ich mich eingelebt habe, können wir uns sehen. Du wirst mir sehr fehlen, Liebling.“

„Lass mich nicht zu lange warten, vergiss nicht, dass ich dich sehr liebe.“

Sie umarmten sich und küssten sich lange.

„Wann fährt dein Zug?“, erkundigte sich Emil.

„Um elf Uhr fünfzehn. Aber es ist besser, wenn wir jetzt Abschied nehmen. Morgen begleiten mich meine Eltern und die kennen dich ja noch nicht.“

„Also gut, ich wünsche dir alles Gute, Anne, ich liebe dich, ich liebe dich …“, er wiederholte diese Worte immer wieder, während er Anne umklammert hielt.

„Wir müssen uns jetzt voneinander losreißen. Pass auf dich auf, Liebling, bitte riskiere nichts beim Boxen, vergiss nicht, dass ich dich liebe.“ Mit einem letzten Kuss verließ sie Emil.

Emil konnte sich nicht aufraffen, den Wagen zu starten. Er schloss die Augen und fragte sich, ob alles nur ein Traum gewesen war.

4.

Am nächsten Tag war Emil schon früh im Büro. Er wollte schnell seine vordringlichen Arbeiten erledigen und dann zum Bahnhof fahren. Sehen wollte er Anne, nur noch einmal sehen. Aber dann verwarf er diese Idee, es würde seinen Abschiedsschmerz noch einmal entfachen. Mit einem Seufzer nahm er wieder seine Arbeit auf. Als sein Chef erschien und ihn so früh an der Arbeit sah, fragte er erstaunt, aber nicht ohne einen Schimmer von Hohn in der Stimme:„Sie sehen ja gar nicht gut aus Herr Weinberger. Vielleicht vertragen Sie das Arbeiten nicht!“ Am liebsten hätte Emil eine patzige Antwort auf diese Anzüglichkeit gegeben, aber er war viel zu apathisch, um sich auf eine Konfrontation einzulassen.

Am Abend konnte er trotz seiner Übermüdung nicht einschlafen. Auch gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf. Er wollte sich beruflich verändern weil er sich einbildete, mit einem besseren Verdienst seine soziale Stellung verbessern zu können und mehr Akzeptanz in den Kreisen von Anne zu finden. Am nächsten Tag ging er gleich nach dem Frühstück Zeitungen kaufen und studierte die Seiten mit den Stellenangeboten. Er antwortete auf fünf Anzeigen. Seine Gedanken schweiften immer wieder ab und er musste sich immer wieder von Neuem bemühen, sich auf die Stellenangebote zu konzentrieren. Als er seine Bewerbungsschreiben endlich verfasst hatte, nahm er einen neuen Briefbogen und versuchte, seine Sehnsucht nach Anne in Worte zu fassen. Er beschrieb mit solcher Intensität seine Gefühle, bis ihm die Finger vom Schreiben schmerzten, und er erschöpft in seinen Sessel zurücksank. Um irgendetwas zu tun, entschloss er sich, in den Boxclub zu fahren, dies weniger aus Freude am Sport, sondern viel mehr, um seine Einsamkeit zu überwinden.

Beim Eintritt ins Clublokal grüßte ihn Barbara, die gerade Getränke servierte, mit einem Zwinkern. Arme Barbara, dachte er, aus uns beiden wird kein Liebespaar, wie sehr du auch deinen Charme versprühst. Er ging zu seinem Spind, zog sich um und ging zur sogenannten Birne. Das Training mit der Birne ist relativ schwierig. Eine Birne, so wie sie im Boxsport verwendet wird, schwingt nach hinten und kommt mit der gleichen Geschwindigkeit zurück. Im Augenblick des Zurückkommens muss sie erneut getroffen werden. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dass in der kurzen Zeit des Zurückschwingens auch die Schulterdrehung durchgeführt werden muss. Emil hatte nie Schwierigkeiten bei diesem Training gehabt, aber heute spürte er, dass er verspannt war und nicht den richtigen Rhythmus fand. Bergmann kam vorbei und sah Emil eine Weile mit prüfendem Blick zu.

„Komm her“, sagte er und zog Handpolster über seine Hände, im Fachjargon der Boxer wurden sie Tatzen genannt.

„Wir führen jetzt Schlagübungen durch, achte auf meine Tatzen. Probiere die rechte Gerade zum Körper und den linken Haken zum Kopf. Achte auf die korrekte Winkelung der Hände beim Haken und auf deine Beinarbeit.“

Das Training mit Handpolstern erforderte hohe Konzentration. Emil begann zu ermüden. Doch Bergmann hörte nicht auf und bewegte unablässig seine Tatzen, die Emil unter Berücksichtigung der korrekten Technik zu treffen hatte. Da seine Bewegungsabläufe langsamer wurden und die Schläge unpräziser, brach Bergmann das Training ab.

„Am Beginn warst du gut, gegen Ende bist du eingegangen. Was ist mit deiner Kondition los?“

„Ich habe ein Stimmungstief, ich muss mich erst wieder emporrappeln“, sagte Emil außer Atem. Bergmann warf einen langen Blick auf Emil.

„Wenn dich etwas drückt, trainiere so intensiv wie möglich, gehe bis an deine Grenzen, investiere deine Energie bis zum Limit und du wirst sehen, es wird dir helfen.“

Zu Hause las er noch einmal den Brief, den er bereits vorbereitet hatte. Er dachte an die Begegnung mit Anne und an die Leidenschaft, die sie wie ein Sturzbach fortgerissen und alle Barrieren gebrochen hatte. Anne war mittlerweile in seinen Sehnsüchten in eine Sphäre entrückt, die nicht real war.

Am nächsten Tag wachte er sehr spät auf. Es währte einige Zeit, bis er sich aufraffte aus dem Bett zu steigen und sich seiner Morgentoilette zu widmen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Er war zum Mittagessen bei seiner Mutter eingeladen. Sie wohnte mit seiner Schwester in einer kleinen Wohnung in einem Innenbezirk von Wien. Emil war dort aufgewachsen und kannte jede Gasse, jedes Haus. Er musste an seine Schulzeit in der tristen, von Entbehrungen geprägten Nachkriegszeit denken. Seine Mutter hatte es irgendwie geschafft, durch weite Fahrten auf das Land im Tauschwege einige zusätzliche Lebensmittel zu beschaffen. Ihren Rucksack mit schweren Eisennägeln gefüllt, die ihr der Großvater gab, ging sie von Bauernhof zu Bauernhof, um Nägel gegen Eier, Butter und Fleisch einzutauschen. Er und seine Schwester mussten daher auch in der bittersten Notzeit nach dem Kriege an keinen Entbehrungen leiden. In ihren Jugendjahren war Mutter hübsch, fast eine Schönheit gewesen. Sie war eine große Brünette von gutem Wuchs und die jungen Männer aus ihrer Umgebung, sofern sie nicht an irgendeiner Front ihr Leben riskierten, interessierten sich für sie. Heute noch war sie eine attraktive Frau, wenn man ihr auch die Mühen ihres Existenzkampfes ansah, silberne Fäden durchzogen ihr Haar, das seitlich zurückgekämmt, oben jedoch gelockt war. Diese Frisur unterstrich ihr schmales Gesicht und gab ihr ein vornehmes, fast erhabenes Aussehen. Ihre Augen strahlten Sanftheit und Ruhe aus. Nach dem Tod seines Vaters gab es den einen oder anderen Mann, der sie trotz der beiden Kinder gerne geheiratet hätte, sie hatte jedoch keine dieser Avancen angenommen. Ihr Leben galt ihm und Andrea. Seine Schwester war immer die Beste in der Schule gewesen und studierte auch jetzt zügig und ohne Zeitverlust Englisch an der Universität. War Emil ruhig und zurückhaltend, so war seine Schwester das Gegenteil. Sie liebte es, im Vordergrund zu stehen, und war sehr mitteilungsbedürftig. Aufgrund ihres Humors war sie sehr beliebt. Ihr Hobby war, auf einer Amateurbühne Theater zu spielen. Sie war wie alle in der Familie Weinberger groß gewachsen, hatte lange Beine und einen majestätischen Busen, ihr Körper drückte Vitalität und Unternehmungsgeist aus. Ihr schwer zu bändigendes schwarzes Haar, das sich an den Schläfen leicht kräuselte, war meist am Hinterkopf zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hatte eine runde, schmale Stirn und einen kleinen Mund mit vollen, hellrosa Lippen. Die klugen, hellblauen Augen wirkten milde, die hochgezogenen Mundwinkel suggerierten Humor und Lebensfreude. Seine Schwester war eine Erscheinung, die die Blicke der Männer magisch anzog, sie hatte eine Aura, die auf ihre Umwelt ausstrahlte, und es war nicht verwunderlich, dass man ihre Nähe suchte und gerne mit ihr zusammen war.

Als Emil in den zweiten Stock zur Wohnung seiner Mutter emporstieg, dachte er an die Worte die Mutter unlängst zu ihm gesagt hatte. Sie hatte gemeint, dass sich sein Vater im Grabe umdrehen würde, wenn er erführe, dass er boxte. Sein Vater war ein guter Fußballer gewesen, kam jedoch – wie es beim Fußball oft vorkommt – mit Blessuren nach Hause. Daher wollte er nicht, dass Emil auch Fußballer würde. Und nun war er Boxer geworden! Emil konnte die Bedenken seiner Mutter sehr gut verstehen und geriet jedes Mal in einen Gewissenskonflikt, wenn er sie besuchte. Um ihre Sorgen zu zerstreuen und auch, um seinen Sport zu rechtfertigen, sprach er über die Vorteile des Boxens, den Verteidigungsaspekt, die Förderung von Charakter, Mut und Risikobereitschaft und die körperliche Ertüchtigung.

Emil trat in die kleine Küche und setzte sich auf die gemütliche Eckbank, auf der man sich so wohlfühlen konnte. Seine Schwester überfiel ihn mit einem Redeschwall und wollte wissen, was es Neues gab. Emil kam jedoch nicht zum Reden, denn Andrea fing an, über dies und jenes zu berichten und plauschte ohne Unterbrechung. Mutter betrachtete ihn diskret, während sie das Essen servierte. Sie war nicht eine von jenen Müttern, die alles über ihre Kinder wissen wollte, mit ihrem Feingefühl und ihrem mütterlichen Instinkt merkte sie ohnehin, was sie bewegte. Und sie würde ahnen, was der Grund seiner Veränderung sein könnte.

Als er die Seinen verließ und auf die Straße trat, blendeten ihn die Strahlen der Sonne. Es war ein weißes, kaltes Licht, die Strahlen waren noch zu schwach, um der Kälte etwas anhaben zu können, die Zeit der goldenen Sonnenstrahlen, die wärmten und reiften, war noch nicht gekommen. Ein schneidiger Wind wehte, Emil hielt sich den Kragen seines Mantels zu und ging zu seiner DS, um nach Hause zu fahren, einem einsamen Abend entgegen.

Seit der Trennung von Anne waren mittlerweile fünf Tage vergangen. Endlich war der erste Brief angekommen. Sie schrieb ihm, dass ihre Firma für sie ein kleines Zimmer in einem Wohnhaus in der Genfer Altstadt gemietet hatte und dass sie im Labor als Hilfskraft arbeitete. Mit der Verständigung tat sie sich schwer, weil sie ihre Französischkenntnisse total überschätzt hatte; glücklicherweise sprachen die meisten Kollegen auch Deutsch. Der Brief endete mit folgenden Zeilen:

Mein Geliebter, ich möchte dich so schnell wie möglich wiedersehen. Sobald ich hier einen Überblick gewonnen habe, kannst du mich in Genf besuchen. Du sagtest mir, dass du noch niemals eine Frau so geliebt hast wie mich. Ich sage dir, dass du der erste Mann bist, den ich liebe und ich keinen anderen mehr lieben kann und lieben werde. Deine Anne

Emil war überglücklich, als er diese Zeilen las, er nahm den Brief, den er bereits begonnen hatte, und fügte hinzu:

Anne, Liebling, soeben habe ich deinen Brief erhalten, der mich zum glücklichsten Menschen unter der Sonne macht. Du bist die Einzige auf Erden, die ich immer lieben werde. Ich hoffe, dass all unsere Träume in Erfüllung gehen und ich nie irgendwo anders aufwache als in Deinen Armen. Ich werde dich immer lieben, denn du bist mein Leben.

Dein Emil

5.

Emil arbeitete viel und trainierte hart. Bei seinen Trainingsrunden gab er sich bis zur totalen Erschöpfung aus. Bergmann kam auf ihn zu und sagte:

„Emil ich möchte deinen Trainingseifer nicht stoppen, aber du darfst nie vergessen, dass Boxen auch ein technischer Sport ist. Kraft ist wichtig, aber sie muss kontrolliert eingesetzt werden und darf sich nicht aus einer Anspannung entfalten. Anspannung führt zur Verkrampfung der Muskeln und dadurch werden die Bewegungsabläufe langsamer. Bleib locker. Vielleicht bin ich schuld, weil ich dir gesagt habe, du sollst bis ans Limit gehen, aber du musst auch auf Entspannung achten.“

Als Emil den Club verlassen wollte, sah er Barbara, wie sie mit Konrad und anderen Kameraden beisammen saß und mit ihnen scherzte. Als sie Emil sah, stand sie auf und fragte: „Na, kein Bierchen heute Abend?“