Liebesglück und Marzipanküsse - Amelie Winter - E-Book

Liebesglück und Marzipanküsse E-Book

Amelie Winter

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Beschreibung

Eine Romanze so süß wie Schokopralinen, so fluffig wie eine Marzipantorte und so locker-flockig wie Kokosplätzchen!

Lory arbeitet im Café einer Großkonditorei und träumt davon, sich irgendwann für den Job als Rezeptentwicklerin in der Versuchsküche bewerben zu können. Als der allseits beliebte Seniorchef spurlos verschwindet und sein Sohn unerwartet das Ruder übernimmt, ist jeder in Aufruhr. Kaum einer im Unternehmen bekommt den neuen Chef zu Gesicht, aber die Gerüchteküche brodelt alsbald. Die einen meinen, er sei kompetent und charmant, die anderen behaupten, er sei der schlimmste Boss, den man sich nur vorstellen kann. Als Lory die Chance bekommt, sich beruflich zu beweisen, merkt sie rasch, dass sie im Unternehmen mehr Feinde als Freunde hat. Nur Ben hält immer zu ihr, einer der vielen Angestellten, der gutherzig, aber auch etwas absonderlich ist. Lory ahnt nicht, um wen es sich bei ihrem neuen Freund wirklich handelt …

 

Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um Band 7 der Reihe »Liebesglück in Irland«. Die einzelnen Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

 

 

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LIEBESGLÜCK UND MARZIPANKÜSSE

ROMANTISCHE KOMÖDIE

AMELIE WINTER

BUCHBESCHREIBUNG

Lory arbeitet im Café einer Großkonditorei und träumt davon, sich irgendwann für den Job als Rezeptentwicklerin in der Versuchsküche bewerben zu können. Als der allseits beliebte Seniorchef spurlos verschwindet und sein Sohn unerwartet das Ruder übernimmt, ist jeder in Aufruhr. Kaum einer im Unternehmen bekommt den neuen Chef zu Gesicht, aber die Gerüchteküche brodelt alsbald. Die einen meinen, er sei kompetent und charmant, die anderen behaupten, er sei der schlimmste Boss, den man sich nur vorstellen kann. Als Lory die Chance bekommt, sich beruflich zu beweisen, merkt sie rasch, dass sie im Unternehmen mehr Feinde als Freunde hat. Nur Ben hält immer zu ihr, einer der vielen Angestellten, der gutherzig, aber auch etwas absonderlich ist. Lory ahnt nicht, um wen es sich bei ihrem neuen Freund wirklich handelt …

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Über die Autorin

1

Lory wischte bedächtig über die Theke, während sie dem Popsong lauschte, dessen fröhliche Melodie durch den Raum hallte.

Eigentlich hätte sie schon vor einer halben Stunde Feierabend machen sollen. Nur noch im Café brannte Licht, wo Lory jetzt die Tassen aus dem Geschirrspüler räumte. Sie war immer die Letzte, die das Gebäude verließ.

Seit knapp einem Jahr arbeitete sie hier und bediente die vielen Gäste, die tagtäglich eintrudelten. Das Café lag im Erdgeschoss des fünfstöckigen Firmengebäudes von Harold’s Pastry, einer Großkonditorei. Die Torten, Kekse und Backmischungen wurden nebenan in der großen Produktionshalle zubereitet; die Büros hingegen befanden sich gleich in den Stockwerken über ihr.

Lory träumte schon seit Langem davon, für das Unternehmenzu arbeiten – und zwar als Rezeptentwicklerin und nicht als Bedienung im Café. War es ein Fehler gewesen, sich für diesen Job zu bewerben? Aber sie hatte die Chance, bei Harold’s Fuß zu fassen, nutzen wollen. Lory hoffte, dass ihre eigenen Torten und Pralinen irgendwann in ganz Irland in allen Läden erhältlich waren. Aber jetzt steckte sie hier fest und servierte Kaffee, anstatt Rezepte zu kreieren.

Ihr Handy klingelte, und rasch zog sie es aus der Hosentasche.

»Ich beeile mich!«, rief Lory fröhlich ins Telefon. »Tut mir leid, dass es heute so lange dauert.«

Am anderen Ende der Leitung hörte sie ihre Mom erleichtert ausatmen. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«

Beschämt biss sich Lory auf die Unterlippe und schielte auf die blitzblank geputzte Theke, während sie darauf wartete, dass ihre Mom ihr die verdiente Standpauke hielt. Selbst ihre Freundin Valerie, die auch im Café arbeitete, hatte ihr vorgeworfen, sie würde es übertreiben. »Das kümmert hier doch keinen, wenn du dir den Arsch aufreißt!«, hatte sie gesagt. »Wen willst du damit beeindrucken?« Lory wollte niemanden beeindrucken, aber sie war es gewohnt, hart zu arbeiten, und sie wollte ihren Job möglichst gut machen. Bevor nicht die ganze Arbeit erledigt und das Café sauber war, ging sie nie nach Hause. Keinesfalls wollte sie unangenehm auffallen.

»Du arbeitest zu viel!«, schimpfte ihre Mutter. »Bezahlen sie dir die Überstunden überhaupt?«

»Mom, du weißt, dass ich bei Harold’s gut verdiene!«

Sie verdiente ganz ordentlich, das stimmte. Aber sie hatte ihrer Mom verheimlicht, wo genau sie arbeitete. Sie hatte ihr erzählt, in der Produktionshalle Torten zu backen. Noch nie zuvor hatte Lory ihre Mutter angelogen, aber diese allererste Lüge war gigantisch! Sie schämte sich dafür, nach der jahrelangen Ausbildung zur Konditorin nun Kaffee zu servieren. Wie machte sich so was denn in ihrem Lebenslauf? Zuletzt hatte Lory in einer großen Konditorei in Kildare gearbeitet, die Fahrt bis dorthin hatte eine Stunde gedauert. Vorher hatte sie etliche Praktika im Ausland absolviert: In Paris hatte sie von einem berühmten Konditormeister gelernt, wie man Macarons zubereitete, in Wien hatte sie Sachertorten gebacken, und in Stockholm hatte sie Kanelbullar gemacht, Zimtschnecken aus leckerem Hefeteig. Sie hatte in möglichst vielen Ländern möglichst viele Erfahrungen und Ideen sammeln wollen, um ihre eigenen Rezepte kreieren zu können, wobei sie sich gerne von Backspezialitäten aus aller Welt inspirieren ließ. Ihre Mom hatte sie in ihrem Vorhaben, eine großartige Konditorin zu werden, nicht nur moralisch, sondern auch finanziell unterstützt, dabei verdiente sie in ihrem Job an der Supermarktkasse nicht viel. Lory war es ihrer Mutter schuldig, etwas aus ihrem Leben zu machen. Aber sie war es leid gewesen, täglich eine Stunde zur Arbeit zu fahren. In einer kleinen Konditorei im Stadtzentrum von Dublin hatte sie auch nicht arbeiten wollen, denn dort hätte sie nichts Neues lernen können. Seit Jahren stöberte sie immer wieder durch die Stellenangebote bei Harold’s, und der Job im Café war der einzige gewesen, für den sie in Frage gekommen war.

»Ich bin in einer halben Stunde zu Hause«, sagte sie.

»Ist gut … Es gibt Fleischbällchen, die isst du doch so gerne.«

»Dann werde ich mich beeilen!« Mit einem Lächeln legte sie auf.

Lory machte die Musik aus und wollte endlich nach Hause gehen, als sie Schritte vernahm: Hell und klar echoten sie zu ihr herein. Der Besucher kam von der hohen Eingangshalle durch die schmale Glastür. Der flinke, aber bedächtige Gang war ihr vertraut. Sie hob den Kopf, und genau in diesem Moment trat Mr Harold auf sie zu. Er trug ein braunes Tweed-Jackett, sein Markenzeichen; der Hemdkragen war gestärkt, die Krawatte perfekt gebunden. Das schlohweiße Haar hingegen wirkte ungekämmt und passte gut zu seinem verschmitzten Lächeln, das vermuten ließ, dass trotz seines Alters noch immer ein ungestümes Herz in seiner Brust schlug. Jeder im Unternehmen mochte ihn. Man erzählte sich, er hätte in jungen Jahren im Kajak die Grüne Insel umrundet. Mit dem Paragleiter wäre er eine der längsten Strecken geflogen, quer durch Irland, mehr als zweihundert Kilometer weit. Er war ein schrulliger alter Herr, der gerne aufregende Geschichten erzählte und jeden damit amüsierte. Das Unternehmen hatte er von seinem Vater übernommen, und vermutlich würde sein Sohn Oliver irgendwann in seine Fußstapfen treten.

Leichtfüßig kam er näher. Trotz seines Alters wirkte er agil und drahtig; er war von niedriger Statur, kaum größer als Lory.

Sie begrüßte ihn mit einem herzlichen Lächeln. Auch er verließ das Gebäude immer zu später Stunde, so kam es, dass sie sich ab und zu begegneten. Vor einer Woche hatte sie ihm zuletzt einen Whiskey serviert.

»Sie sind noch immer hier, Lory?«, meinte er fürsorglich, die ruhigen Augen auf sie gerichtet. Sie hatte ihren Gedanken nachgehangen und mit der Arbeit getrödelt, wofür sie sich schämte, besonders jetzt, da der Chef vor ihr stand, denn um diese Zeit war sie normalerweise schon zu Hause.

»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte sie höflich. Er trank immer denselben Whiskey, von Jameson, mit einem Tropfen Wermut und etwas Eis.

»Sehr gerne.« Er setzte sich an einen der runden Tische, wo er sich sonst doch meist an der Theke mit ihr unterhielt. »Bringen Sie mir zwei Gläser! Sie trinken doch einen mit mir mit, oder nicht?«

»Ich soll mit Ihnen einen Whiskey trinken?« Lory schmunzelte. Da sie kaum etwas vertrug, füllte sie ihr Tumbler-Glas nicht mal bis zur Hälfte. Auch musste sie noch fahren, und da sie ohnehin eine eher schlechte Autofahrerin war, wollte sie keinesfalls einen Unfall verursachen. Dann hätte sich ihre Mom zum ersten Mal nicht umsonst Sorgen gemacht.

Mit den beiden Gläsern setzte sie sich zu dem alten Herrn.

Sie prosteten sich zu. »Sláinte«, sagten sie gleichzeitig, was auf Gälisch »Gesundheit« bedeutete, und gute Gesundheit wünschte sie Mr Harold von Herzen. Das Unternehmen würde nicht mehr dasselbe sein, sollte er die Geschäftsführung an jemand anderen abgeben. Er gehörte zu dieser Konditorei wie das raue Wetter und die Klippen zu Irland gehörten, er war das Herz und die Seele der Firma. Lory kannte seine Geschichte und seinen beruflichen Werdegang, den konnte nämlich jeder auf der Website von Harold’s Pastry nachlesen. Sie war stolz darauf, zu diesem Unternehmen zu gehören.

»Sie sollten wirklich früher nach Hause gehen«, sagte er. »Ihre Mom macht sich doch bestimmt wieder Sorgen.« Es war schon mal vorgekommen, dass ihre Mutter angerufen hatte, während Lory Mr Harold einen Whiskey ausgeschenkt hatte. Sie hatte ihm daraufhin gestanden, dass ihre Mom dazu neigte, etwas überfürsorglich zu sein.

»Ich habe ihr vorhin am Telefon versichert, dass ich bald zu Hause bin«, sagte Lory.

»Und nun halte ich Sie auf!«

»Aber nein …!«

Sie unterhielt sich gerne mit Mr Harold. Der alte Herr schien sie zu mögen, aber vielleicht verhielt er sich jedem gegenüber so herzlich. »Du kennst den Chef?«, hatte Valerie mit weit aufgerissenen Augen gefragt. Lory hatte ihr erzählt, dass er manchmal abends ins Café kam. »Dann frag ihn doch, ob du in der Versuchsküche arbeiten kannst!«, hatte ihre Freundin daraufhin vorgeschlagen.

Aber Lory hatte Mr Harold nie etwas davon verraten, dass sie selbst Rezepte entwickelte und zu Hause bereits eine ganze Sammlung von Notizbüchern hatte, nach Typ sortiert: Torten, Pralinen, Kekse und vieles mehr. Sie wollte den Job kriegen, weil sie die Beste war, und nicht weil der Chef sie gut leiden konnte. Bisher war noch keine Stelle frei geworden. Sie wartete darauf, sich bewerben zu können, sollte es endlich so weit sein, und dann würde sie mit ihren Qualifikationen und ihrem Talent überzeugen. Leider war bei Harold’s schon lange kein neuer Mitarbeiter mehr eingestellt worden. Man munkelte, das Unternehmen würde nicht mehr so gut laufen wie noch vor ein paar Jahren.

Ob sich Mr Harold überhaupt mit solchen Entscheidungen herumschlug? Dafür war doch die Personalabteilung zuständig. Für das Unternehmen arbeiteten über dreihundert Leute, die kannte er bestimmt nicht alle persönlich.

»Wenn Sie sich immer so gut um Ihre Mom kümmern, wer kümmert sich dann um Sie?«, sagte er. »Gibt es keinen netten jungen Mann, der Ihr Herz gestohlen hat und Sie hoffentlich auf Händen trägt, so wie Sie es verdienen?«

Lory schmunzelte. »Fragen Sie mich gerade, ob ich einen Freund habe?«

»Vielleicht gefällt Ihnen ja mein Sohn?« Mr Harold lächelte spitzbübisch, die alten Augen waren voller Leben. Es war offensichtlich, dass sich dahinter ein wacher Geist und ein warmes Herz verbargen.

»Wollen Sie mich verkuppeln?«, scherzte Lory. Sein Sohn Oliver ging doch noch zur Schule. Nach dem Abschluss würde er bestimmt an einer renommierten Universität studieren.

»Nächste Woche wird mein Sohn Benjamin hier anfangen. Es war nicht leicht, ihn dazu zu überreden, nach Irland zurückzukommen«, sagte Mr Harold. »Er war lange in den Staaten und hat sich dort etwas Eigenes aufgebaut.«

Benjamin? Lory stutzte. Diesen Namen hörte sie zum ersten Mal. »Ich wusste nicht, dass Sie noch einen Sohn haben«, rutschte es ihr heraus.

»Das weiß niemand«, seufzte er. »Ich habe den Jungen jahrelang vor jedem versteckt. Dafür schäme ich mich bis heute. Ich habe sein Potential nicht erkannt. Er ist ein ganz besonderer Junge … mit vielen Talenten. Leider ist er seiner Mutter sehr ähnlich …« Mr Harold rieb sich die Stirn, während er das Glas hin und her schwenkte, den Blick auf den bernsteinfarbenen Alkohol gerichtet, der darin schwappte. So nachdenklich kannte ihn Lory gar nicht. Meist alberte er nur herum, wirkte vergnügt und unbekümmert. Sie unterhielten sich sonst immer über Belanglosigkeiten wie das Wetter oder die Jahreszeit. Er fragte auch oftmals, welches Gebäck sich im Café am besten verkaufte, obwohl die Verkaufsabteilung darüber genauestens Bescheid wusste und ihm bestimmt regelmäßig die Zahlen lieferte. »Ich habe meinen Sohn im Stich gelassen. Das bereue ich zutiefst«, fuhr er fort. Lory lauschte gespannt. »Ich habe mich zu wenig um ihn gekümmert. Ständig frage ich mich, ob er es mir übel nimmt.« Er hielt kurz inne. »Was erzähle ich Ihnen da nur? Sie haben bestimmt Besseres zu tun, als den langweiligen Geschichten eines alten Mannes zu lauschen. Je älter man wird, desto stärker quälen einen die Fehler, die man im Leben gemacht hat.«

Es stimmte sie traurig, ihn so aufgewühlt zu sehen. »Dann rufen Sie ihn doch an und sagen Sie ihm, wie stolz Sie auf ihn sind.« Noch während diese Worte ihren Mund verließen, bereute sie es bereits, sich das Recht herauszunehmen, Mr Harold kluge Ratschläge zu erteilen. Sie war fünfundzwanzig Jahre jung. Was wusste sie schon vom Leben? Aber auch Lorys Vater hatte sich kaum um sie gekümmert, ihre Eltern hatten sich früh scheiden lassen. Sie hätte sich gewünscht, dass ihr Dad sie mal angerufen und ihr gesagt hätte, dass er sie liebte und stolz auf sie war. Aber bisher hatte sie noch keinen solchen Anruf erhalten. Sie wusste nicht, wo er sich gerade herumtrieb. Zum letzten Mal hatten sie vor zwei Jahren miteinander telefoniert.

Seufzend nahm sie einen Schluck von dem Whiskey, der in ihrem Hals brannte. Es lag ihr nicht, sich selbst zu bemitleiden. Sie hatte schon immer die Ärmel hochgekrempelt, in die Hände gespuckt und versucht, das Beste aus jeder Situation zu machen. Lory beschwerte sich nie. Jammern war nutzlos. Mit Jammern hatte es noch niemand im Leben weit gebracht – und Lory hatte vor, es weit zu bringen.

»Ich sollte ihn wirklich anrufen«, sagte Mr Harold. »Sie sind ein kluges Mädchen, Lory!«

»Ihr Sohn wird sich bestimmt darüber freuen.«

»Glauben Sie wirklich? Benjamin ist so dickköpfig …! Aber das hat er wohl von mir. Es ist oft schwer, zu ihm durchzudringen. Er lässt sich nicht gerne helfen, schon sehr früh wollte er auf eigenen Beinen stehen. Ich dachte nicht, dass es mir gelingen würde, ihn davon zu überzeugen zurückzukommen!« Mr Harold nahm einen Schluck Whiskey und wirkte wieder vergnügt. »Das bedeutet doch, dass er mir verziehen hat.« Er grinste schelmisch. »Ich fürchte, er wird mir noch viel mehr verzeihen müssen. Er wird mich verfluchen! Aber am Ende wird er es verstehen. Da bin ich mir sicher. Er ist ein kluger Junge. Außerdem liebt er Herausforderungen … Ich meine, sonst würde er sie doch nicht ständig suchen!« Wie liebevoll er über seinen Sohn sprach, berührte Lory. »Ich habe ihn stets unterschätzt, aber diesen Fehler mache ich nie wieder. Er ist viel herumgekommen, genau wie Sie. Waren Sie nicht in Paris?«

Lory nickte und hob das Glas an. »À vôtre santé!«

»Sie sprechen Französisch?«, fragte er.

»Ich erinnere mich nur noch an wenige Wörter«, gab sie zu.

»J’aime Paris! Bonjour, mademoiselle … Oder da es nun so spät ist, sollte ich wohl eher ›Bonsoir‹ sagen.« Mr Harold lachte herzhaft. »Was weiß ich noch?« Er rieb sich das Kinn. »Bon appétit?«

Lory schmunzelte. »Faire tourner et glisser la pâte afin de former une boule«, sagte sie und bemühte sich um die bestmögliche Aussprache.

»Das klingt doch so wunderschön und romantisch. Was haben Sie mir gerade erzählt?« Er schaute gespannt zu ihr hin.

»Dass Sie den Teig kneten und formen müssen, bis eine Kugel entsteht«, gab Lory schmunzelnd zu. Der alte Herr lachte erneut.

»Aber in Irland gefällt es Ihnen am besten, nicht wahr? Sonst wären sie doch nicht zurückgekommen.« Lory stutzte. Ganz egal, wo sie sich aufhielt, Heimat blieb Heimat. Sie fühlte sich wohl hier. Auch schmeckten ihr Macarons und die Wiener Sachertorte, aber am liebsten aß sie immer noch den Apfelkuchen nach dem Rezept ihrer Großmutter mit der Geheimzutat der traditionellen irischen Butter. Ihr lief beim bloßen Gedanken schon das Wasser im Mund zusammen.

»Ich dachte nie daran, aus Irland wegzuziehen«, sagte sie.

»Ich wollte meinen Ruhestand immer in der Karibik verbringen, am Strand unter Palmen!«, erzählte Mr Harold. Lory wusste nicht, ob er es ernst meinte oder nur herumalberte. »Meine Frau sagt aber, das wäre nichts für mich. Da würde ich mich nur langweilen.« Er trank das Glas aus, stand mit einem zufriedenen Lächeln auf und bedankte sich. »Lassen Sie Ihre Mom nicht länger warten, Lory. Wenn ich morgen wieder um diese Zeit mein Büro verlasse, will ich Ihnen nicht noch mal begegnen! Dann sind Sie nämlich schon zu Hause!«

Lory lachte leise, verabschiedete sich, spülte rasch die Gläser aus und stellte sie wieder aufs Regal. Sie schaute auf die Uhr an der Wand mit dem römischen Zifferblatt, machte schnell das Licht aus, sperrte alle Türen ab, die nach draußen führten, und hastete dann durch den Hinterausgang zu ihrem Wagen. Draußen war es kühl. Der Herbst zog ins Land, färbte die Blätter in bunten Farben und brachte viel Wind und Regen mit sich.

Sie stieg ein und wollte den Motor starten, als ihre Mom erneut anrief.

»Ich sitze schon im Auto«, trällerte Lory. »In einer Viertelstunde bin ich zu Hause.«

2

Ben war mit seinen Freunden in einer Bar im East Village verabredet. Hier tranken sie öfter miteinander und hatten einfach eine gute Zeit. In grünen Neonbuchstaben leuchtete mister paradise über dem Eingang. Als Ben eintrat, winkte ihm Claire sofort zu. Die blonden Stirnfransen hingen ihr tief ins Gesicht, aber nicht tief genug, sodass sie ihre großen braunen Augen daran hindern würden, ihn zu hypnotisieren. Claire hatte eine Art, andere Menschen anzusehen, die es Ben unmöglich machte, seinen Blick abzuwenden. Dabei war er nicht gut darin, anderen länger in die Augen zu schauen.

David saß gleich neben ihr, die Arme lässig auf der Lehne der Sitzbank ausgebreitet.

Ben ging los und zählte die Schritte bis zum halbkreisförmigen Tisch. Es waren zwölf, durch drei teilbar. Die Drei war seine Glückszahl.

Lächelnd setzte er sich zu den beiden. Die Reisetasche und den Rucksack legte er auf die Sitzbank, mehr hatte er nicht bei sich.

In der Bar waren um diese Zeit kaum Leute, erst spätabends ging es hier richtig los. Meist bestellte er einen Whiskey mit einem Tropfen Wermut und etwas Eis. Der Ire in ihm kam wohl doch irgendwie durch, denn von Cocktails hielt er rein gar nichts. Da war ihm ein guter alter Brandy oder eben ein Whiskey lieber. Wer in dieser Bar einen Drink zu sich nahm, trank meist eine Margarita oder einen Cosmopolitan – oder gar einen klassischen Manhattan, da sie sich doch in Manhattan aufhielten.

Er war viel herumgekommen in den letzten Jahren. Aufgewachsen war er in Irland, aber bereits mit sechzehn war er von zu Hause ausgezogen, weil er nicht länger mit seiner Stiefmutter unter einem Dach hatte leben wollen. Sie hatte ihn immer gehasst. Allein, dass er es gewagt hatte zu atmen, hatte sie bereits verärgert. Sein Dad war für das Apartment aufgekommen, auch für die Schule und später fürs College, denn nach der Highschool war Ben nach Philadelphia gezogen, um zu studieren. Dort hatte er David getroffen, der die verrückte Idee gehabt hatte, Proteinriegel zu verkaufen. Zu zweit hatten sie an einem eigenen Rezept gebastelt. Eigentlich hatten sie nur herumgealbert und alles ausprobiert. Die Dinger hatten aber ziemlich gut geschmeckt, und so hatten sie ihr Glück versucht. Sie hatten sich an eine Firma gewandt, die auf die Herstellung von Riegeln aller Art spezialisiert war. Daraufhin hatten sie ein Start-up gegründet, und mit dem richtigen Marketing hatten sie es geschafft, in kürzester Zeit eine Million Proteinriegel zu verkaufen. Claire hatte ein Video auf TikTok hochgeladen, das viral gegangen war. Genau wie Ben war auch sie in Irland aufgewachsen, aber nicht an der Ostküste, sondern im Herzen der grünen Insel, in Tullamore. Wegen David war sie nach New York gezogen. Sie hatten sich online kennengelernt, und nun waren die beiden seit drei Jahren ein Paar.

Bens amerikanischer Traum war also Wirklichkeit geworden! Als er in die Staaten gezogen war, hatte er kein eigenes Geld gehabt, sondern war darauf angewiesen gewesen, dass sein Vater ihn unterstützte. Jetzt hingegen stand er fest auf eigenen Beinen. Das Start-up hatten sie vor drei Wochen an einen großen Konzern verkauft, denn keiner von ihnen hatte sich ein Leben lang mit dem Verkauf von Proteinriegeln herumschlagen wollen. David arbeitete bereits an einer neuen schrägen Idee, die er zu Geld machen wollte, und Claire widmete sich stärker ihrer Karriere als YouTuberin. Sie hatte es geschafft, ihre Persönlichkeit erfolgreich zu vermarkten. Die Leute mochten ihren Enthusiasmus, ihre Energie und ihre Begeisterung für neue Dinge. Sie liebte es, auf ihrem Kanal interessante Produkte vorzustellen, egal ob es sich dabei um ein innovatives Headset oder um eine exotische Teesorte handelte.

»Ich kann’s noch immer nicht glauben, dass du morgen abfliegst«, seufzte sie.

Der Kellner kam, und rasch bestellte Ben einen Whiskey, so wie immer.

»Willst du nicht mal was anderes trinken?«, fragte David belustigt. Er wusste natürlich, wie gerne Ben an seinen Gewohnheiten festhielt. Morgens täglich im Central Park eine Stunde zu joggen, war auch eine dieser Gewohnheiten gewesen, die er ab morgen würde aufgeben müssen. Sein Leben würde sich radikal verändern. Schon wieder. Dafür, dass er mit Veränderungen nur schwer umgehen konnte, hatte er häufig sein Leben komplett umgekrempelt.

 Sein Mietvertrag lief zum Monatsende aus. Seit drei Wochen war er mit dem Umzug beschäftigt, denn von morgen an würde er wieder in Irland leben. Seine alte Heimat fehlte ihm, aber nicht deswegen kehrte er zurück. Sein Dad hatte ihn gebeten, im Familienunternehmen mitzuarbeiten. Bei Harold’s Pastry konnte Ben bestimmt eine Menge lernen, also hatte er nach langem Überlegen zugesagt.

Claire bestellte den zweiten Cosmopolitan. Sie hatte mal behauptet, sie würde diesen Cocktail nur trinken, weil ihr die rote Farbe gefiel. Die zwei waren etwas verrückt, sehr extrovertiert und trauten sich was. Ben hingegen war es früher manchmal schwergefallen, sein Zimmer zu verlassen, denn nur dort hatte er immer alles unter Kontrolle gehabt.

Aber das war schon lange her.

Er griff nach dem Glas und nahm einen Schluck Whiskey.

»Warum ziehst du so ein Gesicht?«, sagte Claire vorwurfsvoll. »Du hast dich doch so darüber gefreut, dass dein Dad dich nach Hause holen will!«

Wie so häufig schaute sie ihn mit ihren großen braunen Augen durchdringend an, als wollte sie direkt in seine Seele blicken.

»Er hat Schiss«, sagte David schulterzuckend. »Ben hat doch ständig Schiss.« Er grinste verschlagen, während er sich das spitze Kinn rieb, das er seit Kurzem wieder glatt rasierte. Ein Jahr lang hatte er versucht, sich einen Vollbart wachsen zu lassen, aber mit dem Ergebnis waren weder er noch Claire zufrieden gewesen. Sie boxte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite, woraufhin er theatralisch aufstöhnte.

»Wer von uns beiden hat noch mal Flugangst?«, konterte Ben grinsend.

»So ein Flugzeug kann abstürzen!«, murrte David. Er war ein Abenteurer, aber in die Luft wagte er sich nicht. Er war häufig mit dem Auto unterwegs, mit dem Fahrrad, mit dem Segelboot, er surfte auch leidenschaftlich gerne, aber in einem Flugzeug hatte er noch nie gesessen.

Gedankenverloren drehte Ben das Glas Whiskey in seiner Hand hin und her, dreimal, bis es wieder an der gleichen Stelle stand. Tatsächlich hatte er häufig Schiss, aber das hatte ihn nie davon abgehalten, seine Ziele zu verfolgen. Ben war ehrgeizig, also musste er sich seinen Ängsten stellen. Nur so kam er voran, und es war ihm wichtig, voranzukommen.

»Wollten wir nicht feiern, dass wir alle ein neues Kapitel in unserem Leben aufschlagen? Bei der gedrückten Stimmung fange ich noch an zu heulen«, jammerte David.

Claire drückte kurz seine Hand. »Schon gut, Liebling«, flüsterte sie ihm zu. Sie bestellte noch einen Cocktail. So viel trank sie sonst nicht. Ihr Lachen wurde schriller nach jedem weiteren Schluck, ihr Blick etwas glasiger. Am Ende saßen sie alle eng aneinandergerückt da, lachten über Unsinnigkeiten und schwelgten in Erinnerungen, wie sie gemeinsam ihr Start-up aufgebaut und wie sie einfach ihre Sachen gepackt hatten und nach New York gezogen waren, ohne in der Metropole irgendjemanden zu kennen.

Zwei Stunden später bezahlten sie die Getränke und standen vom Tisch auf. David stützte seine Freundin, die sturzbetrunken war. Sofort eilte Ben ihm zu Hilfe. Sie nahmen Claire in die Mitte, und so stolperten sie hinaus ins Freie, lachend und grölend. Draußen heulten die Sirenen. New York würde ihm fehlen – trotz der lauten Geräusche und unangenehmen Gerüche. Es war schrill und chaotisch, also gar nicht so, wie es Ben zusagte. Dennoch hatte er sich hier wohlgefühlt und gut eingelebt.

Claire murmelte etwas vor sich hin. Plötzlich löste sie sich von David und warf ihre Arme so energisch um Ben, dass er beinahe nach hinten gestolpert wäre.

»Hey … Du umarmst den falschen Kerl, Schatz!«, quengelte ihr Freund.

»Nein, nein! Das ist schon der Richtige! Ben hat mich nie enttäuscht, aber du schon!«, schimpfte sie.

»Claire …«, murmelte David und klang betroffen.

»Du wirst mir fehlen, Kleiner!«, seufzte sie und schmatzte Ben einen feuchten Kuss auf die Wange. »Kleiner« nannte sie ihn nur, wenn sie zu viel getrunken hatte. Dass sie zehn Jahre älter war als er, rieb sie ihm aber auch im nüchternen Zustand gerne unter die Nase. »Pass auf dich auf!«, fuhr sie fort und ließ ihn los. Erschrocken stellte er fest, dass dicke Tränen an ihren Wangen stumm hinabkullerten. »Wie alt bist du jetzt? Achtundzwanzig? Du bist doch noch ganz grün hinter den Ohren!« Sie kicherte und zog an seinen Ohrläppchen. David versuchte, sie in Schach zu halten, indem er nach ihren Händen griff, die immer noch Bens Ohren malträtierten.

»Sie hatte wirklich zu viel«, seufzte er.

Noch mal schlang sie die Arme um Ben und drückte ihn ganz fest.

»Schatz, das wird dir morgen bestimmt peinlich sein«, flüsterte David.

»Mir war noch nie etwas peinlich!«, rief sie überzeugt und ließ Ben wieder los. Claire war nicht oft betrunken, aber wenn doch, dann so richtig. Sie trank nur, wenn sie etwas zu feiern hatte – oder wenn sie traurig war.

»Kommst du klar?«, fragte Ben.

»Ich bringe sie nach Hause.« David klopfte ihm kurz auf den Rücken und drehte sich dann schnell weg. Beinahe glaubte Ben, ein feuchtes Glitzern in seinen Augen bemerkt zu haben. Seine Freunde würden ihm fehlen, und es rührte ihn zu wissen, dass er ihnen auch fehlen würde.

»Ich komm euch besuchen«, sagte er.

»Wenn wir dich nicht zuerst besuchen kommen!«, trällerte Claire.

Ben holte endlich das Handy aus der Hosentasche und bestellte eine Fahrt mit der Uber-App. Die beiden blieben noch so lange bei ihm, bis der Fahrer kam. Dann stieg Ben ein, und sie winkten ihm zum Abschied zu, wobei David seine Freundin gut festhielt, da es ihr schwerfiel, gerade zu stehen.

Ben legte den Kopf zurück und schloss kurz die Augen, bevor er noch anfing zu heulen. Als er sie wieder öffnete, schwirrten die Lichter der Stadt an ihm vorbei wie ein Meer aus Sternschnuppen. Auf der Fahrt zum John F. Kennedy Flughafen zählte er die Autos, die ihm begegneten – aus reiner Gewohnheit. Ben erreichte sein Ziel und huschte mit der Reisetasche ins Terminal. Er gab sein Gepäck auf und machte sich bereit, an Bord zu gehen. Als es so weit war, setzte er sich an seinen Platz, verstaute das Handgepäck und sagte New York endgültig Lebewohl.

Er wollte das Handy gerade ausschalten, als eine Nachricht eintrudelte.

›Wir sind zu Hause. Sie schläft.‹ David hatte ihm ein Foto von Claire geschickt, wie sie im Bett lag, den Mund leicht geöffnet – etwas Sabber klebte an ihren Lippen –, das glatte blonde Haar auf dem Kissen verteilt. Schmunzelnd steckte Ben das Handy weg und lauschte der Borddurchsage. Das Flugzeug hob ab und zog steil hoch in den schwarzen Himmel. Er schaute hinunter auf die leuchtende Stadt. New York stand niemals still. Erschöpft legte er die Hände in den Schoß und zählte bis dreihundert. Dann fing er wieder von vorne an. Irgendwann schlief er ein. Als er wieder zu sich kam, hörte er bereits die Stimme des Piloten.

Die Maschine landete in Dublin, und Ben stieg aus. Da er nur eine Kapuzenjacke trug, fror er ein wenig. Er holte sein Gepäck ab und betrat das erstbeste Café, wo er einen doppelten Espresso bestellte, um wach zu werden. Gleich würde er seinem Vater begegnen, da wollte er fit und erholt aussehen.

Sein Dad hatte ihn erst vor ein paar Tagen aus heiterem Himmel angerufen und ihm gesagt, dass er ihn liebte und dass er stolz auf ihn war. Ben hatte keine Ahnung gehabt, wie er darauf reagieren sollte, denn sein Vater hatte ihm schon lange nicht mehr gesagt, dass er ihn liebte.

In der Jackentasche fummelte er nach dem Telefon und drückte auf die Eins. Er hatte seinen Dad auf der Kurzwahl, was lächerlich war, denn so häufig telefonierten sie nicht miteinander. Siebenmal ließ er es klingeln, bis er endlich aufgab. Sein Vater ging nicht dran. Hatte er vergessen, dass Ben heute ankam? Er hatte sich doch bei ihm melden und ihn am Flughafen abholen wollen.

Ben schrieb ihm eine Nachricht, aber da sein Dad auch darauf nicht antwortete, wartete er nicht länger und fuhr mit dem Taxi direkt zu seinem neuen Apartment in Ballsbridge, das weit im Osten lag, nahe an der Küste. Die Mietwohnung hatte er vor einigen Wochen von New York aus organisiert. Nur kurz war er nach Irland geflogen, um sie sich anzuschauen, den Vertrag zu unterschreiben und den Schlüssel abzuholen. Das Apartment war ganz okay, aber mehr auch nicht. Sobald er sich in Dublin eingelebt hatte, würde er sich nach einer besseren Bleibe umschauen. Er schloss die Tür auf und betrat sein neues Zuhause. Gleich hinter dem Eingang, auf dem antiken Konsolentisch, entdeckte er einen kleinen Zettel, und daneben lag ein Autoschlüssel.

›Ich leihe dir meinen Wagen. Ich brauche ihn vorerst nicht.‹ Die Handschrift gehörte seinem Dad, die erkannte er sofort. Er hatte ihm früher stets etwas in die Geburtstagskarten geschrieben, die Ben zigmal gelesen hatte. »Sei weiter so fleißig in der Schule« oder »Lass dich bloß nicht unterkriegen«.

Erneut versuchte er, seinen Dad zu erreichen. Dass er nicht abhob, irritierte ihn. Noch mehr verwunderte es Ben jedoch, dass er die Nachricht nicht mal gelesen hatte. Ihm war doch nichts zugestoßen? Sein Dad war nicht mehr der Jüngste. Bevor Ben sich noch unnötig Sorgen machte, räumte er die wenigen Sachen, die er dabeihatte, in den Schrank und legte sich kurz hin, um sich auszuruhen. Als er aufwachte, war es schon nach fünf. Sofort checkte er seine Anrufe und Nachrichten, aber sein Dad hatte sich noch immer nicht bei ihm gemeldet.

Ben schnappte sich genervt die Autoschlüssel und verließ das Gebäude. Direkt vor dem Apartmenthaus war ein großer Parkplatz. Als er den Wagen entriegelte, blinkten bei einem Bentley die Lichter auf. Ben stieg ein und fuhr los. Wenn sich sein Vater nicht blicken ließ und auf seine Anrufe nicht reagierte, dann würde Ben ihm eben einen Besuch im Büro abstatten. Er wusste, dass sein Dad meist erst spät Feierabend machte, weil er ein absoluter Workaholic war. Ben wollte nicht zu ihm nach Hause fahren, denn dann würde er bestimmt seiner Stiefmutter begegnen. Auch sie arbeitete bei Harold’s. Er hoffte sehr, ihr in Zukunft möglichst aus dem Weg gehen zu können.

Als er das Firmengebäude erreichte, brannte in der Produktionshalle Licht, während die Büros stockdunkel waren – auch das seines Vaters. Nur im Café im Erdgeschoss war es noch hell.

Ben zögerte, bevor er ausstieg.

Er zählte die Schritte bis zum Eingang. Da er genau vor dem Gebäude geparkt hatte, waren es nur siebzehn.

Die Automatiktür schob sich zu seiner großen Überraschung auf, und er stand alsbald in der riesigen Eingangshalle, an dessen Ende sich der Aufzug befand. Das Büro seines Vaters war im vierten Stock.

Neugierig richtete er seinen Blick nach links. Das Gebäude glich einer Geisterstadt, also warum brannte im Café noch Licht? Er ging hin und trat ein. Dreizehn Schritte, nicht durch drei teilbar. Ein schlechtes Omen. Ben wurde zunehmend nervöser, denn dass sich sein Vater bisher nicht bei ihm gemeldet hatte, irritierte ihn mit jeder Stunde, die verstrich, etwas mehr. Er konnte nicht gut damit umgehen, wenn nicht alles nach Plan lief.

Verloren stand er jetzt im Café, als er endlich jemanden entdeckte: Eine junge Frau räumte gerade die Tassen aus dem Geschirrspüler.

Erst als er näher trat, bemerkte sie ihn und wirbelte herum.

»Wir haben geschlossen«, erklärte sie mit einer glockenhellen Stimme.

»Die Tür war aber offen«, sagte er.

»Trotzdem haben wir geschlossen.«

Wahrscheinlich verirrte sich so spät niemand mehr hierher. Das Gebäude lag in der Industriezone im Westen Dublins und nicht in der Innenstadt. Die meisten Menschen suchten diesen Ort auf, um nicht nur einen Kaffee zu genießen, sondern auch um Torten und Pralinen von Harold’s zu kaufen.

Sollte er sich umdrehen und einfach gehen?

Aber vorher schaute er sich noch mal um. Wann war er das letzte Mal hier gewesen? Vor zehn Jahren? Seitdem hatte sich an der Einrichtung rein gar nichts verändert. Es sah genauso aus wie früher: eine helle Theke, runde Tischchen, eine große Vitrine, Bilder an der Wand, die von der Geschichte des Unternehmens erzählten. Früher hatte Harold’s Pastry einen anderen Standort gehabt. Das Firmengebäude samt der Produktionshalle war erst vor fünfzehn Jahren erbaut worden, das Unternehmen bestand jedoch seit fast einem Jahrhundert.

»Ich kann Ihnen um diese Zeit nichts mehr anbieten«, sagte die Frau. Sie war vermutlich Mitte zwanzig. Das brünette Haar hatte sie hinten zu einem lockeren Knoten hochgebunden, aus dem sich ein paar Strähnen gelöst hatten, die ihr rundliches Gesicht umrahmten. Die vollen Lippen waren leicht geöffnet, und die großen himmelblauen Augen mit den dichten Wimpern waren unerbittlich auf ihn gerichtet.

»Ich bin ein neuer Mitarbeiter. Nächste Woche soll ich hier anfangen«, erklärte er rasch, da er das Gefühl nicht loswurde, seine Anwesenheit machte sie misstrauisch.

»Sie sind ein neuer Mitarbeiter?« Ihr Gesicht entspannte sich.

»Sie wissen nicht zufällig, ob Mr Harold noch im Haus ist?«, fragte er.

»Soweit ich weiß, war Mr Harold heute überhaupt nicht im Büro«, erwiderte sie zaghaft. Ben stutzte. War sein Vater verschollen? Jetzt war der Moment, um seine Stiefmutter anzurufen, aber er konnte sich nicht dazu überwinden.

»Wollen Sie etwas trinken?«, fragte ihn die junge Frau höflich, während er unschlüssig und verloren im Café stand und nicht wusste, was er jetzt machen sollte.

»Ich dachte, Sie können mir nichts mehr anbieten?«

»Ich kann eine Ausnahme machen, aber verraten Sie es bloß niemandem!« Wenn sie lächelte, wirkte ihr Gesicht noch runder. Sie war ziemlich hübsch.

Er trat zur Theke und nahm auf einem der Hocker Platz. »Geben Sie mir einen Whiskey.«

»Kommt sofort!«

Ächzend wühlte er in der Hosentasche nach seiner Geldbörse. Zwei Papierscheine mit dem Gesicht von Andrew Jackson, dem siebten Präsidenten der Vereinigten Staaten, waren darin. Jetzt war er wieder in Irland und hatte keinen einzigen Euro in seinem Portemonnaie? Im Café am Flughafen hatte er mit der Kreditkarte bezahlt, auch der Taxifahrer hatte die Kartenzahlung akzeptiert.

Sie stellte das Glas auf die Theke, und Ben fühlte sich hibbelig. Er verschränkte die Finger, löste die Verschränkung, ballte die linke Hand zur Faust, sodass die rechte sie umschloss. Dann wiederholte er den Vorgang, beim zweiten Mal legte der die linke Hand um die rechte. Er führte das Ritual dreimal aus, bis ihm auffiel, was er da tat. Meist gelang es ihm, sein zwanghaftes Verhalten vor anderen zu verstecken. Was er mit den Händen unter der Theke machte, hatte die Frau nicht sehen können, dennoch starrte sie ihn mit gerunzelter Stirn an. Aber daran war Ben gewöhnt: dass die Leute ihn schräg anstarrten. Dass er sich absonderlich benahm, war ihm bewusst.

Er schüttete die Hälfte des Whiskeys in einem Zug die Kehle hinunter. Sein Herz raste, aber seine Gedanken bewegten sich noch schneller.

»So schmeckt er doch gar nicht, wenn man ihn zu schnell trinkt«, sagte sie. »Man soll ihn doch eine Weile im Mund behalten.«

Er lächelte müde. »Der Whiskey kann meinen Tag auch nicht retten«, meinte er düster. »Da ist es auch egal, ob ich ihn schnell oder langsam trinke.«

»So schlimm?«, fragte sie.

Er zuckte mit den Schultern. Dass ihn sein Vater hängenließ, machte ihn nervös. Er hatte sein Leben in New York aufgeben, nur um hierherzukommen, und niemand schien ihn zu erwarten? Er versuchte, sich zu entspannen und gleichmäßig zu atmen, wie es ihm seine Therapeutin beigebracht hatte. In den letzten fünf Jahren hatte er weder eine Therapie noch Medikamente nötig gehabt. Er wollte bestimmt nicht wieder damit anfangen müssen.

Ben trank den Rest, diesmal ließ er sich Zeit. Den letzten Schluck behielt er besonders lange im Mund, wie es ihm seine neue Bekanntschaft riet. Als er das Glas abstellte, sah er eine dünne schwarze Linie in der Thekenplatte. Daraufhin studierte er genauestens die Maserung des geölten Eichenholzes. Diese eine Linie stach ihm besonders ins Auge, und er stellte genau dort sein Glas ab. Er verschob es vorsichtig um einen halben Millimeter, damit es auch exakt auf der Linie stand. Was war nur los mit ihm? So stark hatte er schon lange nicht mehr unter seinen Zwängen gelitten, aber es brachte ihn völlig aus dem Konzept, wenn etwas nicht nach Plan lief. Ben arbeitete stets hart daran, sein zwanghaftes Verhalten einzuschränken. Es gelang ihm auch recht gut, vor allem dann, wenn in seinem Leben alles rundlief, was im Moment leider nicht der Fall war.

Seufzend richtete er den Blick auf die umgestülpten Tassen, die sich auf der Kaffeemaschine stapelten. Er zählte sie durch. Es waren siebzehn – eine schlechte Zahl. Ben wurde zunehmend unruhiger. Sein unsteter Blick schweifte zum Regal an der Wand, worin die Gläser in Reih und Glied standen. Auch diese zählte er durch: eins, zwei, drei, vier … Bei sechs hielt er kurz inne und bei neun auch, dann bei zwölf. Weiter kam er nicht, da die Frau ihm die Sicht versperrte. Sie beobachtete ihn gespannt, sagte aber kein Wort.

»Danke für den Whiskey«, meinte er und legte zwanzig Dollar auf die Theke. Er wollte jetzt nicht mit Kreditkarte bezahlen, sondern nur schnell von hier verschwinden. Ben musste sich wieder beruhigen und seine Gedanken ordnen. Eilig rutschte er vom Hocker und verließ fluchtartig das Café, ohne sich noch mal umzudrehen.

»Hey! Dein Wechselgeld! Das ist zu viel!«, rief sie ihm noch hinterher, aber Ben ging einfach weiter. Ihre Worte erreichten ihn nicht mehr. Sein Kopf fühlte sich schwer an. Die Gedanken verirrten sich darin wie in dichtem Nebel, wurden schwammig und stumpf. Er zählte die Schritte, das gab ihm Halt. Bis zum Auto waren es einundvierzig, eine Primzahl, nicht durch drei teilbar. Durch gar nichts teilbar, außer durch sich selbst.