Die Kreuzfahrer - Wladimir Kaminer - E-Book

Die Kreuzfahrer E-Book

Wladimir Kaminer

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Beschreibung

Bei einer Kreuzfahrt betritt man eine eigene Welt, eine schwimmende Rundum-sorglos-Oase. Den Reisenden erwarten Pool, Bar, Shopping-Gelegenheiten, Tanzabende und der reibungslose Übergang von einer Mahlzeit in die andere. Wen das lückenlose Glück des Bordlebens unterfordert, der kann bei Landausflügen das Abenteuer suchen. Oder das muntere Zusammenspiel von Russen, Amerikanern, Schwaben und Sachsen beobachten. Zu erleben gibt es jedenfalls mehr als genug. Und wer könnte schöner davon erzählen als Wladimir Kaminer, Kreuzfahrer aus Leidenschaft?

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Buch

Bei einer Kreuzfahrt betritt man eine eigene Welt, eine schwimmende Rundum-sorglos-Oase. Den Reisenden erwarten Pool, Bar, Shopping-Gelegenheiten, Tanzabende und der reibungslose Übergang von einer Mahlzeit in die nächste. Wen das lückenlose Glück des Bordlebens unterfordert, der kann bei Landausflügen das Abenteuer suchen. Oder das muntere Zusammenspiel von Russen, Amerikanern, Schwaben und Sachsen beobachten. Zu erleben gibt es jedenfalls mehr als genug. Und wer könnte schöner davon erzählen als Wladimir Kaminer, Kreuzfahrer aus Leidenschaft?

Weitere Informationen zu Wladimir Kaminer sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches sowie unter www.wladimirkaminer.de.

Eine Reise in vier Kapiteln

Teneriffa – Barcelona – Miami – Katakolon – Santorin – Athen – Warnemünde – Tallinn – St. Petersburg – Helsinki – Stockholm – Punta Cana – Aruba – Curaçao – Bonaire – Grenada – Barbados – St. Lucia – Guadeloupe – Antigua

Inhalt

KAPITEL 1

Die Atlantiküberquerung

Teneriffa – Barcelona – Miami

KAPITEL 2

Die Mittelmeerkreuzfahrt

Katakolon – Santorin – Athen

KAPITEL 3

Die Ostseereise

Warnemünde – Tallinn – St. Petersburg –

Helsinki – Stockholm

KAPITEL 4

Die Karibikkreuzfahrt

Punta Cana – Aruba – Curaçao –

Bonaire – Grenada – Barbados –

St. Lucia – Guadeloupe – Antigua

Epilog

KAPITEL 1

Die Atlantiküberquerung

Teneriffa – Barcelona – Miami

Teneriffa

Dieses Mal hatten wir auf Teneriffa Glück mit dem Wetter. Jeden Tag schien die Sonne, und gleich nach dem Frühstück saßen wir am Ufer und beobachteten, wie schnell die Finnen rot wurden. Auch Engländer wurden schnell rot, doch bei ihnen stach es nicht so ins Auge, weil sie in der Regel viele Tattoos hatten. Manche hatten sich die Symbole ihrer Heimat eintätowieren lassen und trugen die britische Flagge und die Königin auf ihrer Schulter. Andere hatten lange Texte auf dem Rücken, damit ihre Frauen und Kinder unterwegs immer etwas zu lesen hatten.

Urlaub auf Teneriffa bietet eine besondere Art der Langeweile. Die Tage vergehen hier wie im Flug, Frühstück, Kaffee und Abendessen werden zu den wichtigsten Erlebnissen des Tages, und täglich grüßt der Hoteldirektor im roten Anzug bei seinem morgendlichen Spaziergang durch die Anlage.

Die meisten Restaurants in unserem Ort trugen pathetische Namen, die auf eine imperiale Vergangenheit deuteten, und lockten mit ausgefallenen Spezialitäten. Das British Empire bot »heißes schottisches Ei in indischer Curry-Hülle« an, das Imperial Tai-Pan kochte pan-asiatisch: japanische Teigtaschen mit chinesischer Füllung und thailändischen S0ßen. Nur das deutsche Wirtshaus hatte keine imperialen Ansprüche und warb bescheiden mit einer großen weißen Wurst aus Plastik, die vor der Tür im Wind flatterte wie ein Segel ohne Schiff.

Im British Empire sprachen alle Mitarbeiter gut Russisch, sie kamen aus Litauen. Meine Frau hatte lange in dieser ehemaligen sowjetischen Republik gelebt, und wir haben einander gut verstanden. Beim Italiener Das alte Rom arbeiteten Kubaner, und in dem asiatischen Restaurant haben wir eine exotische Migrantengruppe – Mongolen – kennengelernt. Auch sie konnten noch Russisch.

Abends lockten die Lokale mit Livemusik. Die meisten Sänger kamen von weit her, sangen aber nicht viel besser als die Touristen. Überhaupt war diese spanische Insel ein erstaunlich klares Abbild unserer Realität: Alle Menschen um uns herum waren geflüchtet – entweder vor dem schlechten Wetter oder weil sie mit ihren Heimatländern grundsätzlich unzufrieden waren. Alle suchten ihr Glück anderswo. Die einen fuhren weg, um sich von den Strapazen des Festlandes zu erholen, und die anderen, um etwas zu verdienen oder um zu überleben. Abends saßen sie vor den Lokalen in der untergehenden Sonne und gaben zusammen im Chor einen kollektiven Frank Sinatra ab: »I did it my waaa-y!«, schmetterten sie, alle kannten den Text. Jeden Samstag kamen neue Musiker und neue Touristen, nur das Meer und die Wellen blieben die gleichen wie vor hundert Jahren.

Olga und ich beobachteten, wie unterschiedlich sich die Einwohner der Vereinigten Staaten von Europa anzogen, wenn sie an den Strand gingen. Die Kinder des Südens trugen modische Badeanzüge, die Frauen hatten Badetaschen und Hüte, manche schleppten sogar Sonnenschirme mit, sie gönnten sich ihren eigenen tragbaren Schatten. Ihre Männer hatten bunte Hemden und Sonnenbrillen. Bei den Kindern des Nordens ließ es sich nicht immer feststellen, ob sie unter der dicken Schicht Sonnencreme 50+ überhaupt noch etwas anhatten. Viele sahen aus wie Stückchen von Eiscreme, die geschmolzen in den Sand gefallen waren.

Die Russen trugen Ketten. Breite, dicke goldene Halsketten – Männer wie Frauen. Bestimmt litten sie darunter, denn die Ketten waren schwer und wurden in der Sonne schnell zu Brenneisen. Aber die Russen hielten durch, sie legten ihre Ketten niemals ab. Bereits Marx und Engels hatten in ihrem »Kommunistischen Manifest« die Proletarier angespornt, sie hätten nichts zu verlieren, außer ihren Ketten. Seit der Großen Oktoberrevolution passen die Russen auf ihre Ketten auf, sie wollen sie auf keinen Fall verlieren. Das machte ihnen das Schwimmen allerdings schwer. Die meisten gingen daher nur bis zur Kette ins Wasser und sofort wieder zurück. Junge Leute trugen diesen Schmuck nicht. Sie wirkten wie von der Kette gerissen, liefen am Strand hin und her, spielten Ball, sprangen ins Wasser und kämpften sich den Wellen entgegen – man merkte ihnen an, dass sie überhaupt keinen Halt mehr hatten.

Meine Frau ist ein Kind des Nordens, sie kann Kälte nicht leiden und friert schon beim leisesten Wind. Aber auch Sonne kann sie nicht ertragen, ihre Haut reagiert allergisch auf Sonnenstrahlen. Deswegen verbrachten wir die meiste Zeit unseres Urlaubs an der Bar. Abends gingen wir auf der Promenade spazieren, vorbei an den Ständen mit Karikaturisten, die für ihre Kunst mit lustigen Bildern berühmter Politiker warben. Jeder Zeichner hatte einen bösen Putin mit gefährlichen Raketen, die ihm statt einer Krawatte um den Hals gebunden waren, einen Trump mit einem toten Eichhörnchen auf dem Kopf, einen Obama mit unnatürlichem Riesenlächeln, sie hatten den traurigen Franzosen Hollande, sogar den unberechenbaren Berlusconi aus der Vorjahreskollektion. Nur Frau Merkel war bei keinem Karikaturisten zu sehen, nirgends. Wir suchten die ganze Promenade nach einem Porträt von ihr ab, aber von keinem wurde Frau Merkel verspottet. Vielleicht hatten die Karikaturisten vor der deutschen Kanzlerin so viel Respekt, dass sie die Frau nicht verspotten wollten? Doch nicht etwa wegen ihrer Flüchtlingspolitik?, überlegten wir. Vielleicht waren die Zeichner selbst von weit her geflüchtet?

Neben den Karikaturisten verkauften dunkelhäutige Männer sehr günstig Luis-Vitton-Frauentaschen und andere Markenartikel, asiatische Frauen handelten mit akkubetriebenen Plüschtieren – bellende Katzen und grunzende Tiger, die sie jedem vorbeigehenden Kind unter die Füße warfen. Das Kind stolperte und fiel vor Begeisterung beinahe um, und schon mussten die Eltern den Quatsch kaufen. Gott sei Dank sind unsere Kinder erwachsen, dachten wir und machten um die bellenden Katzen einen großen Bogen.

Wir wussten, worauf unsere Kinder Lust hatten. Für unsere Tochter hatten wir gleich am ersten Tag einem Althippie am Strand ein romantisches Armband abgekauft. Bei unserem Sohn war es etwas komplizierter. Jungs nehmen ihr Aussehen heutzutage sehr ernst, ernster als Mädchen. Bei der Mode hört der Spaß auf. Und sie legen großen Wert auf Markenartikel. Sebastian hatte bei uns eine schwarze Mütze von Ralph Lauren bestellt. Seine Lieblingsmütze mit dem kleinen Reiter darauf war aus Versehen bei zu hoher Temperatur gewaschen worden und hatte ihre Kopfform verloren. Sie sah aus, als würde man ein Rührei auf dem Kopf tragen.

In dem teuren Modegeschäft, in dem wir Ersatz für das Rührei suchten, begrüßte uns die Verkäuferin äußerst herzlich. Sie hatte uns sofort als Russen erkannt, obwohl wir keine Ketten trugen. Wahrscheinlich gingen nur Russen in diesen teuren Läden einkaufen. Die Verkäuferin gratulierte uns überschwänglich dazu, dass wir unbewusst die richtige Wahl getroffen und den einzigen Laden auf der Insel betreten hatten, der nicht mit Fälschungen, sondern mit zertifizierter Ware handelte. Sie hatte auch die gesuchte Mütze für uns, wollte aber vierzig Euro dafür haben. Nirgendwo würden wir eine solch tolle Kopfbedeckung so günstig finden, meinte sie. Natürlich nicht, lächelten wir und gingen zu den Afrikanern.

Die gut gelaunten Menschen in der dunklen Gasse um die Ecke boten uns für das gleiche Geld gleich fünf Mützen an, in allen Farben und Kombinationen, mit Reiter auf der linken oder auf der rechten Seite, oder auch gleich mit zwei Reitern hinter den Ohren. Wir kauften zwei Mützen, setzten sie auf und schickten Sebastian Fotos, um ihm eine kleine Vorfreude auf das tolle Geschenk zu bereiten. Unser Sohn war entsetzt. Das seien Fälschungen, schrieb er uns in einer E-Mail voller Empörung zurück. Alle Welt wisse, dass bei dem echten Ralph Lauren der Reiter IMMER in der Mitte sei. Er würde niemals eine Mütze mit einem falschen Reiter tragen, da würden ihn doch alle seine Freunde auslachen.

Was für ein Schnösel!, dachten wir und gingen zurück zu der zertifizierten Russenfreundin. In ihrem Laden ritten alle Reiter streng mittig. Wer hätte das gedacht? Also kauften wir den wahren Reiter für den lieben Sohn, die Fälschungen behielten wir für uns. Wir hatten zum Glück keine Freunde, die uns wegen einer solchen Kleinigkeit auslachten.

Am nächsten Tag war es sehr windig. Die Palmen beugten sich tief zur Erde, und die Wassertropfen flogen durch die Luft. Die Urlauber versteckten sich in ihren Hotels, saßen auf den Balkonen und spielten Karten. Wir saßen fast allein an der Bar, modisch angezogen – mit Reiter links und Reiter rechts –, und beobachteten die Eidechsen unter der Palme: zwei kleine und eine große. Ein alter Aberglaube sagt, wenn dir eine Eidechse zuzwinkert, wird dir ein Wunsch erfüllt. Du musst nur an etwas wirklich Wichtiges denken und den Augenkontakt mit den Viechern suchen. Leider zwinkern sie sehr selten und nur dann, wenn man mit leerem Kopf und vollkommen wunschlos an einer Bar sitzt. Trotzdem macht es Spaß und kostet überhaupt keine Mühe, die Eidechsen zu beobachten, denn sie bewegen sich nicht. Sie sitzen bei jedem Wetter auf den Steinen und starren vor sich hin.

Eidechsen sind große Philosophen. Sie haben vielleicht nur einen Gedanken, aber den wollen sie unbedingt zu Ende denken. Sie diskutieren nicht, sie springen nicht wie blöd herum, und sie schwitzen nicht – genau wie Immanuel Kant: Es gibt zahlreiche Aussagen seiner Zeitgenossen darüber, dass Kant nie geschwitzt habe.

Eine große schneeweiße Insel fuhr an uns vorbei. Dabei trompetete sie so leidenschaftlich, als wollte sie für immer Abschied von der schmutzigen Welt nehmen und auf ewig den Horizont bügeln. Queen of the Seas stand am Bug. Schon früher hatten wir diese Kreuzfahrtschiffe an unserer Insel vorbeifahren sehen und uns immer wieder gefragt, wie teuer eine solche Reise eigentlich sein konnte. Und warum wir noch nie eine Kreuzfahrt gemacht hatten?

»Sie haben dort bestimmt ausreichend Schatten und viele Bars«, meinte Olga.

»Sie könnten mich einladen, zu einer Lesung zum Beispiel. Ich kann mir gut vorstellen, dass auf einem solchen Schiff ein großes Kulturprogramm angeboten wird, damit die Gäste nicht vor lauter Untätigkeit auf dumme Gedanken kommen«, sagte ich und blickte auf die Steine. Die kleine Eidechse zwinkerte mir völlig unerwartet zu.

Zwei Monate später bekam ich eine Einladung aus Hannover. Ein niedersächsisches Reisebüro lud mich für den Monat November ein, deutsche Kreuzfahrttouristen als Teil eines multikulturellen Unterhaltungsprogramms bei ihrer Fahrt von Barcelona nach Miami zu begleiten.

»Unser Schiff wird die Queen of the Seas sein, eines der größten Kreuzfahrtschiffe, die zurzeit die Wellen des Atlantiks pflügen«, schrieb mir der Direktor des Reisebüros. Das Schiff sei jetzt schon ausgebucht, nur wenige Innenkabinen ohne Fenster seien noch zu haben. Aber meine Frau und ich würden als Künstlerpersonal selbstverständlich zur Crew gehören und hätten auf jeden Fall eine Kabine mit Balkon, versicherte mir das Reisebüro.

Ich rieb mir die Hände. Wir Schriftsteller wurden eben überall gebraucht, besonders auf langen Reisen über Meere und Ozeane, damit die Passagiere nicht aus lauter Langeweile über Bord sprangen. Außer der Kabine mit Balkon standen uns noch Flugtickets nach Barcelona zu, eine Übernachtung in der katalanischen Hauptstadt und drei Tage Miami in einem guten Hotel am Strand. Eine kleine Gage war ebenfalls vom Gastgeber vorgesehen. Ich hatte mich bei der Berufswahl also doch nicht geirrt. Kaminleger oder Elektriker sind das ganze Jahr über beschäftigt, und wenn sie von ihrem Berufsalltag ausgesaugt endlich in Rente gehen, wollen sie nur noch angeln und haben keine Lust mehr auf menschliche Gesellschaft. Und wenn sie ausnahmsweise doch einmal ausgehen, dann reden sie über Kamine.

Es gibt aber auch andere, saisonale und launische Berufe wie zum Beispiel Schriftsteller und Geschichtenerzähler. Im Sommer haben wir nichts zu tun und machen einen Urlaub nach dem anderen. Wenn es aber draußen kalt wird, bekommen die Menschen Lust, auf Lesungen zu gehen, um sich die langen Winterabende zu vertreiben. Geschichtenerzähler werden überall dorthin gerufen, wo sich Menschen nicht langweilen dürfen: zu öden Kurorten, in muffige Theater- und Kulturhäuser, auf belanglose Open-Air-Festivals. Und natürlich auf Kreuzfahrten mit ihren vielen Tagen auf See.

Der Monat November ist in Berlin eine kalte Jahreszeit, die feuchte Kälte kriecht einem in die Knochen. In Miami ist der November eine beliebte Badesaison. Ich hätte dem niedersächsischen Reisebüro daher am liebsten sofort eine Zusage geschrieben: »Juhu, wir packen bereits die Koffer!« Aber auf einmal kamen meiner Frau Zweifel. Zwei Wochen auf den Wellen schaukeln, ohne festes Land unter den Füßen? Ohne Freunde und möglicherweise ohne Aschenbecher? Wir wussten nicht, wie hoch die Wellen auf dem Ozean waren, wie stark das Schiff schaukeln würde, und ob man überhaupt rauchen durfte.

»Frag sie lieber, bevor du zusagst«, riet mir meine Frau.

Mir war es jedoch peinlich, das Reisebüro danach zu fragen, ob das Schiff schaukelte, und wo man an Bord rauchen durfte. Es wäre angebrachter, diskret bei jemandem nachzufragen, der eine solche Reise bereits mitgemacht hatte. Doch in unserem Bekanntenkreis gab es niemanden, der Kreuzfahrt-Erfahrung hatte, ganz im Gegenteil: Alle unsere Freunde hielten uns für verrückt und versuchten, uns umzustimmen. In ihrer Vorstellung war eine Kreuzfahrt nichts anderes als der letzte verzweifelte Zeitvertreib eines Rentnerehepaars kurz vor dem endgültigen Abgang.

Unsere eigenen Erfahrungen in Sachen Seefahrt reichten nicht aus. Die Erlebnisse meiner Frau beschränkten sich auf eine unfreiwillige Bootsfahrt, zu der sie als Kind am Schwarzen Meer gezwungen worden war. Sie hatte eine dreistündige Seefahrt mitmachen müssen, ein sozialistisches Pflichterziehungsprogramm, das extra im Süden für die Kinder des Nordens organisiert worden war. Das Programm hieß »Unsere Freunde – die Delphine«. Olga ahnte nichts Gutes. Sie hatte bereits gute Freunde und wollte gar keine Delphine dazu haben. Aber der Staat hatte das für sie und alle anderen Kinder bereits entschieden. Unsere Sowjetunion war in ihrer Spätreife zwar ein korrupter Haufen ohne Ziel und Verstand, aber immer mit irgendeinem gut gemeinten Programm in der Hosentasche. Es wurden unzählige Staats- und Regierungsprojekte durchgeführt; ökonomische Programme, landwirtschaftliche Umbauprogramme, Bildungs- und Erziehungsprogramme. Eine Armee von Beamten ernährte sich von solchen Projekten, und ein paar Delphine ernährten sich davon auch noch mit.

Die Freundschaftsreise zu den Delphinen ist Olga als Höllenfahrt in Erinnerung geblieben. Der Wind blies stark, das Boot schaukelte heftig, Olga wurde seekrank und musste sich die ganze Zeit am Heck übergeben, direkt auf ihre neuen Freunde, die Delphine. Die ließen sich davon nicht abschrecken und begleiteten das Schiff programmgemäß die ganze Zeit. Nach drei Stunden, als das Boot wieder im Hafen andockte, fragten Olgas Eltern sie, wie sie die Delphine gefunden habe, woraufhin ihr erneut schlecht wurde. Seitdem wecken diese sympathischen Meeresbewohner bei meiner Frau stets falsche Reflexe. Selbst wenn sie Delphine im Fernsehen sieht, wird ihr davon schlecht.

Ich hatte als Sechzehnjähriger einmal zwanzig Tage auf einem Schiff verbracht, das die Wolga abwärts Richtung Kaspisches Meer nach Astrachan und von dort wieder zurück fuhr. Mein Vater arbeitete in einem Betrieb der Binnenschifffahrt, wo sie einmal im Jahr eine solche Reise im Betrieb zu verlosen hatten. Alle mussten mitmachen. Mein Vater gewann einmal ungewollt, hatte aber bereits ganz andere Urlaubspläne und überhaupt keine Lust, nach Astrachan zu fahren. Also schickte er mich als seinen Stellvertreter auf das Schiff. Diese Kreuzfahrt fand in der anstrengenden Zeit statt, als der Liebling des Westens, Michael Gorbatschow, sein »Ausnüchterungsprogramm« mit voller Kraft durchzusetzen versuchte. Es sollte das Trinkverhalten der Bevölkerung verändern. Er hatte es sicher nicht direkt auf die Passagiere der Wolga-Kreuzfahrt abgesehen, doch die Folge dieses Programms hat uns den Urlaub gründlich versaut: Es gab auf dem Schiff kein Bier oder sonst etwas Alkoholisches zu trinken.

Für die Touristen war das eine völlig neue Herausforderung, der sie nicht gewachsen waren. Die Stimmung eskalierte gleich am ersten Tag. Zwei ewig russische Fragen beschäftigten das Schiffsvolk: »Wer ist schuld?« und »Was tun?« Michael Gorbatschow wurde als Heimatverräter und Feind des Volkes beschimpft, der im Auftrag der westlichen Geheimdienste beschlossen hatte, Russland austrocknen zu lassen. Zum Glück hielt das Schiff jeden Tag für einige Stunden an einer anderen Wolgastadt. Wir mussten wie die Verrückten rennen, um die richtigen Geschäfte zu finden, die – erst ab 14.00 Uhr und dann auch nicht mehr als eine Flasche pro Kunde – Alkohol verkaufen durften. Hinzu kam noch: Wir durften keinen Alkohol mit aufs Schiff nehmen. Das bedeutete: schnell austrinken, bevor es im Maschinenraum zu brummen begann. Wahrscheinlich ist mir deswegen diese Reise nur neblig in Erinnerung geblieben.

Auf dem Schiff selbst haben wir nur geschlafen. Dafür gingen wir jeden Tag in einer neuen Wolgastadt an Land. Die Omas am Ufer verkauften allerdings nur Trockenfisch und Sonnenblumenkerne. Niemand wollte uns sagen, wo der nächste Spirituosenladen war. »Wir haben gar nichts da, schlimm, schlimm«, sagten die Wolgamenschen zu uns. Dabei schaukelten sie deutlich heftiger als wir, obwohl sie auf keiner Kreuzfahrt waren. Es dauerte immer viel zu lange, bis man herausbekam, wo in der Stadt der selbst gebrannte Schnaps zu finden war.

Von allen Sehenswürdigkeiten entlang der Wolga kann ich mich eigentlich nur noch an zwei erinnern: das Geschäft »Streichhölzer« in der Stadt Gorki, ein gigantischer Laden, in dem tatsächlich nur Streichholzschachteln auf der Vitrine auslagen. Und das Monument »Mutter Heimat« auf einem Hügel in Wolgograd. In der einen Hand hielt Mutti ein Schwert und holte zum Schlag aus. Mit der anderen Hand zeigte sie auf mich. »Komm her, Kleiner, ich knall dir eine«, sagte ihr Blick. Diese Heimat wirkte alles andere als mütterlich und gemütlich.

Und bevor ich vergesse, es zu erwähnen: Auf dieser sowjetischen Kreuzfahrt war außer einer Disko am Abend überhaupt kein Kulturprogramm vorgesehen.

Diesmal sollte es aber anders sein. Außer mir waren zwei weitere Kulturschaffende auf die Reise mit der Queen of the Seas eingeladen. Zum einen eine Dame, die herausgefunden hatte, wie man am besten ohne jede Medizin, nur dank Selbsthypnose einschlafen konnte. Sie hatte darüber ein dickes Buch geschrieben, das sofort ein Bestseller geworden war. Begeisterte Leser berichteten, man würde bereits auf der Seite zwei tief und fest schlafen. Außerdem fuhr noch eine Astrologin mit. Auf den Fotos im Internet sah sie sehr groß aus und hatte hochgesteckte Haare – eine Venus im Sternzeichen Widder, würde ich sagen. Die Frau besaß anscheinend übernatürliche Fähigkeiten. Laut ihrer Selbstdarstellung konnte sie das Leben jedes Einzelnen anhand seines Sternzeichens voraussagen, seine Missetaten richtig deuten und durch eine individuelle Sternzeichentherapie all unsere Fehler und Niederlagen rechtfertigen. Denn letzten Endes handelten wir ja nicht frei, sondern unserem Sternzeichen entsprechend. Und wenn die Planeten unglücklich standen, konnten wir nichts dafür. Es waren genau die Themen, die jeden Menschen zum Zuhören und Mitdenken aufforderten.

...Ende der Leseprobe

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Wunderraum-Bücher erscheinen im

Wilhelm Goldmann Verlag, München,

einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Originalveröffentlichung August 2018

Copyright © 2018 by Wladimir Kaminer

Copyright © dieser Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung und Konzeption: buxdesign | München

Umschlagillustration: shutterstock/rtguest

Vignetten im Innenteil: shutterstock/Happy Art

Autorenfoto: © Michael Ihle

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22340-3V002

www.wunderraum-verlag.de