Die Nacht von Lissabon - E.M. Remarque - E-Book
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E.M. Remarque

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Beschreibung

»Selbst dort, wo er zurückblickt, ist es die Gegenwart, die er anspricht.« Wilhelm von Sternburg über Erich Maria Remarque. »Die Nacht von Lissabon« ist Remarques ergreifendster Roman. Es ist die Geschichte vom Elend und von der Größe des Menschen im Krieg, eine Geschichte, die zeigt, dass es weder einen Preis für Menschlichkeit gibt noch einen Preis für Unmenschlichkeit. Es gibt nur Geschichten von Jammer und Elend, von Größe, Liebe und Leidenschaft. Der Roman ist ein Gleichnis der absurden menschlichen Situation im Machtbereich der Diktatur.

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Seitenzahl: 422

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Erich Maria Remarque

Die Nacht von Lissabon

Roman

In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Erich Maria Remarque

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

FrontispizWidmungI. KapitelII. KapitelIII. KapitelIV. KapitelV. KapitelVI. KapitelVII. KapitelVIII. KapitelIX. KapitelX. KapitelXI. KapitelXII. KapitelXIII. KapitelXIV. KapitelXV. KapitelXVI. KapitelXVII. KapitelXVIII. KapitelAnhangDie Fassung des Vorabdrucks … Mit Beginn von Kapitel III …Zu Beginn von Kapitel VII … Zu Beginn von Kapitel XIII … Die Rückkehr von Schwarz und Helen …In die Folterszene in Kapitel XVII …Im Vorfeld der Veröffentlichung der Buchausgabe …Editorische NotizKäfig aus goldenen TränenWeiterführende Literatur
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Für Paulette Goddard

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I

Ich starrte auf das Schiff. Es lag ein Stück vom Quai entfernt, grell beleuchtet, im Tejo. Obschon ich seit einer Woche in Lissabon war, hatte ich mich noch immer nicht an das sorglose Licht dieser Stadt gewöhnt. In den Ländern, aus denen ich kam, lagen die Städte nachts schwarz da wie Kohlengruben, und eine Laterne in der Dunkelheit war gefährlicher als die Pest im Mittelalter. Ich kam aus dem Europa des zwanzigsten Jahrhunderts.

Das Schiff war ein Passagierdampfer, der beladen wurde. Ich wußte, daß es am nächsten Abend abgehen sollte. Im harten Schein der nackten elektrischen Birnen wurden Ladungen von Fleisch, Fisch, Konserven, Brot und Gemüse verstaut; Arbeiter schleppten Gepäck an Bord, und ein Kran schwang Kisten und Ballen so lautlos herauf, als wären sie ohne Gewicht. Das Schiff rüstete sich zur Fahrt, als wäre es eine Arche zur Zeit der Sintflut. Es war eine Arche. Jedes Schiff, das in diesen Monaten des Jahres 1942 Europa verließ, war eine Arche. Der Berg Ararat war Amerika, und die Flut stieg täglich. Sie hatte Deutschland und Österreich seit langem überschwemmt und stand tief in Polen und Prag; Amsterdam, Brüssel, Kopenhagen, Oslo und Paris waren bereits in ihr untergegangen, die Städte Italiens stanken nach ihr, und auch Spanien war nicht mehr sicher. Die Küste Portugals war die letzte Zuflucht geworden für die Flüchtlinge, denen Gerechtigkeit, Freiheit und Toleranz mehr bedeuteten als Heimat und Existenz. Wer von hier das Gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren. Er mußte verbluten im Gestrüpp der verweigerten Ein- und Ausreisevisen, der unerreichbaren Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Einzelnen, die stets die Folge von Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Paß alles.

Ich war nachmittags im Casino von Estoril gewesen, um zu spielen. Ich besaß noch einen guten Anzug, und man hatte mich hineingelassen. Es war ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, das Schicksal zu bestechen. Unsere portugiesische Aufenthaltserlaubnis lief in wenigen Tagen ab, und Ruth und ich hatten keine anderen Visa. Das Schiff, das im Tejo lag, war das letzte, mit dem wir in Frankreich gehofft hatten, New York zu erreichen; aber es war seit Monaten ausverkauft, und uns hätten, außer der amerikanischen Einreiseerlaubnis, auch noch über dreihundert Dollar Fahrgeld gefehlt. Ich hatte versucht, wenigstens das Geld zu bekommen, in der einzigen Art, die hier noch möglich war – durch Spielen. Es war sinnlos gewesen, denn selbst wenn ich gewonnen hätte, hätte immer noch ein Wunder geschehen müssen, um auf das Schiff zu kommen. Doch auf der Flucht und in Verzweiflung und Gefahr lernt man, an Wunder zu glauben; sonst würde man nicht überleben.

Ich hatte von den zweiundsechzig Dollar, die wir noch besessen hatten, sechsundfünfzig verloren.

 

Der Quai war in der späten Nacht ziemlich leer. Nach einer Weile bemerkte ich jedoch einen Mann, der ziellos hin- und herging, dann stehenblieb und ebenso zu dem Schiff hinüberstarrte wie ich. Ich nahm an, er sei auch einer der vielen Gestrandeten, und beachtete ihn nicht weiter, bis ich spürte, daß er mich beobachtete. Die Furcht vor der Polizei verläßt den Flüchtling nie, nicht einmal im Schlaf, auch wenn er nichts zu fürchten hat – deshalb drehte ich mich sofort scheinbar gelangweilt um und verließ langsam den Quai wie jemand, der vor nichts Angst zu haben braucht.

Kurz darauf hörte ich Schritte hinter mir. Ich ging weiter, ohne schneller zu werden, während ich überlegte, wie ich Ruth benachrichtigen könne, wenn ich verhaftet würde. Die pastellfarbenen Häuser, die am Ende des Quais wie Schmetterlinge in der Nacht schliefen, waren noch zu weit entfernt, als daß ich, ohne Gefahr, angeschossen zu werden, zu ihnen hätte hinüberlaufen können, um in den Gassen zu verschwinden.

Der Mann war jetzt neben mir. Er war etwas kleiner als ich. »Sind Sie Deutscher?« fragte er auf deutsch.

Ich schüttelte den Kopf und ging weiter.

»Österreicher?«

Ich antwortete nicht. Ich sah auf die pastellfarbenen Häuser, die viel zu langsam näherkamen. Ich wußte, daß es portugiesische Polizisten gab, die sehr gut deutsch sprachen.

»Ich bin kein Polizist«, sagte der Mann.

Ich glaubte ihm nicht. Er war in Zivil, aber Gendarmen in Zivil hatten mich ein halbes dutzendmal in Europa festgenommen. Ich hatte zwar jetzt Ausweispapiere bei mir, die nicht schlecht gemacht waren, in Paris von einem Mathematikprofessor aus Prag, aber sie waren etwas gefälscht.

»Ich sah Sie, wie Sie das Schiff betrachteten«, sagte der Mann. »Deshalb dachte ich –«

Ich streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick. Er sah nicht aus wie ein Polizist; aber der letzte Gendarm, der mich in Bordeaux erwischt hatte, hatte so erbarmungswürdig ausgesehen wie Lazarus nach drei Tagen im Grabe, und er war der unbarmherzigste von allen gewesen. Er hatte mich verhaftet, obschon er wußte, daß die deutschen Truppen in einem Tage in Bordeaux sein sollten, und ich wäre verloren gewesen, hätte mich ein barmherziger Gefängnisdirektor nicht ein paar Stunden später freigelassen.

»Möchten Sie nach New York?« fragte der Mann.

Ich antwortete nicht. Ich brauchte nur noch zwanzig Meter, um ihn niederstoßen und entfliehen zu können, wenn es notwendig war.

»Hier sind zwei Fahrkarten für das Schiff, das drüben liegt«, sagte der Mann und griff in seine Tasche.

Ich sah die Scheine. Ich konnte sie im schwachen Licht nicht lesen. Aber wir waren jetzt weit genug gekommen. Ich konnte riskieren stehenzubleiben.

»Was soll das alles?« fragte ich auf portugiesisch. Ich kannte ein paar Worte davon.

»Sie können sie haben«, sagte der Mann. »Ich brauche sie nicht.«

»Sie brauchen sie nicht? Was heißt das?«

»Ich brauche sie nicht mehr.«

Ich starrte den Mann an. Ich begriff ihn nicht. Er schien tatsächlich kein Polizist zu sein. Um mich festzunehmen, hätte er solche ausgefallenen Tricks nicht nötig gehabt. Aber wenn die Fahrscheine echt waren, weshalb konnte er sie dann nicht gebrauchen? Und wozu bot er sie mir an? Um sie zu verkaufen? Etwas in mir begann zu zittern.

»Ich kann sie nicht kaufen«, sagte ich schließlich auf deutsch. »Sie sind ein Vermögen wert. Es soll in Lissabon reiche Emigranten geben; die werden Ihnen dafür zahlen, was Sie verlangen. Sie sind an den Falschen gekommen. Ich habe kein Geld.«

»Ich will sie nicht verkaufen«, sagte der Mann.

Ich blickte wieder auf die Scheine. »Sind sie echt?«

Er reichte sie mir, ohne zu antworten. Sie knisterten in meinen Händen. Sie waren echt. Sie zu besitzen war der Unterschied zwischen Untergang und Rettung. Selbst wenn ich sie nicht benutzen konnte, weil wir keine amerikanischen Visa hatten, konnte ich morgen vormittag noch versuchen, daraufhin welche zu bekommen – oder ich konnte sie zumindest verkaufen. Das bedeutete sechs Monate mehr Leben.

Ich verstand den Mann nicht.

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte ich.

»Sie können sie haben«, erwiderte er. »Umsonst. Ich verlasse Lissabon morgen vormittag. Ich habe nur eine Bedingung.«

Ich ließ die Hände sinken. Ich hatte gewußt, daß es nicht wahr sein konnte. »Was?« fragte ich.

»Ich möchte diese Nacht nicht allein bleiben.«

»Sie wollen, daß wir zusammenbleiben?«

»Ja. Bis morgen früh.«

»Das ist alles?«

»Das ist alles.«

»Sonst nichts?«

»Sonst nichts.«

Ungläubig blickte ich den Mann an. Ich war zwar daran gewöhnt, daß Leute unserer Art manchmal zusammenbrachen; daß sie oft nicht alleinbleiben konnten; daß sie die Platzangst von Menschen bekamen, für die nirgendwo mehr Platz ist; und daß ein Genosse in einer Nacht, sei er auch noch so fremd, einen vor dem Selbstmord bewahren konnte; aber es war dann selbstverständlich, daß man sich half; man setzte keine Preise dafür aus. Und nicht solche.

»Wo wohnen Sie?« fragte ich.

Er machte eine abwehrende Bewegung. »Dahin will ich nicht. Gibt es keine Kneipe, in der man noch sitzen kann?«

»Es gibt sicher noch welche.«

»Gibt es keine für Emigranten? So wie das Café de la Rose in Paris?«

Ich kannte das Café de la Rose. Ruth und ich hatten dort zwei Wochen geschlafen. Der Wirt erlaubte es einem, wenn man einen Kaffee bestellte. Man brachte ein paar Zeitungen mit und legte sich auf den Boden. Ich hatte nie auf den Tischen geschlafen; vom Fußboden konnte man nicht herunterfallen.

»Ich weiß keines«, erwiderte ich. Ich wußte eines; aber man führt einen Mann, der zwei Schiffskarten verschenken wollte, nicht dahin, wo Leute ein Auge hergegeben hätten, um sie zu bekommen.

»Ich kenne hier nur ein einziges Lokal«, sagte der Mann. »Aber wir können es versuchen. Vielleicht ist es noch offen.«

Er winkte ein einsames Taxi heran und sah mich an. »Gut«, sagte ich.

Wir stiegen ein, und er nannte dem Chauffeur eine Adresse. Ich hätte gern Ruth noch benachrichtigt, daß ich die Nacht nicht zurückkäme; aber plötzlich, als ich in das schlecht riechende, dunkle Taxi einstieg, sprang mich eine so wilde, entsetzliche Hoffnung an, daß ich fast taumelte. Vielleicht war dies alles wirklich wahr; vielleicht war unser Leben noch nicht zu Ende und das Unmögliche wurde Tatsache: unsere Rettung. Ich getraute mich nicht mehr, den Fremden auch nur eine Sekunde allein zu lassen.

Wir umfuhren die theatralische Kulisse der Praça do Comércio und kamen nach einiger Zeit in ein Gewirr von Treppen und Gassen, die aufwärts führten. Ich kannte diesen Teil Lissabons nicht; ich kannte, wie immer, hauptsächlich die Kirchen und die Museen – nicht weil ich Gott oder die Kunst so liebte, sondern einfach, weil man in Kirchen und Museen nicht nach seinen Papieren gefragt wurde. Vor dem Gekreuzigten und den Meistern der Kunst war man noch Mensch – nicht ein Individuum mit zweifelhaften Ausweisen.

Wir verließen das Taxi und stiegen die Treppen und winkligen Gassen empor. Es roch nach Fischen, Knoblauch, Nachtblumen, toter Sonne und Schlaf. Das Kastell St. George wuchs im steigenden Mond zur Seite aus der Nacht, und das Licht stürzte wie ein Wasserfall in Kaskaden die vielen Stufen hinab. Ich wandte mich um und sah zum Hafen hinunter. Da unten war der Fluß, und der Fluß war die Freiheit, er war das Leben, er mündete in das Meer, und das Meer war Amerika.

Ich blieb stehen. »Ich hoffe, Sie machen keine Scherze mit mir«, sagte ich.

»Nein«, erwiderte der Mann.

»Keine Scherze mit den Schiffskarten, meine ich.« Er hatte sie auf dem Quai wieder in seine Tasche gesteckt.

»Nein«, sagte der Mann, »ich mache keine Scherze.« Er zeigte auf einen kleinen Platz, der von Bäumen eingefaßt war. »Da drüben ist das Lokal, das ich meine. Es ist noch offen. Wir fallen nicht auf. Es kommen fast nur Ausländer dahin. Man wird uns für Leute halten, die morgen reisen werden. So wie die andern, die dort ihre letzte Nacht in Portugal feiern und morgen aufs Schiff gehen.«

 

Das Lokal war eine Art von Bar mit einem kleinen Viereck zum Tanzen und einer Terrasse, ein Platz, zurechtgemacht für den Touristenverkehr. Man hörte eine Gitarre und sah im Hintergrund eine Fadosängerin. Auf der Terrasse waren einige Tische mit Fremden besetzt. Eine Frau in einem Abendkleid und ein Mann in einem weißen Smoking waren dabei. Wir fanden einen Platz am Ende der Terrasse. Man konnte auf Lissabon hinabsehen, auf die Kirchen im blassen Licht, die erleuchteten Straßen, den Hafen, die Docks und auf das Schiff, das eine Arche war.

»Glauben Sie an ein Weiterleben nach dem Tode?« fragte der Mann mit den Billets.

Ich blickte auf. Ich hätte alles andere erwartet. Es war eine zu unvermutete Frage. »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich schließlich. »Ich war in den letzten Jahren zu sehr mit dem Weiterleben vor dem Tode beschäftigt. Wenn ich in Amerika bin, werde ich gern darüber nachdenken«, fügte ich hinzu, um ihn daran zu erinnern, daß er mir die Billets versprochen hatte.

»Ich glaube nicht daran«, sagte er.

Ich atmete auf. Ich war bereit, einem Unglücklichen zuzuhören, aber ich hätte nicht gern diskutiert. Ich hatte keine Ruhe dazu. Unten lag das Schiff.

Der Mann saß eine Zeitlang da, als schliefe er mit offenen Augen. Dann, als der Gitarrespieler auf die Terrasse kam, wachte er auf. »Ich heiße Schwarz«, sagte er. »Es ist nicht mein richtiger Name; er ist der, der auf meinem Paß steht. Aber ich habe mich an ihn gewöhnt, und er wird für heute nacht genügen. Waren Sie lange in Frankreich?«

»So lange es ging.«

»Interniert?«

»Als der Krieg ausbrach. Wie alle andern.«

Der Mann nickte. »Wir auch. Ich war glücklich«, sagte er dann plötzlich leise und rasch, den Kopf gesenkt, die Augen abgewandt. »Ich war sehr glücklich. Glücklicher als ich je geglaubt hätte, sein zu können.«

Ich drehte mich überrascht um. Er sah wahrhaftig nicht so aus. Er wirkte eher wie ein mittelmäßiger, etwas schüchterner Mann.

»Wann?« fragte ich. »Etwa im Lager?«

»Im letzten Sommer.«

»1939? In Frankreich?«

»Ja. Im Sommer vor dem Kriege. Ich begreife jetzt noch nicht, wie alles kam. Deshalb muß ich mit jemand darüber reden. Ich kenne niemand hier. Wenn ich mit jemand darüber rede, wird es noch einmal da sein. Es wird mir dann ganz klarwerden. Und es wird bleiben. Ich muß es nur noch einmal –« Er brach ab. »Verstehen Sie?« fragte er nach einer Weile.

»Ja«, erwiderte ich und fügte behutsam hinzu: »Es ist nicht schwer zu verstehen, Herr Schwarz.«

»Es ist überhaupt nicht zu verstehen!« erwiderte er, plötzlich heftig und leidenschaftlich. »Sie liegt da unten in einem Zimmer, in dem die Fenster geschlossen sind, in einem scheußlichen Holzsarg, tot, und sie ist es nicht mehr! Wer kann das verstehen? Niemand! Sie nicht und ich nicht, und niemand, und wer sagt, er verstehe es, der lügt!«

Ich schwieg und wartete. Ich hatte schon öfter so mit jemand gesessen. Verluste waren schwerer durchzustehen, wenn man ohne eigenes Land war. Nichts stützte einen dann, und die Fremde wurde schrecklich fremd. Ich hatte es in der Schweiz erlebt, als ich die Nachricht erhielt, daß man meine Eltern in Deutschland im Konzentrationslager umgebracht und verbrannt hatte. Ich hatte immerfort an die Augen meiner Mutter im Feuer des Ofens denken müssen. Es verfolgte mich jetzt noch.

»Ich nehme an, Sie wissen, was der Emigranten-Koller ist«, sagte Schwarz ruhiger.

Ich nickte. Ein Kellner brachte eine Schüssel Garnelen. Ich fühlte plötzlich, daß ich sehr hungrig war, und erinnerte mich daran, daß ich seit mittags nichts gegessen hatte. Unschlüssig sah ich zu Schwarz hinüber. »Essen Sie nur«, sagte er. »Ich werde warten.«

Er bestellte Wein und Zigaretten. Ich aß rasch. Die Garnelen waren frisch und würzig. »Es tut mir leid«, sagte ich, »aber ich bin sehr hungrig.«

Ich beobachtete Schwarz, während ich aß. Er saß ruhig da und sah auf die theatralische Stadt hinunter, weder ungeduldig noch verärgert. Ich spürte etwas wie Zuneigung. Er schien mit den Geboten falschen Anstandes aufgeräumt zu haben und zu wissen, daß man hungrig sein und essen konnte, während neben einem jemand litt, ohne daß man deshalb gefühllos zu sein brauchte. Wenn man nichts für den andern tun konnte, war es ebenso gut, sein Brot zu essen, wenn man hungrig war, bevor es einem weggenommen wurde. Man wußte nie, wann es einem weggenommen wurde.

Ich schob den Teller beiseite und nahm eine Zigarette.

Ich hatte lange nicht geraucht.

Ich hatte das Geld gespart, um heute etwas mehr zum Spielen zu haben.

 

»Ich bekam den Koller im Frühjahr 39«, sagte Schwarz. »Ich war über fünf Jahre in der Emigration gewesen. Wo waren Sie im Herbst 38?«

»In Paris.«

»Ich auch. Ich hatte damals aufgegeben. Es war die Zeit vor dem Münchner Pakt. Die Agonie der Angst. Ich versteckte und verteidigte mich zwar noch automatisch, aber ich hatte abgeschlossen. Es würde Krieg geben, und die Deutschen würden kommen und mich holen. Das war mein Schicksal. Ich hatte mich damit abgefunden.«

Ich nickte. »Es war die Zeit der Selbstmorde. Sonderbar, als die Deutschen eineinhalb Jahre später wirklich kamen, waren die Selbstmorde seltener.«

»Dann kam der Münchner Pakt«, sagte Schwarz. »Das Leben wurde einem plötzlich neu geschenkt in diesem Herbst 38! Es war von einer solchen Leichtigkeit, daß man unvorsichtig wurde. Die Kastanien blühten sogar zum zweitenmal in Paris, erinnern Sie sich? Ich wurde so leichtsinnig, daß ich mich wie ein Mensch fühlte und mich leider auch so benahm. Die Polizei faßte mich und steckte mich wegen wiederholter unerlaubter Einreise für vier Wochen ein. Dann begann das alte Spiel: ich wurde bei Basel über die Grenze geschoben, von den Schweizern zurückgeschickt, von den Franzosen an einer anderen Stelle wieder hinübergebracht, eingesperrt – Sie kennen ja dieses Schachspiel mit Menschen –«

»Ich kenne es. Es war kein Spaß im Winter. Schweizer Gefängnisse waren die besten. Warm wie Hotels.«

Ich begann wieder zu essen. Unangenehme Erinnerungen hatten etwas Gutes: sie überzeugten einen, daß man glücklich war, wenn man eine Sekunde vorher noch geglaubt hat, es nicht zu sein. Glück ist eine Sache von Graden. Wer das beherrscht, ist selten ganz unglücklich.

Ich war glücklich in Schweizer Gefängnissen gewesen, weil es keine deutschen waren. Aber vor mir saß ja ein Mann, der behauptete, das Glück gepachtet zu haben, obschon irgendwo in Lissabon ein Holzsarg in einem ungelüfteten Zimmer stand.

»Als man mich das letzte Mal freiließ, drohte man mir, daß man mich nach Deutschland abschieben müsse, wenn man mich noch einmal ohne Papiere erwische«, erklärte Schwarz. »Es war nur eine Drohung; aber sie erschreckte mich. Ich fing an nachzudenken, was ich tun müßte, wenn es wirklich geschähe. Dann begann ich nachts zu träumen, ich wäre drüben und die SS wäre hinter mir her. Ich träumte es so oft, daß ich mich schließlich fürchtete, einzuschlafen. Kennen Sie das auch?«

»Ich könnte eine Doktorarbeit darüber schreiben«, erwiderte ich. »Leider.«

»Eines Nachts träumte ich, daß ich in Osnabrück wäre, der Stadt, wo ich gelebt hatte und wo meine Frau noch wohnte. Ich stand in ihrem Zimmer und sah, daß sie krank war. Sie war sehr mager und weinte. Ich wachte verstört auf. Ich hatte sie über fünf Jahre nicht gesehen und nichts von ihr gehört. Ich hatte ihr auch nie geschrieben, weil ich nicht wußte, ob ihre Post überwacht würde. Vor der Flucht hatte sie mir versprochen, sich von mir scheiden zu lassen. Es sollte ihr Schwierigkeiten ersparen. Einige Jahre glaubte ich auch, sie hätte es getan.«

Schwarz schwieg eine Weile. Ich fragte ihn nicht, weshalb er Deutschland verlassen hatte. Es gab dafür genug Gründe. Keiner von ihnen war interessant, denn jeder war ungerecht. Ein Opfer zu sein, ist nicht interessant. Er war entweder Jude, oder er hatte einer politischen Partei angehört, die dem bestehenden Regime feindlich war, oder er hatte Feinde, die plötzlich einflußreich geworden waren – es gab Dutzende von Gründen, um in Deutschland in ein Konzentrationslager gesteckt oder totgeschlagen zu werden.

»Es gelang mir, wieder nach Paris zu kommen«, sagte Schwarz. »Aber der Traum verließ mich nicht. Er kam wieder. Um dieselbe Zeit zerbrach auch die Illusion des Münchner Paktes. Im Frühjahr wußte man, daß es bestimmt Krieg geben würde. Man roch ihn, wie man einen Brand riecht, lange bevor man ihn sieht. Nur die Diplomatie der Welt hielt sich hilflos die Augen zu und träumte Wunschträume – von einem zweiten und dritten München, von allem, aber nur keinem Krieg. Nie hat es soviel Glauben an Wunder gegeben wie in unserer Zeit, wo es keine mehr gibt.«

»Es gibt noch welche«, erwiderte ich. »Sonst wären wir alle nicht mehr am Leben.«

Schwarz nickte. »Sie haben recht. Private Wunder. Ich habe selbst eines erlebt. Es begann in Paris. Ich erbte plötzlich einen gültigen Paß. Es ist der Paß, der auf den Namen Schwarz lautet. Er gehörte einem Österreicher, mit dem ich im Café de la Rose bekannt geworden war. Der Mann starb und hinterließ mir den Paß und sein Geld. Er war erst vor drei Monaten angekommen. Ich hatte ihn im Louvre kennengelernt – vor den Bildern der Impressionisten. Ich verbrachte damals viele Nachmittage dort, um mich zu beruhigen. Wenn man vor diesen sonnegetränkten, stillen Landschaften stand, glaubte man nicht, daß eine Tierrasse, die so etwas schaffen konnte, gleichzeitig einen mörderischen Krieg vorhaben könne – eine Illusion, die den Blutdruck für eine Stunde etwas senkte.

Der Mann mit dem Paß auf den Namen Schwarz saß oft vor den Seerosen- und Kathedralenbildern von Monet. Wir kamen ins Gespräch, und er erzählte mir, daß es ihm gelungen sei, nach der Machtergreifung in Österreich freizukommen und das Land zu verlassen, indem er auf sein Vermögen verzichtete. Es hatte aus einer Sammlung von Impressionisten bestanden, die an den Staat gefallen war. Er bedauerte es nicht. Solange in Museen Bilder ausgestellt wären, könne er sie wie seine eigenen betrachten, sagte er, ohne die Sorge um Feuer und Diebstahl zu haben. Außerdem wären in den Museen in Frankreich viel bessere Bilder, als er je besessen hätte. Anstatt an seine eigene limitierte Sammlung gekettet zu sein wie ein Vater an seine Familie, mit der Verpflichtung, die Seinen zu bevorzugen und dadurch beeinflußt zu werden, gehörten ihm nun alle Bilder in öffentlichen Sammlungen, ohne daß er dafür etwas tun müsse. Er war ein sonderbarer Mann, still, sanft und heiter trotz allem, was hinter ihm lag. Er hatte fast kein Geld mitnehmen dürfen; aber er hatte eine Anzahl alter Briefmarken gerettet. Briefmarken sind das Kleinste, um es zu verstecken, besser als Diamanten. Auf Diamanten kann man schlecht gehen, wenn man sie in den Schuhen versteckt hat und zum Verhör geführt wird. Sie sind auch nicht ohne große Verluste und viele Fragen zu verkaufen. Briefmarken sind für Sammler. Sammler fragen nicht viel.«

»Wie hat er sie herausbekommen?« fragte ich, mit dem professionellen Interesse jedes Emigranten.

»Er hat alte, belanglose, geöffnete Briefe mitgenommen und die Marken zwischen das Futter und den Umschlag gesteckt. Die Zollbeamten revidierten die Briefe; nicht die Umschläge.«

»Gut«, sagte ich.

»Er hatte außerdem noch zwei kleine Portraits von Ingres mitgenommen. Bleistiftzeichnungen. Er hatte sie in breite Passepartouts und geschmacklose Talmirahmen gesteckt und behauptet, es seien Portraits seiner Eltern. Hinter die Passepartouts hatte er zwei Degaszeichnungen so geklebt, daß sie nicht zu sehen waren.«

»Gut«, sagte ich wieder.

»Er bekam einen Herzanfall im April und gab mir seinen Paß, die Marken, die er noch hatte, und die Zeichnungen. Er gab mir auch die Adressen von Leuten, die die Marken kaufen würden. Als ich am nächsten Morgen nach ihm sah, lag er tot in seinem Bett, und ich erkannte ihn kaum, so verändert hatte die Stille ihn. Ich nahm das Geld, das er noch besaß, und einen Anzug und etwas Wäsche mit mir. Er hatte mir am Tage vorher gesagt, es zu tun; es sei besser, Schicksalsgenossen bekämen es, als der Wirt.«

»Sie haben den Paß geändert?« fragte ich.

»Nur das Photo und das Geburtsjahr. Schwarz war fünfundzwanzig Jahre älter als ich. Unsere Vornamen waren gleich.«

»Wer hat es gemacht? Brünner?«

»Jemand aus München.«

»Das war Brünner, der Paßdoktor. Er war sehr tüchtig.«

Brünner war bekannt gewesen für seine guten Korrekturen. Er hatte manchem geholfen, besaß aber selbst keinen Ausweis, als er gefaßt wurde, weil er abergläubisch war; er glaubte, er sei ehrlich und ein Wohltäter, und ihm würde nichts passieren, solange er seine Kunst nicht für sich selbst benützte. Vor der Emigration hatte er eine kleine Druckerei in München gehabt.

»Wo ist er jetzt?« fragte ich.

»Ist er nicht in Lissabon?«

Ich wußte es nicht. Aber es war möglich, wenn er noch lebte.

 

»Es war merkwürdig, als ich den Paß hatte«, sagte Schwarz II. »Ich getraute mich nicht, ihn zu benutzen. Es dauerte ohnehin ein paar Tage, ehe ich mich an den neuen Namen gewöhnte. Ich sagte ihn mir immerfort vor. Ich ging über die Champs-Élysées und murmelte meinen Namen und meine neuen Geburtsdaten. Ich saß im Museum vor den Renoirs und flüsterte, wenn ich allein war, einen imaginären Dialog; – mit scharfer Stimme: ›Schwarz!‹, um sofort aufzuspringen und zu antworten: ›Das bin ich!‹ –, oder ich schnarrte: ›Name!‹, um sofort automatisch daherzuleiern: ›Josef Schwarz, geboren in Wiener Neustadt am 22. Juni 1898‹. Sogar abends vor dem Schlafengehen trainierte ich. Ich wollte nicht irgendwann von einem Polizisten nachts aufgeweckt werden und im Halbschlaf das Falsche sagen. Ich wollte meinen früheren Namen vergessen. Es war ein Unterschied, keinen Paß oder einen falschen zu haben. Der falsche war gefährlicher.

Ich verkaufte die beiden Ingreszeichnungen. Man gab mir weniger dafür, als ich erwartet hatte, aber ich besaß auf einmal Geld, mehr Geld, als ich lange Zeit gesehen hatte.

Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, der mich danach nicht mehr losließ. Konnte ich nicht mit diesem Paß nach Deutschland reisen? Er war fast gültig, und warum sollte jemand Verdacht an der Grenze schöpfen? Ich konnte dann meine Frau wiedersehen. Ich konnte die Angst um sie zum Schweigen bringen. Ich konnte –«

Schwarz sah mich an. »Sie kennen das ja sicher! Den Emigranten-Koller in seiner reinsten Form. Den Krampf im Magen, in der Kehle und hinter den Augen. Das, was man fünf Jahre hindurch in die Erde gestampft, zu vergessen gesucht, gemieden hat wie einen Cholerakranken, steht wieder auf: die tödliche Erinnerung, der Krebs der Seele für den Emigranten!

Ich versuchte mich zu befreien. Ich ging wie früher zu den Bildern des Friedens und der Stille, zu den Sisleys und Pissarros und Renoirs, ich saß stundenlang im Museum – aber jetzt war die Wirkung umgekehrt. Die Bilder beruhigten mich nicht mehr – sie begannen zu rufen, zu fordern, zu erinnern – an ein Land, noch nicht verwüstet von dem braunen Aussatz, an Abende in Gassen, über deren Mauern Flieder hing, an die goldene Dämmerung der alten Stadt, an ihre schwalbenumflogenen, grünen Kirchtürme – und an meine Frau.

Ich bin ein mittelmäßiger Mensch und habe keine besonderen Eigenschaften. Ich hatte mit meiner Frau vier Jahre gelebt, wie man zu leben pflegte: ohne Schwierigkeiten, angenehm, aber auch ohne große Passion. Nach den ersten Monaten war unser Verhältnis das geworden, was man eine gute Ehe nennt – eine Beziehung zwischen zwei Menschen, die akzeptieren, daß Rücksicht aufeinander die Grundlage für ein behagliches Zusammensein ist. Wir vermißten die Träume nicht. So wenigstens schien es mir. Wir waren vernünftige Menschen. Wir hatten uns herzlich gern.

Jetzt verschob sich alles. Ich begann mich anzuklagen, eine so mittelmäßige Ehe geführt zu haben. Ich hatte alles versäumt. Wozu hatte ich gelebt? Was tat ich jetzt? Ich verkroch mich und vegetierte. Wie lange würde es noch dauern? Und wie würde es enden? Der Krieg würde kommen, und Deutschland mußte siegen. Es war das einzige Land, das voll bewaffnet war. Was würde dann passieren? Wohin konnte ich kriechen, wenn ich noch Zeit und Atem hatte? In welchem Lager würde ich verhungern? An welcher Mauer durch einen Genickschuß umgelegt werden, wenn ich Glück hatte?

Der Paß, der mir hätte Ruhe geben sollen, trieb mich zur Verzweiflung. Ich lief auf den Straßen umher, bis ich so müde war, daß ich fast umfiel; aber ich konnte nicht schlafen, und wenn ich schlief, weckten mich die Träume wieder auf. Ich sah meine Frau in einem Gestapokeller; ich hörte sie vom Hinterhof des Hotels um Hilfe rufen; und eines Tages, als ich ins Café de la Rose eintrat, glaubte ich, im Spiegel, der schräg gegenüber der Tür hängt, ihr Gesicht zu sehen, das sich mir flüchtig zuwandte – bleich, mit trostlosen Augen – und dann wegglitt. Es war so deutlich, daß ich annahm, sie sei da, und rasch in den hinteren Raum lief. Das Zimmer war, wie immer, voll von Menschen, aber sie war nicht darunter.

Einige Tage lang war das dann eine fixe Idee: daß sie herübergekommen sei und mich suche. Ich sah sie hundertmal um eine Ecke gehen, sie saß auf den Bänken des Luxembourg-Gartens, und wenn ich hinkam, hob sich ein erstauntes fremdes Gesicht mir entgegen; sie kreuzte die Place de la Concorde, gerade bevor der Strom der Automobile wieder einsetzte, und diesmal war sie es wirklich – es war ihr Gang, die Art, wie sie ihre Schultern hielt, ich glaubte sogar, ihr Kleid zu erkennen, aber wenn der Verkehrspolizist endlich die Autoschlange stoppte und ich ihr nacheilen konnte, war sie verschwunden, eingeschluckt in den schwarzen Schlund der Untergrundbahn – und wenn ich dort unten auf dem Bahnsteig ankam, sah ich gerade noch die höhnischen Schlußlichter des abfahrenden Zuges in der Dunkelheit.

Ich vertraute mich einem Bekannten an. Er hieß Löser, handelte mit Strümpfen und war früher Arzt in Breslau gewesen. Er riet mir, weniger allein zu sein. »Finden Sie eine Frau«, sagte er.

Es half nichts. Sie kennen die Verhältnisse aus Not, aus Einsamkeit, aus Angst, die Flucht zu etwas Wärme, zu einer Stimme, einem Körper – das Aufwachen in einem elenden Raum in einem fremden Land, wie herabgefallen von der Erde, und dann die trostlose Dankbarkeit, einen anderen Atem neben sich zu hören – aber was ist das gegen den Zwang der Phantasie, die das Blut trinkt und einen am Morgen aufwachen läßt mit dem schalen Geschmack, daß man sich mißbraucht hat?

Wenn ich es jetzt erzähle, ist alles unsinnig und widerspricht sich; damals war es nicht so. Aus all den Kämpfen blieb immer das eine übrig: ich mußte zurück. Ich mußte meine Frau noch einmal sehen. Es konnte sein, daß sie längst mit jemand anderem lebte. Das war gleich. Ich mußte sie sehen. Es schien mir vollkommen logisch.

Die Nachrichten über den bevorstehenden Krieg verstärkten sich. Jeder sah, daß Hitler, der sein Versprechen, nur Sudetendeutschland, nicht aber die ganze Tschechoslowakei zu besetzen, sofort gebrochen hatte, nun dasselbe mit Polen begann. Der Krieg mußte kommen. Die Bündnisse Frankreichs und Englands mit Polen ließen nichts anderes zu. Und es war nicht mehr eine Sache von Monaten; nur noch eine von Wochen. Auch für mich. Auch für mein Leben. Ich mußte mich entschließen. Ich tat es. Ich wollte hinüber. Was nachher kam, wußte ich nicht. Es war auch gleichgültig. Wenn der Krieg kam, war ich ohnehin verloren. Ich konnte geradesogut das Verrückte tun.

Eine merkwürdige Heiterkeit kam in den letzten Tagen über mich. Es war Mai, und die Beete am Rond Point waren bunt mit Tulpen. Die frühen Abende hatten bereits das silbrige Licht der Impressionisten, die blauen Schatten und den hohen, hellgrünen Himmel hinter dem kalten Gaslicht der ersten Straßenlampen und den ruhelosen, roten Bändern der Leuchtschrift an den Dächern der Zeitungsgebäude, die den Krieg verkündeten für jeden, der sie lesen konnte.

Ich fuhr zuerst in die Schweiz. Ich wollte meinen Paß auf einem ungefährlichen Gebiet erproben, bevor ich an ihn glaubte. Der französische Zollbeamte gab ihn mir gleichgültig zurück; das hatte ich erwartet. Eine Ausreise ist nur in Ländern mit einer Diktatur schwierig. Aber als der Schweizer Beamte kam, spürte ich, wie sich etwas in mir zusammenzog. Ich saß zwar so gelassen da, wie ich konnte, aber mir schien, als zitterten die Ränder meiner Lungen, so wie manchmal in der Windstille an einem Baum ein Blatt rasend schnell flattert.

Der Mann sah den Paß an. Es war ein mächtiger, breitschultriger Beamter, der nach Pfeifenrauch roch. Als er im Abteil stand, verdunkelte er das Fenster, und einen Augenblick hatte ich die Beklemmung, daß er den Himmel und die Freiheit abschlösse – als wäre das Abteil bereits eine Gefängniszelle. Dann gab er mir den Paß zurück.

»Sie haben vergessen, ihn zu stempeln«, sagte ich in der Welle der Erleichterung, ohne es zu wollen, rasch.

Der Beamte lächelte. »Ich werde ihn schon noch stempeln. Ist Ihnen das so wichtig?«

»Das nicht. Es macht ihn nur zu einer Art von Souvenir.«

Der Mann stempelte den Paß und ging. Ich biß mir auf die Lippen. Wie nervös ich geworden war! Dann fiel mir ein, daß der Paß mit dem Stempel schon etwas echter aussah.

 

In der Schweiz überlegte ich einen Tag, ob ich auch mit dem Zuge nach Deutschland fahren sollte; aber ich hatte nicht den Mut. Ich wußte auch nicht, ob man Heimkehrer, selbst solche aus dem früheren Österreich, nicht besonders revidieren würde. Wahrscheinlich hätte man es nicht getan; ich beschloß trotzdem, schwarz über die Grenze zu gehen.

In Zürich begab ich mich deshalb, wie früher, zuerst zur Hauptpost. Am Schalter für postlagernde Sendungen traf man dort meistens Bekannte – Wanderer ohne Aufenthaltsbewilligung, wie man selbst, die einem Informationen geben konnten. Von dort ging ich ins Café Greif, – dem Gegenstück zum Café de la Rose. Ich traf verschiedene Grenzgänger, aber keinen, der die Übergänge nach Deutschland genau kannte. Das war verständlich. Wer, außer mir, wollte schon nach Deutschland? Ich merkte, wie man mich anschaute und dann, als man merkte, daß es mir ernst war, vor mir zurückwich. Wer zurückwollte, mußte ein Überläufer sein; denn wer wollte schon zurück, wenn er das Regime nicht auch akzeptierte? Und was würde jemand, der so weit war, sonst noch tun? Wen verraten? Was verraten?

Ich war plötzlich allein. Man mied mich, wie man jemand meidet, der gemordet hat. Ich konnte auch nichts erklären; mir wurde selbst manchmal so heiß, daß ich vor Panik schwitzte, wenn ich daran dachte, was ich vorhatte; wie hätte ich es da anderen begreiflich machen können?

 

Am dritten Morgen kam die Polizei um sechs Uhr früh und holte mich aus dem Bett. Man fragte mich genau aus. Ich wußte sofort, daß einer meiner Bekannten mich angezeigt hatte. Mein Paß wurde mißtrauisch betrachtet, und ich wurde zum Verhör mitgenommen. Es war jetzt ein Glück, daß der Paß gestempelt worden war. Ich konnte so nachweisen, daß ich legal eingereist und erst drei Tage im Lande war. Ich erinnere mich genau an den frühen Morgen, als ich mit dem Beamten durch die Straßen ging. Es war ein klarer Tag, und die Türme und Dächer der Stadt standen scharf, wie aus Metall geschnitten vor dem Himmel. Aus einer Bäckerei roch es nach warmem Brot, und aller Trost der Welt schien in diesem Geruch zu sein. Kennen Sie das?«

Ich nickte. »Die Welt erscheint einem nie schöner als in dem Augenblick, wenn man eingesperrt wird. Bevor man sie verlassen muß. Wenn man sie nur immer so fühlen könnte! Vielleicht hat man zu wenig Zeit dazu. Zu wenig Ruhe.«

Schwarz schüttelte den Kopf: »Es hat mit Ruhe nichts zu tun. Ich habe es so gefühlt.«

»Konnten Sie es halten?« fragte ich.

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Schwarz langsam. »Das ist es ja, was ich herausfinden muß. Es ist mir aus den Händen geglitten – aber hatte ich es ganz, als ich es hielt? Kann ich es jetzt nicht vielleicht stärker wieder zurückgewinnen und es für immer halten? Jetzt, wo es sich nicht mehr verändert? Verliert man nicht immerfort, was man zu halten glaubt, weil es sich bewegt? Und steht es nicht still, erst wenn es nicht mehr da ist und sich nicht mehr ändern kann? Gehört es einem nicht erst dann?«

Seine Augen waren starr auf mich gerichtet. Es war das erste Mal, daß er mich voll anblickte. Die Pupillen waren groß. Ein Fanatiker oder ein Verrückter, dachte ich plötzlich.

»Ich habe es nie gekannt«, sagte ich. »Aber will das nicht jeder? Halten, was nicht zu halten ist? Und verlassen, was einen nicht verlassen will?«

Die Frau im Abendkleid am Nebentisch stand auf. Sie blickte über die Veranda auf die Stadt und den Hafen hinunter. »Darling, warum müssen wir zurück?« sagte sie zu dem Mann im weißen Smoking. »Wenn wir doch hierbleiben könnten! Ich habe gar keine Lust, wieder nach Amerika zu gehen.«

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II

»Die Polizei in Zürich hielt mich nur einen Tag fest«, sagte Schwarz. »Aber es war ein schwerer Tag für mich. Ich hatte Furcht, daß man meinen Paß kontrollieren würde. Ein Telephongespräch mit Wien konnte schon genügen; ebenso eine Überprüfung der veränderten Daten durch einen Spezialisten.

Nachmittags wurde ich ruhig. Ich betrachtete das, was geschehen würde, als eine Art Gottesurteil. Die Entscheidung schien mir abgenommen worden zu sein.

Steckte man mich ins Gefängnis, so würde ich nicht versuchen, nach Deutschland zu gehen. Aber abends ließ man mich frei und empfahl mir dringend, meine Reise aus der Schweiz hinaus so rasch wie möglich fortzusetzen.

Ich beschloß, es über Österreich zu tun. Die Grenze dort kannte ich etwas, und sie war sicher nicht so scharf bewacht wie die deutsche. Warum sollten beide überhaupt scharf bewacht sein? Wer wollte schon hinein? Aber viele wollten wahrscheinlich hinaus.

Ich fuhr nach Oberriet, um irgendwo von dort aus den Übergang zu versuchen. Am liebsten hätte ich auf einen regnerischen Tag gewartet; aber das Wetter blieb zwei Tage lang klar. In der dritten Nacht ging ich, um nicht durch zu langes Bleiben aufzufallen.

Es war eine Nacht mit allen Sternen. Sie war so still, daß ich glaubte, die leisen Geräusche des Wachsens hören zu können. Sie wissen, daß bei Gefahr eine andere Form des Sehens sich einstellt – nicht so sehr scharf, im Focus, durch die Augen, sondern mehr ausgebreitet über den Körper, als ob man mit der Haut sähe, besonders nachts.

Es ist dann fast so, als ob man auch Geräusche sehen könnte, so sehr ist auch das Hören auf die Haut verlagert. Man öffnet den Mund und lauscht, und auch der Mund scheint zu sehen und zu hören.

Ich werde diese Nacht nie vergessen. Ich war meiner selbst voll bewußt, alle meine Sinne waren weit offen, ich war auf alles gefaßt, aber ganz ohne Angst. Mir war, als ginge ich über eine hohe Brücke, von einer Seite meines Lebens auf die andere, und ich wußte, daß diese Brücke sich hinter mir auflösen würde wie silberner Rauch und daß ich nie zurückkehren könne. Ich ging von der Vernunft in das Gefühl, von der Sicherheit in das Abenteuer, vom Rationalen in den Traum. Ich war vollkommen einsam, aber dieses Mal war die Einsamkeit ohne jede Qual; sie hatte fast etwas Mystisches.

Ich kam an den Rhein, der an dieser Stelle noch jung und nicht sehr breit ist. Ich zog mich aus und machte ein Bündel aus meinen Kleidern, um sie über den Kopf halten zu können. Es war ein sonderbares Gefühl, als ich nackt in das Wasser tauchte. Es war schwarz und sehr kühl und fremd, als tauchte ich in den Fluß Lethe, um Vergessenheit zu trinken. Auch daß ich nackt hindurch mußte, schien mir ein Symbol zu sein, als ließe ich alles hinter mir.

Ich trocknete mich ab und suchte weiter meinen Weg. Als ich an einem Dorf vorbeikam, hörte ich einen Hund anschlagen. Ich wußte nicht genau, wie die Grenze lief, und hielt mich deshalb am Rande einer Straße, die an einem Gehölz entlangführte. Kein Mensch begegnete mir für lange Zeit. Ich ging, bis es Morgen wurde. Der Tau fiel plötzlich stark, und ein Reh stand am Rande einer Lichtung. Ich ging weiter, bis ich die ersten Bauern mit ihren Fuhrwerken kommen hörte. Dann suchte ich mir ein Versteck, nicht weit von der Straße. Ich wollte nicht verdächtig erscheinen, weil ich so früh auf war und aus der Richtung der Grenze kam. Später sah ich zwei Zollbeamte auf Fahrrädern die Landstraße entlangfahren. Ich erkannte ihre Uniformen. Ich war in Österreich. Österreich gehörte damals seit einem Jahr zu Deutschland.«

 

Die Frau im Abendkleid verließ mit ihrem Begleiter die Terrasse. Sie hatte sehr braune Schultern und war größer als der Mann, der bei ihr war. Auch ein paar andere Touristen schlenderten langsam die Treppen hinunter. Sie alle gingen wie Leute, die nie gejagt worden waren. Sie drehten sich nicht um.

»Ich hatte Butterbrote bei mir«, sagte Schwarz, »und ich fand einen Bach mit Wasser. Mittags wanderte ich weiter. Mein Ziel war der Ort Feldkirch, von dem ich wußte, daß er im Sommer von Ferienreisenden besucht wurde. Ich erwartete, da nicht so aufzufallen. Auch Züge hielten dort. Ich erreichte ihn. Mit dem nächsten Zug fuhr ich von der Grenze weg, um aus der gefährlichsten Zone herauszukommen. Als ich in das Abteil trat, saßen dort zwei SA-Männer in Uniform.

Ich glaube, daß mein Training mit der Polizei Europas mir in diesem Augenblick zu Hilfe kam, sonst wäre ich wohl zurückgesprungen. So stieg ich ein und setzte mich in eine Ecke neben einen Mann in Lodentracht, der ein Gewehr bei sich hatte.

Es war mein erster Zusammenstoß nach fünf Jahren mit allem, was für mich die Verkörperung des Abscheus war. Ich hatte es mir in den vergangenen Wochen oft vorgestellt, aber die Wirklichkeit war anders. Es war der Körper, nicht der Kopf, der reagierte; es war der Magen, der zu Stein, der Mund, der eine Raspel wurde.

Der Jäger und die SA-Leute führten ein Gespräch über eine Witwe Pfundner. Sie schien sehr munter zu sein, denn die drei zählten einige ihrer Liebschaften auf. Dann begannen sie zu essen. Sie hatten Schinkenbrote bei sich. »Wo wollen denn Sie hin, Herr Nachbar?« fragte mich der Jäger.

»Zurück, nach Bregenz«, sagte ich.

»Sie sind fremd hier, wie?«

»Ja. Ich bin auf Ferien.«

»Und woher kommen Sie?«

Ich zauderte eine Sekunde. Hätte ich Wien gesagt, wie es im Paß stand, wäre den dreien vielleicht aufgefallen, daß ich nicht den weichen Wiener Dialekt sprach. »Aus Hannover«, sagte ich. »Ich wohne da schon über dreißig Jahre.«

»Hannover! Das ist aber weit weg.«

»Das ist es. Aber in den Ferien will man ja nicht zu Hause bleiben.«

Der Jäger lachte. »Stimmt. Schönes Wetter haben Sie erwischt!«

Ich fühlte, daß mein Hemd klebte. »Schön, ja«, sagte ich, »aber heiß, als wäre es bereits Hochsommer.«

Die drei begannen wieder, die Witwe Pfundner durchzuhecheln. Ein paar Stationen später stiegen sie aus, und ich blieb allein im Abteil. Der Zug fuhr jetzt durch eine der schönsten Landschaften Europas, aber ich sah sehr wenig davon. Ich hatte plötzlich einen fast unerträglichen Anfall von Reue, Furcht und Verzweiflung. Ich verstand einfach nicht mehr, weshalb ich die Grenze überschritten hatte. Ohne mich zu rühren, saß ich in meiner Ecke und starrte aus dem Fenster. Ich war gefangen, und ich hatte selbst die Tür hinter mir ins Schloß geworfen. Ein dutzendmal wollte ich aussteigen, um zu versuchen, nachts in die Schweiz zurückzukehren.

Ich tat es nicht. Meine linke Hand hielt in meiner Tasche den Paß des toten Schwarz umklammert, als könne mir Kraft daraus zufließen. Ich sagte mir vor, daß es jetzt gleich sei, ob ich mich länger in der Nähe der Grenze aufhielte oder nicht, und daß ich sicherer sei, je weiter ich ins Land hineinführe. Ich beschloß auch, die Nacht durchzufahren. Im Zuge fragte man weniger nach Papieren als in einem Hotel.

Es ist typisch, daß man glaubt, wenn man sich der Panik überläßt, überall seien Scheinwerfer auf einen gerichtet und die Welt habe nichts anderes zu tun, als einen zu suchen. Man hat das Gefühl, alle Zellen des Körpers wollten sich selbständig machen, die Beine wollten ein zuckendes Bein-Reich errichten, die Arme nichts als Abwehr und Schlagen sein und sogar Lippen und Mund könnten nur noch zitternd den ungeformten Schrei zurückhalten.

Ich schloß die Augen. Die Versuchung, der Panik nachzugeben, war größer, weil ich allein im Abteil war. Aber ich wußte, daß jeder Zentimeter, den ich jetzt nachgab, ein Meter werden würde, wenn ich einmal wirklich in Gefahr wäre. Ich erklärte mir, daß niemand nach mir suche; daß ich dem Regime so uninteressant sei wie eine Schaufel Sand in der Wüste, und daß niemand mir etwas ansehen könne. Das war natürlich auch der Fall. Ich unterschied mich wenig von den Leuten um mich herum. Der blonde Arier ist eine deutsche Legende, keine Tatsache. Sehen Sie sich Hitler, Goebbels, Heß und den Rest der Regierung an – sie müßten sich alle eigentlich immerfort selbst als ihre eigene Illusion ausweisen.

Ich verließ den Schutz der Bahnhöfe zum erstenmal in München und zwang mich, eine Stunde spazieren zu gehen. Da ich die Stadt nicht kannte, war ich sicher, daß auch mich niemand kennen würde. Ich aß im Franziskanerbräu. Das Lokal war voll. Ich saß an einem Tisch allein und horchte. Nach ein paar Minuten setzte sich ein schwitzender, dicker Mann zu mir. Er bestellte ein Bier und ein Rindfleisch und las eine Zeitung. Ich war bisher noch nicht darauf gekommen, deutsche Zeitungen zu lesen, und kaufte mir zwei. Es war Jahre her, daß ich Deutsch gelesen hatte, und ich mußte mich immer noch daran gewöhnen, daß jeder um mich herum es sprach.

Die Leitartikel der Zeitungen waren entsetzlich. Sie waren verlogen, blutrünstig und arrogant. Die Welt außerhalb Deutschlands erschien in ihnen degeneriert, heimtückisch, dumm und zu nichts anderem nütze, als von Deutschland übernommen zu werden. Die beiden Zeitungen waren keine Lokalblätter, sie hatten früher einmal einen guten Namen gehabt. Nicht nur ihr Inhalt, auch ihr Stil war unglaublich.

Ich betrachtete den Zeitungsleser neben mir. Er aß, trank und las mit Genuß. Ich blickte mich um. Nirgendwo sah ich unter den Lesern Zeichen des Abscheus; sie waren an ihre tägliche geistige Kost gewöhnt wie an das Bier.

Ich las weiter, bis ich unter den kleinen Nachrichten eine über Osnabrück fand. Ein Haus an der Lotterstraße war abgebrannt. Ich sah die Straße vor mir. Man kam über die Wälle zum Hegertor und von da zur Lotterstraße, die hinaus aus der Stadt führte. Ich legte die Zeitung zusammen.

Ich fühlte mich plötzlich einsamer als je zuvor außerhalb Deutschlands.

 

Langsam gewöhnte ich mich daran, daß Schock und fatalistische Apathie abwechselten. Ich gewöhnte mich auch daran, mich sicherer zu wähnen als bisher. Die Gefahr würde größer werden, wenn ich mich Osnabrück näherte, das wußte ich. Dort gab es Leute, die mich von früher kannten.

Ich kaufte mir einen billigen Koffer und etwas Wäsche und die Dinge, die für eine kurze Reise notwendig sind, um in Hotels nicht aufzufallen. Dann fuhr ich weiter. Ich wußte noch nicht, wie ich mich meiner Frau nähern sollte, und änderte meine Pläne jede Stunde. Ich mußte es auf den Zufall ankommen lassen; ich wußte ja nicht einmal, ob sie nicht ihrer Familie nachgegeben hatte – die stramm für das Regime war – und jemand anderen geheiratet hatte. Nachdem ich die Zeitungen gelesen hatte, war ich nicht mehr sicher, daß jemand lange brauchen würde, um das zu glauben, was er las, besonders dann, wenn er keine Möglichkeit zum Vergleich hatte. Ausländische Blätter waren in Deutschland unter strenger Zensur.

In Münster ging ich in ein mittleres Hotel. Ich konnte nicht immer nachts aufbleiben und tagsüber irgendwo schlafen; ich mußte riskieren, von einem Hotel in Deutschland bei der Polizei angemeldet zu werden. Kennen Sie Münster?«

»Flüchtig«, erwiderte ich. »Ist es nicht eine alte Stadt mit vielen Kirchen, in der der Westfälische Friede geschlossen wurde?«

Schwarz nickte. »In Münster und Osnabrück, 1648. Nach dreißig Jahren Krieg. Wer weiß, wie lange dieser dauern wird!«

»Wenn er so weitergeht, nicht lange. Die Deutschen haben vier Wochen gebraucht, Frankreich zu erobern.«

Der Kellner kam und erklärte, das Lokal würde geschlossen. Wir wären die letzten Gäste. »Gibt es kein anderes, das noch offen ist?« fragte Schwarz.

Der Kellner erklärte, Lissabon sei keine Stadt für viel Nachtleben. Als Schwarz ihm ein Trinkgeld gab, wußte er ein Lokal, ein geheimes, sagte er, einen russischen Nachtklub. »Sehr elegant«, erklärte er.

»Wird man uns hineinlassen?« fragte ich.

»Natürlich, mein Herr. Ich wollte nur sagen, daß es elegante Frauen dort gibt. Alle Nationen. Deutsche auch.«

»Wie lange ist der Klub offen?«

»Solange Gäste da sind. Jetzt sind immer Gäste da. Viele Deutsche jetzt, mein Herr.«

»Was für Deutsche?«

»Deutsche.«

»Mit Geld?«

»Natürlich, mit Geld.« Der Kellner lachte. »Das Lokal ist nicht billig. Aber sehr unterhaltend. Könnten Sie sagen, daß Manuel von hier Sie geschickt hat? Sie brauchten dann weiter nichts anzugeben.«

»Muß man denn irgend etwas angeben?«

»Nichts. Der Portier schreibt einen Phantasienamen für Sie als Mitglied ein. Nur eine Formsache.«

»Gut.«

Schwarz zahlte die Rechnung. Wir gingen langsam die Straße mit den Treppen hinunter. Die blassen Häuser schliefen aneinandergelehnt. Aus den Fenstern hörte man das Seufzen, Schnarchen und Atmen von Leuten, die keine Paßsorgen hatten. Unsere Schritte klangen lauter als am Tage. »Das Licht«, sagte Schwarz. »Überrascht es Sie auch so?«

»Ja. Man ist noch an das verdunkelte Europa gewöhnt. Hier glaubt man, jemand habe vergessen, es abzuschalten, und im nächsten Augenblick müsse ein Fliegerangriff kommen.«

Schwarz blieb stehen. »Wir haben es geschenkt bekommen, weil in uns etwas von Gott ist«, sagte er plötzlich pathetisch. »Und jetzt verbergen wir es, weil wir das bißchen Gott in uns morden.«

»Soviel ich in der Sage Bescheid weiß, bekamen wir das Feuer nicht geschenkt, sondern Prometheus hat es gestohlen«, erwiderte ich. »Dafür vermachten die Götter ihm dann eine chronische Leber-Zirrhose. Das scheint mir auch besser zu unserm Charakter zu passen.«

Schwarz sah mich an. »Ich habe das Spotten längst aufgegeben. Die Angst vor großen Worten auch. Solange man spottet und Angst hat, versucht man, die Dinge auf ein kleineres Maß zu bringen als das, was sie haben.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber soll man immerfort auf das Unmögliche starren und sagen: es ist unmöglich? Ist es nicht besser, es zu verkleinern und damit einen Streifen von Hoffnung hereinzulassen?«

»Sie haben recht! Verzeihen Sie mir. Ich vergaß, daß Sie auf der Flucht sind. Wer hat da Zeit, an Proportionen zu denken?«

»Sind Sie nicht auch auf der Flucht?«

Schwarz schüttelte den Kopf. »Nicht mehr. Ich gehe zum zweiten Male zurück.«

»Wohin?« fragte ich erstaunt. Ich konnte nicht glauben, daß er noch einmal nach Deutschland wollte.

»Zurück«, erwiderte er. »Ich werde es Ihnen erklären.«

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III

Der Nachtklub war eines der typischen Lokale, geleitet von weißrussischen Emigranten, wie es sie nach der Revolution 1917 überall in Europa gibt, von Berlin bis Lissabon. Sie haben alle dieselben Kellner, die ehemals Aristokraten gewesen sind, dieselben Sängerchöre aus früheren Gardeoffizieren, dieselben hohen Preise und dieselbe melancholische Stimmung.

Sie haben auch dieselbe matte Beleuchtung, auf die ich rechnete. Die Deutschen hier, von denen der Kellner gesprochen hatte, waren bestimmt keine Emigranten. Sie waren wahrscheinlich Spione, Mitglieder der Botschaft oder Angestellte deutscher Firmen.

»Die Russen haben sich besser etabliert als wir«, sagte Schwarz. »Sie waren uns in der Emigration allerdings auch um fünfzehn Jahre voraus. Und fünfzehn Jahre Unglück sind lang und geben eine Menge Erfahrung.«

»Sie waren die erste Welle der Emigration«, erwiderte ich. »Man hatte noch Mitleid mit ihnen. Man gab ihnen Erlaubnis zu arbeiten und Papiere. Nansenpässe. Als wir kamen, war das Mitleid der Welt längst aufgebraucht. Wir waren lästig wie Termiten, und fast niemand war da, der für uns noch seine Stimme erhob. Wir dürfen nicht arbeiten, nicht existieren und haben immer noch keine Papiere.«

Ich war nervös, seit wir hier saßen. Es lag wahrschein