Liebe am Meer - Nelly Baus - E-Book

Liebe am Meer E-Book

Nelly Baus

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Beschreibung

»Mal rennst du der Liebe verzweifelt hinterher, dann wieder steht sie plötzlich vor dir und manchmal ist beides zugleich der Fall« Es hat sie erwischt! Er ist ihr Mann fürs Leben, dessen ist sich Evi gewiss. Dabei hatte sie gar nicht nach ihm gesucht. Alles, was sie wollte war, den Arzttermin zu dem sie ihre Mutter gefahren hatte, schnellstmöglich hinter sich zu bringen. Jetzt aber ist es passiert und damit ihr Leben auf den Kopf gestellt. Er ist Arzt, ist frisch geschieden und offensichtlich nicht uninteressiert an ihr. Allerdings hat er nichts Besseres zu tun, als im ungünstigsten Moment in den Urlaub zu fliegen. Evi ist sonst nicht wirklich mutig und schon gar kein impulsiver Mensch, doch die Liebe verändert alles. Fest entschlossen sich diesen Mann zu holen, lässt sie alles stehen und liegen und reist ihm hinterher. Dieses Vorhaben erweist jedoch als viel schwieriger als zunächst gedacht. Der attraktive Arzt ist auch bei anderen Frauen begehrt und auch Evi ist mehr als nur einmal versucht ihr Ziel aus den Augen zu verlieren. Nelly Baus gönnt ihrer Protagonistin nicht nur jede Menge Urlaubsfeeling, sondern lässt ihr jede Chance mehr als nur ein Souvenir von diesem Trip mit nach Hause zu nehmen ... Liebesroman von Nelly Baus

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

1. Blitz eingeschlagen

Mal rennst du der Liebe verzweifelt hinterher, dann wieder steht sie plötzlich vor dir und manchmal ist beides zugleich der Fall.

Mich hat die Liebe völlig unvorbereitet erwischt, so dass mein Herz sie erst registrierte, als die Türe bereits geschlossen und die Gelegenheit vorüber war.

Innerhalb nur weniger Minuten – und trotzdem ganz langsam – hat sich sein Lächeln einen Weg in mein Bewusstsein gebahnt. Wie ein Sonnenstrahl durch eine Eiswand hat es sich durch meine Alltagssorgen hindurchgeschmolzen und mein Innerstes berührt, um dort eine Sehnsucht aus ihrem Dornröschenschlaf zu erwecken. Die Sehnsucht nach dem Einen, der mein Leben vervollständigt.

Ich habe es nicht kommen sehen, denn in jenem Moment schwirrten andere Dinge durch meinen Kopf. Das waren die Einkäufe, die ich noch zu erledigen hatte, der Anruf für einen Friseurtermin, den ich nicht vergessen wollte und nicht zuletzt die Arbeit, von der ich mich für die letzten zwei Stunden entschuldigt hatte, um meine Mutter zum Arzt zu fahren. Noch im Wartezimmer bin ich meine To-do-Liste, die ich stets in meinem Kopf mit mir herumtrage, von oben nach unten durchgegangen und habe mir währenddessen das Gejammer meiner Mutter angehört. Wie sollte ich erahnen, dass ich mich ausgerechnet an so einem Tag verlieben würde? Damit war nun wirklich nicht zu rechnen.

Seit über drei Jahren war ich Single, und in dieser Zeit gab es niemanden, der es geschafft hatte, mein Herz zu rühren. Ein paar Männer hatte ich schon kennengelernt, aber mit keinem von ihnen war es über ein erstes Treffen hinausgegangen.

Obwohl ich mich prinzipiell nach einer Beziehung sehnte, schien für mich eine solche mit jedem Fehlschlag in immer weitere Ferne zu rücken. Mit jeder Enttäuschung habe ich die Mauer um mich um eine Lage erhöht, um mich vor einer weiteren zu schützen. Kein Mann konnte mich mehr verletzen – aber mich auch nicht erreichen. Irgendwann habe ich aufgehört zu suchen und die Schuld für alles dem Schicksal in die Schuhe geschoben.

Wenn es mir den richtigen Mann nicht bringen will, dann soll es wohl nicht sein!

Das Schicksal jedoch hatte keineswegs vor, mir ein glückliches Singleleben zu bescheren. Vielmehr schien es eine diebische Freude daran zu haben, mich genau dann heimzusuchen, als ich am wenigsten damit rechnete.

2. Im Wartezimmer des Glücks

Jede dritte Woche das gleiche Spiel, ich fahre meine Mutter zum Arzt. Seit Monaten ist sie in Behandlung, doch ihre Schulterschmerzen werden nicht besser. Im Gegenteil, seit geraumer Zeit sind sie so schlimm, dass meine Mutter nicht mehr Autofahren kann. Das wäre eigentlich kein Problem, denn wir wohnen in der Stadt und es gibt ein halbes Dutzend Ärzte, die bequem zu Fuß oder mit dem Bus erreichbar wären. Meine Mutter jedoch musste sich ausgerechnet einen Arzt am anderen Ende der Stadt aussuchen. Diesen hat ihr unsere Nachbarin empfohlen. Und meine Mutter hört in solchen Dingen auf das, was unsere Nachbarin sagt, denn schließlich hat diese früher in einer Apotheke gearbeitet, weshalb ihre Kompetenz diesbezüglich nicht infrage zu stellen ist.

Ich jedoch äußere bei jeder dieser Fahrten Zweifel an der Fachkenntnis von diesem Herrn Doktor Becker, obwohl ich ihn noch nie zu Gesicht bekommen habe. Weder die von ihm verordnete Akupunktur, die von ihm empfohlenen Gymnastikübungen, noch die verschriebenen Medikamente hatten irgendeinen nennenswerten Erfolg gebracht. Fairness halber muss ich aber zugeben, dass meine Mutter keine einfache Patientin ist. Die Akupunktur hat sie nach der ersten Behandlung abgebrochen, »weil die Nadeln so piksen« und sie das nicht mag. So ähnlich war es auch mit den Gymnastikübungen, welche sie schon nach wenigen Tagen einstellte, weil sie davon Muskelkater bekommen hatte. Und was die Medikamente betrifft, so ist meine Mutter kein Freund von Pillen und ein strikter Gegner von Schmerzmitteln. »Entweder man hält es aus und jammert nicht, oder man muss Tabletten schlucken«, sagt sie immer. Dennoch nimmt sie diese nicht, jammert aber trotzdem.

Ich liebe meine Mutter – aber manchmal würde ich sie zu gerne auf den Mond schießen.

»Besonders schlimm ist es, wenn ich mich so bewege.«

Mutter lässt mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Arm kreisen, wie es kein normaler Mensch im Alltag jemals tun würde.

»Dann hör‘ doch einfach damit auf, dann tut es auch nicht weh.«

»Aber ich muss doch wissen, wo es wehtut, wenn der Doktor mich fragt.«

Wir sitzen seit geschlagenen fünfzig Minuten im Wartezimmer. Ein älterer Herr ist eben von der Sprechstundenhilfe ins Behandlungszimmer gerufen worden, nun sitzen nur noch wir beide da.

Ich blättere in einer Zeitschrift, lese aber kein Wort, das da steht und sehe mir auch nicht die Bilder an. Doch bei jedem Satz, den meine Mutter sagt, muss ich weiterblättern, um mich irgendwie abzureagieren. Ich hasse es, in Wartezimmern zu sitzen und bin dabei immer gereizt.

»Wir warten schon fast eine Stunde hier. Mir ist es unbegreiflich, warum die einen immer so früh herbestellen. Es muss doch möglich sein, die Termine besser abzustimmen. Man lässt die Leute völlig unnötig ihre Zeit verplempern. Das kannst du deinem lieben Herrn Doktor nachher ruhig einmal sagen.«

»Dafür kann er doch nichts. Die Termine machen doch die Damen am Empfang.«

»Dann soll er sich besseres Personal besorgen.«

»Ich finde sie alle sehr nett hier.«

»Für mich ist das heute das letzte Mal. Entweder dem Doktor fällt heute etwas ein, das dir hilft oder wir gehen zu einem anderen Arzt, bei uns in der Nähe.«

»Ich mag ihn.«

»Das ist mir egal, entweder er kann etwas oder nicht. Nur weil du ihn magst, kann ich nicht jedes Mal früher von der Arbeit gehen, um dich durch die ganze Stadt zu fahren.«

»Er ist sehr kompetent.«

Ich verdrehe die Augen und breche die Diskussion ab.

»Hör jetzt endlich damit auf, deinen Arm zu kreisen, da würde mir die Schulter auch wehtun.«

Die Türe geht auf.

»Frau Gieß bitte.«

Mutter und ich stehen auf.

»Was machst du denn, Evi?«

»Ich komme mit.«

»Aber das geht doch nicht.«

»Natürlich geht das. Ich habe keine Lust hier noch länger herumzusitzen. Außerdem will ich mitanhören, was der Doktor zu sagen hat.«

Mutter ist etwas beleidigt und geht voraus. Ich folge ihr ins Behandlungszimmer.

Im Behandlungszimmer setzt Mutter sich auf die Pritsche, damit ich mich auf den Stuhl setzen kann, der für die Patienten bestimmt ist. Ich bleibe aber lieber stehen und sehe mich um.

Dabei gibt es nicht viel zu sehen. Die üblichen Schaubilder verschiedener Körperregionen und ein wenig moderne Kunst hängen an den Wänden. In einem Schrank stehen ein paar medizinische Fachbücher, denen ein großes Modell eines menschlichen Auges als Buchstütze dient.

»Setz dich doch hin, du machst mich ganz nervös.«

»Ich will aber nicht sitzen, ich bin schon im Auto und im Wartezimmer gesessen.«

Eine kleine Pause entsteht, während der ich aus dem Fenster schaue und die beste Aussicht auf einen grauen Regentag in der Stadt genieße.

»Du sagst aber nichts zu dem Doktor.«

»Mal sehen. Ein paar kritische Fragen zu seiner Behandlungsstrategie wird er sich schon gefallen lassen müssen.«

»Er wird schon wissen, was er macht, immerhin hat er studiert.«

»Das hat gar nichts zu bedeuten. Die Medizin verändert sich heute so rasant, was sie gestern gelernt haben, ist heute schon wieder überholt. Sieh‘ dir nur diesen alten Kram an, der hier herumsteht. Wahrscheinlich arbeitet er noch mit Aderlass und Blutegeln.«

Mutter schüttelt den Kopf.

»Bitte benimm dich. Er ist so ein netter Mann.«

»Nett! Dann nehme ich natürlich alles wieder zurück«, sage ich sarkastisch.

Ich beruhige mich und widme mich wieder meinen eigenen Sorgen. Die vielen kleinen Banalitäten des Alltags schwirren durch meinen Kopf. Ich bin ganz weit weg und erschrecke ein wenig, als plötzlich die Türe aufgeht und ein dynamischer Mann hereinkommt.

»Hallo, die Damen.«

»Hallo, Herr Doktor.«

»Hallo«, sage ich in Zeitlupe. Ich brauche ein paar Sekunden, bis ich kapiere, dass dieser sportlich wirkende und erstaunlich junge Mann, der Arzt sein soll.

Ich hatte ihn mir mit dicker Brille, einer Wampe und einem weißen Bart vorgestellt, einen alten Kauz, der nichts weiter zu sagen weiß, als »Mund aufmachen und Zunge herausstrecken« und danach stumm irgendein Rezept ausschreibt.

»Was macht denn die Schulter?«

»Ist leider nicht besser geworden.«

»Lassen Sie mal sehen.«

Mit der einen Hand fasst er ihre Schulter, mit der anderen nimmt er ihren Oberarm und führt damit sanfte Bewegungen aus.

Ich bleibe skeptisch und halte etwas Abstand.

»Tut das weh?«

»Normalerweise ja, aber wenn Sie das machen, dann nicht.«

Sie strahlt vor sich hin, wie eine junge Frau am Tanzabend.

»Sie müssen die Tochter sein, von der ihre Frau Mutter immer erzählt, die so nett ist, sie immer hierherzufahren.«

Er blickt kurz mit ganz offenem Blick zu mir.

»Ja, die bin ich.«

Auch ich lächle und weiß gar nicht warum. Es passiert unwillkürlich. Es muss an seinem Lächeln liegen, es ist ansteckend. Ich muss mich wieder auf Mutters Schulter konzentrieren, um dieses unpassende Grinsen wieder aus meinem Gesicht zu bekommen.

»Ist gut. Ich spüre da Verspannungen unterhalb ihres Schulterblattes.«

»Ja, da tut es immer am meisten weh.«

»Es ist sehr fürsorglich von Ihnen, für Ihre Mutter jedes Mal diesen weiten Weg auf sich zu nehmen.«

»Das ist doch überhaupt kein Problem, das mache ich doch gerne.«

»Eben hast du noch gesagt …«

»Ach, das war doch nur so dahingesagt. Für eine gute Behandlung ist kein Weg zu weit – sage ich mir immer.«

Mutter sieht mich entgeistert an.

Ich weiß selbst nicht, was ich da rede.

Ich muss bei der Sache bleiben!

Ich bin skeptisch und stelle seine Behandlung infrage – das darf ich nicht vergessen!

Aber es fällt mir beim besten Willen keine kritische Frage ein. Was er sagt, klingt alles sehr vernünftig. Er ist einfühlsam und hört meiner Mutter auch aufmerksam zu, trotzdem scheint er genau zu wissen, was er davon ernst nehmen kann und was nicht. Seine tiefe und beruhigende Stimme strahlt Kompetenz aus. Das macht es mir unmöglich, auch nur ein einziges seiner Worte anzuzweifeln.

»Nehmen Sie ihre Tabletten.«

»Aber ja! Herr Doktor.«

»Tut sie nicht!« Diese kleine Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen.

»Vielleicht habe ich sie ein- oder zweimal vergessen.«

»Falls Sie es noch nicht getan haben, sollten Sie sie aber unbedingt nehmen. Ich fürchte, die Entzündung ist noch nicht verschwunden.«

»Ich werde versuchen, es nicht zu vergessen.«

»Ansonsten wird ihre reizende Frau Tochter sie sicher daran erinnern.«

Er sieht mich an, direkt in meine Augen.

Meint er das mit dem »reizend« ernst, oder nimmt er mich jetzt auf den Arm, weil ich eben so schnippisch zu meiner Mutter war?

»Ja, werde ich.«

Ich lächle etwas unsicher und hoffe, ich sehe dabei nicht allzu dumm aus.

»Ich schicke Sie noch zur Massage, vereinbaren Sie am besten gleich für nächste Woche einen Termin, bis dahin sollten auch die Tabletten ihre Wirkung zeigen.«

Er setzt sich an seinen Schreibtisch und hackt etwas in seinen Computer. Sekunden später gleitet ein Rezept aus dem Drucker.

»Hilfst du mir bei meiner Bluse?«

Ich helfe meiner Mutter, ihren Arm und Schulter wieder in ihre Bluse zu bugsieren, muss dabei aber ständig zu Dr. Becker hinüberblicken, als müsste ich befürchten, dass er sich sonst plötzlich in Luft auflöst. Er tippt weiter auf die Tastatur, lächelt aber immer wieder für eine Sekunde in meine oder unsere Richtung.

»So, das wäre es dann.«

Er gibt meiner Mutter das Rezept und eine Liste mit Adressen von guten Physiotherapeuten, bei denen sie nach Massageterminen fragen kann.

»Vielen Dank, Herr Doktor.«

»Keine Ursache. Wir sehen uns dann in drei Wochen wieder. Sollte nach den ersten Massagen keine Besserung eintreten, dürfen die Damen auch gerne schon früher vorbeikommen. Ich würde mich sehr freuen, Sie wiederzusehen.«

Diesmal sieht er eindeutig nur mich an, während er uns die Türe aufhält und wir uns verabschieden. Mutter geht sehr langsam voraus, so als hätte sie plötzlich auch etwas an den Beinen. Ich folge ihr und erwidere seinen Blick, solange ich kann.

Ich nehme unsere Mäntel von der Garderobe, während Mutter mit der Dame am Empfang den nächsten Termin vereinbart.

Irgendetwas ist dort eben passiert, ich komme im Moment nur noch nicht dahinter was.

Er würde sich sehr freuen, uns wiederzusehen?! Ist das nicht reichlich unpassend für einen Arzt?

Wir verabschieden uns von der Sprechstundenhilfe und gehen zur Türe hinaus. Diese schließt sich von selbst. Und mit ihrem »Klack« hinter mir fällt endlich der Groschen.

Hat er etwa mit mir geflirtet?

»Er ist doch wirklich ein netter junger Arzt, nicht wahr?«

»Ja … nett …«

»Und du willst, dass ich zu einem anderen gehe!«

»Nein, nein, wir werden wiederkommen, unbedingt.«

Es hat mich erwischt!

Unvorhersehbar und urgewaltig hat der Blitz bei mir eingeschlagen und alles verändert. Das Grau verschwindet und die Sonne scheint, nicht über, aber in mir. Dieser Stadtteil, der mir bisher so unsympathisch war, erscheint mir bei der Heimfahrt in einem ganz neuen Licht. Der Straßenverkehr, der vorhin noch so sehr an meinen Nerven gezehrt hat, wird zu einem harmonischen Ballett, die Autos tanzen um den Kreisverkehr, beleuchtet von den Lichtern der Ampeln, die sich romantisch auf der nassen Fahrbahn spiegeln und passend zum Takt der Scheibenwischer blinken. Alles vereinigt sich, mit prasselndem Regen, zu einer großen Symphonie und Darbietung des Glücks – nur für mich allein.

Mutter redet viel während der Fahrt – keine Ahnung über was.

Ich aber kann nicht mehr damit aufhören, still in mich hineinzulächeln.

3. Die Katastrophe

Die Tage wollen und wollen nicht vergehen. Drei Wochen können sehr lang sein. Quälend langsam tickt die Uhr meinem Wiedersehen mit Dr. Becker entgegen. Wieso habe ich Mutter nicht schon längst einmal ins Behandlungszimmer begleitet? Was hätte dabei nicht alles Schönes passieren können?

Dieses Mal mache ich ausnahmsweise nicht früher Feierabend wegen Mutters Arzttermin, sondern nehme den ganzen Tag frei. Ich wechsle fünfmal die Kleidung, ehe ich mit meinem Outfit zufrieden bin. Drei Wochen lang habe ich mir Sätze zurechtgelegt, die ich sagen werde, sollte sich eine passende Gelegenheit dazu ergeben. Allesamt sind sie eindeutig zweideutig und senden die Botschaft, dass ich ihn abseits der Praxis kennenlernen möchte. Zum Beispiel: Sollte er wieder etwas bezüglich der langen Fahrtstrecke sagen, will ich darauf antworten, dass ich diesen Weg jederzeit auf mich nehmen werde, sollte es einen guten Grund dazu geben. Dabei werde ich ihn anlächeln, mit meinen Haaren spielen und so viele Signale aussenden, dass er taub und blind sein müsste, um das Offensichtliche nicht zu bemerken.

»Gehst du anschließend noch aus?«

Wir sind wieder im Wartezimmer und ich bin nervös.

»Aber nein, wie kommst du denn darauf?«

»Warum hast du dich denn so herausgeputzt?«

»Ich habe mich doch nicht herausgeputzt.«

»Bist du etwa geschminkt?«

Sie sieht mich prüfend von der Seite an.

»Aber nein, lass …«

»Frau Gieß, kommen Sie doch bitte mit in Behandlungszimmer Nummer 4.«

Die Sprechstundenhilfe rettet mich aus dem Kreuzverhör.

Wir müssen kaum fünf Minuten warten, bis die Türklinke sich bewegt und meinen Herzschlag in Schwung bringt, wie bei einer Schussfahrt in der Achterbahn.

»Guten Tag«.

»Guten Tag Frau Doktor«, sagt meine Mutter. Ich bringe kein Wort heraus, zu groß ist die Enttäuschung.

»Und wie geht es ihnen heute? Was macht die Schulter?«

»Es ist viel besser geworden. Wenn ich sie so bewege, dann …«

»Aber, wo ist Dr. Becker?!«

Ich muss das jetzt sofort wissen!

»Doktor Becker musste heute Nachmittag zu einer wichtigen familiären Angelegenheit, ich springe für ihn ein.«

So ein verdammter Mist!

Wieder muss ich warten. Die folgenden drei Wochen dauern noch länger als die vorherigen. Dann ist es aber endlich wieder so weit.

»Morgen, dein Arzttermin, um dieselbe Zeit wie immer?«

»Aber nein, mein Kind, ich brauche keinen Termin mehr.«

Sie dehnt und streckt ihren Arm, als wäre sie eine Diskuswerferin im Finaldurchgang.

»Sieh‘ her – alles bestens. Ich habe keine Schmerzen mehr.«

»Aber, das kannst du mir doch nicht antun!«

»Was ist denn los?«

»Auf dich ist überhaupt kein Verlass!«

Ich stürme aus der Küche und die Treppe hinauf in meine Wohnung.

Immer hat sie irgendein Wehwehchen, immer nervt sie mich mit Schmerzen hier und Unwohlsein dort, aber wenn sie einmal krank sein soll, geht es ihr plötzlich blendend. Das ist doch einfach nicht zu fassen!

Zwei Tage schmolle ich und zwei Tage versteht meine Mutter nicht, was mit mir los ist. Ich verbringe die meiste Zeit in meiner Wohnung und gehe nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt, zu ihr hinunter.

Natürlich könnte ich ihr die Lage erklären und sie darum bitten, noch einen Termin zu vereinbaren. Wer aber denkt, das wäre so einfach, der versteht das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nicht – zumindest nicht jenes zwischen meiner Mutter und mir. Sie ist mir der liebste Mensch auf der Welt und gleichzeitig der, über den ich mich am meisten ärgern kann. Würde ich ihr von meinen Gefühlen zu Doktor Becker erzählen, könnte sie unmöglich untätig bleiben. Sie würde alles Mögliche über ihn in Erfahrung bringen, und es wäre für niemanden schwer zu erraten, woher diese Neugierde rührt, denn Diskretion ist für meine Mutter ein Fremdwort. Meine heimliche Schwärmerei für den adretten Doktor würde nicht lange geheim bleiben.

Anstelle eines offenen Gesprächs versuche ich es lieber auf die subtile Art.

»Ist dir aufgefallen, dass deine Schulter etwas nach unten hängt?«

»Wirklich?«

»Ja, so als würdest du auf der Seite einen schweren Koffer tragen.«

»Das muss an diesen neuen Übungen liegen, die ich mache, sicher habe ich mir auf der anderen Seite zu viele Muskeln antrainiert.«

»Fühlst du dich nicht gut?«

»Aber nein, ich fühle mich prächtig.«

»Du siehst aber sehr blass aus.«

»Finde ich gar nicht.«

Sie sieht in den Spiegel.

Nach mehreren erfolglosen Versuchen, ihr ein Leiden einzureden, gebe ich auf und rufe selbst in der Praxis an. Ich sage, es sei ein Notfall und ich habe unerträgliche Nackenschmerzen. Das ist nicht ganz gelogen, diese habe ich tatsächlich von Zeit zu Zeit. Hauptsächlich treten diese dann auf, wenn ich verkrampfe, weil ich zu viel über etwas nachgrüble – zum Beispiel darüber, wie ich mich mit einem gewissen Arzt verabreden könnte.

Die Sprechstundenhilfe am Telefon ist sehr geduldig mit mir.

»Das wird schwierig. Vielleicht, wenn sie Anfang der nächsten …«

»Anfang der nächsten Woche! Es ist ein Notfall, ich brauche den Doktor, und zwar sofort!«

»Na gut, ich kann Ihnen nichts versprechen. Aber wenn Sie gleich vorbeikommen könnten und im Wartezimmer Platz nehmen wollen, werde ich mein Bestes versuchen, damit die Frau Doktor Sie irgendwann dazwischen …«

»Frau Doktor! Aber ich brauche Herrn Dr. Becker!«

»Ich kann ihnen versichern, sie ist ebenso kompetent wie …«

»Nein, nur der Doktor kann mir helfen.«

Für drei Sekunden ist es still am anderen Ende der Leitung.

»Tut mir leid, aber Doktor Becker ist frühestens wieder in zwei Wochen zurück.«

»Zurück? Wo ist er denn?«

»Er ist kurzfristig für zwei Wochen in den Urlaub gefahren.«

»Wohin denn?«

»Das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen. – Wollen Sie nun heute vorbeikommen?«

»Nein danke, es hat sich schon erledigt.«

Nochmals zwei Wochen, das stehe ich nicht durch.

Mir fällt nur noch eines ein, was ich tun kann. Die Chance ist verschwindend gering, aber ich will es versuchen.

Ich gehe zu unserer Nachbarin, die meiner Mutter Dr. Becker empfohlen hat, und versuche herauszufinden, ob sie irgendetwas über ihn weiß. Sie ist das, was man als klatschsüchtig bezeichnen kann und manchmal denke ich, sie muss irgendeiner alten Fernsehserie entsprungen sein. Sie ist ein wahres Phänomen und schafft es, in Zeiten der Onlinekommunikation, auch ganz ohne Internet und Smartphone, mehr Neuigkeiten und Gerüchte aufzuschnappen als jeder andere Mensch, den ich kenne.

Frau Ziener ist unbezahlbar, kaum habe ich den Namen Dr. Becker erwähnt, legt sie auch schon los. Ich habe noch keine einzige Frage gestellt, da erzählt sie mir auch schon, frei von der Leber weg, seine halbe Lebensgeschichte. Eine der Arzthelferinnen ist die beste Freundin ihrer baldigen Schwiegertochter, von welcher sie jede Menge nützliche und unnütze Informationen aufgeschnappt hat:

Bei dem privaten Termin, den die Ärztin erwähnt hatte, handelte es sich um den abschließenden Termin für seine Scheidung. Die zwei Wochen Urlaub macht er, um sich davon zu erholen, beziehungsweise seine neu gewonnene Freiheit zu feiern. Er ist allein in Spanien und sie kann mir sogar den unaussprechlichen Namen des kleinen Touristenortes buchstabieren, in dem er ein kleines Ferienhaus besitzt. Von dort aus schickt er jedes Mal eine Ansichtskarte mit Urlaubsgrüßen an die Praxis, für seine Vertretung und die Sprechstundenhilfen.

Ich weiß jetzt also nicht nur wo er sich befindet, sondern auch noch, dass er zu haben ist.

Ich habe schon lange diese Fantasie, eines Tages alles hinzuschmeißen, meinen Job zu kündigen, den Koffer zu packen und meinem Herzen folgend davon zu düsen.

Okay, ganz so, wie in meiner Fantasie, mache ich es dann doch nicht – ich kündige nicht. Aber immerhin animiert mich dieser Anflug von Euphorie dazu, meinem Chef eine entschlossen formulierte E-Mail zu schreiben. Darin teile ich ihm mit, dass ich ab heute zwei Wochen im Urlaub bin und er meine Vertretung bitte darüber informieren soll.

Mein Chef wird darüber nicht glücklich sein, wird es aber akzeptieren. Oft genug hat er mich ermahnt, meinen Resturlaub zu verbrauchen und meine aufgetürmten Überstunden abzubauen.

Eine kurze Recherche im Internet und ein paar Mausklicks später bekomme ich einen Last-Minute-Flug gleich für den nächsten Tag, der zudem noch spottbillig ist.

Mutter fällt der Kartoffelschäler aus der Hand, als ich an der Küchentüre stehend hineinrufe: »Ich bin jetzt für fast zwei Wochen in Spanien!«

Mit offenem Mund sieht sie mich an und bringt kein Wort heraus – da bin ich auch schon weg.

Einmal impulsiv und unvernünftig sein, so wie sie das in den Spielfilmen ständig sind. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich so etwas wirklich gemacht, ich bin stolz auf mich.

---ENDE DER LESEPROBE---