Liebe, Glaube, Hohngelächter - Jan Off - E-Book

Liebe, Glaube, Hohngelächter E-Book

Jan Off

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Beschreibung

Begegnungen mit Polizisten, Nazis und der Waffenlobby. Auf LSD beim Ski-Marathon, am Pool mit Charles Bukowski, angetan mit Schwimmring und Pantoffeln am Einlass des KitKatClubs – endlich wieder Kurzgeschichten aus der Feder von Jan Off. Mal von fast schon bedrückendem Ernst, mal schreiend komisch. Immer aber herrlich schräg und, wie vom Wahlhamburger gewohnt, mit viel Wortwitz und Lust an der Eskalation geschrieben. Wer der Gattung Mensch gern beim Scheitern zusieht, kann hier bedenkenlos zugreifen. Denn kaum ein Autor zelebriert unser klägliches Streben nach Beständigkeit so genüsslich wie Jan Off. Als Bonustrack gibt es den lang vermissten zweiten Teil des Szene-Bestsellers »Vorkriegsjugend« – bisher nur als Langspielplatte, nun endlich auch in Buchform erhältlich. Reichlich Lesestoff also.

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Seitenzahl: 178

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JAN OFF

LIEBE, GLAUBE, HOHNGELÄCHTER

KURZGESCHICHTEN

Jan Off war mal irgendwo und hat dort flüchtigjemanden kennengelernt, der beinahe waserlebt hätte. Dieses Ereignis wirkt bis heute nach.Im Ventil Verlag erschienen von ihmunter anderem die Titel »Vorkriegsjugend«,»Ausschuss«, »Angsterhaltende Maßnahmen«,»Offenbarungseid«; »Unzucht«, »Klara« (zusammenmit Dirk Bernemann und Jörkk Mechenbier)und zuletzt der Roman »Nichts wird sich niemalsnirgendwo ändern«.

© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG,

Mainz 2021. Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Dezember 2021

ISBN print 978-3-95575-160-9

ISBN epub 978-3-95575-617-8

Korrektorat: Roland Tauber

Emojis: Noemi Giersch

Illustration Seite 125: Max Roßner

Covergestaltung und Satz: Oliver Schmitt

Ventil Verlag, Boppstr. 25, 55118 Mainz

www.ventil-verlag.de

INHALT

ALLZU COURAGIERTE ARIER BLUTEN

FIESTA MEXICANA

SEX UND GELD

BETREUTES AUSGEHEN

AUS DEM TAGEBUCH DES REINER WANDT

BYE-BYE JUNGFERNHÄUTCHEN

WATTWANDERUNG

DAS GEFÜHL, DIE ZELLE FÄHRT

HÖLLE HARZ

GROSSSTÄDTER UNTER DRUCK

HAUS OHNE HÜTER

ALTERSWEISHEIT

FÜR IMMER KNALLFROSCH

WENN ICH ETWAS GEBE, GILT: DEUTSCHE BETTLER FIRST!

WOLLUST IN ZUNGEN

DER PREIS DES ERFOLGS

LOB DER INKONSEQUENZ

STADT, LAND, AUSFLUSS

BERUFSRISIKO

AFFEKT-INKONTINENZ

DAS HOHELIED DER LARMOYANZ

AUTOKRATEN BRATEN!

METT-EAGLE

IM SCHATTEN DER CHAOSTAGE

DER KAPITALISMUS – WACHKOMAPATIENT 2020

LOB UND PREIS DEM KOKAIN

REGISTER

ALLZU COURAGIERTE ARIER BLUTEN

(eine Geschichte von exakt 1312 Wörtern Länge)

Mücke brauchte keine Drogen. Er berauschte sich an sich selbst, genauer: an seinem messerscharfen Verstand und seiner Zungenfertigkeit. Bei mir sah das deutlich anders aus. Ich betäubte meinen Verstand gern mal mit einer Messerspitze Meskalin oder größeren Mengen anderer Substanzen.

Demgemäß war, was die Rollenverteilung anging, keinerlei Diskussion vonnöten, als wir uns am Ende dieses kleinen, dreitägigen Elektro-Festivals wieder Richtung Heimat aufmachten. Mücke fuhr. Ich dämmerte auf dem Beifahrersitz, kämpfte die letzten Halluzinationen nieder und träumte von einer eiskalten Orangenlimonade.

Als das Fahrzeug, das eben noch über die Landstraße geschossen war wie ein Raumgleiter, unvermittelt seine Geschwindigkeit verringerte, dachte ich im ersten Moment, wir würden eine Tankstelle ansteuern. Ich sah den Verkaufsraum schon vor mir, den Kühlschrank, die Getränke.

Ein kurzes Öffnen der Lider verriet jedoch weniger Erfreuliches: Uns erwartete eine großangelegte Polizeikontrolle, wie sie im Umfeld von musikalischen Outdoor-Veranstaltungen beinahe schon Alltag geworden ist. Ein Mosaik aus blauen Uniformen und rot-weißen Warnhütchen zwang uns auf einen Parkplatz, eine rot-weiße Kelle zeigte uns die Stelle, an der wir zu halten hatten.

»Diggi, jetzt amüsieren wir uns ein bisschen«, sagte Mücke und präsentierte sein bestes Joker-Lächeln.

Ich dachte daran, dass gerade noch Fledermäuse mit Hipsterbart und Hornbrille in meinem Schädelinneren herumgeflattert waren, und war mir nicht sicher, ob ich »ein bisschen« Amüsement à la Mücke gebrauchen konnte. Da näherte sich auch schon ein Uniformierter und wies meinen Chauffeur mit einer Handbewegung an, das Fenster herunterzulassen. Dann kam das Übliche: »Allgemeine Verkehrskontrolle. Den Führerschein und die Fahrzeugpapiere bitte«, sagte der Bulle mit dieser unangenehmen, weil naturgemäß überheblichen Mischung aus Selbstbewusstsein und Strenge, wie sie Amtspersonen häufig eigen ist.

»Papiere?« Mücke bückte sich, fischte ein benutztes Tempotaschentuch aus dem Fußraum und sagte: »Das dürfte alles an Papier sein, was sich im Wagen befindet.«

Wie zu erwarten, war der Staatsdiener auf derlei Nonsens nicht vorbereitet.

»Was? Wie bitte?«, stammelte er.

»Ach Quatsch, Moment.« Mücke zog einen alten, wahrscheinlich unbezahlten Strafzettel aus der Türablage. »Hier ist auch noch was. Sammeln Sie Altpapier für wohltätige Zwecke?«

Der Bulle, ein junger Typ mit ehrgeizigem, aber nicht unsympathischen Gesicht, verlor unüberhörbar an Laune.

»Wollen Sie mich für dumm verkaufen?«

»Gott bewahre«, entgegnete Mücke »ich bin doch kein Menschenhändler. Menschenhandel ist verboten. Davon ab: Wenn ich etwas verkaufe, dann nicht für dumm beziehungsweise für umme, wie es eigentlich heißt, denn das wäre ja eine Schenkung und kein Verkauf, sondern für einen angemessenen Betrag. Geld, Schotter, Patte. Sie verstehen? In Ihrem Fall vielleicht nicht unbedingt für ein Vermögen, aber doch wenigstens für den Gegenwert einer Schachtel Heftzwecken.«

Der Bulle war kurz davor, aggressiv zu werden, riss sich aber noch mal zusammen.

»Wenn Sie mir einfach den Fahrzeugschein geben würden.«

Mücke machte große Augen und rieb sich das Kinn: »Ach, den. Tut mir leid, den habe ich nicht dabei.«

»Aha.« Der Bulle brachte Formularblock und Kuli zum Vorschein und machte eine Notiz.

»So, dann bitte noch den Führerschein.«

»Führerschein? Ist das ein Zwanziger mit dem Konterfei Adolf Hitlers auf der Rückseite? Wollen Sie, dass ich Sie besteche?«

»Die Fahrerlaubnis.« Der Ordnungshüter bekam einen leichten Silberblick.

Wer nun glaubt, Mücke hätte sich weitere schikanöse Wortspiele ausgedacht (etwa: »Fahrerlaubnis? Von wem? Vom Führer? Vom lieben Gott? Oder von dem, der mit dem Laub tanzt?«), der irrt. Mücke war raffiniert. Er wusste, dass der nächste Schlag umso härter trifft, wenn man den Gegner kurz in Sicherheit wiegt. Und so sagte er nur: »Die Fahrerlaubnis? Die liegt zu Hause. Im Kühlschrank, neben der Avocadobutter.«

Wie zu erwarten, hatte der Bulle plötzlich Oberwasser. Ein weiterer Vermerk auf seinem Zettel, dann kam er hiermit: »Wenn Sie bitte aussteigen und mich einen Blick in den Kofferraum werfen lassen würden. Warndreieck und Verbandskasten hätte ich gern noch gesehen.«

Mücke machte keinerlei Anstalten, diesem Ansinnen Folge zu leisten. Vielmehr lehnte er sich zurück und sagte genüsslich: »Der Begriff Verbandskasten ist eine Dopplung beziehungsweise ein Widerspruch in sich.«

»Entschuldigung, was meinen Sie?«

»Die Ausdrücke Verband und Kasten beziehungsweise Verbände und Kasten bezeichnen jeweils Zusammenschlüsse von Personen. Es gilt allerdings: Eine Kaste ist immer ein Verband; ein Verband dagegen muss nicht zwingend eine Kaste sein.«

»Hä?«

»Vergleichbar etwa dem Begriff Bullenschwein. Ein Bulle kann durchaus ein Schwein sein, also im übertragenen Sinne, ein Schwein aber nie ein Bulle.«

»Den Verbandskasten!«

»Ich sagte doch gerade, dass …«

Der Mann in Uniform, besser: der Mann hinter der Uniform schrie nun endlich: »Diese kleine Kiste aus Plastik. Diese kleine Kiste, in der sich Verbandsmaterial und andere wichtige Dinge zur medizinischen Erstfallversorgung befinden.«

»Die ist nicht da.«

Hörbares Ausatmen, gefolgt von einem fast schon erfreuten: »Gut. Sehr gut.«

Die Stimmung auf Seiten der Ordnungsmacht stieg offenbar wieder an. Noch einmal wurde der Kugelschreiber geschwungen, dann erfolgte die in den Augen des Fragestellers wahrscheinlich finale Attacke: »Haben Sie Alkohol getrunken?«

»Aber Herr Wachtmeister, was reden Sie da? Sie wissen das vielleicht nicht, aber das Führen von Fahrzeugen unter Alkohol-, wie übrigens auch unter Drogeneinfluss, ist brandgefährlich und außerdem verboten, was wiederum, wenn ich ihre Frage bejahen würde, nur zwei Möglichkeiten zuließe: Entweder habe ich nur ein bisschen genippt, also im medizinischen wie rechtlichen Sinne dann doch nicht getrunken, oder ich habe mich brutal volllaufen lassen. Denn wie sonst käme ein vernunftbegabter und moralisch gefestigter Mensch, der nicht nur das Fachabitur und die Seepferdchen-Prüfung bestanden, zwei Jahre als Organist in der Martinikirche gedient und seine Frau Mama (Gott hab sie selig) dreimal wöchentlich zur Dialyse kutschiert hat, auf die Idee, jede Achtung vor dem Gesetz fahren zu lassen?«

»Haben Sie nun oder haben Sie nicht?« Es hatte den Anschein, als wäre die Unterlippe des Büttels von einem leichten Zittern befallen.

Mücke machte eine lange Pause, wie ein Messerwerfer vor dem letzten, dem gefährlichsten Kunststück, dann sagte er: »Nein.«

Zum zweiten Mal atmete der Bulle spürbar auf. Aber seine Erleichterung war verfrüht. Denn noch während er erneut mit seinem Kugelschreiber herumfuhrwerkte, schwang sich Mücke aus dem Auto, zog die Jogginghose auf halb acht, brachte seinen unbestreitbar ansehnlichen Fleischpenis mit der Sigmund-Freud-Tätowierung zum Vorschein und rief in hellstem Glockenklang: »Wäre nun nicht aber auch eine Drogenkontrolle fällig? Ein Teststreifen, den mein Harn zu Kunst veredeln könnte. Oder darf ich doch noch das Warndreieck zur Anschauung bringen?«

Er tat, behindert vom herabgelassenen Beinkleid, ein, zwei Hüpfer, aber der Cop trat ihm in den Weg.

»Sie packen das sofort wieder ein!«

»Aber das Warndreieck. Das ist doch wichtig. Wenn man mal zum Stehen kommt, weil irgendetwas Unvorhergesehenes die Fahrbahn blockiert. Ein brennender Wasserwerfer etwa.«

»Nein«, sagte der Bulle, »Nein. Sie packen das jetzt wieder ein. Und dann fahren Sie. Sofort.« Er wirkte hysterisch. Und es hätte mich nicht gewundert, wenn er Kollegen zur Verstärkung herbeigerufen oder gar die Schusswaffe gezogen hätte. Aber nichts davon geschah.

Mücke zögerte kurz, zog dann aber die Hose zurück bis zum Bauchnabel – reichlich lasziv, wie ich fand – und nahm wieder hinterm Steuer Platz.

»Na, dann frohes Schaffen und nicht vergessen: Allzu couragierte Arier bluten«, sagte er, kurbelte die Scheibe hoch und fuhr langsam an.

Der Bulle sagte nichts. Er ließ stattdessen eine Träne sprechen, die ihm langsam, fast wie in Zeitlupe, die Wange hinabrann.

Ich dachte derweil an meine Orangenlimonade. Vielleicht mit Campari. Nein, ganz sicher mit Campari.

FIESTA MEXICANA

»Ich wünschte, du wärst tot. Dann könnte ich auf dein Grab spucken«, schrie sie, mit einem Blick, als hätte man ihr in die linke Pupille die Buchstaben HA und in die rechte ein Doppel-S tätowiert. Und mich befiel nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen die Sorge, ich könne nachts von dem Schmerz geweckt werden, den nur ein Steakmesser im Unterleib hervorzurufen vermag.

Wir hatten schon immer viel gestritten. Aber seitdem sie im Homeoffice war, waren aus Wut Ekel, aus Impulsivität Dauerfeuer und aus Leidenschaft Vernichtungswille geworden. Das Thema war immer dasselbe: Sie wollte unbedingt ein Kind, ich wollte unbedingt keins. Ich hatte diesen Wunsch Zeit meines Lebens nicht verspürt, ja, noch nicht mal nachvollziehen können. Aktuell erschien er mir geradezu absurd. Aber mit diesem Argument durfte ich ihr nicht kommen. Wie ohnehin jedes Argument längst aufgebraucht war. Denn natürlich gibt es in dieser Frage keine Kompromisse, kannst du nicht mal eben ein halbes Kind zeugen oder eins, für das du nach zwei Jahren die Verantwortung wieder abgibst. Und genau das war mein Problem. Diese immerwährende, ein Leben lang andauernde Verantwortung. Dein Sohn ein Nazi? Deine Tochter eine Enkeltrick-Betrügerin? Egal, fahr in den Knast und bring ihnen Filterkaffee und Stopftabak mit. Und Zuneigung natürlich.

In meiner Verzweiflung hatte ich ihr schon vorgeschlagen, dass sie doch ein Kind mit einem andern machen könne und wir danach trotzdem als Paar … (#verantwortung), aber auch das hatte eine massive Eskalation zur Folge gehabt. Denn für sie war ein Kind unabdingbar an die Liebe gebunden, wie auch andersherum die Liebe unabdingbar ein gemeinsames Kind erforderte, mindestens eins.

Früher hatte es wenigstens Pausen gegeben, hatten wir nach der Schlacht und dem darauffolgenden, teils tagelangen Anschweigen immer wieder zueinandergefunden. Verdrängen fällt ja nur allzu leicht, wenn Begierde und gegenseitige Faszination regieren. Versöhnungssex interessierte uns dabei nicht. Wir hatten auch so Sex genug. Wenn wir nicht gerade im Schützengraben verharrten, konnten wir die Finger selten länger als einen Tag voneinander lassen. Ein Segen, der schnell zum Fluch geworden war. Denn nun waren wir 24/7 auf uns selbst zurückgeworfen, war das Belauern am Stacheldrahtverhau, war das Leben im Minenfeld der Dauerzustand.

Sie hatte sich angewöhnt, nur noch in BH und Leggins durch die Wohnung zu laufen. Und so wie dieser Anblick mich noch vor Wochen maximal angeturnt hätte, löste er jetzt einzig Abscheu und Gereiztheit aus. Gestern schier irre vor Lust, heute ein Irrer mit Frust. Aber auch ich ließ mich gehen, duschte höchstens alle drei Tage, rasierte mich nur noch, wenn die Bartstoppeln beim Kontakt mit dem Kragen meiner Trainingsjacke (die mir zur zweiten Haut geworden war) ein unangenehmes Ziepen hervorriefen.

»Du siehst aus wie ein Penner«, sagte sie eines Abends, nachdem sie für den Bruchteil einer Sekunde von ihrem Notebook aufgeblickt hatte, weil mein Versuch, mir unbemerkt ihr Feuerzeug zu angeln, dann doch nicht unbemerkt geblieben war.

Ich war kurz davor zu erwidern, dass sie eben diesen Penner zum Vater ihres ungeborenen Kindes auserkoren hatte. Aber zum Glück verkniff ich mir auch das. Vielleicht weil mich ihre kleinen, fleischigen Zehen ablenkten, die sie auf dem Couchtisch geparkt hatte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich ihre Füße niedlich gefunden, jetzt ließen sich mich an eine Bauerstochter denken, die in einem Gärbecken Trauben stampft.

Die wenigen Momente, in denen ich das Haus verließ, erschienen wie Ausflüge ins gelobte Land. Und wenn ich beim Einkaufen mal wieder etwas länger vor der Supermarktpforte oder an der Kasse anstehen musste, verspürte ich keine Ungeduld. Im Gegenteil. Oft genug ertappte ich mich dabei, wie ich auch auf dem Rückweg noch Zeit zu schinden versuchte, ganz egal, wie schwer die Tüten waren. Ein kleiner Umweg hier, ein kurzer Blick ins Schaufenster dort. Aber am Ende wartete stets die Fußmatte auf mich, diese unsäglich hässliche Fußmatte mit der VIP-Lounge-Beschriftung, die sie zum gemeinsamen Hausstand beigesteuert hatte. Danach blieb zwischen Himmel und Hölle nur noch die kurze Sekunde, in der sich der Schlüssel in den Zylinder schob. Als müsstest du dir die Tür zur eigenen Gefängniszelle selber aufschließen.

Die Zeit, die sie für ihre Besorgungen aufwandte, verriet mir, dass es ihr nicht anders ging.

Hin und wieder fielen wir trotz allem noch übereinander her. Mit mindestens 1,2 Promille in der Blutbahn und einem Maximum an Engagement. Aber es waren keine romantischen Motive, die uns antrieben. Es ging um den Wunsch zu herrschen, dem anderen süße Qualen zu verabreichen, es ging auch hier wieder nur um Sieg oder Niederlage.

Erfreulicherweise gab sie, wenn sie dann einschlief, keinerlei Geräusch von sich. Eine Leiche hätte nicht flacher atmen können. Dafür besaß sie die Angewohnheit, sich derart abrupt umzudrehen, dass ich, wenn ich selbst noch nicht tief genug ins Reich der Träume hineingefunden hatte, sofort wieder hellwach war. Früher hatte mich das nicht gestört. Jetzt hätte ich sie für diese Angewohnheit ohrfeigen können.

Zumeist lag ich allerdings – so ich mich nicht total wegschoss (wofür es deutlich mehr als 1,2 Promille brauchte) – ohnehin stundenlang wach, malte mir aus, wie köstlich es wäre, sie endlich zu verlassen. Spätestens nach dem Aufstehen waren diese Pläne jedoch wieder Geschichte, erging es mir wie dem DDR-Bürger, der ohne Unterlass vom Grenzübertritt träumt, am Ende aber immer wieder von seiner Angst vor einer Kugel oder einem längeren Aufenthalt in Bautzen zurückgehalten wird.

Unter anderen Umständen hätte ich die Kraft für den endgültigen Bruch vielleicht aufgebracht. So war ich derart antriebslos, ja, regelrecht gelähmt, dass es mir noch nicht mal gelang, das Netz nach Wohnungsanzeigen zu durchforsten. Der Umzug, der Möbelkauf, das Einrichten eines neuen Heims, das alles überstieg – auch mit Blick auf die wirtschaftliche Katastrophe, die uns erwartete – komplett mein Vorstellungsvermögen. Sie fühlte wohl ähnlich. Jedenfalls ließ auch sie nichts erkennen, was ich als Veränderungswillen hätte deuten können.

Und so machten wir weiter, wie zwei Ratten, die man auf ein Floß gesetzt und Richtung offenes Meer hatte treiben lassen.

»Auch schon wach, du versoffenes Arschloch«, sagte sie, ohne mich dabei eines Blickes zu würdigen.

Ich schlurfte an ihr vorbei zum Kühlschrank, um nachzusehen, ob noch Bier da war.

Traute Zweisamkeit im Schatten der Pandemie.

SEX UND GELD

(die Schaffenskraft entstören, Störfaktoren schaffen)

Ich latsche an irgendeinem Buchladen vorbei und muss beim Blick ins Schaufenster einmal mehr zur Kenntnis nehmen, dass es nicht wenige Schriftsteller gibt, die deutlich mehr Bücher verkaufen als ich selbst. Wie kann das sein, wo ich doch wesentlich besser zu schreiben verstehe?

Zu Hause analysiere ich diesen Missstand und stelle fest, dass nahezu alle Erfolgsautoren schwer einen an der Marmel haben (wie mein alter Freund Mettmann stets zu sagen pflegte), also gehörig einen an der Waffel beziehungsweise mächtig einen an der Klatsche: Alkohol- und Drogensucht, kindliche Traumata, Zwangsstörungen. Ich bin dagegen vergleichsweise gesund. Das muss (s)ich ändern. Und zwar schnell.

Als erstes schneide ich mich von der Außenwelt ab. Ich zerstöre die Türklingel (mit einem handelsüblichen Hammer), mein Handy und den Router (beides mit einem handelsüblichen Stiefelabsatz). Denn wer einsam ist, hat naturgemäß deutlich mehr Zeit, sich dumme Gedanken zu machen.

Und tatsächlich dauert es keine vierundzwanzig Stunden, bis der Verzicht auf Facebook, Instagram und Co. erste Entzugserscheinungen aufkommen lässt. Ich bekämpfe diesen Zustand mit einer Mischung aus Psychopharmaka, Pep (beides aus dem Darknet) und Alkohol (aus dem Discounter). Angenehmer Nebeneffekt: Die Gespräche mit Nachbarn reduzieren sich deutlich (irgendwas in meinem Gebaren schreckt die anderen Hausbewohner ab). Wenn ich doch mal in die Verlegenheit komme, eine Unterhaltung zu führen (etwa mit einem Kioskverkäufer), tue ich so, als ob ich stottern müsste. Bald schon muss ich noch nicht mal mehr so tun.

Auch sonst lassen meine Körperfunktionen rapide nach. Aber das genügt noch nicht. Es braucht mehr. Zum Beispiel eine veritable Neurose. Ich versuche, mir einen Waschzwang zuzulegen. Aber das dauernde Duschen und Händewaschen kostet nicht nur wahnsinnig viel Zeit, Zeit, die doch weit sinnvoller mit der Einnahme von Stechapfel, Bilsenkraut und Tollkirsche genutzt werden könnte (alles über den Sohn einer Bekannten organisiert, der seine Freizeit bei den Pfadfindern verbringt), sondern vermittelt auch noch ein unerwünschtes Gefühl von Reinlichkeit. Ich schwenke deshalb komplett um und beschließe, mich gar nicht mehr zu waschen und auch meine Klamotten nicht mehr zu wechseln. Was das Schneiden von Finger- und Fußnägeln angeht, verfahre ich entsprechend. Denn nur am Grund der verderblichsten Kloake vermag sich dieser so kostbare Sternenstaub zu bilden, ohne den keine Weltkunst gedeiht.

Danach werde ich im Treppenhaus endlich vollständig ignoriert und an der Kasse des Discounters zumeist vorgelassen. Dort kaufe ich irgendwann nur noch Erdnusslocken und Hochprozentiges. Kurz denke ich darüber nach, auf Lichtnahrung umzustellen. Aber Licht klingt schon wieder zu gesund, also kontraproduktiv. Vielmehr scheint es geboten, der Dunkelheit die Hand zu reichen. Und so entsorge ich nicht nur sämtliche Glühbirnen (auf dem Balkon direkt unter meinem), sondern streiche zusätzlich die Fensterscheiben mit schwarzer Lackfarbe (aus dem Baumarkt).

Um für noch mehr Stimulanz, sprich: Kreativ-Atmo zu sorgen, reiße ich die Dielen aus dem Boden, zertrümmere einen Großteil meiner Möbel (meistens in guter, alter Keith-Richards-Manier mit der Hand) und verteile fünfzig Liter Altöl sowie fünf Säcke Katzenstreu auf meiner Matratze. Garniert wird die Trümmerlandschaft mit vierhundert Stück argentinischen Waldschaben, zwanzig Großpackungen Wanderheuschrecken und fünfundzwanzig Halbliterdosen Stubenfliegen (alles von Lehmanns Lebendfutter-Versand). Auch musikalisch lasse ich keine Gnade walten. Es laufen ausschließlich Songs von Xavier Naidoo, AnnenMay-Kantereit und Jens Büchner aka Mallorca-, beziehungsweise Malle-Jens. Und das natürlich rund um die Uhr.

Nachdem so eine weitere Stufe erklommen ist, mache ich mich mit aller verbliebenen Energie daran, mir Stimmen einzubilden, schließlich »gibt es Kunst nur für und durch den anderen«, wie schon Sartre erkannt hat. Ein paar Musen oder wenigstens Stichwortgeber können daher nicht schaden. Ich füge dem täglichen Stechapfel-Bilsenkraut-Tollkirsche-Mix noch etwas Fliegenpilz hinzu, beginne, intensiv in der Bibel zu lesen und mir Löwensenf auf die Pupillen zu schmieren. Und siehe da: Es funktioniert. Bald schon diskutiere ich mit Jesus über Stammzellenforschung; mit Mohammed über die Frage, was sich besser anfühlt, ein Dildo im Arsch oder ein Dartpfeil im Auge; und mit Karl Marx über Schizophrenie. Das alles live und in Farbe und in Full HD. Problem: Irgendwann reden meine Gesprächspartner allesamt durcheinander, wie am Ende einer Maischberger-Sendung, was auf Dauer anstrengend wird. Ich muss sie abschalten oder wenigstens übertönen. Zum Glück funktioniert der Fernseher noch. Ich suche und finde den Verkaufssender Channel 21 und stelle auf maximale Lautstärke. Um auf Nummer sicher zu gehen, schiebe ich mir zusätzlich je einen Bratenspieß in beide Gehörgänge.

Und dann, während ich so dahocke, inmitten dieser barbarischen Kakophonie, in einem vollgepissten, dreckstarrenden Batman-Kostüm, ausgemergelt und dehydriert, mit blutenden Ohren, aus denen zusätzlich Waldschabenkot tropft, geschieht es plötzlich, der gewünschte Effekt tritt ein. Ich bin Thomas Bernhard, ich bin Sibylle Berg, ich bin Charles Bukowski, ich bin Rosamunde Pilcher, ich bin Hunter S. Thompson, ich bin Ernst Jünger, ich bin der anonyme Autor eines Ponyboy-Pornos. Sie alle sind ich und ich bin sie alle. We are family. We all are familiar in my head. Das fühle ich ganz deutlich, während ich noch einen Kopf ziehe.

Und dann schreie ich. Und dann schreibe ich. Und dann schreie und schreibe ich gleichzeitig. Und ich weiß ganz genau: Der Ruhm ist nur noch einen winzigen Klapsen-Aufenthalt entfernt.

BETREUTES AUSGEHEN

Wir schreiben das Jahr 2040. Nachdem die Weltregierung den Konsum von Nikotin, Alkohol, Zucker und allem, was gesättigte Fettsäuren enthält, vollständig verboten hatte, ist sie vor kurzem umgeschwenkt. Die massive Zunahme psychischer Erkrankungen und der damit einhergehende Anstieg der Selbstmordrate haben der Produktivität einfach zu großen Schaden zugefügt.

Benson & Hedges, Bacardi, Brausebonbons und Butter sind nun also wieder erlaubt, allerdings kontrolliert. Denn die kontrollierte Freigabe schlägt – zumindest nach den aktuellen Erkenntnissen der Weltregierung – am Ende noch jedes Verbot. Allein schon, weil dergestalt keine Geldmittel mehr in eine wie auch immer geartete Schattenwirtschaft abfließen.

Es ist Freitagabend. Zeit für ein bisschen Amüsement. Kontrolliertes Amüsement, versteht sich. Ich befinde mich am Tresen der Oase der Selbstzucht, der mir von der Kommunalverwaltung zugewiesenen Bar.

Achtsam-23, der stets freundliche Thekenroboter, hat mir eine Schale mit Kartoffelchips hingestellt. Sechs Stück. Perfekt abgezählt. Wie immer. Nun treibt mich der Durst dazu, etwas Alkoholisches zu ordern. Ich gebe das entsprechende Handzeichen und bekomme von Achtsam-23 ein Glas Lakritzlikör serviert. Den verabscheue ich zwar wie nichts anderes, aber die Lust auf ein Häppchen Rausch treibt mir das schwarze Gift in die Speiseröhre. Was ist schon ein kurzer Würgereflex gegen den wohligen Kitzel im Gehirn?

Danach überkommt mich die Lust auf eine Zigarette. Ich sehe Achtsam-23 fragend an. Dankenswerterweise bejaht er mein Vorhaben.

»Aber nur drei Züge«, befiehlt er mit dieser Computerstimme, die mich noch jedes Mal an eine Mischung aus Tom Selleck und Darth Vader hat denken lassen.

Mein Gefühl sagt mir, dass sechs oder gar sieben Züge weitaus angebrachter wären (der Lakritzlikör brennt schließlich immer noch im Rachen). Aber Achtsam-23 gibt ja nur das wieder, was ihm die vielen in meinem Körper platzierten Chips als bestmögliches Ergebnis im Spannungsfeld zwischen seelischer Erbauung und Schädigung der Zellensubstanz übermittelt haben, und so wäre es müßig, ihm zu widersprechen.