Liebesglück und Meeresrauschen - Amelie Winter - E-Book

Liebesglück und Meeresrauschen E-Book

Amelie Winter

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Beschreibung

Stimmungsvolle Wohlfühlromanze, die das Herz erwärmt und Lust auf Irland macht! Um dem Alltagsstress zu entrinnen, verbringt Bridget einige Tage in Kinsale am Meer, wo ihre Tante eine Frühstückspension betreibt. Beim morgendlichen Strandspaziergang begegnet ihr ein nackter Mann, der wie ein Meeresgott aus den Wellen steigt. Mike, der kräftig gebaute Naturbursche und selbst ernannte Glücksritter, der vor Testosteron nur so sprüht, liebt seine Freiheit über alles. Von einer Großstädterin, die nicht ohne Kaffee, Zigaretten und einer heißen Dusche auskommt, hält er wenig. Dennoch bietet er Bridget an, ihr die wilde Schönheit Irlands zu zeigen, die man nur erleben kann, wenn man das bequeme Leben hinter sich lässt. Zwischen Meeresrauschen, dem Blöken der Schafe und dem rauen Wind, lernt Bridget erstmals, was es heißt, das Leben zu genießen, fernab aller Verpflichtungen und Sorgen. Sie lernt auch, dass man die wirklich schönen Dinge nur zu zweit erleben kann – so wie die Liebe.   Bei dem vorliegenden Roman handelt es sich um Band 6 der Reihe »Liebesglück in Irland«. Die einzelnen Bände sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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LIEBESGLÜCK UND MEERESRAUSCHEN

ROMANTISCHE KOMÖDIE

AMELIE WINTER

BUCHBESCHREIBUNG

Um dem Alltagsstress zu entrinnen, verbringt Bridget einige Tage in Kinsale am Meer, wo ihre Tante eine Frühstückspension betreibt. Beim morgendlichen Strandspaziergang begegnet ihr ein nackter Mann, der wie ein Meeresgott aus den Wellen steigt. Mike, der kräftig gebaute Naturbursche und selbst ernannte Glücksritter, der vor Testosteron nur so sprüht, liebt seine Freiheit über alles. Von einer Großstädterin, die nicht ohne Kaffee, Zigaretten und einer heißen Dusche auskommt, hält er wenig. Dennoch bietet er Bridget an, ihr die wilde Schönheit Irlands zu zeigen, die man nur erleben kann, wenn man das bequeme Leben hinter sich lässt.  

Zwischen Meeresrauschen, dem Blöken der Schafe und dem rauen Wind, lernt Bridget erstmals, was es heißt, das Leben zu genießen, fernab aller Verpflichtungen und Sorgen. Sie lernt auch, dass man die wirklich schönen Dinge nur zu zweit erleben kann – so wie die Liebe.

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Über die Autorin

WILD ATLANTIC WAY

1

Bridget blinzelte die Müdigkeit fort.

Sie machte das Licht an und setzte sich ächzend im Bett auf, den trägen Blick geradeaus gerichtet, auf die antike Wanduhr mit dem römischen Zifferblatt.

Fünf nach sechs. Um diese Zeit dämmerte es bereits.

Sie rieb sich den verspannten Nacken und schielte zu dem Schwarz-Weiß-Foto vom Hafen, das über dem Bett hing. Vor knapp hundert Jahren war es aufgenommen worden, das verriet ihr die handschriftlich vermerkte Jahreszahl in der rechten unteren Ecke. Das Bild stammte aus einer Zeit, als die Männer noch Filzhüte und die Frauen lange Röcke getragen hatten. Es war kein Original, sondern ein Fotodruck. Henry, der Mann ihrer Tante Nora, liebte das Meer und den Hafen. Er war Fischer und fuhr seit vierzig Jahren regelmäßig mit dem Boot hinaus. Ähnliche Bilder hingen überall an den Wänden in der kleinen Frühstückspension, die ihre Tante betrieb.

Bridget hatte sich für eine Woche hier einquartiert. Sie hatte raus aus der Stadt gewollt. Raus aus allem. In letzter Zeit fühlte sie sich häufig erschöpft und ausgebrannt. Kinsale war der ideale Ort, um den Kopf freizukriegen und neue Kraft zu tanken. Hier schien die Zeit stillzustehen oder zumindest langsamer zu verstreichen. Das Dorf lag direkt am River Bandon, der hier in die keltische See mündete. Die Bucht erreichte sie zu Fuß in drei Minuten. Der Strand befand sich weiter südlich, auf der Halbinsel Castlepark, aber auch bis dahin war es nicht weit. Wegen der guten Lage war die Pension meist ausgebucht, obwohl die Zimmer alt und winzig waren.

Energisch warf sie die Bettdecke zurück und stand auf, bevor sie der Versuchung erlag, einfach weiterzuschlafen. Sie wollte sich noch länger ausruhen – noch länger träumen! Aber sie hatte sich vorgenommen, an den Strand zu fahren, um sich dort den Sonnenaufgang anzusehen.

›Immer wenn die Sonne aufgeht, wird die Welt neugeboren‹, hatte ihre Mom früher oft gesagt. Ob sie damit gemeint hatte, dass jeder Tag neue Chancen mit sich brachte? Ihre Mutter hatte stets gelächelt und sich nie beschwert. Sie war eine unverbesserliche Optimistin gewesen, ganz egal, wie übel ihr das Leben auch mitgespielt hatte.

Bridget hatte lange nicht mehr von ihr geträumt, aber heute Nacht schon. Dabei konnte sie sich kaum an ihre Stimme erinnern, nur noch an ihr Gesicht.

Sie beugte sich zu der Reisetasche hinunter, die neben dem Bett stand, und wühlte hektisch in ihrem Gepäck. Bisher hatte sie keine Zeit gehabt, ihre Anziehsachen in den Kleiderschrank einzuräumen. Sie war gestern erst spätabends angekommen, und nach einem kleinen Plausch mit ihrer Tante hatte sie rasch geduscht und sich sofort hingelegt.

Wenn sie den Sonnenaufgang nicht verpassen wollte, musste sie sich beeilen. Was sollte sie anziehen? Sie legte großen Wert darauf, immer gut auszusehen, wenn sie das Haus verließ, ganz egal, ob sie zur Arbeit ging, ins Café oder sich frühmorgens, wenn noch jeder schlief, zum Strand aufmachte. Auch vergaß sie niemals, ihr Make-up aufzutragen, und ohne Schmuck fühlte sie sich nackt. Einen Badeanzug hatte sie nicht dabei, da sie bestimmt nicht vorhatte, schwimmen zu gehen. Das Wasser war um diese Jahreszeit viel zu kalt. Kinsale war generell kein Ort, wo es besonders warm war.

Sie entschied sich für ockergelbe Shorts und eine weiße Bluse. Eilig schnürte sie die zum Outfit passenden Sneakers. Hohe Schuhe trug sie nie, das war nicht ihr Stil. Darin konnte sie nicht laufen, und sie wollte es auch gar nicht erst lernen. Ihre Freundin Harper hingegen, die eins achtundachtzig maß und es keineswegs nötig hatte, größer zu erscheinen, als sie ohnehin schon war, stolzierte liebend gern in hochhackigen Schuhen herum. Sie war nun mal sehr eigen.

Bridget war startklar. Energisch schnappte sie sich die Handtasche und packte noch die Sonnenbrille und das Handy ein. Dann schlich sie die alte Holztreppe hinab, die bei jedem Schritt knarrte, und peilte die winzige Landhausküche an. Dort machte sie sich einen Kaffee. Frühstück gab es in der kleinen Pension pünktlich um halb neun, also war sie mindestens zwei Stunden zu früh dran. Die Espressomaschine war einfach zu bedienen, aber mit Kaffeemaschinen kannte sie sich sowieso bestens aus. Zwar war sie nicht so süchtig nach Koffein wie ihr bester Freund Patrick, aber zwei Tassen täglich nahm sie mindestens zu sich. Mit Kaffee und Zigaretten startete sie am liebsten in den Tag. Rauchen wollte sie im Haus nicht, dafür würde sie nach draußen gehen. Ihre Tante Nora sah es nicht gerne, wenn Bridget gierig an einer Zigarette zog, als hinge ihr Leben davon ab. Sie war etwas altmodisch und fand ohnehin, einer Frau würde so etwas nicht stehen und dass es sie für Männer unattraktiv machte. War Bridget unattraktiv – für Männer unattraktiv?

Die Frage hatte sie sich in der Vergangenheit oft gestellt. Sie war eigensinnig, im Herzen introvertiert, nicht bindungsfähig – offensichtlich, warum sonst war sie noch single? – und verliebt in ihren Job. Bridget war immer die Brautjungfer, aber nie die Braut! Wollte sie überhaupt eine Braut sein? Sie konnte sich nicht vorstellen, mal zu heiraten. Wen denn? In den letzten Jahren hatte sie sich mit etlichen Männern getroffen, aber keiner davon hatte ihr Herz höherschlagen lassen.

Den Kaffee trank sie in schnellen Schlucken aus. Als die geblümte Tasse leer war, spülte sie das Geschirr sorgfältig ab und stellte es zurück in den weißen Küchenschrank, wo penibel Ordnung herrschte. Erst dann verließ sie das Haus. Draußen war es kühler, als sie vermutet hatte, und es fröstelte sie ein wenig. Die kalte Luft würde ihr guttun, redete sie sich ein.

Sie hatte zu Fuß zum Strand gehen wollen, aber das schaffte sie nicht mehr. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als sich Tante Noras Fahrrad auszuleihen. Neugierig schaute sie sich bei dem kleinen Backsteinhaus um und hielt nach dem Fahrrad Ausschau. Den Hauseingang hatte ihre Tante großzügig mit Pflanzen geschmückt. Auf jeder Fensterbank stand eine Blumenkiste mit rosaroten Geranien. In zwei großen Töpfen, links und rechts vom Eingang, blühten Lorbeerbäume, zur perfekten Pyramidenform zurechtgestutzt. Tante Nora liebte Blumen, genau wie Bridget. Auch in ihrer Wohnung blühte und grünte es in jeder freien Ecke. Sie hatte Harper gebeten, sich um ihre Lieblinge zu kümmern, damit sie nicht eingingen, während sie Urlaub machte.

Bridget fand das Fahrrad. Da nirgends ein Schloss angebracht war, rechnete Tante Nora offenbar nicht damit, bestohlen zu werden. Das Retromodell lehnte an der Mauer seitlich am Haus, schutzlos und für jeden sichtbar, der hier vorbeiging. Bridget stellte die Handtasche in den Fahrradkorb, der vorne angebracht war, schwang sich auf den Sattel und fuhr los. Sie hoffte, Tante Nora würde es ihr nicht übel nehmen, wenn sie sich das Ding kurz auslieh.

Die Strecke bis zum Strand kannte sie gut genug, um nicht fürchten zu müssen, im Halbdunkel vom Weg abzukommen. Bis die Sonne über Kinsale aufging, hatte sie noch genügend Zeit, ihr Ziel zu erreichen. Das klapprige Teil verrichtete kläglich seinen Dienst. Bridget musste aufpassen, dass sie nicht über einen spitzen Stein fuhr, sonst würde sie umkippen und sich im schlimmsten Fall auf dem Asphalt böse ihre nackten Knie aufschürfen. Aber vielleicht war nicht das Fahrrad schuld an der holprigen Reise. Sie hatte sich schon lange nicht mehr auf ein solches Gefährt gesetzt. Konnte man das Fahrradfahren entgegen der herkömmlichen Meinung doch verlernen? Sie war zumindest außer Übung. In der Stadt war sie lieber mit dem Auto unterwegs, aber jetzt war sie in Kinsale, dem malerischen Fischerdorf mit den bunten Häusern, dessen Ortskern seit jeher ein beliebtes Postkartenmotiv war. Der Wind wirbelte ihr kurzes braunes Haar auf, und die frische Meeresluft füllte ihre Lungen. Dieses Erlebnis wollte sie nicht missen.

Die enge Straße war von Büschen und Bäumen gesäumt. Bald schon erreichte sie das Dorfzentrum. Sie radelte an einem Laden vorbei, der schon seit hundert Jahren existierte. Hier wurden Wollwaren, Kerzen und selbst gemachte Töpferware verkauft. Kinsale war nicht nur für seine verwinkelten Gassen und die bunten Häuserfassaden bekannt – pink, gelb und himmelblau gestrichen –, sondern auch für die fabelhaften Restaurants, in denen täglich frisch gefangener Fisch serviert wurde.

Sie konnte bereits den River Bandon sehen und radelte weiter am Flussufer entlang Richtung Süden. Etliche Segelboote standen im Hafen, deren Masten im Halbdunkel wie unheimliche Schatten in die Höhe ragten. Der schwarze Schleier, der über Kinsale lag, lichtete sich mit jeder Minute etwas mehr. Bridget fuhr bis zur Brücke, die sie überqueren musste, um die Halbinsel Castlepark zu erreichen. Tief atmete sie ein. Es roch nach Meer. Es schmeckte nach Meer.

Kräftig trat sie in die Pedale, da sie sich beeilen musste. Vor der Dock Bar, die um diese Zeit geschlossen hatte, stellte sie das Fahrrad ab und ging die letzten hundert Meter zu Fuß. Aufgeregt schritt sie einen schmalen Pfad entlang, der Wind streifte durchs Gras, bis sich der Sandstrand vor ihr offenbarte. Sofort zog sie die Sneakers aus und lief barfuß weiter. In der Bucht blieb ihr zwar ein uneingeschränkter Ausblick auf die keltische See verwehrt, aber dafür konnte sie bis zu den steinernen Ruinen des Charles Forts sehen, einer sternenförmigen Festung, die im siebzehnten Jahrhundert erbaut worden war, um den Hafen zu verteidigen.

Die Sonne stieg immer höher und färbte den Himmel orange. Je weiter sich das Licht ausdehnte, desto prächtiger und bunter manifestierte sich das Farbenspiel vor ihren Augen. Sie liebte das Gefühl, den kühlen und körnigen Sand zwischen ihren Zehen zu spüren, während ihre Füße bei jedem Schritt ein wenig darin versanken. Das laute Rauschen des Meeres vertrieb alle ihre Gedanken, die guten wie die schlechten.

Die Wellen kamen näher und zogen sich wieder zurück. Bridget starrte geradeaus aufs Meer, worin sich die aufgehende Sonne spiegelte und dabei einen breiten Lichtstreif aufs Wasser warf. Sie schaute der Welt dabei zu, wie sie neugeboren wurde, und dachte an ihre Mom, die den Sonnenaufgang geliebt hatte. Sie hatte den Himmel geliebt, die Vögel und die Bäume. Ihre Mutter hatte die Natur studiert und sich nirgends wohler gefühlt als draußen im Freien, im Wasser, auf den grünen Hügeln oder in den dichten Deckenmooren.

Bridgets Blick wanderte ziellos über den Strand. Im Sand, nicht weit von ihr entfernt, lag ein schwarzer Rucksack. War sie nicht allein, oder hatte jemand sein Gepäck vergessen? Als sie wieder zum Meer schaute, bemerkte sie, dass sich im Wasser etwas regte. Verwundert kniff sie die Augen zusammen, um das unbekannte Etwas besser sehen zu können, als ihr klar wurde, dass es sich um einen Menschen handeln musste. Brauchte er Hilfe? Panisch machte sie ein paar Schritte vorwärts und wunderte sich darüber, dass sie den Schwimmer nicht schon viel früher entdeckt hatte. Sie schirmte mit der Hand die Augen ab, da die aufgehende Sonne sie blendete. Die Gestalt im Wasser näherte sich ihr langsam.

Ein Mann stieg aus den Wellen.

Sie blinzelte, nur um sicherzugehen, dass sie nicht ein Trugbild narrte. Perplex ließ sie die Hand sinken und stand nun reglos da. Wie ein griechischer Gott, den eine höhere Macht aus den Tiefen des Ozeans heraufbeschworen hatte, stieg der Fremde aus dem kühlen Nass empor und watete an den Strand. War es Poseidon höchstpersönlich? Aber da sein Haar nicht silbern glitzerte wie die Schaumkronen des Meeres bei Vollmond, musste es sich doch um jemand anderen handeln als den griechischen Meeresgott. Auch trug er keinen Rauschebart und der Dreizack fehlte.

Der Mann war riesig – und er war nackt. Splitterfasernackt. Bridget starrte ihn mit offenem Mund an. Die Situation war bizarr, zudem kam er immer näher. Vielleicht hätte sie schnell das Weite suchen sollen, aber Schüchternheit gehörte nicht zu ihren Charaktermerkmalen. Mit unverhohlenem Interesse schaute sie ihn an. Seine gesamte Erscheinung war so skurril, dass sie starren musste. Er war mindestens eins neunzig groß, ein Mann, wie aus den Wellen geboren, der Körper stählern und braun gebrannt. Der Fremde hob die Arme und strich mit beiden Händen das Wasser aus seinem Haar, wobei sich seine Bauchmuskeln spannten. Zwar war er bestimmt nicht mager, aber an seinem Körper war auch kein Gramm Fett zu viel. Gleich würde er bei ihr anlangen, oder steuerte er etwa direkt auf sie zu?

Davon musste sie Patrick berichten – das hatte sie so eben beschlossen. Er würde sich totlachen, denn erstmals hatte auch Bridget eine schräge Geschichte zu erzählen. Ihr Freund war doch sonst immer derjenige, dem die unmöglichsten Dinge zustießen. Leider war sie keine halb so gute Geschichtenerzählerin wie er, und vielleicht war dieses Erlebnis auch gar nicht mal so schräg.

Der Fremde grinste verschlagen. Er war nun nah genug, dass Bridget sein Gesicht erkennen konnte. Sie hatte das Gefühl, als würde er in Zeitlupe auf sie zukommen, aber er blieb nicht vor ihr stehen, sondern ging an ihr vorbei. Bridget wirbelte herum und betrachtete ihn von hinten, nur um festzustellen, dass er von allen Seiten gut aussah. Er beugte sich zu dem Rucksack herunter und holte ein Handtuch daraus hervor. Dann stellte er sich wieder aufrecht hin und rubbelte das sehr kurze Haar trocken. Wollte er sich nicht endlich anziehen?

Wieder grinste er frech zu ihr herüber. Hatte Bridget zu lange gestarrt? Aber wenn ihr Blick ihn störte, dann hätte er doch jederzeit seine Blöße bedecken können, denn sie hielt ihn bestimmt nicht davon ab. Kopfschüttelnd schaute sie wieder zum Meer. Deswegen war sie doch frühmorgens hierhergekommen: um sich den Sonnenaufgang anzusehen – und nicht nackte Männer zu begaffen. Der Kerl kam erneut auf sie zu, Bridget konnte es aus ihren Augenwinkeln erkennen. War er ein Nudist oder nur nicht ganz richtig im Kopf? War sie allein mit einem perversen Irren? In Irland gab es keine Strände, auf denen es offiziell erlaubt war, die Freikörperkultur zu zelebrieren. Auch dieser Strand bildete keine Ausnahme.

Als sie erneut zu ihm hinschaute, trug er zum Glück eine mintgrüne Badehose mit aufgedruckten Palmen. Wo hatte er dieses dämliche Ding gekauft? Bridget presste die Lippen zusammen, um nicht laut loszulachen. Belustigt schaute sie auf – und ihm direkt in die braunen Augen. Er hatte eine Narbe auf der Stirn, die lang genug war, um seine linke Augenbraue in zwei Hälften zu teilen. Die Haare waren kurz und dunkel. Das tiefe Schwarz passte zu seiner sonnengebräunten Haut, auch zeichnete sich der Bartschatten am Kinn deutlich ab.

»Noch nie einen nackten Mann gesehen?«, meinte er frech. Seine Stimme hatte einen hellen Ton und klang weniger tief, als Bridget vermutet hätte.

Ob sie noch nie einen nackten Mann gesehen hatte? Außerhalb ihres Schlafzimmers? Nein. Die Männer, die sie bisher im Adamskostüm erblickt hatte, waren allesamt mit ihr ins Bett gegangen – bis auf ihren Bruder natürlich. Der Kindskopf war fünf Jahre jünger als sie und genierte sich aus einem unerfindlichen Grund vor niemandem. Zudem vergewisserte er sich vor dem Duschen nie, ob überhaupt frische Handtücher im Bad waren, weswegen er auf der Suche danach immer nackt durchs Haus spazierte. Warum der Idiot keine Freundin fand, war ihr ein Rätsel – oder vielleicht auch nicht.

Der Fremde grinste selbstgefällig. Weil sie ihn nach wie vor mit offenem Mund anstarrte? Aber so einen Mann hatte sie tatsächlich noch nie nackt gesehen. Da stimmte einfach alles. Deswegen konnte Bridget ihren Blick nicht abwenden: Sie erfreute sich am Außergewöhnlichen.

»Bist du aus der Gegend?«, wollte der griechische Gott wissen und versuchte offenbar, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Misstrauisch kniff sie die Augen zusammen.

»Ich mache hier nur Ferien.«

Er nickte zustimmend. Cork City, wo sie lebte und arbeitete, war nur dreißig Kilometer von Kinsale entfernt. Würde sie sich jetzt ins Auto setzen, wäre sie in einer halben Stunde zu Hause. Aber aufgewachsen war sie weiter im Westen, im County Kerry. Dieser Kerl hingegen klang genauso wie ihr Freund Patrick. Der Akzent war identisch, also musste er aus der Gegend stammen. Kam er öfter frühmorgens an den Strand, um nackt zu baden? Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, jemandem um diese Zeit zu begegnen. Auch Bridget hatte geglaubt, den Sonnenaufgang mutterseelenallein erleben zu dürfen.

Er schulterte den schwarzen Rucksack und inspizierte sie beharrlich.

»Ist was?«, fragte Bridget brüsk. Dachte er etwa, sie wäre interessiert an ihm, weil sie ihn vorhin so angestarrt hatte? Jeder würde starren, wenn ein solcher Mann unerwartet aus den Wellen stieg.

»Gibt’s hier einen netten Ort, wo man frühstücken kann?«, fragt er.

»Das Mellow Café ist gemütlich. Der Kaffee ist gut, und die Torten sind lecker. Es liegt gleich im Zentrum von Kinsale.«

»Willst du mitkommen? Ich freue mich über Gesellschaft!«

Bridget schnappte ungläubig nach Luft. Sie fühlte sich überrumpelt.

»Lieber nicht.«

»Schade!« Er lächelte charmant. »Ich bin übrigens Mike!« Enthusiastisch streckte er ihr die Hand hin und wartete gespannt auf ihre Reaktion. Bridget zögerte, bevor sie seine Hand schüttelte, die sich überraschend warm anfühlte. Hatte das eisige Bad am Morgen seine Blutzirkulation in Schwung gebracht?

»Bridget«, stellte sie sich vor.

»Hübscher Name!« Er flirtete mit ihr – eindeutig. Aber Bridget war nicht nach Kinsale gekommen, um sich mit fremden Männern zu vergnügen. Nach zwei gescheiterten Beziehungen und etlichen Liebesabenteuern, die sie mehr Nerven gekostet hatten, als sie zuzugeben bereit war, hatte sie die Nase gestrichen voll. Da ihre besten Freunde allesamt glücklich verliebt waren – Harper und Shane waren seit Kurzem sogar verheiratet –, würde Bridget wohl als Einzige für den Rest ihres Lebens allein bleiben. Aber damit kam sie klar.

»Vielleicht sehen wir uns ja noch mal«, meinte er knapp. Daraufhin drehte er sich weg und ging den Pfad hoch. Fassungslos schaute sie ihm hinterher, bevor sie ihren Blick wieder übers Meer schweifen ließ.

Diese Geschichte musste sie unbedingt Patrick erzählen!

2

Mike spazierte den kleinen Pfad hoch bis zum Parkplatz, auf dem er sein Fahrzeug abgestellt hatte. Sein treuer Begleiter ›Hitch‹ wartete dort auf ihn, ein Ford Transit, Baujahr zweitausendelf. Hitch hatte schon etliche Kilometer auf dem Buckel, aber er lief immer noch wie eine Eins. Den Kastenwagen hatte Mike vor acht Jahren im gebrauchten Zustand gekauft, seitdem hatte der Van ihm treue Dienste erwiesen. Hitch war das erste Fahrzeug, das er selbst ausgebaut hatte. Beinahe liebevoll klopfte er auf die Motorhaube, als er seinen alten Freund erreichte. Er öffnete die Schiebetür und setzte sich auf die kleine Erhöhung gleich am Eingang, die entstanden war, als er den Van isoliert und im Anschluss den Holzboden verlegt hatte. Hier saß er am liebsten, wenn er sich entspannt die Gegend betrachten wollte.

Vorerst genoss er die warmen Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Wie spät war es überhaupt? Halb acht? In den vergangenen Monaten hatte er gelernt, die Tageszeiten allein am Sonnenstand oder am Gesang der Vögel einzuschätzen, und mittlerweile war er richtig gut darin. Mike war immer gern draußen gewesen. Er liebte den freien Himmel, das Meer, die Wälder und die Moore. Aber seit er vor knapp einem halben Jahr seine Sachen gepackt und einfach abgehauen war, hatte er ganz neu erfahren, was es bedeutete, im Einklang mit der Natur zu leben.

Er streckte die Arme aus und dehnte seine Muskeln. Das kühle Bad hatte gutgetan. Schon lange war er nicht mehr schwimmen gewesen, wo er doch meist keine Gelegenheit ausließ, um sich ins Meer zu stürzen. Das eisige Wasser am Morgen hielt ihn fit, brachte seinen Kreislauf in Schwung und klärte seinen Kopf. Lange würde er nicht mehr im Meer schwimmen können. Der Winter stand vor der Tür und die Wassertemperatur sank.

Wohlig seufzend legte er den Kopf in den Nacken, sah hoch in den wolkenlosen Himmel und ließ sich bereitwillig von dem tiefen Blau hypnotisieren. Er fühlte sich entspannt und glücklich – und ihm war kalt, da der kühle Morgenwind seine nackte Haut frösteln ließ. Er sollte sich endlich ein Shirt überziehen, bevor er sich noch einen Schnupfen holte. Zwar war er so gut wie nie krank, aber es war dumm, sein Glück zu sehr herauszufordern. Schon als Kind hatte er kaum je eine laufende Nase gehabt – nicht so wie sein jüngerer Bruder Henry, der ständig kränkelte, heute wie damals. Blass und schmächtig war er gewesen. Um ihn hatten sich seine Eltern immer besonders kümmern müssen. Das würde sich niemals enden. Nur eins war jetzt anders: Mike kümmerte sich nicht mehr um ihn. Er hatte ohnehin nie verstanden, warum er dazu verdammt war, sich sein ganzes Leben lang mit den Problemen seines Bruders herumschlagen zu müssen. ›Tu’s für die Familie!‹ – sagte seine Mom ständig. ›Die Familie muss zusammenhalten!‹ Nein, Mike musste gar nichts mehr tun. Er war keine zwanzig, sondern wurde bald dreißig. Es war an der Zeit, dass er sein Leben führte, wie es ihm beliebte, ohne auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen. Schließlich hatte auch nie jemand auf seine Gefühle Rücksicht genommen, weil er immer alles wegsteckte und mit allem fertigwurde. Zumindest schien jeder in seiner Familie und in seinem Freundeskreis davon überzeugt zu sein. Mike kriegte alles hin und kam immer wieder auf die Beine, egal, was passierte – bis er es dann nicht mehr hingekriegt hatte und einfach abgehauen war. Es hatte ihm gereicht. Das sprichwörtliche Fass war übergelaufen, und er hatte begriffen, dass er bei Weitem nicht so nachgiebig war, wie alle glaubten.

Gerade als er aufstehen und im Inneren des Vans nach frischer Kleidung suchen wollte, kam seine neue Bekanntschaft dahergeschritten, energisch, mit durchgestrecktem Rücken. Die Frau ließ sich nicht leicht einschüchtern, das erkannte er allein an ihrem Auftreten. Ihren Strandspaziergang hatte sie schnell beendet. Den Blick konzentriert nach vorn gerichtet, als würde sie ein ganz bestimmtes Ziel anvisieren, bemerkte sie ihn nicht. Mike beobachtete sie gespannt. Wie sie ihn vorhin angestarrt hatte! Als hätte sie noch nie einen nackten Mann gesehen: voll ehrfürchtiger Bewunderung und Neugierde. Jeden Zentimeter seines Körpers hatte sie inspiziert, ohne rot zu werden. Zum Glück hatte das eisige Wasser sein Blut in den Adern gefrieren lassen, sonst wäre er rot geworden. Die Frau hatte sich jedenfalls nicht geniert. Als sie zufällig zur Seite schaute und ihn endlich entdeckte, stutzte sie. Doch dann wandte sie ihren Blick wieder ab und ging einfach weiter. Ignorierte sie ihn absichtlich?

»Hey!«, rief er ihr zu. Mike unterhielt sich gerne und offen mit fremden Leuten, aber er drängte niemandem ein Gespräch auf. Bridget war wohl die Ausnahme von der Regel. Leider war die erste Begegnung recht unglücklich verlaufen. Um diese Zeit waren die meisten Strände menschenleer, weswegen er niemals damit gerechnet hätte, dass eine Frau plötzlich vor ihm stand. Er neigte nicht dazu, sich Fremden nackt zu präsentieren, aber schwimmen ging er nun mal am liebsten im Adamskostüm. Hielt sie ihn für einen Spinner? Bestimmt fand sie ihn schräg, im schlimmsten Fall sogar gefährlich.

»Was ist?«, fragte sie unfreundlich, kam aber nicht näher.

»Die Einladung steht noch! Willst du einen Kaffee mit mir trinken?« Er hatte Lust auf Gesellschaft, denn das Leben im Van war mitunter ziemlich einsam. Zwar traf er unterwegs häufig nette Leute, aber da er sich nirgends länger aufhielt, verabschiedete er sich meist recht schnell von ihnen. Bridget würde er nach dem heutigen Tag auch nie wiedersehen. Mit ihm einen Kaffee zu trinken, würde sie nicht umbringen.

»Du bist hartnäckig.«

Sie schaute erneut geradeaus. Würde sie einfach weitergehen – und das war’s dann? Bridget schien angestrengt zu überlegen, welche Entscheidung sie treffen sollte. Derweil inspizierte er sie von Kopf bis Fuß. Die ockergelben Baumwollshorts mit den Stulpen passten gut zu ihrem Hautton. Am Handgelenk und um den Hals glitzerte dezenter Goldschmuck, während die großen runden Ohrringe sehr auffällig waren. Ihre weißen Sneakers hatten seitlich goldene Streifen, somit passte das Schuhwerk perfekt zum restlichen Outfit. Der flotte Kurzhaarschnitt sah gut an ihr aus, zudem schimmerte ihr Haar in verschiedenen Brauntönen, je nach Lichteinfall. Was hatte sie heute noch vor, oder hatte sie sich für einen simplen Strandspaziergang dermaßen in Schale geworfen?

Plötzlich drehte sie sich in seine Richtung und stapfte entschieden zu ihm herüber. Die Frau hatte Mumm. Gefiel sie ihm? Er hatte das Gefühl, wieder in dieselbe Falle zu tappen. ›Du verstehst nichts von Frauen‹, hatte sein Freund mal zu ihm gesagt. Mittlerweile wusste er, was Bradley damit gemeint hatte: Dass Mike immer auf die Falschen hereinfiel. Genau deswegen sollte er sich von solchen Püppchen wie Bridget lieber fernhalten. Wer ging schon geschminkt frühmorgens an den Strand?

Neugierig schaute sie an ihm vorbei und versuchte, einen Blick in seinen Van zu erhaschen. »Wo willst du mit diesem Ding hin?«, fragte sie.

»Das ist kein Ding«, stellte er richtig. »Das ist Hitch!« Er klopfte liebevoll auf die Schiebetür, auf der unten mit Acryllack in dicken Blockbuchstaben der Name seines treuen Wegbegleiters geschrieben stand. Jede Veränderung an seinem Van hatte er selbst vorgenommen. Das Auto gehörte ihm. Er liebte es, wie andere ein Haustier liebten.

Sie schaute sich Hitch gespannt an.

»Mit ihm habe ich schon einige Abenteuer erlebt. Die letzten Monate war ich in Schottland«, erzählte Mike bereitwillig. Er war immer gern einige Tage oder Wochen im Jahr mit dem Van unterwegs gewesen, aber noch nie zuvor hatte er eine derart lange Reise angetreten.

»Wow …« Ihr Interesse schien geweckt.

»Jetzt will ich mit Hitch an der irischen Westküsteentlangfahren. Lust auf eine kleine Tour?«

»Was …?« Bridget wirkte irritiert.

»Willst du dir den Van von innen mal ansehen?«, erklärte er. Mike stand sofort auf und machte den Weg für sie frei, sodass sie eintreten konnte. Das Auto war aktuell sein Zuhause. Zum Glück hatte er gestern aufgeräumt.

»So fangen die meisten Horrorfilme an«, sagte sie, verschränkte die Arme vor der Brust und schaute skeptisch.

Er lachte schallend. »Ich bin ganz harmlos«, beteuerte er.

»Das sagen sie alle!«

Offenbar misstraute sie ihm, dabei hatte sie vorhin noch neugierig an ihm vorbei in den Van gespäht. Ein wildfremder Mann wollte, dass sie in sein Fahrzeug stieg? Das klang wirklich verdächtig! Zudem waren sie ganz allein auf dem Parkplatz. Zwei weitere Fahrzeuge parkten hier, aber von den Besitzern fehlte jede Spur. Es war Anfang September. Um diese Uhr- und Jahreszeit war hier nichts los, auch die Dock Bar öffnete erst mittags.

Bridget schaute sich unruhig um.

»Dann eben nicht«, meinte er charmant und setzte sich wieder hin. Seinetwegen sollte sie sich nicht unwohl fühlen.

»Wie lange bist du damit schon unterwegs?«, fragte sie. Offenbar wollte sie mehr über ihn wissen, warum sonst stürmte sie nicht einfach davon?

»Seit einigen Monaten.«

»Du wohnst hier drin?«, meinte sie perplex.

»Ist gemütlich«, gab er grinsend zurück. Hielt sie ihn nun für einen arbeitslosen Träumer? Mike hatte einen Job. Er hatte sich sogar eine eigene kleine Firma aufgebaut. Da er es liebte, zu reisen und dabei möglichst unabhängig sein wollte, hatte er sich einen Van gekauft – so hatte alles angefangen. Zuerst hatte er nur ein Bett und ein paar Schränke eingebaut. Später war ihm aufgefallen, dass der Platz durchaus auch für eine kleine Küche reichte. Sich einen klassischen Campingwagen anzuschaffen, war ihm nie in den Sinn gekommen, weil er seinem Fahrzeug einen ganz persönlichen Stempel hatte aufdrücken wollen. Außerdem liebte er es, mit Holz zu arbeiten. Die Firma, die er daraufhin mit Bradley gegründet hatte, baute heute vorwiegend Kastenwagen aus. Seit zwei Jahren errichteten sie auch kleine Häuser. Tiny Houses waren im Trend, da viele Menschen lieber minimalistisch lebten und die Immobilienpreise ohnehin durch die Decke gingen.

Bradley kümmerte sich im Moment allein um die Firma und hielt sie am Laufen, während Mike in der Welt herumreiste, auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die er sich nach all den Monaten noch immer nicht stellen wollte.

»Gehen wir jetzt einen Kaffee trinken, oder nicht?«, bohrte er erneut nach und wurde das Gefühl nicht los, dass Bridget immer weniger von ihm hielt, je länger sie miteinander plauderten. Er wusste nicht, wie man mit Frauen flirtete. Meist kamen die Damen auf ihn zu und nicht umgekehrt. Da er jahrelang in einer festen Beziehung gelebt hatte, war er nur gut darin, Frauen abzuweisen.

»Das Café öffnet erst in einer halben Stunde«, sagte sie.

Mike nickte, die Lippen zu einer dünnen Linie gepresst. Er sollte es gut sein lassen, denn offensichtlich wollte sie nicht mit ihm Zeit verbringen. Hatte er seinen Charme verloren? Oder hatte ihn das Leben on the road unattraktiv werden lassen? Dabei hatte er sich heute Morgen, bevor er sich zum Strand aufgemacht hatte, das Kinn rasiert. Auch das Kopfhaar kürzte er mit der Maschine. Einen ungepflegten Eindruck machte er also nicht, soweit er das beurteilen konnte.

»Ich muss jetzt los«, sagte sie und ging weiter.

Er verabschiedete sich höflich, wünschte ihr einen schönen Tag und saß noch eine Weile lang in der Sonne, um nachzudenken. Mike war in seinem Leben an einem Wendepunkt angekommen – oder vielleicht auch nicht. Wenn er wieder zu Hause war, würde alles genauso weitergehen wie bisher. Mit dem klitzekleinen Unterschied, dass er mit seiner langjährigen Freundin nicht mehr zusammen war. An Hannah versuchte er nicht gar zu häufig zu denken. Er musste die Vergangenheit endlich hinter sich lassen, sonst würde er noch verrückt werden.

Seufzend zückte er sein Handy und schaute nach, wann genau das Mellow Café öffnete. Die Betreiberin Grace Donnelly kannte er, da sie mit seiner Mom schon seit der Schulzeit befreundet war. Bestimmt würde sie ihm ein riesengroßes Frühstück anbieten, sollte er bei ihr vorbeischauen.

Ächzend stand er auf und betrat sein mobiles Zuhause. Gleich auf der gegenüberliegenden Seite, hinter der Fahrerkabine, hatte er einen Kleiderschrank aus Zedernholz eingebaut. Oben hing er Jacken und Hemden auf, unten hatte er Schubladen für Unterwäsche, Socken und Shirts. Hier wurde jeder Zentimeter sinnvoll genutzt. Die Planung hatte mehrere Tage gedauert, das Einbauen sogar mehrere Wochen.

Mike schloss die Schiebetür, zog sich um und huschte dann zwischen den Sitzen hindurch in die Fahrerkabine, die er mit einem Vorhang vom Wohnraum abgrenzte. Er machte den Motor an und fuhr los. Hitch brummelte in gewohnter Manier, aber er setzte sich widerstandslos in Bewegung. Auf diesen Van konnte er sich verlassen. In den letzten Monaten hatte er nur ein einziges Mal gestreikt, woraufhin Mike den Kühler ausgetauscht hatte, und seitdem machte sein treuer Wegbegleiter keine Probleme mehr. Von Mechanik verstand Mike weit weniger als von der Tischlerarbeit, aber sein Wissen reichte aus, um Hitch wieder auf Vordermann zu bringen, wenn er schwächelte.

Geschickt manövrierte er den Van vom Parkplatz auf die Straße. Um diese Zeit gab es hier keinen Verkehr. Gespannt hielt er nach seiner Bekanntschaft Ausschau, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. War sie mit dem Auto zum Strand gefahren? Wo hatte sie es dann geparkt? Wäre sie zu Fuß unterwegs gewesen, hätte er sie schon längst einholen müssen.

Kinsale war ein kleiner Ort. Sollte er sich hier länger aufhalten, würden sie sich vielleicht noch mal über den Weg laufen. Nur leider hatte er vor, das Fischerdorf heute noch zu verlassen. Wenn seine Mom wüsste, dass er in Kinsale war, nur eine halbe Stunde Autofahrt von ihr entfernt!

Bald war es halb neun. Wie die Zeit verging, dachte er sich. Er überquerte die Brücke, verließ die Halbinsel und erreichte das Zentrum. Den Van ließ er auf einem Parkplatz stehen, da er zu groß war, um ihn irgendwo am Straßenrand abzustellen. Die fünfhundert Meter bis zum Café lief er zu Fuß, über die Pflastersteine und an den bunten Häuserfassaden vorbei.

Als er das Mellow Café betrat, war Grace schon eifrig damit beschäftigt, zwei Kunden zu bedienen. Sie trug ein buntes Kleid mit Blumenmuster im Fünfzigerjahre-Stil: Der weite Rock reichte ihr bis zu den Knien, die Taille war schmal geschnitten. Die dunklen Locken hingen ungezähmt um ihre Schultern. In ein paar Jahren wurde sie sechzig, aber ihr Haar war noch immer nicht ergraut – oder färbte sie es? Sie sah mindestens zehn Jahre jünger aus, was auch an ihrem schwungvollen und jugendlichen Auftreten lag.

Nachdem ihr Mann gestorben war, hatte sie sich dazu entschieden, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben und das Café eröffnet. Ob ihre Tochter Katie es mal übernehmen würde?

Mike setzte sich an einen freien Tisch am Fenster und ließ die Atmosphäre auf sich wirken. Der Boden im traditionellen Schachbrettmuster war bestimmt Jahrzehnte alt, ansonsten hatte sie die gesamte Einrichtung erneuert und die dunklen Möbel gegen helle getauscht. Das Café wirkte viel moderner als noch vor ein paar Jahren, aber es war immer noch genauso gemütlich.

Grace bemerkte ihn sofort und kam energisch auf ihn zu. Vorwurfsvoll stemmte sie beide Hände in die Hüften.

»Dass ich dich mal wiedersehe!«, meinte sie. Bestimmt hatte sich seine Mutter Grace gegenüber darüber ausgelassen, dass ihr Sohn ihr nicht verriet, wo er sich aufhielt und dass er einsam in der Welt herumtingelte, ohne Plan und ohne Ziel.

»Freut mich auch, dich zu sehen!«, gab er charmant zurück.

»Dünn bist du geworden! Da werde ich dir gleich ein großes Frühstück machen!«

»Ich bin doch nicht dünn, Grace«, murmelte er. Früher hatte er wohl eher etwas zu viel auf den Rippen gehabt. Der Stress und die viele Arbeit machten hungrig. Nun, da er sorgenlos durch die Welt reiste, waren die Pfunde gefallen. Vermutlich hatte er an die sieben Kilo abgenommen. Mehr nicht. Also war er bestimmt nicht dünn.

»Ich habe ein paar Würstchen da, auch Bohnen und Eier. Willst du einen Kaffee oder was anderes?«

»Du musst dir doch meinetwegen nicht so viel Mühe machen!« Er konnte auch ein Croissant zum Kaffee essen.

»Katie hilft mir in der Küche«, erwiderte sie. »Außerdem ist noch nicht viel los.« Das würde sich bald ändern, denn das Café war morgens stets rammelvoll. Ihre selbst gebackenen Torten waren sehr beliebt, nicht nur bei den Touristen, sondern auch bei den Leuten im Ort. Vor allem die Stammkunden sorgten dafür, dass die Kasse klingelte. Grace Donnelly kannte jeden in Kinsale, und jeder kannte sie. Viele kamen hierher, nur um mit ihr zu plaudern.

»Keine Widerrede! Und du wirst alles essen!«

»Natürlich werde ich nichts übrig lassen«, meinte er feierlich und zog es vor, Grace nicht zu widersprechen. Mike erinnerte sich noch deutlich daran, wie er und sein Bruder, als sie noch Kinder gewesen waren, mit ihren Eltern Grace besucht hatten. Schon damals hatte sie Köstlichkeiten gebacken. Die leckeren Torten hatten sie liebend gern, ohne zu motzen, bis zum letzten Krümel aufgegessen.

Sie servierte ihm einen Kaffee, den er gierig austrank. Später brachte sie ihm das üppige Frühstück mit Toast und Orangensaft an den Tisch. Sie bewirtete ihn wie einen König, und Mike genoss das royale Leben.

Auf die bevorstehende Reise entlang der Westküste freute er sich, denn das Beste hatte er sich bis zum Schluss aufgehoben. Irland war ein ganz besonderes Land. Er war stolz darauf, hier aufgewachsen zu sein. Aber während er ganz Schottland bereist hatte, hatte er von seiner Heimatinsel bislang noch nicht viel gesehen.

In drei Wochen wollte er wieder zu Hause sein, in Cork. Vor seiner Abreise hatte er das Apartment gekündigt, das er gemeinsam mit Hannah bewohnt hatte. Mike würde sich eine neue Bleibe suchen müssen, da er nicht ewig in seinem Van leben konnte.

›Du musst dein Leben endlich wieder auf die Reihe kriegen‹, hatte sein Dad zu ihm gesagt, als sie das letzte Mal miteinander telefoniert hatten. Seitdem rief Mike ihn nicht mehr an. Er hatte alles im Griff! Seit vielen Jahren arbeitete er hart und effizient. Er hatte sich etwas aufgebaut. Verdiente er denn keine Pause? Sein jüngerer Bruder hingegen machte einen Fehler nach dem anderen und bekam nichts auf die Reihe, aber ihm ließen seine Eltern alles durchgehen. Wirklich alles.

Mike verscheuchte die düsteren Gedanken, sonst bekam er noch schlechte Laune. Das Wetter war zu schön und die Reise, die vor ihm lag, zu aufregend, um sich wieder über seinen Bruder zu ärgern. Zu ihm hatte er schon lange keinen Kontakt mehr, und Mike hatte auch nicht vor, in Zukunft je wieder ein Wort mit ihm zu wechseln.

Grace stand plötzlich neben ihm.

»Schmeckt es dir?«, fragte sie.

»Köstlich«, erwiderte er mit vollem Mund. Er hatte wirklich Hunger gehabt. Grace rührte sich nicht, den Blick starr auf ihn gerichtet, und Mike hatte ein ungutes Gefühl. Zweifellos hatte sie etwas auf dem Herzen, und sie würde nicht eher von seiner Seite weichen, bis sie es losgeworden war.

»Deine Mutter war vor einer Woche hier«, sagte sie – und schon rollte er reflexartig mit den Augen. »Sie hatte keine Ahnung, wo du dich herumtreibst! Wie lange soll das noch so weitergehen?«

»Hältst du mir gerade eine Standpauke, Grace?«

»Ich doch nicht!«

Dafür, dass die beiden so lange befreundet waren, hatten sie rein gar nichts gemeinsam. Während Grace Donnelly sich nichts gefallen ließ und für ihre direkte und unverblümte Art bekannt war, gehörte Mikes Mutter zu den Frauen, die Unangenehmes lieber unter den Teppich kehrten, zu allem schwiegen und hässliche Wahrheiten einfach ignorierten.

»Ich werde mich bei meiner Mom melden, zufrieden?«, sagte er versöhnlich, ohne es ernst zu meinen. Er hatte keinesfalls vor, sie in naher Zukunft anzurufen oder ihr eine Nachricht zu schreiben. Sein bester Freund Bradley war der Einzige, der wusste, wo er sich im Moment aufhielt. Ihn rief seine Mutter öfter an, um auf dem Laufenden zu bleiben. Sie wusste also, dass ihr Sohn wohlauf war. Sicher würde auch Grace sie später anrufen und ihr aufgeregt erzählen, dass sie ihm begegnet war. Dann würde seine Mom ihm schreiben. ›Wenn du schon in Kinsale bist, kannst du doch zu Hause vorbeischauen!‹ – oder so ähnlich würde der Text lauten, in Großbuchstaben verfasst, mit ganz vielen Ausrufezeichen. Es fühlte sich immer so an, als würde sie ihn über den Messenger anbrüllen.

Mike verzog das Gesicht, während er das Handy aus der Hosentasche holte. Er stellte es auf lautlos. Jetzt hatte er seine Ruhe.

3

Bridget radelte bis zur kleinen Frühstückspension zurück, während sie ein Lied fröhlich vor sich hin summte. Gleich neben der Eingangstür stand eine alte Holzbank, an der bereits der weiße Lack an mehreren Stellen abblätterte. Sie versuchte mit beiden Händen ungeschickt den erdigen Staub von der Bank zu fegen. Bevor sie sich noch einen Holzsplitter einfing, setzte sie sich resigniert hin, schlug die Beine übereinander und fummelte in ihrer Handtasche nach einer goldenen Packung Benson & Hedges. Diese Marke rauchte sie am liebsten. Die Zigaretten waren ziemlich stark, aber das Aroma sagte ihr zu. Hatte sie das Feuerzeug dabei? Sonst würde sie schnell in ihr Zimmer hochgehen müssen, um dort danach zu suchen. Aber vorher wühlte sie weiter in der Tasche, in der Hoffnung, es doch noch zu finden. Sie wollte Tante Nora nicht über den Weg laufen, denn dann würde sie sich mit ihr unterhalten müssen und sich nicht mehr heimlich nach draußen stehlen können, um in Ruhe zu rauchen.

Sie fand das Feuerzeug in den Tiefen ihrer recht großen Handtasche, zwischen einem zerknüllten Taschentuch und ihrer Geldbörse. Sofort zündete sie sich eine Zigarette an – endlich! Es war die erste seit fünf Tagen. Jetzt ging es ihr fantastisch. Zwar nagte das schlechte Gewissen an ihr, weil sie sich das Rauchen hatte abgewöhnen wollen – das hatte sie auch weiterhin vor –, aber trotzdem fühlte sie sich pudelwohl, als das Nikotin seine Wirkung in ihrem Körper entfaltete. Entspannt schaute sie auf das etwas verbeulte weiße Schild, gleich neben der Straße, wo B&B oben stand. Bridget liebte ihren Job als Softwareentwicklerin, aber manchmal sehnte sie sich nach einer Veränderung. Sollte sie genau wie ihre Tante eine kleine Frühstückspension am Meer betreiben? Das wäre doch was! Dieser unsinnige Gedanke ließ sie schmunzeln.

Die Eingangstür schwang mit einem leisen Quietschen auf. Tante Nora erschien überraschend auf der Schwelle. Bridget fühlte sich ertappt und zog ein schuldbewusstes Gesicht.

»Das ist doch nicht gut für dich!«, meinte ihre Tante vorwurfsvoll.

»Ich weiß …« Bridget schielte beschämt auf das glühende Ende der Zigarette, die sie zwischen die Finger geklemmt hatte.

»Warst du am Strand?«, fragte Tante Nora. »So früh schon?«

»Ich habe mir den Sonnenaufgang angesehen.« Sie hatte noch was ganz anderes am Strand gesehen – oder jemand anderen.

Mit einem sanften Lächeln, das sie mindestens fünf Jahre jünger erscheinen ließ, setzte sich ihre Tante zu ihr auf die alte Bank. Sie trug einen hübschen Pulli mit Karomuster in den Farben beige und rot. Das schulterlange, leicht gelockte Haar war vollends ergraut, aber nie hatte sie es färben wollen. Sie war sowohl auf ihr graues Haar als auch auf ihre Falten stolz. ›Bin ich froh, alt zu sein!‹, hatte sie mal lachend gemeint. Bridget hingegen hatte das Gefühl, die Zeit liefe ihr davon. Die Jahre zogen so schnell vorüber, so viel veränderte sich, und trotzdem blieb alles gleich. War sie deswegen für ein paar Tage abgehauen, weil sie mal tief Luft holen und in aller Ruhe über ihr Leben nachdenken wollte?

»Am Strand war es wirklich toll«, schwärmte sie. Sollte sie ihrer Tante von Mike erzählen? Lieber nicht! Das Treffen mit dem unbekannten Nackten erschien ihr wie ein schräger Traum. Den Typen würde sie vermutlich nie wiedersehen. Aber Tante Nora würde bestimmt die Polizei rufen und Bridget dazu auffordern, den Kerl den Beamten bis ins kleinste Detail zu beschreiben, was ihr leichtfallen würde, hatte sie doch alles gesehen. ›Solche Typen dürfen hier nicht herumlaufen!‹, würde sie sagen. ›Diese Spinner sind gefährlich!‹ Sich in Irland nackt zu zeigen, war nur dann ein Vergehen, das auch geahndet wurde, wenn sich jemand anderer dadurch gestört fühlte. Tante Nora gehörte leider zu den Leuten, die sich gerne und häufig gestört fühlten.

»Was hast du heute noch vor?«, fragte sie.