Der schwarze Obelisk - E.M. Remarque - E-Book
SONDERANGEBOT

Der schwarze Obelisk E-Book

E.M. Remarque

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

1923: eine Gesellschaft in moralischer Auflösung voller Spekulanten und Schieber, Verarmter, Kriegsversehrter, Verlierer und Profiteure. Man hat gelernt zu überleben, nicht aber, sich im Leben zurechtzufinden. Wie Ludwig, der im Krieg seine Jugend verlor, nicht weiß, wo er hingehört. Da begegnet er der schönen, aber schizophrenen Isabelle …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 654

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erich Maria Remarque

Der schwarze Obelisk

Geschichte einer verspäteten Jugend

Roman

In der Fassung der Erstausgabe mit Anhang und einem Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Erich Maria Remarque

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

FrontispizWidmungEinleitungI. KapitelII. KapitelIII. KapitelIV. KapitelV. KapitelVI. KapitelVII. KapitelVIII. KapitelIX. KapitelX. KapitelXI. KapitelXII. KapitelXIII. KapitelXIV. KapitelXV. KapitelXVI. KapitelXVII. KapitelXVIII. KapitelXIX. KapitelXX. KapitelXXI. KapitelXXII. KapitelXXIII. KapitelXXIV. KapitelXXV. KapitelXXVI. KapitelAnhangErich Maria Remarques erste Entwürfe …Ein zweiter erhaltener Entwurf des Romananfangs …Bereits für diese ersten Entwürfe …Der Verlag der deutschen Ausgabe …Editorische Notiz»Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent«Weiterführende Literatur
zurück
zurück

Für P. G.

zurück

 

 

 

Scheltet nicht, wenn ich einmal von alten Zeiten rede. Die Welt liegt wieder im fahlen Licht der Apokalypse, der Geruch des Blutes und der Staub der letzten Zerstörung sind noch nicht verflogen, und schon arbeiten Laboratorien und Fabriken aufs neue mit Hochdruck daran, den Frieden zu erhalten durch die Erfindung von Waffen, mit denen man den ganzen Erdball sprengen kann. –

Den Frieden der Welt! Nie ist mehr darüber geredet und nie weniger dafür getan worden als in unserer Zeit; nie hat es mehr falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr Zerstörung und nie mehr Tränen als in unserm Jahrhundert, dem zwanzigsten, dem des Fortschritts, der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens. –

Darum scheltet nicht, wenn ich einmal zurückgehe zu den sagenhaften Jahren, als die Hoffnung noch wie eine Flagge über uns wehte und wir an so verdächtige Dinge glaubten wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz – und auch daran, daß ein Weltkrieg genug Belehrung sein müsse für eine Generation. –

zurück

I

Die Sonne scheint in das Büro der Grabdenkmalsfirma Heinrich Kroll & Söhne. Es ist April 1923, und das Geschäft geht gut. Das Frühjahr hat uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen glänzend und werden arm dadurch, aber was können wir machen, – der Tod ist unerbittlich und nicht abzuweisen, und menschliche Trauer verlangt nun einmal nach Monumenten in Sandstein, Marmor und, wenn das Schuldgefühl oder die Erbschaft beträchtlich sind, sogar nach dem kostbaren, schwarzen, schwedischen Granit, allseitig poliert. Herbst und Frühjahr sind die besten Jahreszeiten für die Händler mit den Utensilien der Trauer, – dann sterben mehr Menschen als im Sommer und im Winter; – im Herbst, weil die Säfte schwinden, und im Frühjahr, weil sie erwachen und den geschwächten Körper verzehren wie ein zu dicker Docht eine zu dünne Kerze. Das wenigstens behauptet unser rührigster Agent, der Totengräber Liebermann vom Stadtfriedhof, und der muß es wissen; er ist achtzig Jahre alt, hat über zehntausend Leichen eingegraben, sich von seiner Provision an Grabdenkmälern ein Haus am Fluß mit einem Garten und einer Forellenzucht gekauft und ist durch seinen Beruf ein abgeklärter Schnapstrinker geworden. Das einzige, was er haßt, ist das Krematorium der Stadt. Es ist unlautere Konkurrenz. Wir mögen es auch nicht. An Urnen ist nichts zu verdienen.

Ich sehe auf die Uhr. Es ist kurz vor Mittag, und da heute Sonnabend ist, mache ich Schluß. Ich stülpe den Blechdeckel auf die Schreibmaschine, trage den Vervielfältigungsapparat »Presto« hinter den Vorhang, räume die Steinproben beiseite und nehme die photographischen Abzüge von Kriegerdenkmälern und künstlerischem Grabschmuck aus dem Fixierbad. Ich bin nicht nur Reklamechef, Zeichner und Buchhalter der Firma; ich bin seit einem Jahr auch ihr einziger Büroangestellter und als solcher nicht einmal vom Fach.

Genießerisch hole ich eine Zigarre aus der Schublade. Es ist eine schwarze Brasil. Der Reisende für die Württembergische Metallwarenfabrik hat sie mir am Morgen gegeben, um hinterher zu versuchen, mir einen Posten Bronzekränze anzudrehen; die Zigarre ist also gut. Ich suche nach Streichhölzern, aber, wie fast immer, sind sie verlegt. Zum Glück brennt ein kleines Feuer im Ofen. Ich rolle einen Zehnmarkschein zusammen, halte ihn in die Glut und zünde mir damit die Zigarre an. Das Feuer im Ofen ist Ende April eigentlich nicht mehr nötig; es ist nur ein Verkaufseinfall meines Arbeitgebers Georg Kroll. Er glaubt, daß Leute in Trauer, die Geld ausgeben müssen, das lieber in einem warmen Zimmer tun, als wenn sie frieren. Trauer sei bereits ein Frieren der Seele, und wenn dazu noch kalte Füße kämen, sei es schwer, einen guten Preis herauszuholen. Wärme taue auf; auch den Geldbeutel. Deshalb ist unser Büro überheizt, und unsere Vertreter haben als obersten Grundsatz eingepaukt bekommen, nie bei kaltem Wetter oder Regen zu versuchen, auf dem Friedhof einen Abschluß zu machen, – immer nur in der warmen Bude und, wenn möglich, nach dem Essen. Trauer, Kälte und Hunger sind schlechte Geschäftspartner.

Ich werfe den Rest des Zehnmarkscheins in den Ofen und richte mich auf. Im selben Moment höre ich, wie im Hause gegenüber ein Fenster aufgestoßen wird. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was los ist. Vorsichtig beuge ich mich über den Tisch, als hätte ich noch etwas an der Schreibmaschine zu tun. Dabei schiele ich verstohlen in einen kleinen Handspiegel, den ich so gestellt habe, daß ich das Fenster beobachten kann. Es ist, wie immer, Lisa, die Frau des Pferdeschlächters Watzek, die nackt dort steht und gähnt und sich reckt. Sie ist erst jetzt aufgestanden. Die Straße ist alt und schmal, Lisa kann uns sehen und wir sie, und sie weiß es; deshalb steht sie da. Plötzlich verzieht sie ihren großen Mund, lacht mit allen Zähnen und zeigt auf den Spiegel. Sie hat ihn mit ihren Raubvogelaugen entdeckt. Ich ärgere mich, erwischt zu sein, benehme mich aber, als merke ich nichts, und gehe in einer Rauchwolke in den Hintergrund des Zimmers. Nach einer Weile komme ich zurück. Lisa grinst. Ich blicke hinaus, aber ich sehe sie nicht an, sondern tue, als winke ich jemand auf der Straße zu. Zum Überfluß werfe ich noch eine Kußhand ins Leere. Lisa fällt darauf herein. Sie ist neugierig und beugt sich vor, um nachzuschauen, wer da sei. Niemand ist da. Jetzt grinse ich. Sie deutet ärgerlich mit dem Finger auf die Stirn und verschwindet.

Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komödie aufführe. Lisa ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die gern ein paar Millionen zahlen würden, um jeden Morgen einen solchen Anblick zu genießen. Ich genieße ihn auch, aber trotzdem reizt er mich, weil diese faule Kröte, die erst mittags aus dem Bett klettert, ihrer Wirkung so unverschämt sicher ist. Sie kommt gar nicht auf den Gedanken, daß nicht jeder sofort mit ihr schlafen möchte. Dabei ist ihr das im Grunde ziemlich gleichgültig. Sie steht am Fenster mit ihrer schwarzen Ponyfrisur und ihrer frechen Nase und schwenkt ein Paar Brüste aus erstklassigem Carrara-Marmor herum wie eine Tante vor einem Säugling eine Spielzeugklapper. Wenn sie ein Paar Luftballons hätte, würde sie fröhlich die hinaushalten. Da sie nackt ist, sind es eben ihre Brüste, das ist ihr völlig egal. Sie freut sich ganz einfach darüber, daß sie lebt und daß alle Männer verrückt nach ihr sein müssen, und dann vergißt sie es und fällt mit ihrem gefräßigen Mund über ihr Frühstück her. Der Pferdeschlächter Watzek tötet inzwischen müde, alte Droschkengäule.

Lisa erscheint aufs neue. Sie trägt jetzt einen ansteckbaren Schnurrbart und ist außer sich über diesen geistvollen Einfall. Sie grüßt militärisch, und ich nehme schon an, daß sie so unverschämt ist, damit den alten Feldwebel a. D. Knopf von nebenan zu meinen; dann aber erinnere ich mich, daß Knopfs Schlafzimmer nur ein Fenster nach dem Hof hat. Und Lisa ist raffiniert genug, zu wissen, daß man sie von den paar Nebenhäusern nicht beobachten kann.

Plötzlich, als brächen irgendwo Schalldämme, beginnen die Glocken der Marienkirche zu läuten. Die Kirche steht am Ende der Gasse, und die Schläge dröhnen, als fielen sie vom Himmel direkt ins Zimmer. Gleichzeitig sehe ich vor dem zweiten Bürofenster, das nach dem Hof geht, wie eine geisterhafte Melone den kahlen Schädel meines Arbeitgebers vorübergleiten. Lisa macht eine rüpelhafte Gebärde und schließt ihr Fenster. Die tägliche Versuchung des heiligen Antonius ist wieder einmal überstanden.

 

Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre alt; aber sein Kopf glänzt bereits wie die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glänzt, seit ich ihn kenne, und das ist jetzt über fünf Jahre her. Er glänzt so, daß im Schützengraben, wo wir im selben Regiment waren, ein Extrabefehl bestand, daß Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten müsse – so sehr hätte seine Glatze selbst den sanftmütigsten Gegner verlockt, durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger Billardball sei oder nicht.

Ich reiße die Knochen zusammen und melde: »Hauptquartier der Firma Kroll und Söhne! Stab bei Feindbeobachtung. Verdächtige Truppenbewegungen im Bezirk des Pferdeschlächters Watzek.«

»Aha!« sagt Georg. »Lisa bei der Morgengymnastik. Rühren Sie, Gefreiter Bodmer! Warum tragen Sie vormittags keine Scheuklappen wie das Paukenpferd einer Kavalleriekapelle und schützen so Ihre Tugend? Kennen Sie die drei kostbarsten Dinge des Lebens nicht?«

»Wie soll ich sie kennen, Herr Oberstaatsanwalt, wenn ich das Leben selbst noch suche?«

»Tugend, Einfalt und Jugend«, dekretiert Georg. »Einmal verloren, nie wieder zu gewinnen! Und was ist hoffnungsloser als Erfahrung, Alter und kahle Intelligenz?«

»Armut, Krankheit und Einsamkeit«, erwidere ich und rühre.

»Das sind nur andere Namen für Erfahrung, Alter und mißleitete Intelligenz.«

Georg nimmt mir die Zigarre aus dem Mund, betrachtet sie kurz und bestimmt sie wie ein Sammler einen Schmetterling. »Beute von der Metallwarenfabrik.«

Er zieht eine schön angerauchte, goldbraune Meerschaumspitze aus der Tasche, paßt die Brasil hinein und raucht sie weiter.

»Ich habe nichts gegen die Beschlagnahme der Zigarre«, sage ich. »Es ist rohe Gewalt, und mehr kennst du ehemaliger Unteroffizier ja nicht vom Leben. Aber wozu die Zigarrenspitze? Ich bin kein Syphilitiker.«

»Und ich kein Homosexueller.«

»Georg«, sage ich. »Im Kriege hast du mit meinem Löffel Erbsensuppe gegessen, wenn ich sie in der Küche gestohlen hatte. Und der Löffel wurde in meinen schmutzigen Stiefeln aufbewahrt und nie gewaschen.«

Georg betrachtet die Asche der Brasil. Sie ist schneeweiß. »Der Krieg ist viereinhalb Jahre vorbei«, doziert er. »Damals sind wir durch maßloses Unglück zu Menschen geworden. Heute hat uns die schamlose Jagd nach Besitz aufs neue zu Räubern gemacht. Um das zu tarnen, brauchen wir wieder den Firnis gewisser Manieren. Ergo! Aber hast du nicht noch eine zweite Brasil? Die Metallwarenfabrik versucht Angestellte nie mit einer einzigen zu bestechen.«

Ich hole die zweite Zigarre aus der Schublade und gebe sie ihm. »Intelligenz, Erfahrung und Alter scheinen doch für etwas gut zu sein«, sage ich.

Er grinst und händigt mir dafür eine Schachtel Zigaretten aus, in der sechs fehlen. »War sonst was los?« fragt er.

»Nichts. Keine Kunden. Aber ich muß dringend um eine Gehaltserhöhung ersuchen.«

»Schon wieder? Du hast doch erst gestern eine gehabt!«

»Nicht gestern. Heute morgen um neun. Lumpige achttausend Mark. Immerhin, heute morgen um neun war das wenigstens noch etwas. Inzwischen ist der neue Dollarkurs herausgekommen, und ich kann nun statt einer neuen Krawatte nur noch eine Flasche billigen Wein dafür kaufen. Ich brauche aber eine Krawatte.«

»Wie steht der Dollar jetzt?«

»Heute mittag sechsunddreißigtausend Mark. Heute morgen waren es noch dreißigtausend.«

Georg Kroll besieht seine Zigarre. »Sechsunddreißigtausend! Das geht ja wie das Katzenrammeln! Wo soll das enden?«

»In einer allgemeinen Pleite, Herr Feldmarschall«, erwidere ich. »Inzwischen aber müssen wir leben. Hast du Geld mitgebracht?«

»Nur einen kleinen Handkoffer voll für heute und morgen. Tausender, Zehntausender, sogar noch ein paar Pakete mit lieben, alten Hundertern. Etwa fünf Pfund Papiergeld. Die Inflation geht ja jetzt so schnell, daß die Reichsbank mit dem Drucken nicht mehr nachkommt. Die neuen Hunderttausendernoten sind erst seit vierzehn Tagen raus – und jetzt müssen bald schon Millionenscheine gedruckt werden. Wann sind wir in den Milliarden?«

»Wenn es so weitergeht, in ein paar Monaten.«

»Mein Gott!« seufzt Georg. »Wo sind die schönen, ruhigen Zeiten von 1922? Da stieg der Dollar in einem Jahr nur von zweihundertfünfzig auf zehntausend. Ganz zu schweigen von 1921 – da waren es nur lumpige dreihundert Prozent.«

Ich sehe aus dem Fenster, das zur Straße hinausgeht. Lisa steht jetzt gegenüber in einem seidenen Schlafrock, auf den Papageien gedruckt sind. Sie hat einen Spiegel an die Fensterklinke gehängt und bürstet ihre Mähne.

»Sieh das da an«, sage ich bitter. »Es sät nicht, es erntet nicht, und der himmlische Vater ernährt es doch. Den Schlafrock hatte sie gestern noch nicht. Seide, meterweise! Und ich kann nicht den Zaster für eine Krawatte zusammenkriegen.«

Georg schmunzelt: »Du bist eben ein schlichtes Opfer der Zeit. Lisa dagegen schwimmt mit vollen Segeln auf den Wogen der deutschen Inflation. Sie ist die Schöne Helena der Schieber. Mit Grabsteinen kann man nun mal nicht reich werden, mein Sohn. Warum gehst du nicht in die Heringsbranche oder in den Aktienhandel, wie dein Freund Willy?«

»Weil ich ein sentimentaler Philosoph bin und den Grabsteinen treu bleibe. Also wie ist es mit der Gehaltserhöhung? Auch Philosophen brauchen einen bescheidenen Aufwand an Garderobe.«

Georg zuckt die Achseln. »Kannst du den Schlips nicht morgen kaufen?«

»Morgen ist Sonntag. Und morgen brauche ich ihn.«

Georg seufzt und holt vom Vorplatz den Koffer mit Geld herein. Er greift hinein und wirft mir zwei Pakete zu. »Reicht das?«

Ich sehe, daß es meistens Hunderter sind. »Gib ein halbes Kilo mehr von dem Tapetenpapier«, sage ich. »Das hier sind höchstens fünftausend. Katholische Schieber legen das sonntags als Meßpfennig auf den Teller und schämen sich, weil sie so geizig sind.«

Georg kratzt sich den kahlen Schädel – eine atavistische Geste, ohne Sinn bei ihm. Dann reicht er mir einen dritten Packen. »Gott sei Dank, daß morgen Sonntag ist«, sagt er. »Da gibt es keine Dollarkurse. Einen Tag in der Woche steht die Inflation still. Gott hat das sicher nicht so gemeint, als er den Sonntag schuf.«

»Wie ist es eigentlich mit uns?« frage ich. »Sind wir pleite, oder geht es uns glänzend?«

Georg tut einen langen Zug aus seiner Meerschaumspitze. »Ich glaube, das weiß heute keiner mehr von sich in Deutschland. Nicht einmal der göttliche Stinnes. Die Sparer sind natürlich alle pleite. Die Arbeiter und Gehaltsempfänger auch. Von den kleinen Geschäftsleuten die meisten, ohne es zu wissen. Wirklich glänzend geht es nur den Leuten mit Devisen, Aktien oder großen Sachwerten. Also nicht uns. Genügt das zu deiner Erleuchtung?«

»Sachwerte!« Ich sehe hinaus in den Garten, in dem unser Lager steht. »Wir haben wahrhaftig nicht mehr allzu viele. Hauptsächlich Sandstein und gegossenes Zeug. Aber wenig Marmor und Granit. Und das bißchen, was wir haben, verkauft uns dein Bruder mit Verlust. Am besten wäre es, wir verkauften gar nichts, was?«

Georg braucht nicht zu antworten. Eine Fahrradglocke erklingt draußen. Schritte kommen über die alten Stufen. Jemand hustet rechthaberisch. Es ist das Sorgenkind des Hauses, Heinrich Kroll junior, der zweite Inhaber der Firma.

 

Er ist ein kleiner, korpulenter Mann mit einem strohigen Schnurrbart und staubigen, gestreiften Hosen, die durch Radfahrklammern unten zusammengehalten werden. Mit leichter Mißbilligung streifen seine Augen Georg und mich. Wir sind für ihn die Bürohengste, die den ganzen Tag herumbummeln, während er der Mann der Tat ist, der den Außendienst betreut. Er ist unverwüstlich. Mit dem Morgengrauen zieht er jeden Tag zum Bahnhof und dann mit dem Fahrrad auf die entlegensten Dörfer, wenn unsere Agenten, die Totengräber oder Lehrer, eine Leiche gemeldet haben. Er ist nicht ungeschickt. Seine Korpulenz ist vertrauenswürdig; deshalb hält er sie durch fleißige Früh- und Dämmerschoppen auf der Höhe. Bauern haben kleine Dicke lieber als verhungert aussehende Dünne. Dazu kommt sein Anzug. Er trägt nicht, wie die Konkurrenz bei Steinmeyer, einen schwarzen Gehrock; auch nicht, wie die Reisenden von Hollmann & Klotz, blaue Straßenanzüge – das eine ist zu deutlich, das andere zu unbeteiligt. Heinrich Kroll trägt den kleinen Besuchsanzug, gestreifte Hose mit Marengo-Jackett, dazu einen altmodischen, harten Stehkragen mit Ecken und eine gedämpfte Krawatte mit viel Schwarz darin. Er hat vor zwei Jahren einen Augenblick geschwankt, als er dieses Kostüm bestellte; er überlegte, ob ein Cutaway nicht passender für ihn wäre, entschied sich dann aber dagegen, weil er zu klein ist. Es war ein glücklicher Verzicht; auch Napoleon hätte lächerlich in einem Schwalbenschwanz ausgesehen. So, in der heutigen Aufmachung, wirkt Heinrich Kroll wie ein kleiner Empfangschef des lieben Gottes – und das ist genau, wie es sein soll. Die Radfahrklammern geben dem Ganzen noch einen heimeligen, aber raffinierten Zug – von Leuten, die sie tragen, glaubt man, im Zeitalter des Autos billiger kaufen zu können.

Heinrich legt seinen Hut ab und wischt sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Es ist draußen ziemlich kühl, und er schwitzt nicht; er tut es nur, um uns zu zeigen, was für ein Schwerarbeiter er gegen uns Schreibtischwanzen ist.

»Ich habe das Kreuzdenkmal verkauft«, sagt er mit gespielter Bescheidenheit, hinter der ein gewaltiger Triumph schweigend brüllt.

»Welches? Das kleine aus Marmor?« frage ich hoffnungsvoll.

»Das große«, erwidert Heinrich noch schlichter und starrt mich an.

»Was? Das aus schwedischem Granit mit dem Doppelsockel und den Bronzeketten?«

»Das! Oder haben wir noch ein anderes?«

Heinrich genießt deutlich seine blöde Frage als einen Höhepunkt sarkastischen Humors.

»Nein«, sage ich. »Wir haben kein anderes mehr. Das ist ja das Elend! Es war das letzte. Der Felsen von Gibraltar.«

»Wie hoch hast du verkauft?« fragt jetzt Georg Kroll.

Heinrich reckt sich. »Für dreiviertel Millionen, ohne Inschrift, ohne Fracht und ohne Einfassung. Die kommen noch dazu.«

»Großer Gott!« sagen Georg und ich gleichzeitig.

Heinrich spendet uns einen Blick voll Arroganz; tote Schellfische haben manchmal so einen Ausdruck. »Es war ein schwerer Kampf«, erklärt er und setzt aus irgendeinem Grunde seinen Hut wieder auf.

»Ich wollte, Sie hätten ihn verloren«, erwidere ich.

»Was?«

»Verloren! Den Kampf!«

»Was?« wiederholt Heinrich gereizt. Ich irritiere ihn leicht.

»Er wollte, du hättest nicht verkauft«, sagt Georg Kroll.

»Was? Was soll denn das nun wieder heißen? Verdammt noch mal, man plagt sich von morgens bis abends und verkauft glänzend, und dann wird man als Lohn in dieser Bude mit Vorwürfen empfangen! Geht mal selber auf die Dörfer und versucht –«

»Heinrich«, unterbricht Georg ihn milde. »Wir wissen, daß du dich schindest. Aber wir leben heute in einer Zeit, wo Verkaufen arm macht. Wir haben seit Jahren eine Inflation. Seit dem Kriege, Heinrich. Dieses Jahr aber ist die Inflation in galoppierende Schwindsucht verfallen. Deshalb bedeuten Zahlen nichts mehr.«

»Das weiß ich selbst. Ich bin kein Idiot.«

Niemand antwortet darauf etwas. Nur Idioten machen solche Feststellungen. Und denen zu widersprechen ist zwecklos. Ich weiß das von meinen Sonntagen in der Irrenanstalt. Heinrich zieht ein Notizbuch hervor. »Das Kreuzdenkmal hat uns im Einkauf fünfzigtausend gekostet. Da sollte man meinen, daß dreiviertel Millionen ein ganz netter Profit wären.«

Er plätschert wieder in Sarkasmus. Er glaubt, er müsse ihn bei mir anwenden, weil ich einmal Schulmeister gewesen bin. Ich war das kurz nach dem Kriege, in einem verlassenen Heidedorf, für neun Monate, bis ich entfloh, die Wintereinsamkeit wie einen heulenden Hund auf den Fersen.

»Es wäre ein noch größerer Profit, wenn Sie statt des herrlichen Kreuzdenkmals den verdammten Obelisken draußen vor dem Fenster verkauft hätten«, sage ich. »Den hat Ihr verstorbener Herr Vater vor sechzig Jahren bei der Gründung des Geschäftes noch billiger eingekauft – für so etwas wie fünfzig Mark, der Überlieferung zufolge.«

»Den Obelisken? Was hat der Obelisk mit diesem Geschäft zu tun? Der Obelisk ist unverkäuflich, das weiß jedes Kind.«

»Eben deshalb«, sage ich. »Um den wäre es nicht schade gewesen. Um das Kreuz ist es schade. Das müssen wir für teures Geld wiederkaufen.«

Heinrich Kroll schnauft kurz. Er hat Polypen in seiner dicken Nase und schwillt leicht an. »Wollen Sie mir vielleicht erzählen, daß ein Kreuzdenkmal heute dreiviertel Millionen im Einkauf kostet?«

»Das werden wir bald erfahren«, sagt Georg Kroll. »Riesenfeld kommt morgen hier an. Wir müssen bei den Odenwälder Granitwerken neu bestellen; es ist nicht mehr viel auf Lager.«

»Wir haben noch den Obelisken«, erkläre ich tückisch.

»Warum verkaufen Sie den nicht selber?« schnappt Heinrich. »So, Riesenfeld kommt morgen; da werde ich hierbleiben und auch mal mit ihm reden! Dann werden wir sehen, was Preise sind!«

Georg und ich wechseln einen Blick. Wir wissen, daß wir Heinrich von Riesenfeld fernhalten werden, selbst wenn wir ihn besoffen machen oder ihm Rizinusöl in seinen Sonntagsfrühschoppen mischen müssen. Der treue, altmodische Geschäftsmann würde Riesenfeld zu Tode langweilen mit Kriegserinnerungen und Geschichten aus der guten, alten Zeit, als eine Mark noch eine Mark und die Treue das Mark der Ehre war, wie unser geliebter Feldmarschall so treffend geäußert hat. Heinrich hält große Stücke auf solche Platitüden; Riesenfeld nicht. Riesenfeld hält Treue für das, was man von anderen verlangt, wenn es nachteilig für sie ist – und von sich selbst, wenn man Vorteile davon hat.

»Preise wechseln jeden Tag«, sagt Georg. »Da ist nichts zu besprechen.«

»So? Glaubst du vielleicht auch, daß ich zu billig verkauft habe?«

»Das kommt darauf an. Hast du Geld mitgebracht?«

Heinrich starrt Georg an. »Mitgebracht? Was ist denn das nun wieder? Wie kann ich Geld mitbringen, wenn wir noch nicht geliefert haben? Das ist doch unmöglich!«

»Das ist nicht unmöglich«, erwidere ich. »Es ist im Gegenteil heute recht gebräuchlich. Man nennt das Vorauszahlung.«

»Vorauszahlung!« Heinrichs dicker Zinken zuckt verächtlich. »Was verstehen Sie Schulmeister davon? Wie kann man in unserem Geschäft Vorauszahlungen verlangen? Von den trauernden Hinterbliebenen, wenn die Kränze auf dem Grab noch nicht verwelkt sind? Wollen Sie da Geld verlangen, für etwas, was noch nicht geliefert ist?«

»Natürlich! Wann sonst? Dann sind sie schwach und rücken es leichter heraus.«

»Dann sind sie schwach? Haben Sie eine Ahnung! Dann sind sie härter als Stahl! Nach all den Unkosten für den Arzt, den Sarg, den Pastor, das Grab, die Blumen, den Totenschmaus – da kriegen Sie keine zehntausend Vorauszahlung, junger Mann! Die Leute müssen sich erst erholen! Und sie müssen das, was sie bestellen, erst auf dem Friedhof stehen sehen, ehe sie zahlen, und nicht nur auf dem Papier im Katalog, selbst wenn er von Ihnen gezeichnet ist, mit chinesischer Tusche und echtem Blattgold für die Inschriften und ein paar trauernden Hinterbliebenen als Zugabe.«

Wieder eine der persönlichen Entgleisungen Heinrichs! Ich beachte sie nicht. Es ist wahr, ich habe die Grabdenkmäler für unseren Katalog nicht nur gezeichnet und auf dem Presto-Apparat vervielfältigt, sondern sie auch, um die Wirkung zu erhöhen, bemalt und mit Atmosphäre versehen, mit Trauerweiden, Stiefmütterchenbeeten, Zypressen und Witwen in Trauerschleiern, die die Blumen begießen. Die Konkurrenz starb fast vor Neid, als wir mit dieser Neuigkeit herauskamen; sie hatte weiter nichts als einfache Lagerphotographien, und auch Heinrich fand die Idee damals großartig, besonders die Anwendung des Blattgoldes. Um den Effekt völlig natürlich zu machen, hatte ich nämlich die gezeichneten und gemalten Grabsteine mit Inschriften aus in Firnis aufgelöstem Blattgold geschmückt. Ich verlebte eine köstliche Zeit dabei; jeden Menschen, den ich nicht leiden konnte, ließ ich sterben und malte ihm seinen Grabstein – meinem Unteroffizier aus der Rekrutenzeit, der heute noch fröhlich lebt, zum Beispiel: Hier ruht nach langem, unendlich qualvollem Leiden, nachdem ihm alle seine Lieben in den Tod vorausgegangen sind, der Schutzmann Karl Flümer. Das war nicht ohne Berechtigung – der Mann hatte mich stark geschunden und mich im Felde zweimal auf Patrouillen geschickt, von denen ich nur durch Zufall lebendig zurückgekommen war. Da konnte man ihm schon allerhand wünschen!

»Herr Kroll«, sage ich, »erlauben Sie, daß wir Ihnen noch einmal kurz die Zeit erklären. Die Grundsätze, mit denen Sie aufgewachsen sind, sind edel, aber sie führen heute zum Bankrott. Geld verdienen kann jetzt jeder; es wertbeständig halten fast keiner. Das Wichtige ist nicht, zu verkaufen, sondern einzukaufen und so rasch wie möglich bezahlt zu werden. Wir leben im Zeitalter der Sachwerte. Geld ist eine Illusion; jeder weiß es, aber viele glauben es trotzdem noch nicht. Solange das so ist, geht die Inflation weiter, bis das absolute Nichts erreicht ist. Der Mensch lebt zu 75 Prozent von seiner Phantasie und nur zu 25 Prozent von Tatsachen – das ist seine Stärke und seine Schwäche, und deshalb findet dieser Hexentanz der Zahlen immer noch Gewinner und Verlierer. Wir wissen, daß wir keine absoluten Gewinner sein können; wir möchten aber auch nicht ganz zu den Verlierern zählen. Die dreiviertel Million, für die Sie heute verkauft haben, ist, wenn sie erst in zwei Monaten bezahlt wird, nicht mehr wert als heute fünfzigtausend Mark. Deshalb –«

Heinrich ist dunkelrot angeschwollen. Jetzt unterbricht er mich. »Ich bin kein Idiot«, erklärt er zum zweiten Male. »Und Sie brauchen mir keine solchen albernen Vorträge zu halten. Ich weiß mehr vom praktischen Leben als Sie. Und ich will lieber in Ehren untergehen als zu fragwürdigen Schiebermethoden greifen, um zu existieren. Solange ich Verkaufsleiter der Firma bin, wird das Geschäft im alten, anständigen Sinne weitergeführt, und damit basta! Ich weiß, was ich weiß, und damit ist es bis jetzt gegangen, und so wird es weitergehen! Ekelhaft, einem die Freude an einem gelungenen Geschäft so verderben zu wollen! Warum sind Sie nicht Arschpauker geblieben?«

Er greift nach seinem Hut und wirft die Tür schmetternd hinter sich zu. Wir sehen ihn auf seinen stämmigen X-Beinen über den Hof stampfen, halbmilitärisch mit seinen Radfahrklammern. Er ist im Abmarsch zu seinem Stammtisch in der Gastwirtschaft Blume.

»Freude am Geschäft will er haben, dieser bürgerliche Sadist«, sage ich ärgerlich. »Auch das noch! Wie kann man unser Geschäft anders als mit frommem Zynismus betreiben, wenn man seine Seele bewahren will? Dieser Heuchler aber will Freude am Schacher mit Toten haben und hält das noch für sein angestammtes Recht!«

Georg lacht. »Nimm dein Geld und laß uns auch aufbrechen! Wolltest du dir nicht noch eine Krawatte kaufen? Vorwärts damit! Heute gibt es keine Gehaltserhöhungen mehr!«

Er nimmt den Koffer mit dem Geld und stellt ihn achtlos in das Zimmer neben dem Büro, wo er schläft. Ich verstaue meine Packen in einer Tüte mit der Aufschrift: Konditorei Keller – feinste Backwaren, Lieferung auch ins Haus.

»Kommt Riesenfeld tatsächlich?« frage ich.

»Ja, er hat telegraphiert.«

»Was will er? Geld? Oder verkaufen?«

»Das werden wir sehen«, sagt Georg und schließt das Büro ab.

zurück

II

Wir treten aus der Tür. Die heftige Sonne des späten Aprils stürzt auf uns herunter, als würde ein riesiges, goldenes Becken mit Licht und Wind ausgeschüttet. Wir bleiben stehen. Der Garten steht in grünen Flammen, das Frühjahr rauscht im jungen Laub der Pappel wie eine Harfe, und der erste Flieder blüht.

»Inflation!« sage ich. »Da hast du auch eine – die wildeste von allen. Es scheint, daß selbst die Natur weiß, daß nur noch in Zehntausenden und Millionen gerechnet wird. Sieh dir an, was die Tulpen da machen! Und das Weiß drüben und das Rot und überall das Gelb! Und wie das riecht!«

Georg nickt, schnuppert und nimmt einen Zug aus der Brasil; Natur ist für ihn doppelt schön, wenn er dabei eine Zigarre rauchen kann.

Wir fühlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht. Der Garten hinter dem Hause ist gleichzeitig der Ausstellungsplatz für unsere Denkmäler. Da stehen sie, angeführt wie eine Kompanie von einem dünnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der gleich neben der Tür seinen Posten hat. Er ist das Stück, das ich Heinrich geraten habe zu verkaufen, das älteste Denkmal der Firma, ihr Wahrzeichen und eine Monstrosität an Geschmacklosigkeit. Hinter ihm kommen zuerst die billigen, kleinen Hügelsteine aus Sandstein und gegossenem Zement, die Grabsteine für die Armen, die brav und anständig gelebt und geschuftet haben und dadurch natürlich zu nichts gekommen sind. Dann folgen die größeren, schon mit Sockeln, aber immer noch billig, für die, die schon etwas Besseres sein möchten, wenigstens im Tode, da es im Leben nicht möglich war. Wir verkaufen mehr davon als von den ganz einfachen, und man weiß nicht, ob man diesen verspäteten Ehrgeiz der Hinterbliebenen rührend oder absurd finden soll. Das nächste sind die Hügelsteine aus Sandstein mit eingelassenen Platten aus Marmor, grauem Syenit oder schwarzem schwedischem Granit. Sie sind bereits zu teuer für den Mann, der von seiner Hände Arbeit gelebt hat. Kleine Kaufleute, Werkmeister, Handwerker, die einen eigenen Betrieb gehabt haben, sind die Kunden dafür – und natürlich der ewige Unglücksrabe, der kleine Beamte, der immer mehr vorstellen muß, als er ist, dieser brave Stehkragenproletarier, von dem keiner weiß, wie er es fertigbringt, heutzutage noch zu existieren, da seine Gehaltserhöhungen stets viel zu spät kommen.

Alle diese Denkmäler sind noch das, was man als Kleinvieh bezeichnet – erst hinter ihnen kommen die Klötze aus Marmor und Granit. Zunächst die einseitig polierten, bei denen die Vorderflächen glatt sind, Seiten und Rückenfläche rauh gespitzt und die Sockel allseitig rauh. Das ist bereits die Klasse für den wohlhabenderen Mittelstand, den Arbeitgeber, den Geschäftsmann, den besseren Ladenbesitzer und, natürlich, den tapferen Unglücksraben, den höheren Beamten, der, ebenso wie der kleine, im Tode mehr ausgeben muß, als er im Leben verdient hat, um das Dekorum zu wahren.

Die Aristokratie der Grabsteine jedoch sind der allseitig polierte Marmor und der schwarze schwedische Granit. Da gibt es keine rauhen Seiten und Rückenflächen mehr; alles ist auf Hochglanz gebracht worden, ganz gleich, ob man es sieht oder nicht, sogar die Sockel, und davon gibt es nicht nur einen oder zwei, sondern oft auch einen geschrägten dritten, und oben darauf, wenn es sich um ein Glanzstück im wahren Sinne des Wortes handelt, auch noch ein stattliches Kreuz aus demselben Material. So etwas ist heute natürlich nur noch da für reiche Bauern, große Sachwertbesitzer, Schieber und die geschickten Geschäftsleute, die mit langfristigen Wechseln arbeiten und so von der Reichsbank leben, die alles mit immer neuen, ungedeckten Geldscheinen bezahlt.

Wir blicken gleichzeitig auf das einzige dieser Glanzstücke, das bis vor einer Viertelstunde noch Eigentum der Firma war. Da steht es, schwarz und blitzend wie der Lack eines neuen Automobils, das Frühjahr umduftet es, Fliederblüten neigen sich ihm zu, es ist eine große Dame, kühl, unberührt und noch für eine Stunde jungfräulich – dann wird ihm der Name des Hofbesitzers Heinrich Fleddersen auf den schmalen Bauch gemeißelt werden, in lateinischer, vergoldeter Schrift, der Buchstabe zu achthundert Mark. »Fahre wohl, schwarze Diana!« sage ich. »Dahin!« und lüfte meinen Hut. »Es ist dem Poeten ewig unverständlich, daß auch vollkommene Schönheit den Gesetzen des Schicksals untersteht und elend sterben muß! Fahr wohl! Du wirst nun eine schamlose Reklame für die Seele des Gauners Fleddersen werden, der armen Witwen aus der Stadt ihre letzten Zehntausender für viel zu teure, mit Margarine verfälschte Butter entrissen hat – von seinen Wucherpreisen für Kalbsschnitzel, Schweinekoteletts und Rinderbraten ganz zu schweigen! Fahr wohl!«

»Du machst mich hungrig«, erklärt Georg. »Auf zur ›Walhalla‹! Oder mußt du vorher noch deinen Schlips kaufen?«

»Nein, ich habe Zeit, bis die Geschäfte schließen. Sonnabends gibt es nachmittags keinen neuen Dollarkurs. Von zwölf Uhr heute mittag bis Montag früh bleibt unsere Währung stabil. Warum eigentlich? Da muß irgendwas mächtig faul dabei sein. Warum fällt die Mark über das Wochenende nicht? Hält Gott sie auf?«

»Weil die Börse dann nicht arbeitet. Sonst noch Fragen?«

»Ja. Lebt der Mensch von innen nach außen oder von außen nach innen?«

»Der Mensch lebt, Punkt. Es gibt Gulasch im ›Walhalla‹, Gulasch mit Kartoffeln, Gurken und Salat. Ich habe das Menü gesehen, als ich von der Bank kam.«

»Gulasch!« Ich pflücke eine Primel und stecke sie mir ins Knopfloch. »Der Mensch lebt, du hast recht! Wer weiter fragt, ist schon verloren. Komm, laß uns Eduard Knobloch ärgern!«

 

Wir betreten den großen Speisesaal des Hotels »Walhalla«. Eduard Knobloch, der Besitzer, ein fetter Riese mit einer braunen Perücke und einem wehenden Bratenrock, verzieht bei unserem Anblick das Gesicht, als hätte er bei einem Rehrücken auf eine Schrotkugel gebissen.

»Guten Tag, Herr Knobloch«, sagt Georg. »Schönes Wetter heute! Macht mächtigen Appetit!«

Eduard zuckt nervös die Achseln. »Zuviel essen ist ungesund! Schadet der Leber, der Galle, allem.«

»Nicht bei Ihnen, Herr Knobloch«, erwidert Georg herzlich. »Ihr Mittagstisch ist gesund.«

»Gesund, ja. Aber zuviel gesund kann auch schädlich sein. Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen ist zuviel Fleisch –«

Ich unterbreche Eduard, indem ich ihm einen leichten Schlag auf seinen weichen Bauch versetze. Er fährt zurück, als hätte ihm jemand an die Geschlechtsteile gegriffen. »Gib Ruhe und füge dich in dein Geschick«, sage ich. »Wir fressen dich schon nicht arm. Was macht die Poesie?«

»Geht betteln. Keine Zeit! Bei diesen Zeiten!«

Ich lache nicht über diese Albernheit. Eduard ist nicht nur Gastwirt, er ist auch Dichter; aber so billig darf er mir nicht kommen. »Wo ist ein Tisch?« frage ich.

Knobloch sieht sich um. Sein Gesicht erhellt sich plötzlich. »Es tut mir außerordentlich leid, meine Herren, aber ich sehe gerade, daß kein Tisch frei ist.«

»Das macht nichts. Wir warten.«

Eduard blickt noch einmal umher. »Es sieht so aus, als ob auch einstweilen keiner frei würde«, verkündet er strahlend. »Die Herrschaften sind alle erst bei der Suppe. Vielleicht versuchen Sie es heute einmal im ›Altstädter Hof‹ oder im Bahnhofshotel. Man soll dort auch passabel essen.«

Passabel! Der Tag scheint von Sarkasmus zu triefen. Erst Heinrich und jetzt Eduard. Wir aber werden um das Gulasch kämpfen, auch wenn wir eine Stunde warten müssen – es ist ein Glanzpunkt auf der Speisekarte des »Walhalla«.

Doch Eduard ist nicht nur Poet, sondern scheint auch Gedankenleser zu sein. »Keinen Zweck zu warten«, sagt er. »Wir haben nie genug Gulasch und sind immer vorzeitig ausverkauft. Oder möchten Sie ein deutsches Beefsteak? Das können Sie hier an der Theke essen.«

»Lieber tot«, sage ich. »Wir werden Gulasch kriegen, und wenn wir dich selbst zerhacken müssen.«

»Wirklich?« Eduard ist nichts als ein fetter, zweifelnder Triumph.

»Ja«, erwidere ich und gebe ihm einen zweiten Klaps auf den Bauch. »Komm, Georg, wir haben einen Tisch.«

»Wo?« fragt Eduard rasch.

»Dort, wo der Herr sitzt, der aussieht wie ein Kleiderschrank. Ja, der mit dem roten Haar und der eleganten Dame. Der, der aufgestanden ist und uns zuwinkt. Mein Freund Willy, Eduard. Schick den Kellner, wir wollen bestellen!«

Eduard läßt ein zischendes Geräusch hinter uns hören, als wäre er ein geplatzter Autoschlauch. Wir gehen zu Willy hinüber.

 

Der Grund dafür, daß Eduard das ganze Theater aufführt, ist einfach. Früher konnte man bei ihm auf Abonnement essen. Man kaufte ein Heft mit zehn Eßmarken und bekam die einzelnen Mahlzeiten dadurch etwas billiger. Eduard tat das damals, um das Geschäft zu heben. In den letzten Wochen aber hat ihm die Inflationslawine einen Strich durch die Rechnung gemacht; wenn die erste Mahlzeit eines Heftchens dem Preise noch entsprach, den man gezahlt hatte, so war er bei der zehnten schon erheblich gesunken. Eduard gab deshalb die Abonnementshefte auf; er verlor zuviel dabei. Hier aber waren wir gescheit gewesen. Wir hatten rechtzeitig von seinem Plan gehört und deshalb vor sechs Wochen den gesamten Erlös aus einem Kriegerdenkmal dazu verwendet, im »Walhalla« Eßkarten en gros zu kaufen. Damit es Eduard nicht allzusehr auffiel, hatten wir verschiedene Leute dazu benützt – den Sargtischler Wilke, den Friedhofswärter Liebermann, unseren Bildhauer Kurt Bach, Willy, ein paar andere Kriegskameraden und Geschäftsfreunde – und sogar Lisa. Alle hatten an der Kasse Hefte mit Eßmarken für uns erstanden. Als Eduard dann die Abonnements aufhob, hatte er erwartet, daß binnen zehn Tagen alles erledigt sein würde, weil jedes Heft ja nur zehn Karten enthielt und er annahm, daß ein vernünftiger Mensch nur ein einziges Abonnement zur Zeit habe. Wir aber hatten jeder über dreißig Hefte in unserem Besitz. Vierzehn Tage nach der Aufhebung der Abonnements wurde Eduard unruhig, als wir immer noch mit Marken zahlten; nach vier Wochen hatte er einen leichten Anfall von Panik. Wir aßen um diese Zeit bereits für den halben Preis; nach sechs Wochen für den Preis von zehn Zigaretten. Tag für Tag erschienen wir und gaben unsere Marken ab. Eduard fragte, wieviel wir noch hätten; wir antworteten ausweichend. Er versuchte, die Scheine zu sperren; wir brachten das nächste Mal einen Rechtsanwalt mit, den wir zum Wiener Schnitzel eingeladen hatten. Der Anwalt gab Eduard beim Nachtisch eine Rechtsbelehrung über Kontrakte und Verpflichtungen und bezahlte sein Essen mit einem unserer Scheine. Eduards Lyrik nahm dunkle Züge an. Er versuchte, mit uns einen Vergleich zu schließen; wir lehnten ab. Er schrieb ein Lehrgedicht: »Unrecht Gut gedeihet nicht«, und schickte es an das Tageblatt. Der Redakteur zeigte es uns; es war mit scharfen Anspielungen auf die Totengräber des Volkes gespickt; auch Grabsteine kamen darin vor und das Wort Wucher-Kroll. Wir luden unsern Anwalt zu einem Schweinskotelett im »Walhalla« ein. Er machte Eduard den Begriff öffentlicher Beleidigung und seiner Folgen klar und zahlte wieder mit einem unserer Scheine. Eduard, der früher reiner Blumen-Lyriker gewesen war, fing an, Haßgedichte zu schreiben. Doch das war auch alles, was er tun konnte. Der Kampf tobt weiter. Eduard hofft täglich, daß unsere Reserven erschöpft sein werden; er weiß nicht, daß wir noch für über sieben Monate Marken haben.

Willy erhebt sich. Er trägt einen dunkelgrünen, neuen Anzug aus erstklassigem Stoff und sieht darin aus wie ein rotköpfiger Laubfrosch. Seine Krawatte ist mit einer Perle geschmückt, und auf dem Zeigefinger der rechten Hand trägt er einen schweren Siegelring. Vor fünf Jahren war er Gehilfe unseres Kompaniefuriers. Er ist so alt wie ich – fünfundzwanzig Jahre.

»Darf ich vorstellen?« fragt Willy. »Meine Freunde und Kriegskameraden Georg Kroll und Ludwig Bodmer – Fräulein Renée de la Tour vom Moulin Rouge, Paris.«

Renée de la Tour nickt reserviert, aber nicht unfreundlich. Wir starren Willy an. Willy starrt stolz zurück. »Setzen Sie sich, meine Herren«, sagt er. »Wie ich annehme, hat Eduard euch vom Essen ausschließen wollen. Das Gulasch ist gut, könnte nur mehr Zwiebeln haben. Kommt, wir rücken gern zusammen.«

Wir gruppieren uns um den Tisch. Willy kennt unseren Krieg mit Eduard und verfolgt ihn mit dem Interesse des geborenen Spielers.

»Kellner!« rufe ich.

Ein Kellner, der vier Schritte entfernt auf Plattfüßen an uns vorüberwatschelt, ist plötzlich taub. »Kellner!« rufe ich noch einmal.

»Du bist ein Barbar«, sagt Georg Kroll. »Du beleidigst den Mann mit seinem Beruf. Wozu hat er 1918 Revolution gemacht? Herr Ober!«

Ich grinse. Es ist wahr, daß die deutsche Revolution von 1918 die unblutigste der Welt war. Die Revolutionäre selbst waren von sich so erschreckt, daß sie sofort die Bonzen und Generäle der alten Regierung zu Hilfe riefen, um sie vor ihrem eigenen Mutanfall zu schützen. Die taten es auch großmütig. Eine Anzahl Revolutionäre wurde umgebracht, die Fürsten und Offiziere erhielten großartige Pensionen, damit sie Zeit hatten, Putsche vorzubereiten, Beamte bekamen neue Titel, Oberlehrer wurden Studienräte, Schulinspektoren Schulräte, Kellner erhielten das Recht, mit Oberkellner angeredet zu werden, frühere Parteisekretäre wurden Exzellenzen, der sozialdemokratische Reichswehrminister durfte voller Seligkeit echte Generäle unter sich in seinem Ministerium haben, und die deutsche Revolution versank in rotem Plüsch, Gemütlichkeit, Stammtisch und Sehnsucht nach Uniformen und Kommandos.

»Herr Ober!« wiederholt Georg.

Der Kellner bleibt taub. Es ist der alte, kindische Trick Eduards; er versucht uns mürbe zu machen, indem er die Kellner instruiert, uns nicht zu bedienen.

»Ober! Kerl, können Sie nicht hören?« brüllt plötzlich eine Donnerstimme in erstklassigem preußischem Kasernenhofton durch den Speisesaal. Sie wirkt auf der Stelle, wie ein Trompetensignal auf alte Schlachtpferde. Der Kellner hält an, als hätte er einen Schuß in den Rücken bekommen, und dreht sich um; zwei andere stürzen von der Seite herbei, irgendwo klappt jemand die Hacken zusammen, ein militärisch aussehender Mann an einem Tisch in der Nähe sagt leise: »Bravo« – und selbst Eduard kommt mit wehendem Bratenrock, um nach dieser Stimme aus höheren Sphären zu forschen. Er weiß, daß weder Georg noch ich so kommandieren können.

Wir sehen uns sprachlos nach Renée de la Tour um. Sie sitzt friedlich und mädchenhaft da, als ginge sie das Ganze nichts an. Dabei kann nur sie es sein, die gerufen hat – wir kennen Willys Stimme.

Der Ober steht am Tisch. »Was befehlen die Herrschaften?«

»Nudelsuppe, Gulasch und rote Grütze für zwei«, erwidert Georg. »Und flott, sonst blasen wir Ihnen die Ohren aus, Sie Blindschleiche!«

Eduard kommt heran. Er versteht nicht, was los ist. Sein Blick gleitet unter den Tisch. Dort ist niemand versteckt, und ein Geist kann nicht so gebrüllt haben. Wir auch nicht, das weiß er. Er vermutet irgendeinen Trick. »Ich muß doch sehr bitten«, sagt er schließlich, »in meinem Lokal kann man nicht solchen Lärm machen.«

Niemand antwortet. Wir sehen ihn nur mit leeren Augen an. Renée de la Tour pudert sich. Eduard dreht sich um und geht.

»Wirt! Kommen Sie mal her!« brüllt plötzlich die Donnerstimme von vorher hinter ihm her.

Eduard schießt herum und starrt uns an. Wir alle haben noch dasselbe leere Lächeln auf unseren Schnauzen. Er faßt Renée de la Tour ins Auge. »Haben Sie da eben –?«

Renée klappt ihre Puderdose zu. »Was?« fragt sie in einem silberhellen, zarten Sopran. »Was wollen Sie?«

Eduard glotzt. Er weiß nicht mehr, was er denken soll.

»Sind Sie vielleicht überarbeitet, Herr Knobloch?« fragt Georg. »Sie scheinen Halluzinationen zu haben.«

»Aber da hat doch jemand gerade –«

»Du bist verrückt, Eduard«, sage ich. »Du siehst auch schlecht aus. Geh auf Urlaub. Wir haben kein Interesse daran, deinen Angehörigen einen billigen Hügelstein aus imitiertem italienischem Marmor zu verkaufen, denn mehr bist du nicht wert –«

Eduard klappert mit den Augen wie ein alter Uhu.

»Sie scheinen ein merkwürdiger Mensch zu sein«, sagt Renée de la Tour in flötenhaftem Sopran. »Dafür, daß Ihre Kellner nicht hören können, machen Sie Ihre Gäste verantwortlich.«

Sie lacht – ein entzückendes, sprudelndes Gequirl von Silber und Wohllaut, wie ein Waldbach im Märchen.

Eduard faßt sich an die Stirn. Sein letzter Halt schwindet. Das Mädchen kann es auch nicht gewesen sein. Wer so lacht, hat keine solche Kommißstimme. »Sie können gehen, Knobloch«, erklärt Georg nachlässig. »Oder haben Sie die Absicht, an der Unterhaltung teilzunehmen?«

»Und iß nicht so viel Fleisch«, sage ich. »Vielleicht kommt es davon! Was hast du uns vorhin noch erklärt? Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen –«

Eduard dreht sich rasch um und haut ab. Wir warten, bis er weit genug weg ist. Dann beginnt Willys mächtiger Körper in lautlosem Gelächter zu beben. Renée de la Tour lächelt sanft. Ihre Augen funkeln.

»Willy«, sage ich. »Ich bin ein oberflächlicher Mensch, und dieses war deshalb einer der schönsten Momente meines jungen Lebens – aber jetzt erkläre uns, was los ist!«

Willy zeigt, bebend vor schweigendem Gebrüll, auf Renée.

»Excusez, Mademoiselle«, sage ich. »Je me –«

Willys Gelächter verstärkt sich bei meinem Französisch. »Sag’s ihm, Lotte«, prustet er.

»Was?« fragt Renée mit züchtigem Lächeln, aber plötzlich in leisem, grollendem Baß.

Wir starren sie an. »Sie ist Künstlerin«, würgt Willy hervor. »Duettistin. Sie singt Duette. Aber allein. Eine Strophe hoch, eine tief. Eine im Sopran, eine im Baß.«

Das Dunkel lichtet sich. »Aber der Baß –« frage ich.

»Talent!« erklärt Willy. »Und dann natürlich Fleiß. Ihr solltet mal hören, wie sie einen Ehestreit nachmacht. Lotte ist fabelhaft!«

Wir geben das zu. Das Gulasch erscheint. Eduard umschleicht, von ferne beobachtend, unsern Tisch. Sein Fehler ist, daß er immer herausfinden muß, warum etwas geschieht. Das verdirbt seine Lyrik und macht ihn mißtrauisch im Leben. Augenblicklich grübelt er über den mysteriösen Baß nach. Er weiß nicht, was ihm noch bevorsteht. Georg Kroll, ein Kavalier der alten Schule, hat Renée de la Tour und Willy gebeten, seine Gäste zu sein, um den Sieg zu feiern. Er wird für das vorzügliche Gulasch dem zähneknirschenden Eduard nachher vier Papierstücke einhändigen, für deren Gesamtwert man heute kaum noch ein paar Knochen mit etwas Fleisch daran kaufen kann.

 

Es ist früher Abend. Ich sitze in meinem Zimmer über dem Büro am Fenster. Das Haus ist niedrig, verwinkelt und alt. Es hat, wie dieser Teil der Straße, früher einmal der Kirche gehört, die am Ende der Straße auf einem Platz steht. Priester und Kirchenangestellte haben in ihm gewohnt; aber seit sechzig Jahren ist es Eigentum der Firma Kroll. Es besteht eigentlich aus zwei niedrigen Häusern, die durch einen Torbogen und den Eingang getrennt sind; in dem zweiten lebt der pensionierte Feldwebel Knopf mit seiner Frau und drei Töchtern. Dann kommt der schöne, alte Garten mit unserer Grabsteinausstellung und links hinten noch eine Art von zweistöckigem, hölzernem Schuppen. Unten im Schuppen arbeitet unser Bildhauer Kurt Bach. Er modelliert trauernde Löwen und auffliegende Adler für die Kriegerdenkmäler, die wir verkaufen, und zeichnet die Inschriften auf die Grabsteine, die dann von den Steinmetzen ausgehauen werden. In seiner Freizeit spielt er Guitarre und wandert und träumt von goldenen Medaillen für den berühmten Kurt Bach einer späteren Periode, die nie existieren wird. Er ist zweiunddreißig Jahre alt.

Den oberen Stock des Schuppens haben wir an den Sargtischler Wilke vermietet. Wilke ist ein hagerer Mann, von dem keiner weiß, ob er eine Familie hat oder nicht. Unsere Beziehungen zu ihm sind freundschaftlich wie alle, die auf gegenseitigem Vorteil beruhen. Wenn wir einen ganz frischen Toten haben, der noch keinen Sarg hat, empfehlen wir Wilke oder geben ihm einen Wink, sich zu kümmern; er tut dasselbe mit uns, wenn er eine Leiche weiß, die noch nicht von den Hyänen der Konkurrenz weggeschnappt worden ist; denn der Kampf um die Toten ist bitter und geht bis aufs Messer. Der Reisende Oskar Fuchs von Hollmann & Klotz, unserer Konkurrenz, benützt sogar Zwiebeln dazu. Bevor er in ein Haus geht, wo eine Leiche liegt, holt er ein paar zerschnittene Zwiebeln aus der Tasche und riecht so lange daran, bis seine Augen voller Tränen stehen – dann marschiert er hinein, markiert Mitgefühl für den teuren Entschlafenen und versucht, das Geschäft zu machen. Er heißt deshalb der Tränen-Oskar. Es ist sonderbar, aber wenn die Hinterbliebenen sich um manche Toten im Leben nur halb soviel gekümmert hätten wie dann, wenn sie nichts mehr davon haben, hätten die Leichen bestimmt gerne auf das teuerste Mausoleum verzichtet – doch so ist der Mensch: nur was er nicht hat, schätzt er wirklich.

Die Straße füllt sich leise mit dem durchsichtigen Rauch der Dämmerung. Lisa hat bereits Licht; doch diesmal sind die Vorhänge zugezogen, ein Zeichen, daß der Pferdeschlächter da ist. Neben ihrem Hause beginnt der Garten der Weinhandlung Holzmann. Flieder hängt über die Mauern, und von den Gewölben kommt der frische Essiggeruch der Fässer. Aus dem Tor unseres Hauses tritt der pensionierte Feldwebel Knopf. Er ist ein dünner Mann mit einer Schirmmütze und einem Spazierstock, der, trotz seines Berufes und obschon er außer dem Exerzierreglement nie ein Buch gelesen hat, aussieht wie Nietzsche. Knopf geht die Hakenstraße hinunter und schwenkt an der Ecke der Marienstraße links ab. Gegen Mitternacht wird er wieder zurückkommen, diesmal von rechts – er hat damit seinen Rundgang durch die Kneipen der Stadt beendet, der, wie es sich für einen alten Militär gehört, methodisch erfolgt. Knopf trinkt nur Schnaps, und zwar Korn, nichts anderes. Darin aber ist er der größte Kenner, den es gibt. In der Stadt existieren etwa drei oder vier Firmen, die Korn brennen. Für uns schmecken ihre Schnäpse alle ungefähr gleich. Nicht so für Knopf; er unterscheidet sie schon am Geruch. Vierzig Jahre unermüdlicher Arbeit haben seine Zunge so verfeinert, daß er sogar bei derselben Kornsorte herausschmecken kann, aus welcher Kneipe sie kommt. Er behauptet, die Keller wären verschieden und er könne das unterscheiden. Natürlich nicht bei Korn in Flaschen; nur bei Korn in Fässern. Er hat schon manche Wette damit gewonnen.

Ich stehe auf und sehe mich im Zimmer um. Die Decke ist niedrig und schräg, und die Bude ist nicht groß, aber ich habe darin, was ich brauche – ein Bett, ein Regal mit Büchern, einen Tisch, ein paar Stühle und ein altes Klavier. Vor fünf Jahren, als Soldat im Felde, hätte ich nie geglaubt, daß ich es wieder einmal so gut haben würde. Wir lagen damals in Flandern, es war der große Angriff am Kemmelberg, und wir verloren drei Viertel unserer Kompanie. Georg Kroll kam mit einem Bauchschuß am zweiten Tag ins Lazarett, aber bei mir dauerte es fast drei Wochen, bis ich mit einem Knieschuß erwischt wurde. Dann kam der Zusammenbruch, ich wurde schließlich Schulmeister, meine kranke Mutter hatte das gewollt, und ich hatte es ihr versprochen, bevor sie starb. Sie war so viel krank gewesen, daß sie dachte, wenn ich einen Beruf mit lebenslänglicher Anstellung als Beamter hätte, könnte wenigstens mir nichts mehr passieren. Sie starb in den letzten Monaten des Krieges, aber ich machte trotzdem meine Prüfung und wurde auf ein paar Dörfer in der Heide geschickt, bis ich genug davon hatte, Kindern Sachen einzutrichtern, an die ich selbst längst nicht mehr glaubte, und lebendig begraben zu sein zwischen Erinnerungen, die ich vergessen wollte.

 

Ich versuche zu lesen; aber es ist kein Wetter zum Lesen. Der Frühling macht unruhig, und in der Dämmerung verliert man sich leicht. Alles ist dann gleich ohne Grenzen und macht atemlos und verwirrt. Ich zünde das Licht an und fühle mich sofort geborgener. Auf dem Tisch liegt ein gelber Aktendeckel mit Gedichten, die ich auf der Erika-Schreibmaschine in drei Durchschlägen getippt habe. Ab und zu schicke ich ein paar dieser Durchschläge an Zeitungen. Sie kommen entweder zurück, oder die Zeitungen antworten nicht; dann tippe ich neue Durchschläge und probiere es wieder. Nur dreimal habe ich etwas veröffentlichen können, im Tageblatt der Stadt, allerdings mit Georgs Hilfe, der den Lokalredakteur kennt. Immerhin, das hat dafür genügt, daß ich Mitglied des Werdenbrücker Dichterklubs geworden bin, der bei Eduard Knobloch einmal in der Woche in der Altdeutschen Stube tagt. Eduard hat kürzlich versucht, mich wegen der Eßmarken als moralisch defekt ausschließen zu lassen; aber der Klub hat gegen Eduards Stimme erklärt, ich handele höchst ehrenwert, nämlich so wie seit Jahren die gesamte Industrie und Geschäftswelt unseres geliebten Vaterlandes – und außerdem habe Kunst mit Moral nichts zu schaffen.

Ich lege die Gedichte beiseite. Sie wirken plötzlich flach und kindisch, wie die typischen Versuche, die fast jeder junge Mensch einmal macht. Im Felde habe ich damit angefangen, aber da hatte es einen Sinn – es nahm mich für Augenblicke weg von dem, was ich sah, und es war eine kleine Hütte von Widerstand und Glauben daran, daß noch etwas jenseits von Zerstörung und Tod existiere. Doch das ist lange her; ich weiß heute, daß noch vieles andere daneben existiert, und ich weiß auch, daß beides sogar zur gleichen Zeit existieren kann. Meine Gedichte brauche ich dazu nicht mehr; in meinen Bücherregalen ist das alles viel besser gesagt. Aber was würde mit einem passieren, wenn das schon ein Grund wäre, etwas aufzugeben? Wo blieben wir alle? So schreibe ich weiter, doch oft genug erscheint es mir grau und papieren gegen den Abendhimmel, der jetzt über den Dächern weit und apfelfarben wird, während der violette Aschenregen der Dämmerung schon die Straßen füllt.

Ich gehe die Treppen hinunter, am dunklen Büro vorbei, in den Garten. Die Haustür der Familie Knopf steht offen. Wie in einer feurigen Höhle sitzen da die drei Tochter Knopfs im Licht an ihren Nähmaschinen und arbeiten. Die Maschinen surren. Ich werfe einen Blick auf das Fenster neben dem Büro. Es ist dunkel; Georg ist also bereits irgendwohin verschwunden. Auch Heinrich ist in den tröstlichen Hafen seines Stammtisches eingekehrt. Ich mache eine Runde durch den Garten. Jemand hat gesprengt, die Erde ist feucht und riecht stark. Wilkes Sargtischlerei ist leer, und auch bei Kurt Bach ist es still. Die Fenster stehen offen; ein halbfertiger, trauernder Löwe kauert auf dem Boden, als habe er Zahnschmerzen, und daneben stehen friedlich zwei leere Bierflaschen.

Ein Vogel fängt plötzlich an zu singen. Es ist eine Drossel. Sie sitzt auf der Spitze des Kreuzdenkmals, das Heinrich Kroll verschachert hat, und hat eine Stimme, die viel zu groß ist für den kleinen schwarzen Ball mit dem gelben Schnabel. Sie jubelt und klagt und bewegt mir das Herz. Ich denke einen Augenblick daran, daß ihr Lied, das für mich Leben und Zukunft und Träume und alles Ungewisse, Fremde und Neue bedeutet, für die Würmer, die sich aus der feuchten Gartenerde um das Kreuzdenkmal jetzt heraufarbeiten, ohne Zweifel nichts weiter ist als das grauenhafte Signal des Todes durch Zerhacken mit fürchterlichen Schnabelhieben, – trotzdem kann ich mir nicht helfen, es schwemmt mich weg, es lockert alles auf, ich stehe auf einmal hilflos und verloren da und wundere mich, daß ich nicht zerreiße oder wie ein Ballon in den Abendhimmel fliege, bis ich mich schließlich fasse und durch den Garten und den Nachtgeruch zurückstolpere, die Treppen hinauf, zum Klavier, und auf die Tasten haue und sie streichle und versuche, auch so etwas wie eine Drossel zu sein und herauszuschmettern und zu beben, was ich fühle: – aber es wird dann doch zum Schluß nichts anderes daraus als ein Haufen von Arpeggien und Fetzen von ein paar Schmachtschlagern und Volksliedern und etwas aus dem Rosenkavalier und aus Tristan, ein Gemisch und ein Durcheinander, bis jemand von der Straße heraufschreit: »Mensch, lerne doch erst einmal richtig spielen!«

Ich breche ab und schleiche zum Fenster. Im Dunkel verschwindet eine dunkle Gestalt; sie ist bereits zu weit weg, um ihr etwas an den Kopf zu werfen, und wozu auch? Sie hat ja recht. Ich kann nicht richtig spielen, weder auf dem Klavier noch auf dem Leben, nie, nie habe ich es gekonnt, immer war ich zu hastig, immer zu ungeduldig, immer kam etwas dazwischen, immer brach es ab, – aber wer kann schon richtig spielen, und wenn er es kann, was nützt es ihm dann? Ist das große Dunkel darum weniger dunkel, sind die Fragen ohne Antwort darum weniger aussichtslos, brennt die Verzweiflung über die ewige Unzulänglichkeit darum weniger schmerzhaft, und ist das Leben dadurch jemals zu erklären und zu fassen und zu reiten wie ein zahmes Pferd, oder ist es immer wie ein mächtiges Segel im Sturm, das uns trägt und uns, wenn wir es greifen wollen, ins Wasser fegt? Da ist manchmal ein Loch vor mir, das scheint bis in den Mittelpunkt der Erde zu reichen. Was füllt es aus? Die Sehnsucht? Die Verzweiflung? Ein Glück? Und welches? Die Müdigkeit? Die Resignation? Der Tod? Wozu lebe ich? Ja, wozu lebe ich?

zurück

III

Es ist Sonntag früh. Die Glocken läuten von allen Türmen, und die Irrlichter des Abends sind zerstoben. Der Dollar steht immer noch auf sechsunddreißigtausend, die Zeit hält den Atem an, die Wärme hat den Kristall des Himmels noch nicht geschmolzen, und alles scheint klar und unendlich rein, es ist die eine Stunde am Morgen, wo man glaubt, daß selbst dem Mörder vergeben wird und daß gut und böse belanglose Worte sind.

Ich ziehe mich langsam an. Die kühle, sonnige Luft weht durch das offene Fenster. Schwalben blitzen stählern unter dem Torbogen durch. Mein Zimmer hat, wie das Büro darunter, zwei Fenster – eines zum Hof und eines zur Straße. Ich lehne einen Augenblick im Hoffenster und sehe in den Garten. Plötzlich tönt ein erstickter Schrei durch die Stille, dem ein Gurgeln und Stöhnen folgt. Es ist Heinrich Kroll, der im andern Flügel schläft. Er hat wieder einmal einen seiner Alpträume. 1918 ist er verschüttet worden, und heute, fünf Jahre später, träumt er immer noch ab und zu davon.

Ich koche auf meinem Spirituskocher Kaffee, in den ich einen Schluck Kirsch gieße. Ich habe das in Frankreich gelernt, und Schnaps habe ich trotz der Inflation immer noch. Mein Gehalt reicht zwar nie aus für einen neuen Anzug – ich kann dafür einfach das Geld nicht zusammensparen, es wird zu rasch wertlos –, aber für kleine Sachen genügt es, und darunter natürlich, als Trost, ab und zu für eine Flasche Schnaps.

Ich esse mein Brot mit Margarine und Pflaumenmarmelade. Die Marmelade ist gut, sie stammt aus den Vorräten von Mutter Kroll. Die Margarine ist ranzig, aber das macht nichts; im Kriege haben wir alle schlechter gegessen. Dann mustere ich meine Garderobe. Ich besitze zwei zu Zivilanzügen umgearbeitete Militäruniformen. Der eine ist blau, der andere schwarz gefärbt – viel mehr war mit dem graugrünen Stoff nicht zu machen. Außerdem habe ich noch einen Anzug aus der Zeit, bevor ich Soldat wurde. Er ist ausgewachsen, aber es ist ein richtiger Zivilanzug, kein umgearbeiteter oder gewendeter, und deshalb ziehe ich ihn heute an. Er paßt zu der Krawatte, die ich gestern nachmittag gekauft habe und die ich heute tragen will, damit Isabelle sie sieht.

Friedlich wandere ich durch die Straßen der Stadt. Werdenbrück ist eine alte Stadt von 60000 Einwohnern, mit Holzhäusern und Barockbauten und scheußlichen neuen Vierteln dazwischen. Ich durchquere sie und gehe zur anderen Seite hinaus, eine Allee mit Roßkastanien entlang und dann einen kleinen Hügel hinauf, auf dem sich in einem großen Park die Irrenanstalt befindet. Sie liegt still und sonntäglich da, Vögel zwitschern in den Bäumen, und ich gehe hin, um in der kleinen Kirche der Anstalt für die Sonntagsmesse die Orgel zu spielen. Ich habe das während meiner Vorbereitung zum Schulmeister gelernt und diese Stellung vor einem Jahr als Nebenberuf geschnappt. Ich habe mehrere solcher Nebenberufe. Einmal in der Woche erteile ich den Kindern des Schuhmachermeisters Karl Brill Klavierunterricht und bekomme dafür meine Schuhe besohlt und etwas Geld – und zweimal in der Woche gebe ich dem flegeligen Sohn des Buchhändlers Bauer Nachhilfestunden, ebenfalls für etwas Geld und das Recht, alle neuen Bücher zu lesen und Vorzugspreise zu bekommen, wenn ich welche kaufen will. Diese Vorzugspreise werden natürlich vom gesamten Dichterklub ausgenützt, sogar von Eduard Knobloch, der dann auf einmal mein Freund ist.

 

Die Messe beginnt um neun Uhr. Ich sitze an der Orgel und sehe die letzten Patienten hereinkommen. Sie kommen leise und verteilen sich auf die Bänke. Ein paar Wärter und Schwestern sitzen zwischen ihnen und an den Seiten. Alles geht sehr behutsam zu, viel lautloser als in den Bauernkirchen, in denen ich zur Zeit meiner Schulmeisterei gespielt habe. Man hört nur das Gleiten der Schuhe auf dem Steinboden; sie gleiten, sie trampeln nicht. Es ist das Geräusch der Schritte von Menschen, deren Gedanken weit weg sind.

Vor dem Altar sind die Kerzen angezündet. Durch das bunte Glas der Fenster fällt das Licht von draußen gedämpft herein und mischt sich mit dem Kerzenschein zu einem sanften, rot und blau überwehten Gold. Darin steht der Priester in seinem brokatenen Meßgewand, und auf den Stufen des Altars knien die Meßdiener in ihren roten Talaren mit den weißen Überwürfen.

Ich ziehe die Register der Flöten und der Vox humana und beginne. Mit einem Ruck wenden sich die Köpfe der Irren in den vorderen Reihen um, alle auf einmal, als würden sie an einer Schnur herumgezogen. Ihre bleichen Gesichter mit den dunklen Augenhöhlen starren ausdruckslos nach oben zur Orgel. Sie schweben wie flache, helle Scheiben in dem dämmernden, goldenen Licht, und manchmal, im Winter, im Dunkeln, sehen sie aus wie große Hostien, die darauf warten, daß der Heilige Geist in sie einkehre. Sie gewöhnen sich nicht an die Orgel; sie haben keine Vergangenheit und keine Erinnerung, und jeden Sonntag treffen die Flöten und Geigen und die Gamben ihre entfremdeten Gehirne unerwartet und neu. Dann beginnt der Priester am Altar, und sie wenden sich ihm zu.

Nicht alle Irren folgen der Messe. In den hinteren Reihen sitzen viele, die sich nicht bewegen. Sie sitzen da, als wären sie eingehüllt in eine furchtbare Trauer und um sie wäre nichts als Leere – aber vielleicht scheint einem das auch nur so. Vielleicht sind sie in ganz anderen Welten, in die kein Wort des gekreuzigten Heilands klingt, harmlos und ohne Verstehen einer Musik hingegeben, gegen die die Orgel blaß und grob klingt. Und vielleicht auch denken sie gar nichts – gleichgültig wie das Meer, das Leben und der Tod. Nur wir beseelen die Natur. Wie sie sein mag, wenn sie sie selbst ist, – vielleicht wissen es die Köpfe da unten; aber sie können das Geheimnis nicht verraten. Was sie sehen, hat sie stumm gemacht. Manchmal ist es, als wären sie die letzten Abkommen der Turmbauer von Babel und ihre Sprache sei verwirrt und sie könnten nicht mehr mitteilen, was sie von der obersten Terrasse aus gesehen haben.