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E.M. Remarque

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Beschreibung

»Selbst dort, wo er zurückblickt, ist es die Gegenwart, die er anspricht.« Wilhelm von Sternburg über Erich Maria Remarque. Das Schicksal einer kleinen Gruppe politischer Flüchtlinge in den Jahren 1937–1938: Auf der Flucht in die Schweiz über Wien und Prag sind sie auch im benachbarten Ausland nicht vor der Verfolgung durch die Nazis sicher. Umgeben von Denunzianten, ohne Pass und Wohnung werden sie in die Illegalität getrieben. In Paris spitzt sich ihre Situation dramatisch zu. »Das Buch hat etwas von der Qualität der Bergpredigt, etwas von der Einfachheit aller großen Poesie.« Chicago Daily News

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Seitenzahl: 585

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Erich Maria Remarque

Liebe deinen Nächsten

Roman

In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Erich Maria Remarque

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

FrontispizMottoErster TeilI. KapitelII. KapitelIII. KapitelIV. KapitelV. KapitelVI. KapitelVII. KapitelVIII. KapitelIX. KapitelZweiter TeilX. KapitelXI. KapitelXII. KapitelXIII. KapitelXIV. KapitelXV. KapitelXVI. KapitelXVII. KapitelXVIII. KapitelXIX. KapitelXX. KapitelAnhangUnter bis heute ungeklärten UmständenWie für die vorangehenden Romane …Wie schon für »Drei Kameraden« …Die Fassung des Vorabdrucks …Auch nach Kriegsende engagierte sich Remarque …Editorische NotizStrandgutWeiterführende Literatur
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Man braucht ein starkes Herz,

um ohne Wurzel zu leben.

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Erster Teil

I

Kern fuhr mit einem Ruck aus schwarzem, brodelndem Schlaf empor und lauschte. Er war, wie alle Gehetzten, sofort ganz wach, gespannt und bereit zur Flucht. Während er unbeweglich, den schmalen Körper schräg vorgeneigt, im Bette saß, überlegte er, wie er entkommen könnte, wenn der Aufgang schon besetzt wäre.

Das Zimmer lag im vierten Stock. Es hatte ein Fenster nach der Hofseite, aber keinen Balkon und kein Gesims, von denen aus die Dachrinne zu erreichen gewesen wäre. Nach dem Hofe zu war eine Flucht also unmöglich. Es gab nur noch einen Weg: über den Korridor zum Dachboden und über das Dach hinweg zum nächsten Hause.

Kern sah auf das Leuchtzifferblatt seiner Uhr. Es war kurz nach fünf. Das Zimmer war noch fast finster. Grau und undeutlich schimmerten die Laken der beiden anderen Betten durch die Dunkelheit. Der Pole, der an der Wand schlief, schnarchte.

Vorsichtig glitt Kern aus dem Bett und schlich zur Tür. Im selben Augenblick rührte sich der Mann, der im mittleren Bette lag. »Ist was los?« flüsterte er.

Kern gab keine Antwort; er hielt das Ohr an die Tür gepreßt.

Der andere richtete sich auf. Er wühlte in den Sachen, die am Pfosten des eisernen Bettgestells hingen. Eine Taschenlampe blitzte auf und fing in ihrem fahlen, zitternden Lichtkreis ein Stück der braunen, abgeblätterten Tür und die Gestalt Kerns, der mit wirrem Haar und zerdrücktem Unterzeug am Schlüsselloch lauschte.

»Verdammt, sag, was los ist!« zischte der Mann im Bett.

Kern richtete sich auf. »Ich weiß nicht. Bin aufgewacht, weil ich irgendwas gehört habe.«

»Irgendwas! Was irgendwas, du Dummkopf?«

»Irgendwas unten. Stimmen, Schritte oder sowas.«

Der Mann stand auf und kam zur Tür. Er hatte ein gelbliches Hemd an, unter dem im Schein der Taschenlampe ein Paar stark behaarte, muskulöse Beine hervorkamen. Er horchte eine Weile. »Wie lange wohnst du schon hier?« fragte er dann.

»Zwei Monate.«

»War in der Zeit schon mal ’ne Razzia?«

Kern schüttelte den Kopf.

»Aha! Wirst dich dann wohl verhört haben. Ein Furz im Schlaf klingt ja manchmal wie ein Donnerschlag.«

Er leuchtete Kern ins Gesicht. »Na ja, knapp zwanzig, was? Emigrant?«

»Natürlich.«

»Jesus Christus tso siem stalo –« gurgelte plötzlich der Pole in der Ecke.

Der Mann im Hemd ließ den Lichtkreis hinüberwandern. Ein schwarzes Bartgestrüpp mit aufgerissener Mundhöhle und aufgerissenen Augen unter buschigen Brauen tauchte aus dem Dunkel auf.

»Halt’s Maul mit deinem Jesu Christo, Pollak«, knurrte der Mann mit der Taschenlampe. »Der lebt nicht mehr. Ist als Kriegsfreiwilliger an der Somme gefallen.«

»Tso?«

»Da! Da ist es wieder!« Kern sprang zum Bett. »Sie kommen von unten! Wir müssen übers Dach!«

Der andere drehte sich wie ein Kreisel um. Man hörte Türen klappen und gedämpfte Stimmen. »Verflucht! Raus! Polski, raus! Polizei!«

Er riß seine Sachen vom Bett. »Weißt du den Weg?« fragte er Kern.

»Ja. Rechts, den Korridor entlang! Die Treppe hinter dem Ausguß rauf!«

»Los!« Der Mann im Hemd öffnete lautlos die Tür.

»Matka boska!« gurgelte der Pole.

»Halt’s Maul! Verrat’ nichts!«

Der Mann zog die Tür zu. Kern und er huschten den schmalen, schmutzigen Korridor entlang. Sie liefen so leise, daß sie den schlecht zugedrehten Wasserhahn über dem Ausguß tröpfeln hörten.

»Hier rum!« flüsterte Kern, bog um die Ecke und rannte gegen etwas. Er taumelte, sah eine Uniform und wollte zurück. Im gleichen Augenblick bekam er einen Schlag auf den Arm. »Stehen bleiben! Hände hoch!« kommandierte jemand aus dem Dunkel.

Kern ließ seine Sachen zu Boden rutschen. Sein linker Arm war taub von dem Schlag, der den Ellenbogen getroffen hatte. Der Mann im Hemd sah eine Sekunde lang so aus, als wolle er sich in das Dunkel auf die Stimme stürzen. Aber dann blickte er auf den Lauf des Revolvers, der ihm von einem zweiten Beamten gegen die Brust gehalten wurde, und hob langsam die Arme.

»Umdrehen!« kommandierte die Stimme. »Ans Fenster stellen!«

Die beiden gehorchten.

»Sieh nach, was in den Brocken ist«, sagte der Polizist mit dem Revolver.

Der zweite Beamte untersuchte die Kleider, die auf dem Boden lagen. »Fünfunddreißig Schillinge – eine Taschenlampe – eine Pfeife – ein Taschenmesser – ein Lausekamm – sonst nichts –«

»Keine Papiere?«

»Paar Briefe oder sowas –«

»Keine Pässe?«

»Nein.«

»Wo habt ihr eure Pässe?« fragte der Polizist mit dem Revolver.

»Ich habe keinen«, erwiderte Kern.

»Natürlich!« Der Polizist stieß dem Mann im Hemd den Revolver in den Rücken. »Und du? Muß man dich extra fragen, du Hurensohn?« sagte er.

Die beiden Polizisten sahen sich an. Der ohne Revolver fing an zu lachen. Der andere leckte sich die Lippen. »Sieh mal an, ein feiner Herr!« sagte er langsam, »Exzellenz, der Stromer! General Stinktier!« Er holte plötzlich aus und schlug dem Mann die Faust gegen das Kinn. »Hände hoch!« brüllte er, als der andere taumelte.

Der Mann sah ihn an. Kern glaubte noch nie einen solchen Blick gesehen zu haben. »Dich meine ich, du Scheißerl« sagte der Polizist. »Wird’s bald? Oder soll ich dir dein Gehirn noch mal aufschütteln?«

»Ich habe keinen Paß«, sagte der Mann.

»Ich habe keinen Paß«, äffte der Polizist nach. »Natürlich, Herr Hurensohn hat keinen Paß. Konnte man sich ja wohl denken! Los, anziehen, aber flott!«

Eine Gruppe Polizisten lief den Korridor entlang. Sie rissen die Türen auf. Einer mit Achselstücken kam heran. »Was habt ihr denn da?«

»Zwei Vögel, die übers Dach verduften wollten.«

Der Offizier betrachtete die beiden. Er war jung. Sein Gesicht war schmal und blaß. Er trug einen sorgfältig gestutzten, kleinen Schnurrbart und roch nach Toilettewasser. Kern erkannte es; es war Eau de Cologne 4711. Sein Vater hatte eine Parfümfabrik gehabt, daher wußte er so etwas.

»Die beiden werden wir uns mal besonders vornehmen«, sagte der Leutnant. »Handschellen!«

»Ist es der Wiener Polizei erlaubt, bei Verhaftungen zu schlagen?« fragte der Mann im Hemd.

Der Offizier sah auf. »Wie heißen Sie?«

»Steiner. Josef Steiner.«

»Er hat keinen Paß und hat uns bedroht«, erklärte der Polizist mit dem Revolver.

»Es ist noch viel mehr erlaubt, als Sie denken«, sagte der Offizier kurz.

»Marsch, runter!«

Die beiden zogen sich an. Der Polizist holte Handschellen hervor. »Kommt, ihr Lieblinge! So, jetzt seht ihr schon besser aus. Passen wie nach Maß.«

Kern spürte den Stahl kühl an seinen Gelenken. Es war das erstemal in seinem Leben, daß er gefesselt wurde. Die Stahlreifen hinderten ihn beim Gehen nicht sehr. Aber ihm schien, als fesselten sie mehr als nur seine Hände.

 

Draußen war es früher Morgen. Vor dem Hause hielten zwei Polizeicamions. Steiner verzog das Gesicht. »Begräbnis erster Klasse! Nobel, was, Kleiner?«

Kern antwortete nicht. Er versteckte die Handschellen, so gut es ging, unter seinem Rock. Ein paar Milchkutscher standen neugierig auf der Straße. Gegenüber in den Häusern waren Fenster offen. Gesichter schimmerten wie Teig aus den dunklen Öffnungen. Eine Frau kicherte.

Ungefähr dreißig Verhaftete wurden auf die Camions gebracht. Es waren offene Polizeiflitzer. Die meisten der Leute stiegen ohne ein Wort hinauf. Auch die Besitzerin des Hauses war darunter, eine dicke, hellblonde Frau von etwa fünfzig Jahren. Sie war die einzige, die erregt protestierte. Seit einigen Monaten hatte sie zwei leerstehende Etagen ihres baufälligen Hauses auf billigste Weise in eine Art Pension verwandelt. Es hatte sich bald herumgesprochen, daß man dort schwarz schlafen konnte, ohne bei der Polizei gemeldet zu werden. Die Frau hatte nur vier richtige Mieter mit Pässen und polizeilicher Anmeldung, – einen Hausierer, einen Kammerjäger und zwei Huren. Die übrigen kamen abends, wenn es dunkel wurde. Fast alle waren Emigranten und Flüchtlinge aus Deutschland, Polen, Rußland und Italien.

»Los, los!« sagte der Leutnant zu der Vermieterin. »Sie können das alles auf der Wache erklären. Da haben Sie Zeit genug dazu.«

»Ich protestiere!« schrie die Frau.

»Protestieren können Sie, soviel Sie wollen. Vorläufig kommen Sie mit.«

Zwei Polizisten faßten die Frau unter die Arme und hoben sie auf das Camion.

Der Leutnant wandte sich zu Kern und Steiner. »So, jetzt diese beiden. Extra aufpassen auf sie.«

»Merci«, sagte Steiner und stieg auf. Kern folgte ihm.

Die Camions fuhren los. »Auf Wiedersehen!« kreischte eine Frauenstimme aus den Fenstern.

»Schlagt das Emigrantenpack tot!« brüllte ein Mann hinterher. »Dann spart ihr das Futter. Heil Hitler!«

 

Die Camions fuhren ziemlich schnell. Denn die Straßen waren noch fast leer. Der Himmel hinter den Häusern wich zurück, er wurde heller und weiter und durchsichtig blau, aber die Verhafteten standen dunkel auf den Wagen wie Weiden im Herbstregen. Ein paar Polizisten aßen belegte Brote. Sie tranken Kaffee aus flachen Blechflaschen.

In der Nähe der Franz-Josefs-Brücke kreuzte ein Gemüseauto die Straße. Die Camions bremsten und zogen dann wieder an. Im gleichen Augenblick kletterte einer der Verhafteten über den Rand des zweiten Wagens und sprang ab. Er fiel schräg auf den Kotflügel, verfing sich mit dem Mantel und schlug mit einem trockenen Knack auf das Pflaster.

»Anhalten! Hinterher!« schrie der Führer. »Schießt, wenn er nicht stehen bleibt!«

Der Wagen bremste scharf. Die Polizisten stürzten herunter. Sie liefen zu der Stelle, wo der Mann hingefallen war. Der Chauffeur sah sich um. Als er bemerkte, daß der Mann nicht flüchtete, fuhr er den Wagen langsam zurück.

Der Mann lag auf dem Rücken. Er war mit dem Hinterkopf auf die Steine geschlagen. In seinem offenen Mantel lag er da, mit ausgebreiteten Armen und Beinen, wie eine große heruntergeklatschte Fledermaus.

»Bringt ihn rauf!« rief der Leutnant.

Die Polizisten bückten sich. Dann richtete sich einer auf. »Er muß sich was gebrochen haben. Kann nicht aufstehen.«

»Natürlich kann er aufstehen! Hebt ihn hoch!«

»Gebt ihm einen gehörigen Tritt, dann wird er schon munter«, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte, träge.

Der Mann stöhnte. »Er kann tatsächlich nicht aufstehen, meldete der andere. »Blutet auch am Kopf.«

»Verflucht!« Der Führer kletterte herunter. »Daß sich keiner von euch rührt!« schrie er zu den Verhafteten hinauf. »Verdammte Bande! Nichts als Scherereien!«

Der Wagen stand jetzt dicht neben dem Verunglückten. Kern konnte ihn von oben genau sehen. Er kannte ihn. Es war ein schmächtiger polnischer Jude mit schütterem, grauem Bart. Kern hatte einigemale im selben Zimmer mit ihm geschlafen. Er erinnerte sich deutlich des alten Mannes, wie er morgens in aller Frühe, die Gebetsriemen über den Schultern, am Fenster gestanden und gebetet hatte, während er den Körper leise hin- und herwiegte. Er hatte mit Garnrollen, Schnürriemen und Zwirn gehandelt und war schon dreimal aus Österreich ausgewiesen worden.

»Aufstehen! Los!« kommandierte der Offizier. »Wozu springen Sie denn vom Wagen? Zuviel auf dem Kerbholz, wie? Gestohlen und wer weiß was noch!«

Der alte Mann bewegte die Lippen. Seine Augen waren groß auf den Leutnant gerichtet.

»Was?« fragte der. »Hat er was gesagt?«

»Er sagt, es wäre aus Angst gewesen«, erwiderte der Polizist, der neben ihm kniete.

»Angst? Natürlich aus Angst! Weil er was ausgefressen hat! Was sagt er?«

»Er sagt, er hätte nichts ausgefressen.«

»Das sagt jeder. Aber was machen wir jetzt mit ihm? Was hat er denn?«

»Man sollte einen Arzt holen«, sagte Steiner vom Wagen herab.

»Seien Sie ruhig!« schnauzte der Leutnant nervös. »Wo soll man denn um diese Zeit einen Arzt herkriegen? Er kann doch nicht solange auf der Straße liegen. Nachher heißt es dann wieder, wir hätten ihn so zugerichtet. Geht ja immer alles auf die Polizei!«

»Er gehört ins Krankenhaus«, sagte Steiner. »Sogar schnell!«

Der Offizier war verwirrt. Er sah jetzt, daß der Mann schwer verletzt war, und vergaß darüber, Steiner den Mund zu verbieten.

»Krankenhaus! Da nehmen sie ihn doch nicht einfach so auf. Dazu braucht er doch einen Überweisungsschein. Ich kann das auch garnicht allein machen. Ich muß ihn erst zum Rapport bringen.«

»Bringen Sie ihn zum jüdischen Krankenhaus«, sagte Steiner. »Da nehmen sie ihn ohne Überweisungsschein und Rapport. Sogar ohne Geld.«

Der Leutnant starrte ihn an. »Woher wissen Sie denn das, Sie?«

»Man sollte ihn auf die Rettungswache bringen«, schlug einer der Polizisten vor. »Da ist immer ein Sanitäter oder ein Arzt. Die könnten dann weitersehen. Damit wären wir ihn auch los.«

Der Leutnant hatte seinen Entschluß gefaßt. »Gut, hebt ihn auf! Wir fahren bei der Sanitätswache vorbei. Dann bleibt einer mit ihm da. Verdammte Schweinerei!«

Die Polizisten hoben den Mann hoch. Er stöhnte und wurde sehr blaß. Sie legten ihn auf den Boden des Camions. Er zuckte und öffnete die Augen. Sie glänzten unnatürlich in dem verfallenen Gesicht. Der Leutnant biß sich auf die Lippen. »So ein Blödsinn! Runterspringen, solch ein alter Mann! Los, langsam fahren!«

Unter dem Kopf des Verletzten bildete sich langsam eine Blutlache. Die knotigen Finger scharrten über das Bodenholz des Wagens. Die Lippen zogen sich allmählich von den Zähnen zurück und gaben sie frei. Es sah aus, als lache hinter der geisterhaft verschatteten Maske des Schmerzes jemand anders lautlos und voll Hohn.

»Was sagt er?« fragte der Leutnant.

Der Polizist von vorher kniete wieder neben den Alten hin und hielt ihm beim Rattern des Wagens den Kopf fest. »Er sagt, er hätte zu seinen Kindern gewollt. Sie müßten jetzt verhungern«, berichtete er.

»Ach, Unsinn! Werden nicht verhungern. Wo sind sie denn?«

Der Polizist beugte sich herunter. »Er will es nicht sagen. Sie würden dann ausgewiesen. Hätten alle keine Aufenthaltserlaubnis.«

»Das sind doch Phantasien. Was sagt er jetzt?«

»Er sagt, Sie möchten ihm verzeihen.«

»Was?« fragte der Leutnant erstaunt.

»Er sagt, Sie möchten ihm verzeihen wegen der Scherereien, die er macht.«

»Verzeihen? Was soll denn das nun wieder?« Kopfschüttelnd starrte der Offizier den Mann am Boden an.

Der Wagen hielt vor der Rettungswache. »Tragt ihn rein!« kommandierte der Leutnant. »Aber vorsichtig. Und Sie, Rohde, bleiben bei ihm, bis ich telefoniere.«

Sie hoben den Verunglückten hoch. Steiner bückte sich. »Wir finden deine Kinder. Wir werden ihnen helfen«, sagte er. »Verstehst du, Alter?«

Der Jude schloß die Augen und öffnete sie wieder. Dann trugen ihn drei Polizisten in das Haus. Seine Arme hingen herunter und schleiften widerstandslos über das Pflaster, als wären sie schon ohne Leben. Nach einiger Zeit kamen zwei Polizisten zurück und stiegen wieder auf. »Hat er noch etwas gesagt?« fragte der Leutnant.

»Nein. Er war schon ganz grün im Gesicht. Wenn’s die Wirbelsäule ist, macht er nicht mehr lange.«

»Na ja, halt ein Jud weniger«, sagte der Polizist, der Steiner geschlagen hatte.

»Verzeihen«, murmelte der Leutnant, »Sowas! Komische Menschen –«

»Besonders in diesen Zeiten«, sagte Steiner.

Der Leutnant straffte sich. »Halten Sie’s Maul, Sie Bolschewist!« brüllte er. »Ihnen werden wir Ihre Frechheiten schon eintränken!«

 

Man brachte die Verhafteten zur Polizeistation an der Elisabethpromenade. Steiner und Kern wurden die Handschellen abgenommen, dann kamen sie zu den andern in einen großen, halbdunklen Raum. Die meisten saßen schweigend herum. Sie waren gewohnt zu warten. Nur die dicke, blonde Wirtin lamentierte unentwegt weiter.

Gegen neun Uhr wurde einer nach dem andern heraufgeholt. Kern wurde in ein Zimmer geführt, in dem sich zwei Polizisten, ein Schreiber in Zivil, der Leutnant und ein älterer Polizeihauptmann befanden. Der Hauptmann saß in einem hölzernen Sessel und rauchte Zigaretten. »Personalien«, sagte er zu dem Mann am Tisch.

Der Schreiber war ein schmaler, pickliger Mensch, der an einen Hering erinnerte. »Name?« fragte er mit einer überraschend tiefen Stimme.

»Ludwig Kern.«

»Geboren?«

»Dreißigsten November 1914 in Dresden.«

»Also Deutscher?«

»Nein. Staatenlos. Ausgebürgert.«

Der Hauptmann blickte auf. »Mit einundzwanzig? Was haben’s denn angestellt?«

»Nichts. Mein Vater ist ausgebürgert worden. Da ich damals minderjährig war, ich auch.«

»Und weshalb Ihr Vater?«

Kern schwieg einen Augenblick. Ein Jahr Emigration hatte ihn Vorsicht mit jedem Wort bei Behörden gelehrt. »Er wurde zu Unrecht als politisch unzuverlässig denunziert«, sagte er schließlich.

»Jude?« fragte der Schreiber.

»Mein Vater. Meine Mutter nicht.«

»Aha!«

Der Hauptmann schnippte die Asche seiner Zigarette auf den Boden. »Warum sind Sie denn nicht in Deutschland geblieben?«

»Man hat uns unsere Pässe abgenommen und uns ausgewiesen. Wir wären eingesperrt worden, wenn wir geblieben wären. Und wenn wir eingesperrt werden mußten, wollten wir es lieber in einem anderen Lande als in Deutschland.«

Der Hauptmann lachte trocken. »Kann ich verstehen. Wie sind Sie denn ohne Paß über die Grenze gekommen?«

»An der tschechischen Grenze genügte damals für den kleinen Grenzverkehr ein einfacher Einwohner-Meldeschein. Den hatten wir noch. Man konnte damit drei Tage in der Tschechoslowakei bleiben.«

»Und nachher?«

»Wir bekamen drei Monate Aufenthaltserlaubnis. Dann mußten wir fort.«

»Wie lange sind Sie schon in Österreich?«

»Drei Monate.«

»Warum haben Sie sich nicht bei der Polizei gemeldet?«

»Weil ich dann sofort ausgewiesen worden wäre.«

»Na, na!« Der Hauptmann schlug mit der flachen Hand auf die Sessellehne. »Woher wissen Sie das so genau?«

Kern verschwieg, daß er und seine Eltern sich das erstemal, als sie über die österreichische Grenze gegangen waren, sofort bei der Polizei gemeldet hatten. Sie waren am gleichen Tage über die Grenze zurückgeschoben worden. Als sie dann wiederkamen, hatten sie sich nicht mehr gemeldet.

»Ist es vielleicht nicht wahr?« fragte er.

»Sie haben hier nicht zu fragen; Sie haben nur zu antworten«, sagte der Schreiber grob.

»Wo sind Ihre Eltern jetzt?« fragte der Hauptmann.

»Meine Mutter ist in Ungarn. Sie hat dort eine Aufenthaltserlaubnis bekommen, weil sie ungarischer Herkunft ist. Mein Vater ist verhaftet und ausgewiesen worden, als ich nicht im Hotel war. Ich weiß nicht, wo er ist!«

»Was sind Sie von Beruf?«

»Ich war Student.«

»Wovon haben Sie gelebt?«

»Ich habe etwas Geld.«

»Wieviel?«

»Ich habe zwölf Schillinge hier. Das andere habe ich bei Bekannten.«

Kern besaß nicht mehr als die zwölf Schillinge. Er hatte sie verdient durch Handel mit Seife, Parfüm und Toilettewasser. Hätte er das jedoch zugegeben, wäre er auch wegen verbotener Arbeit strafbar gewesen.

Der Hauptmann erhob sich und gähnte. »Sind wir durch?«

»Es ist noch einer unten«, sagte der Schreiber.

»Wird auch dasselbe sein. Viel Geschrei und wenig Wolle.« Der Hauptmann warf einen schiefen Blick auf den Leutnant. »Alles Leute, die illegal eingereist sind. Sieht nicht nach kommunistischem Komplott aus, was? Wer hat denn die Anzeige gemacht?«

»Jemand, der auch so eine Bude hat. Nur mit Wanzen«, sagte der Schreiber. »Geschäftsneid wahrscheinlich.«

Der Hauptmann lachte. Dann sah er, daß Kern noch im Zimmer war. »Bringt ihn hinunter. Sie wissen ja, was es gibt: vierzehn Tage Haft und Ausweisung.« Er gähnte nochmals. »Na, ich geh auf ein Gulasch und ein Bier.«

 

Man brachte Kern in eine kleinere Zelle als vorher. Außer ihm befanden sich noch fünf der Verhafteten darin; darunter der Pole, der mit im Zimmer geschlafen hatte. Nach einer Viertelstunde brachte man auch Steiner. Er setzte sich neben Kern. »Das erstemal im Kasten, Kleiner?«

Kern nickte.

»Und? Fühlst dich wie ein Mörder, was?«

Kern verzog die Lippen. »Ungefähr. Gefängnis – ich habe da noch so Vorstellungen von früher her.«

»Das hier ist nicht Gefängnis«, belehrte Steiner ihn. »Es ist Haft. Gefängnis kommt später.«

»Warst du schon drin?«

»Ja. Wirst es dir das erstemal zu Herzen nehmen. Dann nicht mehr. Besonders im Winter nicht. Hast wenigstens Ruhe während der Zeit. Ein Mensch ohne Paß ist eine Leiche auf Urlaub. Hat sich eigentlich nur umzubringen, sonst nichts.«

»Und mit Paß? Mit Paß bekommst du doch auch nirgendwo im Ausland Arbeitserlaubnis.«

»Natürlich nicht. Du hast damit nur das Recht, in Ruhe zu verhungern. Nicht auf der Flucht. Das ist schon viel.«

Kern starrte vor sich hin.

Steiner schlug ihm auf die Schulter. »Kopf hoch, Baby! Du hast dafür das Glück, im zwanzigsten Jahrhundert zu leben – im Jahrhundert der Kultur, des Fortschritts und der Menschlichkeit.«

»Gibt es hier eigentlich nichts zu essen?« fragte ein kleiner Mann mit einem Glatzkopf, der in der Ecke auf einer Pritsche saß. »Keinen Kaffee wenigstens?«

»Sie brauchen nur dem Kellner zu klingeln«, erwiderte Steiner. »Er soll die Karte bringen. Es gibt hier vier Menus zur Auswahl. Kaviar à discrétion selbstverständlich.«

»Essen särr schlecht hierr«, sagte der Pole.

»Ach, da ist ja unser Jesu Christo!« Steiner betrachtete ihn interessiert. »Bist du Professional hier?«

»Särr schlecht«, wiederholte der Pole. »Und so wennig –«

»O Gott!« sagte der Glatzkopf in der Ecke. »Und ich habe ein gebratenes Huhn in meinem Koffer. Wann werden sie uns hier bloß rauslassen?«

»In vierzehn Tagen«, erwiderte Steiner. »Das ist die übliche Strafe für Emigranten ohne Papiere. Nicht wahr, Jesu Christo? Du kennst das doch!«

»Vierzehn Tage«, bestätigte der Pole. »Odärr längerr. Essen särr wennig. Särr schlecht. Dünne Suppe.«

»Verflucht! In der Zeit ist das Huhn verfault.« Der Glatzkopf stöhnte. »Mein erstes Poulet seit zwei Jahren. Zusammengespart, Groschen für Groschen. Heute mittag wollte ich es essen.«

»Warten Sie bis heute abend mit Ihrem Schmerz«, sagte Steiner. »Dann können Sie annehmen, Sie hätten es schon gegessen, und Sie haben es leichter.«

»Was? Was reden Sie da für Unsinn?« Der Mann starrte Steiner aufgewühlt an. »Das soll dasselbe sein, Sie Quatschkopf? Wenn ich es doch nicht gegessen habe? Und außerdem hätte ich mir eine Keule noch für morgen früh aufgehoben.«

»Dann warten Sie bis morgen mittag.«

»Fürr mich das nicht schlimm«, mischte sich der Pole ein. »Esse nie Poulet.«

»Für dich kann’s doch auch nicht schlimm sein! Du hast doch keins gebraten im Koffer liegen«, schimpfte der Mann in der Ecke.

»Auch wenn ich hätte, nicht schlimm! Esse nie derselbe! Vertrage nicht Poulet. Kotze hinterher!« Der Pole sah sehr zufrieden aus und strählte seinen Bart. »Fürr mich garnicht schlimm, der Poulet!«

»Mann Gottes, das will ja niemand wissen!« schrie der Glatzkopf ärgerlich.

»Sogarr wenn Poulet hierr – ich demselben nicht essen!« verkündete der Pole triumphierend.

»Herrgott! Hat man sowas schon mal gehört!« Der Besitzer des Huhns im Koffer drückte verzweifelt die Hände gegen die Augen.

»Mit gebratenen Poulets kann ihm scheinbar nichts passieren«, sagte Steiner. »Unser Jesu Christo ist da immun. Ein Diogenes der Brathühner. Wie ist es denn mit Suppenhuhn?«

»Auch nicht«, erklärte der Pole fest.

»Und Paprikahuhn?«

»Ibberhaupt kein Huhn!« Der Pole strahlte.

»Ich werde verrückt!« heulte der gemarterte Besitzer des Poulets.

Steiner drehte sich um. »Und Eier, Jesu Christo? Hühnereier?«

Das Strahlen verschwand. »Eierchen, ja! Eierchen gärne!« Ein Schimmer von Sehnsucht umflog den zerrauften Bart. »Särr gärne.«

»Dem Himmel sei Dank! Endlich ein Loch in der Vollkommenheit!«

»Eierchen särr gärne«, beteuerte der Pole. »Vierr Stück, sechs Stück, zwölf Stück, gekocht sechs Stück, andere gebraten. Mit Bratkartoffelchens. Bratkartoffelchens mit Speck.«

»Ich kann das nicht mehr anhören! Schlagt ihn ans Kreuz, diesen gefräßigen Christus!« tobte das Huhn im Koffer.

»Meine Herren«, sagte eine warme Baßstimme mit russischem Akzent, »wozu soviel Aufregung um eine Illusion. Ich habe eine Flasche Wodka mit durchgebracht. Darf ich anbieten? Wodka wärmt das Herz und beruhigt das Gemüt.«

Der Russe entkorkte die Flasche, trank und reichte sie Steiner. Der nahm einen Schluck und gab sie an Kern weiter. Kern schüttelte den Kopf.

»Trink, Baby«, sagte Steiner. »Gehört dazu. Mußt es lernen.«

»Wodka särr gutt!« bestätigte der Pole.

Kern nahm einen Schluck und gab die Flasche an den Polen, der sie mit geübtem Griff in die Gurgel schwenkte.

»Er säuft sie aus, der Eierfetischist!« knurrte der Mann mit dem Poulet und entriß ihm die Flasche. »Es ist nicht mehr viel drin«, sagte er bedauernd zu dem Russen, nachdem er getrunken hatte.

Der wehrte ab. »Macht nichts. Ich komme spätestens heute abend raus.«

»Sind Sie dessen so sicher?« fragte Steiner.

Der Russe machte eine kleine Verbeugung. »Leider, möchte ich fast sagen. Ich besitze als Russe einen Nansenpaß.«

»Nansenpaß!« wiederholte das Poulet ehrfürchtig. »Da gehören Sie natürlich zur Aristokratie der Vaterlandslosen.«

»Es tut mir leid, daß es bei Ihnen noch nicht so weit ist«, sagte der Russe höflich.

»Sie hatten den Vorrang«, erwiderte Steiner. »Sie waren die ersten. Sie hatten das große Mitleid der Welt. Wir haben nur noch das kleine. Man bedauert uns; aber wir sind lästig und unerwünscht.«

Der Russe hob die Schultern. Dann reichte er die Flasche dem letzten Mann in der Zelle, der bisher schweigend dagesessen hatte. »Bitte, nehmen Sie doch auch einen Schluck.«

»Danke«, sagte der Mann ablehnend. »Ich gehöre nicht zu Ihnen.«

Alle sahen ihn an.

»Ich besitze einen gültigen Paß, ein Vaterland, Aufenthaltserlaubnis und Arbeitserlaubnis.«

Alle schwiegen. »Verzeihen Sie die Frage«, sagte der Russe nach einer Weile zögernd, »weshalb sind Sie denn dann hier?«

»Wegen meines Berufes«, erwiderte der Mann hochmütig. »Ich bin kein windiger Flüchtling ohne Papiere. Ich bin ein anständiger Taschendieb und Falschspieler mit vollem Bürgerrecht.«

 

Mittags gab es dünne Bohnensuppe ohne Bohnen. Abends dasselbe, nur hieß es diesmal Kaffee, und es gab ein Stück Brot dazu. Um sieben Uhr klapperte die Tür. Der Russe wurde abgeholt, wie er es vorausgesagt hatte. Er verabschiedete sich wie von alten Bekannten. »Ich werde in vierzehn Tagen ins Café Sperler schauen«, sagte er zu Steiner. »Vielleicht sind Sie dann schon dort, und ich weiß schon etwas. Auf Wiedersehen!«

Um acht Uhr war der Vollbürger und Falschspieler reif für den Anschluß. Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor und ließ sie herumgehen. Alle rauchten. Die Zelle bekam durch die Dämmerung und die glühenden Zigaretten fast etwas Heimatliches. Der Taschendieb erzählte, daß man nur nachforsche, ob er im letzten halben Jahr einen Coup gemacht habe. Er glaube nicht, daß man etwas fände. Dann schlug er vor, ein Spiel zu machen, und zauberte aus seinem Jackett ein Paket Karten.

Es war dunkel geworden, und das elektrische Licht wurde nicht angezündet. Der Falschspieler war darauf vorbereitet. Er zauberte noch einmal – eine Kerze und Streichhölzer. Die Kerze wurde auf einen Mauervorsprung geklebt. Sie gab ein mattes, flackerndes Licht.

Der Pole, das Poulet und Steiner rückten heran.

»Spielen ohne Geld, nicht wahr?« sagte das Poulet.

»Selbstverständlich.« Der Falschspieler lächelte.

»Spielst du nicht mit?« fragte Steiner Kern.

»Ich kann nicht Kartenspielen.«

»Mußt du lernen, Baby. Was willst du sonst abends machen?«

»Morgen. Heute nicht.«

Steiner drehte sich um. Das schwache Licht grub tiefe Furchen in sein Gesicht. »Ist was los mit dir?«

Kern schüttelte den Kopf. »Nein. Nur etwas müde. Lege mich auf die Pritsche da.«

Der Falschspieler mischte bereits die Karten. Er hatte eine knatternde, elegante Manier, sie ineinander schießen zu lassen. »Wer gibt?« fragte das Poulet.

Der Vollbürger reichte die Karten herum. Der Pole zog eine Neun, das Poulet eine Dame, Steiner und der Falschspieler jeder ein Aß.

Der Falschspieler sah kurz auf. »Stechen.«

Er zog. Wieder ein Aß. Er lächelte und gab das Paket an Steiner. Der warf nachlässig die unterste Karte des Spiels auf – das Kreuz-Aß.

»So ein Zufall!« Das Poulet lachte.

Der Falschspieler lachte nicht. »Woher kennen Sie den Trick?« fragte er Steiner betroffen. »Sind Sie aus der Branche?«

»Nein, Amateur. Da freut einen die Anerkennung des Fachmannes doppelt.«

»Es ist nicht das!« Der Falschspieler sah ihn an. »Der Trick stammt nämlich von mir.«

»Ach so!« Steiner zerdrückte seine Zigarette. »Ich habe ihn in Budapest gelernt. Im Gefängnis vor meiner Ausweisung. Von einem gewissen Katscher.«

»Katscher! Jetzt verstehe ich!« Der Taschendieb atmete auf. »Daher also! Katscher ist ein Schüler von mir. Sie haben das gut gelernt.«

»Ja«, sagte Steiner, »man lernt allerhand, wenn man unterwegs ist.«

Der Falschspieler übergab ihm das Spiel Karten und blickte prüfend in die Kerzenflamme. »Das Licht ist schlecht – aber wir spielen natürlich nur zum Vergnügen, meine Herren, nicht wahr? Ehrlich –«

 

Kern legte sich auf seine Pritsche und schloß die Augen. Er war voll von einer nebelhaften, grauen Traurigkeit. Seit dem Verhör morgens hatte er ununterbrochen an seine Eltern denken müssen; – seit langer Zeit zum erstenmale wieder. Er sah seinen Vater vor sich, als er von der Polizei zurückkam. Ein Konkurrent hatte ihn wegen staatsgefährlicher Reden bei der Gestapo denunziert, um sein kleines Laboratorium für medizinische Seifen, Parfüms und Toilettewasser zu ruinieren und es dann für nichts zu kaufen. Der Plan gelang wie tausend andere um diese Zeit. Kerns Vater kam völlig gebrochen nach sechs Wochen Haft zurück. Er sprach nie darüber; aber er verkaufte seine Fabrik für einen lächerlichen Preis an den Konkurrenten. Bald darauf kam die Ausweisung, und damit begann die Flucht ohne Ende. Von Dresden nach Prag; von Prag nach Brünn; von da nachts über die Grenze nach Österreich; – am nächsten Tag durch die Polizei zurück in die Tschechei; – heimlich ein paar Tage später wieder über die Grenze nach Wien; – die Mutter mit einem nachts gebrochenen Arm, notdürftig im Walde mit zwei Aststücken geschient; – von Wien nach Ungarn; ein paar Wochen bei Verwandten der Mutter; – dann wieder Polizei; der Abschied von der Mutter, die bleiben konnte, weil sie ungarischer Herkunft war; – wieder die Grenze; wieder Wien; – das erbärmliche Hausieren mit Seife, Toilettewasser, Hosenträgern und Schnürsenkeln; – die ewige Angst, angezeigt oder erwischt zu werden; – der Abend, an dem der Vater nicht wiederkam; – die Monate allein, von einem Versteck zum andern –

Kern drehte sich um. Dabei stieß er jemand an. Er öffnete die Augen. Auf der Pritsche neben ihm lag wie ein schwarzes Bündel in der Dunkelheit der letzte Bewohner der Zelle, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, der sich den ganzen Tag noch kaum gerührt hatte.

»Entschuldigen Sie«, sagte Kern. »Ich habe Sie nicht gesehen –«

Der Mann antwortete nicht. Kern bemerkte, daß er die Augen offen hatte. Er kannte diese Art von Zuständen; er hatte sie oft unterwegs gesehen. Es war am besten, den Mann in Ruhe zu lassen.

»Verdammt!« schrie plötzlich in der Ecke der Kartenspieler das Poulet auf. »Ich Ochse! Ich unerhörter Ochse!«

»Wieso?« fragte Steiner ruhig. »Die Herzdame war genau richtig!«

»Das meine ich ja nicht! Aber dieser Russe hätte mir doch mein Poulet schicken können! Herrgott, ich dämlicher Ochse! Ich einfach wahnsinniger Ochse!«

Er sah sich um, als ob die Welt untergegangen wäre.

Kern merkte auf einmal, daß er lachte. Er wollte nicht lachen. Aber er konnte plötzlich nicht mehr aufhören. Er lachte, daß er sich schüttelte, und er wußte nicht weshalb. Irgendetwas in ihm lachte und warf alles durcheinander, – Traurigkeit, Vergangenheit und alle Gedanken.

»Was ist los, Baby?« fragte Steiner und blickte von seinen Karten auf.

»Ich weiß nicht. Ich lache.«

»Lachen ist immer gut.« Steiner zog den Pik-König und trumpfte dem sprachlosen Polen einen todsicheren Stich ab.

Kern griff nach einer Zigarette. Alles erschien ihm auf einmal ganz einfach. Er beschloß, morgen Karten spielen zu lernen, und er hatte das merkwürdige Gefühl, als ändere dieser Entschluß sein ganzes Leben.

II

Nach fünf Tagen wurde der Falschspieler entlassen. Man hatte nichts gegen ihn finden können. Steiner und er schieden als Freunde. Der Falschspieler hatte die Zeit dazu benützt, die Methode seines Schülers Katscher bei Steiner zu vollenden. Zum Abschied schenkte er ihm das Spiel Karten, und Steiner begann mit dem Unterricht Kerns. Er brachte ihm Skat, Jass, Tarock und Poker bei; – Skat für Emigranten; Jass für die Schweiz; Tarock für Österreich; und Poker für alle anderen Fälle.

Nach vierzehn Tagen wurde Kern heraufgeholt. Ein Wachtmeister führte ihn in einen Raum, in dem ein älterer Mann saß. Das Zimmer erschien Kern riesig groß und so hell, daß er blinzeln mußte; er war schon an die Zelle gewöhnt.

»Sie sind Ludwig Kern, staatenlos, Student, geboren am 30. November 1914 in Dresden?« fragte der Mann gleichgültig und blickte in ein Papier.

Kern nickte. Er konnte nicht sprechen, seine Kehle war plötzlich trocken. Der Mann sah auf.

»Ja«, sagte Kern heiser.

»Sie haben sich ohne Papiere und unangemeldet in Österreich aufgehalten –« Der Mann las rasch das Protokoll herunter. »Sie sind zu vierzehn Tagen Haft verurteilt, die inzwischen verbüßt worden sind. Sie werden aus Österreich ausgewiesen. Jede Rückkehr ist strafbar. Hier ist der gerichtliche Ausweisungsbeschluß. Und hier haben Sie zu unterschreiben, daß Sie den Ausweisbeschluß zur Kenntnis genommen haben und wissen, daß jede Rückkehr strafbar ist. Hier rechts.«

Der Mann zündete sich eine Zigarette an. Kern sah wie gebannt auf die etwas schwammige Hand mit den dicken Adern, die das Streichholz hielt. Dieser Mann würde in zwei Stunden seinen Schreibtisch abschließen und zum Abendessen gehen; – nachher würde er vielleicht ein Tarock spielen und ein paar Gläser Heurigen trinken; – gegen elf Uhr würde er gähnen, seine Zeche zahlen und erklären: »Ich bin müde. Ich gehe nach Hause. Schlafen.« Nach Hause. Schlafen. Um dieselbe Zeit würde die Dunkelheit dicht über den Wäldern und Feldern an der Grenze liegen, die Dunkelheit, die Fremde, die Angst, und verloren darin, allein, stolpernd, müde, mit Sehnsucht nach Menschen und Angst vor Menschen, das winzige, flackernde Fünkchen Leben Ludwig Kern. Und all das nur, weil ihn und den gelangweilten Beamten hinter dem Schreibtisch ein Stück Papier trennte, Paß genannt. Ihr Blut hatte die gleiche Temperatur, ihre Augen hatten die gleiche Konstruktion, ihre Nerven reagierten auf die gleichen Reize, ihre Gedanken liefen in den gleichen Bahnen, – und doch trennte sie ein Abgrund, nichts war gleich bei ihnen, das Behagen des einen war die Qual des andern, sie waren Besitzender und Ausgestoßener, und der Abgrund, der sie trennte, war nur ein kleines Stück Papier, auf dem nichts weiter stand, als ein Name und ein paar belanglose Daten.

»Hier rechts«, sagte der Beamte. »Vor- und Zuname.«

Kern riß sich zusammen und unterschrieb.

»An welche Grenze wollen Sie gestellt werden?« fragte der Beamte.

»An die tschechische.«

»Gut. In einer Stunde geht’s los. Es wird Sie jemand hinbringen.«

»Ich habe noch ein paar Sachen in dem Hause, wo ich gewohnt habe. Kann ich die vorher abholen?«

»Was für Sachen?«

»Einen Koffer mit Wäsche und sowas.«

»Gut. Sagen Sie es dem Beamten, der Sie an die Grenze bringt. Sie können vorbeigehen.«

Der Wachtmeister führte Kern wieder hinunter und nahm Steiner mit hinauf. »Was war los?« fragte das Poulet neugierig.

»In einer Stunde kommen wir raus.«

»Jesus Christus!« sagte der Pole. »Geht Scheiße dann wieder los.«

»Möchtest du hier bleiben?« fragte das Poulet.

»Wenn Essen bessärr – und kleine Posten als Kalfaktor – gärrne.«

Kern nahm sein Taschentuch hervor und rieb seinen Anzug sauber, so gut es ging. Sein Hemd war sehr schmutzig geworden in den vierzehn Tagen. Er drehte die Manschetten um. Er hatte sie die ganze Zeit geschont. Der Pole sah ihm zu. »In ein, zwei Jahren das dirr ganz eggal«, prophezeite er.

»Wohin gehst du?« fragte das Poulet.

»Tschechei. Und du? Nach Ungarn?«

»Schweiz. Hab’s mir überlegt. Komm mit. Von da lassen wir uns dann nach Frankreich schieben.«

Kern schüttelte den Kopf. »Nein, ich will sehen, daß ich nach Prag komme.«

Ein paar Minuten später wurde Steiner wieder hereingebracht. »Weißt du, wie der Polizist heißt, der mich bei der Verhaftung ins Gesicht geschlagen hat?« fragte er Kern. »Leopold Schäfer. Er wohnt Trautenaugasse 27. Sie haben es mir aus dem Protokoll vorgelesen. Natürlich nicht, daß er mich geschlagen hat. Nur daß ich ihn bedroht hätte.« Er sah Kern an. »Glaubst du, daß ich den Namen und die Adresse vergessen werde?«

»Nein«, sagte Kern. »Bestimmt nicht.«

»Das meine ich auch!«

 

Ein Kriminalbeamter in Zivil holte Steiner und Kern ab. Kern war aufgeregt. Vor der Tür blieb er unwillkürlich stehen. Das Bild, das er sah, prallte wie ein weicher, südlicher Wind gegen seine Stirn. Der Himmel war blau und ein wenig dämmerig über den Häusern, die Giebel leuchteten im letzten, roten Schein der Sonne, die Donau schimmerte, und auf der Straße schoben sich beglänzte Autobusse durch den Strom heimkehrender und spazierender Menschen. Eine Schar Mädchen in hellen Kleidern drängte lachend und eilig dicht vorbei. Kern glaubte, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben.

»Los, gehen wir«, sagte der Kriminalbeamte.

Kern zuckte zusammen. Beschämt sah er an sich herunter. Er bemerkte, daß ein Vorbeigehender ihn ungeniert musterte.

Sie gingen durch die Straßen, der Beamte in der Mitte. Die Cafés hatten Tische und Stühle herausgeholt, und überall saßen fröhliche, plaudernde Menschen. Kern senkte den Kopf und begann, schneller zu gehen. Steiner sah ihn mit gutmütigem Spott an. »Na, Kleiner, ist nichts für uns, was? Das da.«

»Nein«, erwiderte Kern und preßte die Lippen zusammen.

Sie kamen zu ihrer Pension. Die Wirtin empfing sie mit einer Mischung von Ärger und Mitleid. Sie gab ihnen ihre Sachen gleich heraus. Es war nichts gestohlen worden. Kern hatte in der Zelle die Absicht gehabt, ein sauberes Hemd anzuziehen, aber jetzt, nachdem er durch die Straßen gegangen war, tat er es nicht. Er nahm den zerstoßenen Koffer unter den Arm und bedankte sich bei der Wirtin.

»Es tut mir leid, daß Sie solche Unannehmlichkeiten hatten«, sagte er.

Die Wirtin wehrte ab. »Lassen Sie sich’s nur gutgehen. Und Sie auch, Herr Steiner. Wo soll’s denn hin?«

Steiner machte eine ziellose Geste. »Den Weg der Grenzwanzen. Von Gebüsch zu Gebüsch.«

Die Wirtin stand einen Augenblick unentschlossen. Dann trat sie mit energischem Schritt an ein Wandschränkchen aus Nußbaumholz, das in Form einer mittelalterlichen Burg gearbeitet war. »Nehmen Sie noch einen auf den Weg –«

Sie holte drei Gläser und eine Flasche hervor und schenkte ein.

»Sliwowitz?« fragte Steiner.

Sie nickte und bot dem Beamten auch ein Glas an.

Der wischte sich den Schnurrbart. »Unsereins tut schließlich nur seine Pflicht«, erklärte er.

»Natürlich!« Die Wirtin goß sein Glas wieder voll. »Warum trinken Sie denn nicht?« fragte sie Kern.

»Ich kann nicht. So auf den leeren Magen –«

»Ach so!« Die Wirtin blickte ihn prüfend an. Sie hatte ein schwammiges, kaltes Gesicht, das jetzt unversehens wärmer wurde. »Gott ja, er wächst wohl noch«, murmelte sie. »Franzi«, rief sie dann. »Ein belegtes Brot!«

»Danke, das ist nicht nötig«, Kern errötete. »Ich habe keinen Hunger.«

Die Kellnerin brachte ein großes doppeltes Schinkenbrot. »Zieren Sie sich nicht«, sagte die Wirtin. »Vorwärts.«

»Willst du nicht die Hälfte?« fragte Kern Steiner. »Es ist zu viel für mich.«

»Rede nicht! Iß!« erwiderte Steiner.

Kern aß das Schinkenbrot auf und trank ein Glas Sliwowitz. Dann verabschiedeten sie sich. Sie fuhren mit der Straßenbahn hinaus. Kern fühlte sich plötzlich sehr müde. Das Rattern des Wagens schläferte ihn ein. Er sah die Häuser wie im Traum vorübergleiten, Fabrikshöfe, Straßen, Wirtsgärten mit hohen Nußbäumen, Wiesen, Felder und die sanfte, blaue Dämmerung des Abends. Er war satt, das wirkte auf ihn wie ein Rausch. Seine Gedanken wurden unscharf, sie verloren sich in Träumen, – von einem weißen Hause zwischen blühenden Kastanien, von einer Deputation feierlicher Menschen in Gehröcken, die ihm einen Ehrenbürgerbrief überreichten, und von einem uniformierten Diktator, der ihn weinend kniefällig um Entschuldigung bat.

Es war fast dunkel, als sie am Zollhaus ankamen. Der Kriminalbeamte übergab sie der Zollwache und stapfte dann zurück durch die fliederfarbene Dämmerung.

»Es ist noch zu früh«, sagte der Zollbeamte, der die Automobile abfertigte. »So um halb zehn ist die beste Zeit.«

Kern und Steiner setzten sich vor die Tür auf eine Bank und sahen zu, wie die Automobile ankamen. Nach einiger Zeit kam ein zweiter Zollbeamter heraus. Er führte sie rechts vom Zollhaus einen Fußweg entlang. Sie kamen durch Felder, die stark nach Erde und Tau rochen, an ein paar Häusern mit erleuchteten Fenstern und einem Waldstreifen vorbei. Nach einiger Zeit blieb der Beamte stehen. »Geht hier weiter und haltet euch links, damit ihr durch die Büsche gedeckt seid, bis ihr an die Morawa kommt. Sie ist jetzt nicht tief. Ihr könnt leicht hindurchwaten.«

Die beiden gingen. Es war sehr still. Nach einer Weile sah Kern sich um. Die schwarze Silhouette des Beamten hob sich vom Horizont ab. Er beobachtete sie. Sie gingen weiter.

 

An der Morawa zogen sie sich aus. Sie packten ihre Kleider und ihr Gepäck zu einem Bündel zusammen. Das Wasser war moorig und schimmerte braun und silbern. Es waren Sterne und Wolken am Himmel, und der Mond brach manchmal durch.

»Ich werde vorangehen«, sagte Steiner. »Ich bin größer als du.«

Sie wateten durch den Fluß. Kern fühlte das Wasser kühl und geheimnisvoll an seinem Körper hochsteigen, als wollte es ihn nie mehr freigeben. Vor ihm tastete sich Steiner langsam und vorsichtig vorwärts. Er hielt seinen Rucksack und seine Kleider über den Kopf. Seine breiten Schultern waren weiß vom Mond überschienen. In der Mitte des Flusses blieb er stehen und sah sich um. Kern war dicht hinter ihm. Er lächelte und nickte ihm zu.

Sie kletterten ans gegenüberliegende Ufer und trockneten sich mit ihren Taschentüchern flüchtig ab. Dann zogen sie sich an und gingen weiter. Nach einer Weile blieb Steiner stehen. »Jetzt sind wir über die Grenze«, sagte er. Seine Augen waren hell und fast gläsern in dem durchscheinenden Licht. Er sah Kern an. »Wachsen die Bäume anders? Riecht der Wind anders? Sind es nicht dieselben Sterne? Sterben die Menschen anders?«

»Nein«, sagte Kern. »Das nicht. Aber ich fühle mich anders.«

 

Sie suchten sich einen Platz unter einer alten Buche, wo sie vor Sicht geschützt waren. Vor ihnen lag eine langsam abfallende Wiese. In der Ferne schimmerten die Lichter eines slowakischen Dorfes. Steiner band seinen Rucksack auf, um nach Zigaretten zu suchen. Dabei sah er auf Kerns Koffer. »Ich habe gefunden, daß ein Rucksack praktischer ist als ein Koffer. Er fällt nicht so auf. Man hält dich für einen harmlosen Wandervogel.«

»Wandervögel revidiert man auch«, erwiderte Kern. »Alles, was arm aussieht, revidiert man. Ein Auto wäre das beste.«

Sie zündeten sich Zigaretten an. »Ich gehe in einer Stunde zurück«, sagte Steiner. »Und du?«

»Ich will versuchen, nach Prag zu kommen. Die Polizei ist da besser. Man bekommt leicht ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis und dann muß man weitersehen. Vielleicht finde ich auch meinen Vater, und er kann mir helfen. Ich habe gehört, er wäre da.«

»Weißt du, wo er wohnt?«

»Nein.«

»Wieviel Geld hast du?«

»Zwölf Schillinge.«

Steiner kramte in seiner Rocktasche. »Hier hast du etwas dazu. Das reicht ungefähr bis Prag.«

Kern blickte auf. »Nimm’s ruhig«, sagte Steiner. »Ich habe noch genug für mich.«

Er zeigte ein paar Scheine. Kern konnte im Schatten der Bäume nicht sehen, was für welche es waren. Er zauderte einen Augenblick. Dann nahm er das Geld.

»Danke«, sagte er.

Steiner erwiderte nichts. Er rauchte. Die Zigarette glomm auf, wenn er zog, und beleuchtete sein verschattetes Gesicht. »Weshalb bist du eigentlich unterwegs?« fragte Kern zögernd. »Du bist doch kein Jude!«

Steiner schwieg eine Zeitlang. »Nein, ich bin kein Jude«, sagte er endlich.

Es raschelte im Gebüsch hinter ihnen. Kern sprang auf. »Ein Hase oder ein Kaninchen«, sagte Steiner. Dann wandte er sich Kern zu. »Damit du daran denken kannst, Kleiner, wenn du mal verzweifelst. Du bist draußen, dein Vater ist draußen, deine Mutter ist draußen. Ich bin draußen – aber meine Frau ist in Deutschland. Und ich weiß nichts von ihr.«

Es raschelte wieder hinter ihnen. Steiner drückte seine Zigarette aus und lehnte sich an den Stamm der Buche. Es begann zu wehen. Der Mond hing über dem Horizont. Ein Mond, kreidig und unbarmherzig wie in jener letzten Nacht –

*

Nach seiner Flucht aus dem Konzentrationslager hatte Steiner sich eine Woche lang bei einem Freunde verborgen gehalten. Er hatte in einer abgeschlossenen Dachkammer gesessen, immer bereit, über das Dach zu fliehen, wenn er ein verdächtiges Geräusch hören würde. Nachts brachte ihm der Freund Brot, Konserven und ein paar Flaschen Wasser. In der zweiten Nacht ein paar Bücher. Steiner las sie tagsüber immer wieder, um sich abzulenken. Er durfte kein Licht anzünden und nicht rauchen. Seine Notdurft mußte er in einen Topf verrichten, der in einem Pappkarton verborgen war. Der Freund holte ihn nachts herunter und brachte ihn wieder hinauf. Sie mußten so vorsichtig sein, daß sie kaum miteinander flüsterten; die Dienstmädchen, die nebenan schliefen, hätten sie hören und verraten können.

»Weiß Marie es?« fragte Steiner in der ersten Nacht.

»Nein. Das Haus ist bewacht.«

»Ist ihr etwas passiert?«

Der Freund schüttelte den Kopf und ging.

Steiner fragte immer dasselbe. Jede Nacht. In der vierten Nacht brachte der Freund endlich die Nachricht, daß er sie gesehen habe. Sie wisse jetzt, wo er sei. Er habe es ihr zuflüstern können. Morgen sähe er sie wieder. Auf dem Wochenmarkt im Gedränge. Steiner verbrachte den nächsten Tag damit, ihr einen Brief zu schreiben, den der Freund ihr zustecken sollte. Abends zerriß er ihn. Er wußte nicht, ob man sie beobachtete. Nachts bat er aus demselben Grunde den Freund, sie nicht mehr zu treffen. Er blieb noch drei Nächte in der Kammer. Endlich kam der Freund mit Geld, einer Fahrkarte und einem Anzug. Steiner schnitt sich das Haar und wusch es mit Wasserstoffsuperoxyd hell. Dann rasierte er sich den Schnurrbart ab. Vormittags verließ er das Haus. Er trug eine Monteurjacke und einen Kasten mit Werkzeug. Er sollte sofort aus der Stadt hinaus; aber er wurde schwach. Es war zwei Jahre her, daß er seine Frau gesehen hatte. Er ging zum Wochenmarkt. Nach einer Stunde kam sie. Er fing an zu zittern. Sie ging an ihm vorüber, aber sie sah ihn nicht. Er folgte ihr, und als er dicht hinter ihr war, sagte er: »Sieh dich nicht um! Ich bins! Geh weiter! Geh weiter!«

Ihre Schultern zuckten, und sie warf den Kopf zurück. Dann ging sie weiter. Aber es war, als wäre sie nur noch ein einziges Lauschen nach rückwärts.

»Hat man dir etwas getan?« fragte die Stimme hinter ihr.

Sie schüttelte den Kopf.

»Beobachtet man dich?«

Sie nickte.

»Jetzt?«

Sie zögerte. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Ich gehe jetzt gleich. Will versuchen, durchzukommen. Ich kann dir nicht schreiben. Es ist zu gefährlich für dich.«

Sie nickte.

»Du mußt dich von mir scheiden lassen.«

Die Frau verhielt eine Sekunde den Schritt. Dann ging sie weiter.

»Du mußt dich von mir scheiden lassen. Du mußt morgen hingehen. Du mußt sagen, daß du dich wegen meiner Gesinnung scheiden lassen willst. Du hättest das alles früher nicht gewußt. Hast du es verstanden?«

Die Frau rührte den Kopf nicht. Sie ging steif aufgerichtet weiter.

»Versteh mich doch«, flüsterte Steiner. »Es ist nur, damit du in Sicherheit bist! Es würde mich verrückt machen, wenn sie dir was täten! Du mußt dich scheiden lassen; – dann lassen sie dich in Ruhe!«

Die Frau antwortete nicht.

»Ich liebe dich, Marie«, sagte Steiner leise, zwischen den Zähnen hindurch, und die Augen flimmerten ihm vor Erregung. »Ich liebe dich, und ich gehe nicht weg, wenn du es nicht versprichst! Ich gehe zurück, wenn du es nicht versprichst! Verstehst du mich?«

Nach einer Ewigkeit, schien ihm, nickte die Frau.

»Versprichst du es mir?«

Die Frau nickte langsam. Ihre Schultern sanken zusammen.

»Ich biege jetzt ab und komme den Gang rechts herauf. Geh links herum und komm mir entgegen. Sprich nichts, tu nichts! Ich will dich nur noch einmal sehen. Dann gehe ich. Wenn du nichts hörst, bin ich durchgekommen.«

Die Frau nickte und ging rascher.

Steiner bog ab und ging die Gasse rechts hinauf. Sie war eingesäumt von den Buden der Schlächter. Frauen mit Körben feilschten vor den Ständen. Das Fleisch glänzte blutig und weiß in der Sonne. Es roch unerträglich. Die Schlächter schrien. Aber plötzlich versank alles. Das Hacken der Beile auf den Holzklötzen wurde zum feinen Dengeln von Sensen. Eine Wiese war da, ein Kornfeld, Freiheit, Birken, Wind und der geliebte Schritt und das geliebte Gesicht. Ihre Augen faßten sich und ließen sich nicht los, und in ihnen war alles: Schmerz und Glück und Liebe und Trennung, das Leben schwankend hoch über ihren Gesichtern, voll und süß und wild, und der Verzicht, das rasende Kreisen der tausend flimmernden Messer.

Sie gingen und standen still zugleich, und sie gingen und wußten es nicht. Dann stürzte die Leere grell in Steiners Augen, und erst nach einer Weile unterschied er wieder die Farben und das Kaleidoskop, das sinnlos vor seinen Augäpfeln abrollte und nicht eindrang.

Er stolperte weiter, dann ging er rasch, so schnell er konnte, ohne aufzufallen. Er stieß die Hälfte eines geschlachteten Schweines von einem mit Wachstuch belegten Tisch, er hörte das Schimpfen des Schlächters wie das Rasseln einer Trommel, er lief um die Ecke der Budengasse und blieb stehen.

Er sah sie fortgehen vom Markt. Sie ging sehr langsam. An der Ecke der Straße blieb sie stehen und drehte sich um. So stand sie lange Zeit, das Gesicht etwas emporgehoben, die Augen weit offen. Der Wind zerrte an ihren Kleidern und drückte sie gegen ihren Körper. Steiner wußte nicht, ob sie ihn sah. Er wagte nicht, sich ihr noch einmal zu zeigen. Er ahnte, daß sie vielleicht zurücklaufen würde zu ihm. Nach langer Zeit hob sie die Hände und legte sie um ihre Brüste. Sie hielt sie ihm hin. Sie hielt sich ihm hin. Sie hielt sich ihm hin in einer schmerzvoll leeren, blinden Umarmung, den Mund geöffnet, mit geschlossenen Augen. Dann wandte sie sich langsam ab, und die Schattenschlucht der Straße verschluckte sie.

Drei Tage später kam Steiner über die Grenze. Die Nacht war hell und windig, und der Mond stand kreidig am Himmel. Steiner war ein harter Mensch, aber als er die Grenze überquert hatte, naß von kaltem Schweiß, drehte er sich um und sagte wie irrsinnig in die Richtung, aus der er kam, den Namen seiner Frau.

*

Er nahm eine neue Zigarette heraus. Kern gab ihm Feuer.

»Wie alt bist du?« fragte Steiner.

»Einundzwanzig. Bald zweiundzwanzig.«

»So, bald zweiundzwanzig. Kein Spaß, Baby, was?«

Kern schüttelte den Kopf.

Steiner schwieg eine Zeitlang. Dann sagte er. »Mit einundzwanzig war ich im Krieg. In Flandern. War auch kein Spaß. Da ist dieses hier hundertmal besser. Verstehst du?«

»Ja.« Kern drehte sich um. »Es ist auch besser, als tot zu sein. Das weiß ich alles.«

»Dann weißt du schon viel. Vor dem Kriege wußten nur wenige Leute sowas.«

»Vor dem Kriege, – das war vor hundert Jahren.«

»Vor tausend. Mit zweiundzwanzig Jahren lag ich im Lazarett. Da habe ich etwas gelernt. Willst du wissen, was?«

»Ja.«

»Schön.« Steiner zog an seiner Zigarette. »Ich hatte nichts Besonderes. Fleischdurchschuß ohne viel Schmerzen. Aber neben mir lag mein Freund. Nicht irgendein Freund. Mein Freund. Ein Splitter hatte ihm den Bauch aufgerissen. Er lag da und schrie. Kein Morphium, verstehst du? Hatten sogar für die Offiziere zu wenig. Am zweiten Tag war er so heiser, daß er nur noch stöhnte. Flehte mich an, ein Ende zu machen. Hätte es getan, wenn ich gewußt hätte, wie. Am dritten Tag gab’s mittags auf einmal Erbsensuppe. Dicke Friedenssuppe mit Speck. Vorher hatten wir nur so eine Art Aufwaschwasser gekriegt. Wir aßen sie. Waren furchtbar hungrig. Und während ich fraß wie ein heißhungriges Vieh, selbstvergessen mit Genuß fraß, sah ich über den Rand der Schüssel das Gesicht meines Freundes, die zerborstenen, aufgerissenen Lippen, ich sah, daß er unter Qualen starb, zwei Stunden später war er tot, und ich fraß, und es schmeckte mir wie nie in meinem Leben.«

Er machte eine Pause.

»Ihr hattet eben schrecklichen Hunger«, sagte Kern.

»Nein, das war es nicht. Es war etwas anderes: daß neben dir jemand verrecken kann – und du nichts davon spürst. Mitleid, gut, – aber die Schmerzen spürst du trotzdem nicht! Dein Bauch ist heil, das ist es. Einen halben Meter neben dir geht für einen andern die Welt unter in Gebrüll und Qual, – und du spürst nichts. Das ist das Elend der Welt! Merk dir das, Baby. Deshalb geht es so langsam vorwärts. Und so schnell rückwärts. Glaubst du’s?«

»Nein«, sagte Kern.

Steiner lächelte. »Klar. Aber denk mal gelegentlich dran. Vielleicht hilft dir’s.«

Er stand auf. »Ich will los. Zurück. Der Zöllner glaubt nicht, daß ich jetzt kommen werde. Er hat die erste halbe Stunde aufgepaßt. Morgen früh wird er wieder aufpassen. Daß ich inzwischen rüberrücken könnte, geht nicht in seinen Kopf. Zöllnerpsychologie. Gottlob ist der Gejagte meistens nach einiger Zeit klüger als der Jäger. Weißt du warum?«

»Nein.«

»Weil für ihn mehr auf dem Spiele steht.« Er schlug Kern auf die Schulter. »Deshalb sind die Juden das schlaueste Volk der Erde geworden. Erstes Gesetz des Lebens: Gefahr schärft die Sinne.«

Er gab Kern die Hand. Sie war groß und trocken und warm. »Mach’s gut. Vielleicht sehen wir uns mal wieder. Ich werde abends öfter im Café Sperler sein. Kannst da nach mir fragen.«

Kern nickte.

»Also mach’s gut. Und vergiß das Kartenspielen nicht. Es lenkt ab, ohne daß man denken muß. Ein hohes Ziel für Leute ohne Bleibe. Du bist nicht schlecht in Jass und Tarock. Im Poker mußt du noch mehr riskieren. Mehr bluffen.«

»Gut«, sagte Kern. »Ich werde mehr bluffen. Und ich danke dir auch. Für alles.«

»Dankbarkeit mußt du dir abgewöhnen. Nein, gewöhn sie dir nicht ab. Kommst besser damit durch. Ich meine nicht bei den Leuten, das ist gleichgültig. Bei dir. Wärmt dir das Herz, wenn du’s mal sein kannst. Und denk dran: alles besser als Krieg!«

»Und besser als tot.«

»Tot weiß ich nicht. Aber besser als sterben auf jeden Fall. Servus, Baby!«

»Servus, Steiner!«

 

Kern blieb noch eine Zeitlang sitzen. Der Himmel war klar geworden, und die Landschaft war voll Frieden. Sie war ohne Menschen.

Kern saß schweigend im Schatten der Buche. Das helle durchscheinende Grün der Blätter bauschte sich über ihm wie ein großes Segel; – als triebe der Wind die Erde sanft durch den unendlichen, blauen Raum, – vorbei an den Signallichtern der Sterne und der Leuchtboje des Mondes.

Kern beschloß zu versuchen, nachts noch bis Preßburg zu kommen und von da nach Prag. Eine Stadt war immer am sichersten. Er öffnete seinen Koffer und nahm das saubere Hemd und ein paar Strümpfe hervor, um sich umzuziehen. Er wußte, daß es wichtig war, wenn ihm jemand begegnete. Er wollte es auch, um das Gefängnis loszuwerden.

Es war ihm sonderbar zumute, als er nackt im Mondlicht dastand. Er kam sich wie ein verlorenes Kind vor. Rasch nahm er das frische Hemd, das im Grase vor ihm lag, und streifte es über. Es war ein blaues Hemd, das war praktisch, denn es schmutzte nicht so leicht. Im Mondlicht sah es fahlgrau und violett aus. Er nahm sich vor, mutig zu bleiben.

III

Kern kam nachmittags in Prag an. Er ließ seinen Koffer am Bahnhof und ging sofort zur Polizei. Er wollte sich nicht melden; er wollte nur in Ruhe nachdenken, was er tun sollte. Dazu war das Polizeigebäude der beste Platz. Dort streiften keine Polizisten umher und fragten nach Papieren.

Er setzte sich auf eine Bank im Korridor. Gegenüber lag das Büro, in dem die Fremden abgefertigt wurden. »Ist der Beamte mit dem Spitzbart noch da?« fragte er einen Mann, der neben ihm wartete.

»Ich weiß nicht. Der, den ich kenne, hat keinen.«

»Aha! Kann sein, daß er versetzt ist. Wie sind sie denn jetzt hier?«

»Es geht«, sagte der Mann. »Ein paar Tage Aufenthalt kriegt man schon. Aber nachher wird’s schwer. Es sind zuviele hier.«

Kern überlegte. Wenn er ein paar Tage Aufenthaltserlaubnis erhielt, konnte er beim Komitee für Flüchtlingshilfe für ungefähr eine Woche Eß- und Schlafkarten bekommen, das wußte er von früher her. Wenn er sie nicht bekam, riskierte er, daß man ihn einsperrte und zurück über die Grenze schob.

»Sie sind dran«, sagte der Mann neben ihm.

Kern sah ihn an. »Wollen Sie nicht vorgehen? Ich habe Zeit.«

»Gut.«

Der Mann stand auf und ging hinein. Kern beschloß abzuwarten, was mit ihm passierte, um sich dann zu entscheiden, ob er selbst hineingehen sollte oder nicht. Unruhig wandelte er auf dem Korridor hin und her. Endlich kam der Mann wieder heraus. Kern ging rasch auf ihn zu. »Wie war es?« fragte er.

»Zehn Tage!« Der Mann strahlte. »So ein Glück! Und ohne zu fragen. Muß gut gelaunt sein. Oder vielleicht, weil heute nicht so viele da sind. Das letztemal hatte ich nur fünf Tage.«

Kern gab sich einen Ruck. »Dann werde ich es auch versuchen.«

Der Beamte hatte keinen Spitzbart. Trotzdem kam er Kern bekannt vor. Vielleicht hatte er sich den Bart inzwischen abnehmen lassen. Er spielte mit einem zierlichen Federmesser aus Perlmutter und warf einen müden Fischblick auf Kern. »Emigrant?«

»Ja.«

»Aus Deutschland gekommen?«

»Ja. Heute.«

»Irgendwelche Papiere?«

»Nein.«

Der Beamte nickte. Er ließ die Klingen seines Messers zuschnappen und klappte den Schraubenzieher auf. Kern sah, daß in der perlmutternen Schale außerdem noch eine Nagelfeile eingelassen war. Der Beamte begann vorsichtig damit, seinen Daumennagel zu glätten.

Kern wartete. Es schien ihm, als wäre der Nagel des müden Mannes vor ihm das Wichtigste auf der Welt. Er wagte kaum zu atmen, um ihn nicht zu stören und ihn ärgerlich zu machen. Er preßte nur verstohlen die Hände auf dem Rücken fest aneinander.

Der Nagel war endlich fertig. Der Beamte besah ihn befriedigt und blickte auf. »Zehn Tage«, sagte er. »Sie können zehn Tage hier bleiben. Dann müssen Sie raus.«

Die Spannung in Kern löste sich jäh. Er glaubte, er fiele, aber er atmete nur tief. Dann faßte er sich rasch. Er hatte gelernt, den Zufall festzuhalten. »Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich vierzehn Tage haben könnte«, sagte er.

»Das geht nicht. Warum?«

»Ich warte darauf, daß mir Papiere nachgeschickt werden. Dazu muß ich eine feste Adresse haben. Ich möchte dann nach Österreich.«

Kern hatte Angst, im letzten Augenblick noch alles zu verderben; aber er konnte nicht mehr zurück. Er log glatt und schnell. Er hätte ebensogern die Wahrheit gesagt, aber er wußte, daß er lügen mußte. Der Beamte dagegen wußte, daß er diese Lügen glauben mußte; – denn es gab keine Möglichkeit, sie zu kontrollieren. So kam es, daß beide fast glaubten, von der Wahrheit zu reden.

Der Beamte ließ den Schraubenzieher seines Messers zuschnappen. »Gut«, sagte er. »Ausnahmsweise vierzehn Tage. Aber es gibt dann keine Verlängerung.«

Er nahm einen Zettel und begann zu schreiben. Kern sah ihm zu, als schriebe ein Erzengel. Er konnte kaum fassen, daß alles so geklappt hatte. Bis zum letzten Augenblick erwartete er, daß der Beamte in der Kartothek nachsehen und feststellen könnte, daß er schon zweimal in Prag war. Zur Vorsicht gab er deshalb einen anderen Vornamen und falsche Geburtsdaten an. Er konnte dann immer noch behaupten, das damals sei ein Bruder von ihm gewesen.

Aber der Beamte war viel zu müde, um etwas nachzusehen. Er schob Kern den Zettel hin. »Hier! Sind noch mehr draußen?«

»Nein, ich glaube nicht. Vorhin wenigstens war niemand mehr da.«

»Gut.«

Der Mann zog ein Taschentuch hervor und begann liebevoll die Perlmutterschalen seines Messers zu putzen. Er merkte kaum noch, daß Kern sich bedankte und dann so rasch hinausging, als könne ihm sein Papier noch jetzt wieder abgenommen werden.

Erst draußen, vor dem Tor des Gebäudes, blieb er stehen und sah sich um. Du süßer Himmel, dachte er überwältigt, du süßer, blauer Himmel! Ich bin zurückgekommen und nicht eingesperrt worden! Ich brauche vierzehn Tage lang keine Angst zu haben, vierzehn volle Tage und vierzehn Nächte, eine Ewigkeit! Gott segne den Mann mit dem Perlmuttermesser! Möge er demnächst eins finden, das noch eine versenkbare Uhr und eine goldene Schere enthält!

Neben ihm vor dem Eingang stand ein Polizist. Kern fühlte nach dem Ausweis in seiner Tasche. Mit einem Entschluß trat er dann auf den Polizisten zu. »Wie spät ist es, Wachtmeister?« fragte er.

Er hatte selbst eine Uhr bei sich. Aber es war ein zu seltenes Erlebnis, einmal vor einem Polizisten keine Angst haben zu brauchen.

»Sieben«, brummte der Polizist.

»Danke.« Kern ging langsam die Treppe hinunter. Er wäre am liebsten gelaufen. Jetzt erst glaubte er, daß alles wirklich wahr war.

 

Der große Warteraum des Komitees für Flüchtlingshilfe war überfüllt mit Menschen. Trotzdem wirkte er auf eine sonderbare Weise kahl. Die Leute standen und saßen im Halbdunkel herum wie Schatten. Fast niemand sprach. Jeder hatte alles, was ihn anging, schon hundertmal gesagt und besprochen. Jetzt gab es nur noch eins, zu warten. Es war die letzte Barriere vor der Verzweiflung.

Über die Hälfte der Anwesenden waren Juden. Neben Kern saß ein bleicher Mensch mit einem Birnenschädel, der einen Geigenkasten auf den Knien hielt. Auf der andern Seite hockte ein alter Mann, über dessen gebuckelte Stirn eine Narbe lief. Er öffnete und schloß ruhelos die Hände. Daneben saßen, eng zusammengeschmiegt, ein blonder, junger Mann und ein dunkles Mädchen. Sie hielten die Hände fest ineinander verschränkt, als fürchteten sie, wenn ihre Aufmerksamkeit nur einen Augenblick nachließe, auch hier noch auseinandergerissen zu werden. Sie sahen sich nicht an; sie sahen irgendwohin in den Raum und in ihre Vergangenheit hinein, und ihre Augen waren leer von Gefühl. Hinter ihnen saß eine dicke Frau, die lautlos weinte. Die Tränen liefen ihr aus den Augen, über die Wangen und das Kinn auf das Kleid; sie achtete nicht darauf und machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Ihre Hände lagen schlaff in ihrem Schoß.

In dieser schweigenden Ergebenheit und Trauer spielte