Lies and Love Songs - Sarina Bowen - E-Book

Lies and Love Songs E-Book

Sarina Bowen

0,0
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung


Jonas Smith ist völlig ausgebrannt. Der Leadsänger und Songwriter der erfolgreichen Rockband Hush Note braucht dringend eine kreative Pause, um Inspiration für ein neues Album zu finden. Deshalb zieht er sich in den Urlaubsort Nest Lake zurück, wo er vor fünf Jahren den schönsten Sommer seines Lebens verbracht hat. Dort hat er nicht nur all seine Hitsongs geschrieben, sondern auch Kira kennengelernt, die Frau, die ihn dazu inspiriert hat. Die beiden verband eine besondere Freundschaft, bis in einer Nacht so viel mehr daraus wurde. Als sie erneut aufeinandertreffen, erwartet Jonas eine Überraschung, die sein Leben für immer verändern wird ...

"Lies and Love Songs ist ein Must-Read für alle, die Rockstar Romances lieben!" MUSINGS OF THE MODERN BELLE

Band 1 der Rockstar-Romance-Reihe HUSH NOTE von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Sarina Bowen

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Leser:innenhinweis

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

Epilog

Die Autorin

Die Romane von Sarina Bowen bei LYX

Impressum

SARINA BOWEN

Lies and Love Songs

Roman

Ins Deutsche übertragen von Bianca Dyck

Zu diesem Buch

Jonas Smith ist völlig ausgebrannt. Der Leadsänger und Songwriter der erfolgreichen Rockband Hush Note braucht dringend eine kreative Pause, um Inspiration für ein neues Album zu finden. Deshalb zieht er sich in den Urlaubsort Nest Lake zurück, wo er vor fünf Jahren den schönsten Sommer seines Lebens verbracht hat. Dort hat er nicht nur all seine Hitsongs geschrieben, sondern auch Kira Cassidy kennengelernt, die Frau, die ihn dazu inspiriert hat. Die beiden verband eine besondere Freundschaft, bis in einer Nacht so viel mehr daraus wurde. Als sie erneut aufeinandertreffen, erwartet Jonas eine Überraschung, die sein Leben für immer verändern wird …

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.

Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!

Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.

Euer LYX-Verlag

1

Jonas

Kiefernäste schabten über die Fenster des vierzehn Meter langen Tourbusses, der sich den letzten Kilometer des Schotterwegs entlangschleppte. Als der Fahrer endlich vor der Nest Lake Lodge hielt, war ich bereits auf den Beinen. Und als die Tür geöffnet wurde, sprang ich hinaus, um die Luft von Maine zu schmecken.

Der Moment der Wahrheit war gekommen. Ich atmete tief ein, um den sommerlichen Duft des Sees und des Flieders in mich aufzunehmen.

Ja! Es roch immer noch genauso wie früher. Das war ein gutes Zeichen.

Langsam trudelten die anderen hinter mir aus dem Bus. Als Erste kam Quinn, unsere Drummerin. Kommentarlos dehnte sie ihre Beine. Unser Leadgitarrist Nixon hingegen trat heraus und fing sofort an zu lachen. »Ohne Scheiß, Mann. Echt jetzt? Wir sind über hundert Kilometer Umweg gefahren, nur für das hier?«

»Hey! Vertrau mir.« Ich lächelte meine beiden besten Freunde an. »Nest Lake ist magisch.« Zumindest war es das früher mal gewesen. Und genau deshalb waren wir hier. Dieser Abstecher sollte mir dabei helfen, mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal wirklich glücklich gewesen war. Bevor ich noch ein Album schrieb, musste ich mich davon überzeugen, dass es nicht unmöglich war, glücklich zu sein.

»Herrgott.« Nixon zog sich sein T-Shirt über den tätowierten Bauch. »Wo ist die Bar? Wo sind die Frauen?«

Ich nahm mir einen Moment, um meinen ältesten Freund zu begutachten. Und was ich sah, gefiel mir gar nicht. Ein blasses, erschöpftes Gesicht mit dunklen Ringen unter den Augen. Es war wieder Zeit, sich Sorgen um Nixon zu machen.

Die meisten Menschen freuten sich auf den Sommer, aber nicht er. Im Sommer mussten Quinn und ich immer auf Zeichen eines Zusammenbruchs bei Nix achten. Von Juni bis September – für gewöhnlich mitten in einer anstrengenden Tour – tauschte Nixon sein Bier gegen Whiskey ein. Er schlief zu viel und grübelte zu lange.

Es war gerade erst das Wochenende des Memorial Day, und er sah schon jetzt aus wie ausgehöhlt. Nicht gut.

Ich legte Nixon eine Hand auf die Schulter. »Stell dir das Ganze hier wie ein paar Tage frei vor, okay? Hier ist nichts weiter als Bäume und der See. Du kannst mir später dafür danken.«

Skeptisch beäugte er das flache Dach der Lodge. »Sind wir knapp bei Kasse? Sollte ich mir Sorgen machen?«

Beide starrten mich erwartungsvoll an, aber das war mir komplett egal. »Achtundvierzig Stunden«, teilte ich ihnen mit. »Kein Fernsehen, kein Handyempfang. Zieht einfach euer Badezeug an und springt in den See.«

»Scheiße, ich habe meine Badehose in Toronto verloren«, beschwerte sich Nixon. »Dieser verrückte Abend im Whirlpool mit den Drillingen. Ich kann froh sein, dass ich noch beide Eier habe. Ist ganz schön haarig geworden.«

»Genug von deinen haarigen Eiern«, scherzte ich. »Keine Badehose, kein Problem. Spring nackt rein. Oder lies was in der Hängematte. Wenn das Wochenende vorbei ist, wirst du mich anflehen, dass wir länger bleiben.«

Nix zuckte zusammen und schlug sich auf den Nacken. »Mücken? Fuck. Das werden die längsten zwei Tage meines Lebens.«

Ich war bereits losgegangen, aber ich drehte mich noch einmal um, um meinen besten Freunden noch eine Sache zu sagen. »Hört mal zu. Ich habe sieben der Songs auf Summer Nights einen Kilometer von dem Punkt entfernt geschrieben, an dem ihr gerade steht. Ohne diesen See würde der Begriff One-Hit-Wonder in jedem unserer Wikipedia-Einträge stehen. Also hört auf damit, meinen absoluten Lieblingsplatz auf dieser Welt schlecht zu reden.«

Und damit machte ich kehrt. Auf dem Weg zum See entdeckte ich zwei Kanus inklusive Schwimmwesten und Paddeln am Ufer. Ich ging an ihnen vorbei auf den privaten Steg der Lodge. Der grüne Duft von Maine war in der Brise deutlich wahrnehmbar.

»Ich habe nur ein Problem mit Maine«, sagte eine Stimme hinter mir. »Aber das ist berechtigt.«

Ich musste mich nicht umdrehen, um zu wissen, wer gesprochen hatte. Unser Tourmanager – und mein guter Freund – war der Einzige, der so einen großen, glatzköpfigen, muskulösen Schatten auf die Bretter des Stegs werfen konnte. »Und das wäre, Ethan?«

»Es gibt keine anderen schwarzen Typen in Maine.«

Ich schmunzelte. »Da gebe ich dir recht. Aber es ist nur ein Abstecher. Wir ziehen nicht hier ein.«

»Da bin ich aber erleichtert. Brauchst du irgendwas? Ich gehe rein, um die Zimmer einzuteilen.«

»Alles gut. So richtig gut, um ehrlich zu sein.«

»Freut mich zu hören. Um sieben gibt’s Abendbrot.«

Eine Stunde später überredete ich Quinn, mit mir über den See zu rudern. »Du musst nicht mal paddeln. Ich mache die ganze Arbeit.«

»Hey, bin dabei.« Sie schnappte sich ein Paddel und legte eine Schwimmweste an.

Dann wollte sie mir die andere Weste reichen, aber ich hob ablehnend eine Hand. »In dem Sommer, den ich hier verbracht habe, bin ich fast jeden Tag in diesem See geschwommen.« Ich kniff die Augen zusammen, weil mich das Licht auf der Wasseroberfläche blendete. »Am Morgen habe ich geschrieben. Und wenn ich gut vorangekommen bin, bin ich schwimmen gegangen und habe mich nachmittags in die Sonne gelegt. Wenn nicht, habe ich mich nach dem Mittag wieder an die Arbeit gemacht.«

»Klingt sehr diszipliniert«, sagte Quinn seufzend. »Sollte ich vielleicht auch mal versuchen.«

»Hat definitiv funktioniert!«

Vor fünf Jahren hatte ich besagten Sommer genutzt, um die Kontrolle über mein Leben zurückzuerlangen. Mich in den Wald zurückzuziehen hatte mehrere Zwecke erfüllt. Erstens hatte es mich aus der irren Szene in Seattle geholt. Dann – ohne Ablenkungen und mit nichts weiter als meiner liebsten Akustikgitarre und einigen leeren Notizblöcken als Beschäftigung in dem winzigen Bed and Breakfast – hatte ich endlich das längst fällige Album der Band geschrieben.

Nicht nur hatte dieses Album dann irgendwann Doppel-Platin bekommen, ich hatte außerdem den besten Sommer meines Lebens erlebt. Denn damit hatte ich mir ein für alle Mal bewiesen, dass ich es draufhatte. So war ich nicht nur ein weiterer Möchtegernstar in der Musikszene – ein Depp, der einfach nur Glück mit zwei Hits gehabt hatte, bevor er wieder in Vergessenheit geraten war. Ich war kein Versager. Jedenfalls nicht ausschließlich.

Jetzt hielt ich das Kanu am Rand des Sees fest. »Hüpf rein«, wies ich sie an. »Du sitzt vorn.«

Nachdem Quinn sich hingesetzt hatte, schob ich das Kanu an und kletterte vorsichtig in den hinteren Teil. Ich setzte mich und tauchte mein Paddel ins Wasser, um Richtung Westufer und der winzigen Stadt Nest Lake zu rudern. Nach nur wenigen Minuten kamen das öffentliche Dock und das B&B in Sicht, in dem ich das Zimmer gemietet hatte.

Alles ist genau hier passiert. Die schmale Tür auf der Rückseite von Mrs Wetzles Haus war mein Privateingang gewesen. Nachdem ich den Tag über geschrieben hatte, hatte ich für gewöhnlich meine Flipflops angezogen und war zum Schwimmen hinunter zum Steg gegangen. Am vierten Juli war ich hier mit meiner einzigen Freundin in Nest Lake nackt baden gegangen.

Allein bei der Erinnerung an diesen Abend schmerzte mir die Brust. Kein Wunder eigentlich, dass Songwriter so viel über Sommererinnerungenschreiben. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich noch immer die schwüle, warme Luft und die funkelnden Sterne in mir wachrufen.

Und die wunderschöne Kira. Sie war das Beste an dieser Erinnerung.

»Dreh dich um, damit ich mich ausziehen kann«, hatte sie an diesem Abend gesagt, während sie die Finger schon am Saum ihres T-Shirts gehabt hatte. Ich erinnerte mich noch genau, wie sie ausgesehen hatte: ihre Wangen vor Scham gerötet und ihre lieblichen Kurven von dem Licht der untergehenden Sonne perfekt eingerahmt.

Obwohl ich schwer versucht gewesen war, heimlich zu gucken, hatte ich mich gehorsam umgedreht. Kira war auf dieselbe Art hinreißend, wie Maine es war – frisch und unverdorben. Aber sie war tabu gewesen. Es war eine Ausnahme für mich gewesen, mit einer Frau »nur befreundet« zu sein. Aber genau das war ein weiteres Ziel dieses Sommers gewesen.

Damals war ich gerade frisch von meiner Supermodel-Freundin verlassen worden. Wir hatten die schlimmste Art von ungesunder Beziehung gehabt, und ich hatte mir, nur um mich besser zu fühlen, beweisen müssen, dass ich es zwölf Wochen aushalten konnte, ohne jemanden abzuschleppen.

Ich war fast erfolgreich gewesen.

Es war seltsam, aber jetzt konnte ich mich kaum noch an das Gesicht dieser Ex-Freundin erinnern. Kiras hingegen war in mein Gedächtnis eingebrannt. Ihre gebräunten Beine und ihre sonnige Persönlichkeit hatten mich vom ersten Moment an gereizt.

Aber ich war stark geblieben. Ich hatte ihr nicht dabei zugesehen, als sie sich an dem Abend am Steg ausgezogen hatte. Tatsächlich hatte ich den ganzen Sommer über nichts unternommen. Kein einziges Mal. Jedes Mal, wenn mein Blick von ihren glänzenden silbernen Augen abgewichen und auf der Rundung ihrer Brüste unter dem T-Shirt gelandet war, hatte ich mich beherrscht.

Natürlich war Gucken nicht gegen die Regeln gewesen. Nachdem wir also nackt ins Wasser geglitten waren, hatte ich Kiras im Mondlicht schimmernden Schultern und die Stelle, an der das Wasser zwischen ihre Brüste geflossen war, bewundert. Sie war mit Absicht tief unter der Wasseroberfläche geblieben, daher hatte ich nicht viel sehen können. Das Mysterium hatte die Anziehung nur umso mehr verstärkt. Ich hatte mich treiben lassen – so nah, dass ich sie hätte berühren können –, während die sanfte Strömung meine nackte Haut liebkost hatte.

Umgeben vom Wasser hatten wir beobachtet, wie das Feuerwerk auf der anderen Seite des Sees in den Himmel geschossen worden war und sich die farbenfrohen Explosionen auf der Wasseroberfläche gespiegelt hatten. Als es dann Zeit gewesen war, aus dem Wasser zu steigen – und nachdem mein Hirn mehrere Dutzend Ideen gehabt hatte, wie ich Kiras nackten Körper hätte würdigen können –, hatte ich sie darum gebeten, sich umzudrehen, während ich auf den Steg geklettert war.

Normalerweise hatte ich überhaupt kein Problem mit Nacktheit. Aber ich hatte Kira nicht sehen lassen wollen, welchen Effekt sie auf mich gehabt hatte. Sie hatte nicht wissen sollen, dass ich den ganzen Abend über unanständige Gedanken gehabt hatte. Mir die trockene Unterwäsche und die Khakishorts über den tropfnassen Körper zu ziehen, war mit einem steinharten Schwanz im Weg schwer gewesen.

»Jonas, das ist wirklich ein wunderschöner See«, sagte Quinn und unterbrach damit den Filmszene-Moment meiner Erinnerungen. »Ich verstehe, warum du noch mal herkommen wolltest.«

»Es sind die besten drei Monate meines Lebens gewesen. Ohne Quatsch.«

Einen Moment lang war sie still, und ich dachte, die Konversation wäre beendet. Aber dann stellte Quinn eine Frage: »Also … Warum hast du fünf Jahre damit gewartet, wieder herzukommen?«

Ich dehnte meinen Nacken, um noch die letzte Anspannung der Busfahrt abzuschütteln. »Weil ich ein verdammter Idiot bin«, sagte ich und ruderte auf den kleinen Strand zu. Das war die absolute Wahrheit. Falls Maine seine Magie verloren hatte, war es nicht die Schuld des Kiefernstaates. Sondern meine. Ich war zu dumm gewesen, um zu sehen, was sich genau vor mir befunden hatte.

Als wir am Ufer angekommen waren, zog ich das Kanu auf den kiesigen Sand. »Wir können das Boot einfach hierlassen. Das stört niemanden.«

»Wirklich?«

»Wirklich. So macht man das hier in der Walachei.«

Quinn lachte. »Zeigst du mir die Stadt?«

»Natürlich. Aber das wird nur ungefähr zehn Sekunden dauern.«

Ich bewunderte Quinns wohlgeformte Beine, während sie sich vorbeugte, um ihr Paddel im Kanu zu verstauen. Für das Spielen eines Schlagzeugs war erstaunlich viel Kraft nötig, und die Muskeln standen ihr gut. Vor allem in ihrem Bikinioberteil und den knappen Jeans-Hotpants.

Meine Drummerin und ich waren tatsächlich nur Freunde. Wir waren uns vor acht Jahren bei der Arbeit in einer Bar in Seattle begegnet. Vor Jahren – als ich von Jack Daniel’s sturzbesoffen gewesen war – hatte ich Quinn einmal geküsst. Das war genau die Art von dummem Verhalten, das eine gute Freundschaft ebenso wie eine gute Band ruinieren konnte.

Glücklicherweise hatten wir uns beide nach ungefähr fünf Sekunden Dummheit voneinander gelöst und uns anschließend nur angestarrt. Dann hatte ich in genau dem Moment: »Okay, nein«, gesagt, als Quinn ein »Bäääh« von sich gegeben hatte. Wir waren beide in Lachen ausgebrochen und hatten so etwas nie wieder versucht.

Gott sei Dank, denn ich war einfach impulsiver, als gut für mich war. Quinn und ich hätten als Paar niemals funktioniert. Zwei launische Künstler? Das war einfach keine gute Idee.

Außerdem scheute Quinn vor romantischen Beziehungen zurück. Sie war am glücklichsten, wenn sie Noten in ihren Notizblock kritzelte oder mit ihren Drumsticks, die sie nie abzulegen schien, einen Rhythmus klopfte.

Von dem öffentlichen Strand aus gingen wir links auf die Main Street. »Also …« Ich gestikulierte wie ein Fremdenführer. »Hier sehen Sie die Innenstadt der Metropole Nest Lake.«

Das einzige Lebewesen in Sicht war ein Golden Retriever, der am Straßenrand schlief. Als ich zu sprechen angefangen hatte, hatte er träge ein Auge geöffnet, um uns anzusehen.

»Es gibt ein Postamt, das jeden Tag etwa eine halbe Stunde geöffnet hat, aber versuchen Sie gar nicht erst herauszufinden, wann, denn das Schild ist seit 1986 nicht mehr erneuert worden. Und hier hätten wir das Kreemy Kone, in dem Sie bis neun Uhr Softeis genießen können. Das Kronjuwel befindet sich hier – der Lake Nest General Store –, in dem ich den ganzen Sommer über jeden Tag zu Abend gegessen habe, obwohl er eigentlich kein Restaurant ist. Und das war’s. Sie haben die ganze Stadt gesehen.«

Quinn hob den Finger, um die Autos zu zählen. »Vier.«

»Das ist sogar ziemlich viel. Eine richtige Menschenmenge wegen des Memorial Day.«

»Wow.« Sie lächelte. »Und gleich überfallen dich deine Fans, ich kann es förmlich spüren.«

Wie aufs Stichwort kam eine Frau mit einem Kanister Milch aus dem General Store. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, kam sie die Holztreppe hinab und ging in Richtung eines Autos. Sie stieg ein und fuhr los.

»Da waren es nur noch drei«, sagte ich seufzend.

Die Hauptstraße zu sehen versetzte mich in eine seltsame Tagträumerei. Trotz des Sonnenlichts fühlte ich mich, als hätte ich gerade einen sehr lebhaften Traum. Ich hatte so oft an diesen Ort gedacht, und jetzt war ich tatsächlich hier.

Verrückt.

»Ich kann nachvollziehen, warum du zum Schreiben hergekommen bist«, sagte Quinn. »Aber wie bist du überhaupt darauf gekommen?«

»Meine Mom ist als Kind öfter hergekommen. Auf einem der wenigen Fotos, die ich von ihr habe, steht sie auf der Veranda des General Store.«

»Ah«, sagte Quinn. Und weil sie wusste, dass ich nicht gern über meine Eltern sprach, beließ sie es dabei.

Ich hatte mit sieben meine Eltern verloren. Dass ich vor fünf Jahren hierhergekommen war, war ein Versuch gewesen, mich an mein Leben zu erinnern, bevor alles schiefgelaufen war.

Hatte es funktioniert? Ich schätzte schon. Aber die Wirkung hatte nicht lange angehalten. In letzter Zeit fühlte ich mich wieder genauso verloren.

Vor fünf Jahren war ich hergekommen, als das Album meiner Band überfällig gewesen war. Die Plattenfirma war wütend auf mich gewesen, also war Maine mir als guter Ort erschienen, dem Genörgel zu entkommen. Und meine glamouröse Freundin hatte mich gerade sitzengelassen. Eine Klatschzeitschrift hatte die Story darüber veröffentlicht, dass ich ihr fremdgegangen war. Darin hatten sie ein Foto von mir und einer Frau benutzt, mit der ich geschlafen hatte, nachdem wir uns getrennt hatten.

Ich war fünfundzwanzig Jahre alt gewesen und schon in einer Krise. Also war ich an diesen Ort gekommen, von dem meine Mutter mir immer erzählt hatte. Es war eines der wenigen Details über sie, an das ich mich noch erinnerte.

Ich hatte etwas Magie gebraucht, und genau die hatte ich hier in Maine gefunden.

»Gott, ich kann kaum glauben, dass solche Orte noch existieren«, sagte Quinn. »Können wir in den General Store gehen? Und danach will ich ein Eis.«

»Geh vor.« Ich folgte ihr die Holzstufen hoch, durch eine Gittertür und dann in den Shop. Der Geruch traf mich als Erstes. Es roch noch genau so wie damals – schwer und nach Moschus, Essiggurken, Salami und Sägespänen. Und es sah auch größtenteils noch so aus. An der Decke hingen alte, mit Ketten befestigte Soda-Lampen, auf denen sich mindestens ein Zentimeter Staub befand.

Und dazu kam noch, dass Kiras Vater an der Kasse stand und noch genauso grummelig aussah wie vor fünf Jahren. Der alte Mann fuhr einfach damit fort, uns zu ignorieren, denn er ignorierte die Sommergäste grundsätzlich. Und trotzdem gab es diesen Laden schon ewig, weil es im Umkreis von fünfzehn Kilometern keinen anderen gab.

Betrunken und melancholisch gestimmt hatte ich mir vor zwei oder drei Jahren endlich das Telefon geschnappt und genau diesen Laden angerufen. Mit diesem Anruf hatte ich viel zu lange gewartet, und ich hatte, schon bevor dieser mürrische alte Mann mit seiner rauen Stimme abgehoben hatte, gewusst, dass es hoffnungslos war.

»Ist Kira da?«, hatte ich gefragt, obwohl ich gewusst hatte, dass es unwahrscheinlich war. Keine Frau wartete zwei Jahre auf ein Lebenszeichen von dem Arschloch, das sie zurückgewiesen hatte. Außerdem hatte Kira immer gesagt, dass sie nach unserem magischen Sommer wieder zurück aufs College gehen würde.

»Sie sind nach Boston gezogen«, hatte der alte Mann mir erzählt.

Natürlich. Das hatte ich erwartet. Sie waren nach Boston gezogen.

Sind …

Zur Hölle, selbst damit hatte ich gerechnet. Kira war kein Single mehr. Warum auch?

In einem Hotelzimmer in Texas, Tausende Kilometer entfernt, hatte ich aufgelegt und mir noch ein Glas Scotch eingegossen. Aber ich hatte nie aufgehört, an Kira zu denken. Und das würde ich vermutlich auch nie.

Nur ein Bereich des Ladens sah jetzt vollkommen anders aus. Und obwohl ich das erwartet hatte, machte es mich dennoch traurig. Ihr Schild fehlte. Über einem der hinteren Tresen hatte damals ein geschnitztes Holzschild gehangen: KIRA’S CAFÉ. Ihre hausgemachte Spezialität war ein seltsamer kleiner Meat Pie gewesen, mit einem Durchmesser von etwa zwölf Zentimetern. Unter einer kunstvoll ausgeschnittenen Teigkruste waren Curry-Hähnchen oder Würstchen mit Paprika versteckt. Es gab auch eine Version mit Ei und Schinken, die ich besonders gern mochte. In meiner ersten Woche in Maine probierte ich jeden Abend eine andere Sorte. In der zweiten Woche wiederholte ich das.

So waren wir Freunde geworden. Nachdem ich neun Tage hintereinander ihr pikantes Gebäck gegessen hatte, fing Kira an, Mitleid mit mir zu haben. Also überraschte sie mich mit neuen Gerichten. Einmal machte sie mir eine große Auflaufform Lasagne. Am nächsten Abend grillte sie mir einen Bacon-Cheeseburger, während ich wartete.

Im Laufe des Sommers wurde sie sogar noch kreativer. Die gebratene Seeforelle schmeckte so frisch, dass ich hätte weinen können.

»Du bist der loyalste Kunde, den ich je hatte«, sagte sie. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mir die Form ihres Lächelns eingeprägt und die Rötung ihrer Wangen, wenn ich ihr Essen lobte.

Aber ich machte mich nicht an sie ran. Kein einziges Mal.

Am Anfang war es einfach, sich zurückzuhalten. Ich war nach Nest Lake gekommen, um allein zu sein und mich von Frauen fernzuhalten. Der Artikel in der Klatschzeitschrift ärgerte mich immer noch. Ablenkungen konnte ich nicht gebrauchen. Ich wollte nur das Album fertigstellen oder bei dem Versuch sterben.

Ab der Hälfte des Sommers wurde mein Keuschheitsgelübde allerdings um einiges schwieriger. Die Zeit mit Kira entwickelte sich von einer simplen abendlichen Begegnung zu einer echten Freundschaft. Und jede Nacht ging ich mit dem Echo ihres Lachens zu Bett und fragte mich, wie sich wohl ihre Haut anfühlen würde, wenn sie sich an meiner rieb.

Aber ich war jung und dumm gewesen. Zu der Zeit hatte ich es einfach als Geilheit abgeschrieben. Fünf Jahre später wusste ich es besser.

Schon lange vor dem Labor Day damals hatten Kiras strahlendes Lächeln und ihre intelligenten Augen mein Herz gestohlen. Und die Kurven ihres Körpers hatten sich in jeden meiner Träume geschlichen. Aber ich gab nie nach und machte mich nicht an sie ran. Nicht nur aus Sturheit, sondern auch, weil Kira etwas Verletzliches an sich hatte. Ich hätte nicht genau sagen können, was es war, aber es hielt mich zurück. Sie einfach wie einen meiner weiblichen Fans flachzulegen, hätte sich falsch angefühlt.

Außerdem bestand das Risiko, dass sie mir kein Abendessen mehr machte, wenn ich sie verführt hätte. Und dann hätte ich mich mit der elenden Verpflegung zufriedengeben müssen, den die Inhaberin des B&B als Essen bezeichnete.

Zusammen hatte das alles irgendwie gereicht, um selbst einen Idioten wie mich in Schach zu halten.

»Erde an Jonas«, neckte mich Quinn jetzt. »Lass uns ein oder zwei Zeitschriften mitnehmen. Und dann will ich Softeis.«

Ich hatte Kiras alten Tresen angestarrt, während die Erinnerungen mich überflutet hatten. Aber dort, wo einmal ihre Delikatessen gestanden hatten, lag jetzt nur angsteinflößendes, in Folie eingewickeltes Plundergebäck. Das war nicht besser als das Essen an einer Tankstelle.

Es stimmte, was gesagt wurde. Man konnte niemals wieder zurück.

Also wandte ich mich dem Zeitschriftenständer zu, während ich meine Enttäuschung herunterschluckte.

2

Kira

Ich hielt vor dem General Store und parkte das Auto. Auf der dreistündigen Fahrt von Boston hierher waren meine beiden Mitfahrer eingeschlafen. Mein Bruder saß auf dem Beifahrersitz und hatte den Kopf auf dem an das Fenster gelehnten Oberarm abgelegt. Und als ich mich zu meiner Tochter in ihrem Kindersitz umdrehte, flackerten ihre Augenlider kurz, bevor sie sich wieder beruhigten.

Als ich die Scheibe meines Fensters herunterließ, wachte Adam auf und schüttelte den Kopf. »Urgh. Wir sind da«, brummte mein Bruder.

»Es sind nur zwei Tage. Du hast es bis jetzt noch immer irgendwie überlebt.«

»Da hast du vermutlich recht.« Er dehnte seinen Nacken.

Ich sah ihn genauer an. »Du siehst echt fertig aus, Adam. Alles okay?« Er hatte mir erzählt, dass er dieses Wochenende etwas mit mir besprechen wollte, und jetzt fragte ich mich, worum es ging.

»Alles gut. Bin nur müde.« Er schnallte sich ab.

»Dad wird die ganze Zeit ein Baseballspiel auf voller Lautstärke laufen haben. Solange du das Bier fließen lässt, wird es schon laufen.«

»Ich weiß.« Er seufzte. »Aber wie hältst du das aus? Die ganzen Seitenhiebe wegen deiner Entscheidungen. Und meiner.«

»Ich sage mir immer wieder, dass er uns gegenüber zwar ein Griesgram ist, aber gut zu Vivi. Willst du ihm sagen, dass wir hier sind, oder soll ich?«

Nachdenklich sah Adam hoch zum Laden. »Ich bringe es einfach hinter mich.« Er öffnete die Beifahrertür. »Dabei kann ich direkt mein erstes Sixpack Bier kaufen.«

»Guter Plan.«

»Ich will auch mit!«, rief Vivi vom Rücksitz aus.

»Oh, du bist ja wach!« Ich drehte mich wieder um. Meine Tochter nestelte an den Gurten ihres Sitzes, um sich zu befreien.

Adam öffnete ihre Tür. »Na los, Prinzessin. Statten wir dem Griesgram einen Besuch ab.«

»Du meinst Grandpa!«, korrigierte meine Kleine.

»Genau. Habe ich doch gesagt.« Er hob sie hoch und setzte sie sich auf die Hüfte.

»Ich lade die Sachen aus und komme euch dann holen«, schlug ich vor. Das Haus lag kaum einen halben Kilometer entfernt.

»Wir gehen das Stück«, entgegnete Adam. »Vivi ist schon ein großes Mädchen.«

»Okay. Dann bis gleich.«

Ich sah zu, wie Adam meine Tochter die Holztreppe auf die Veranda des Ladens hinauftrug, bevor ich wendete und in die Einfahrt beim Postamt einbog. Während ich langsam am Kreemy Kone vorbeifuhr, fiel mir ein Paar auf, das dort am Campingtisch saß. Die Frau schaute zu mir herüber, der Mann las in einer Zeitschrift. Doch dann – vielleicht weil er meinen Blick spürte – sah er lächelnd auf. Vor Überraschung blieb ihm der Mund offen stehen.

Mir hingegen blieb das Herz stehen.

Jonas Smith saß einfach dort auf einer Bank. Nach den fünf Jahren erschien er mir kaum noch real. Er war in meinen Gedanken zu einer mythologischen Figur geworden. Als ich ihn damals kennengelernt hatte, hat er sich John Smith genannt. Er hatte mir einen falschen Namen genannt. Aus einem falschen Namen war auch eine falsche Freundschaft entstanden, die einen ganzen Sommer angedauert hatte.

Am allerletzten Abend hatte er mir noch ein Baby gemacht.

Dann hatte John Smith die Stadt verlassen, und ich hatte ihn nie wieder gesprochen oder auch nur sein Gesicht gesehen. Nicht persönlich jedenfalls. Erst eineinhalb Jahre später blickte er mir von meinem Computerbildschirm aus auf einer Werbekampagne für ein neues Album namens Summer Nights entgegen.

Und jetzt saß er ganz lässig in Shorts und T-Shirt an einem Campingtisch. Wie ein Geist aus meiner Vergangenheit.

Fassungslos drückte ich aufs Gas. Aber im Rückspiegel sah ich, dass er aufgestanden war und meinem Auto folgte.

Die Frau, die bei ihm war, rief ihm etwas nach. Aber er reagierte nicht darauf. Stattdessen lief er mir hinterher.

Alles was ich dachte, war: Fahr nach Hause. Aber John – oder Jonas – wusste natürlich, wo mein Vater lebte. Adam war vermutlich auch schon auf dem Weg dorthin. Mit Vivi.

Oh Gott.

Ich war vielleicht fünfzig Meter gefahren, bis zu der Stelle, an der die Straße nach links und um den See herum führte. Aber ich bog nicht ab. Stattdessen hielt ich vor dem Strand an. Ich stieg aus und schloss die Tür. Dann hörte ich das Klatschen von Flipflops auf mich zukommen.

»Kira«, sagte er mit flehender Stimme.

Mit wild schlagendem Herzen entfernte ich mich von ihm und ging den kleinen Abhang zum Steg hinunter. Meine Kehle wurde ganz trocken. Ich wusste, dass ich mich nicht rational verhielt. Wenn ich ihm nicht davonschwimmen wollte, bewegte ich mich gerade auf eine Sackgasse zu.

Allerdings gab es ohnehin kein Entkommen. Der vernünftige Teil meines Gehirns wusste, dass ich der Wahrheit ins Auge sehen musste. Wenn er schon hier in Maine war, dann musste ich ihm die Wahrheit erzählen, auch wenn er mir das Herz gebrochen hatte.

»Kira.«

Bei dem Klang seiner Stimme schloss ich die Augen. Unter dem Steg plätscherte sanft das Wasser. Wenn ich mich jetzt umdrehte, war er vielleicht gar nicht wirklich da. Ich hielt den Atem an.

Und genau da fing er zu pfeifen an. Die ersten vier Takte von You Are My Sunshine.

Auf meinen Armen breitete sich Gänsehaut aus.

»Du erinnerst dich noch«, sagte ich keuchend und wirbelte herum. Fünf Jahre später, und er wusste immer noch, dass er mich warnen musste. Er hatte nicht vergessen, dass ich mich immer furchtbar erschreckte, wenn er – oder jemand anders – sich mir von hinten näherte.

Die unbedeckten muskulösen Arme ausgestreckt, kam er auf mich zu. Sein Haar trug er jetzt kürzer, aber es hatte immer noch den wunderschönen sandblonden Farbton. »Natürlich erinnere ich mich noch, Sweetness. Schleich dich niemals an Kira ran.«

Und da füllten sich meine Augen mit Tränen.

»Nicht doch«, sagte er zärtlich. Er war jetzt ebenfalls auf dem Steg, so nah, dass ich ihn fast berühren konnte. Er bedachte mich mit seinem warmen, blaugrünen Blick. »Tut mir leid, dass ich dich so überfalle. Kriege ich keine Umarmung?«

Herrgott, ich musste mich wieder in den Griff bekommen. Ich machte einen Schritt auf ihn zu, und er legte die Arme um mich. Er roch noch genau wie damals, nach Seife und Sonnenschein.

Es tat so weh, ihn wiederzusehen. Es war unerträglich, ihm in den Armen zu liegen.

»Gott, habe ich dich vermisst«, sagte er.

Und ich konnte darauf absolut nichts erwidern. Mein Herz drängte mich dazu, mich an ihm festzuhalten und ihn nie wieder loszulassen. Ihm zu gestehen, dass ich jeden einzelnen Tag an ihn gedacht hatte.

Aber ich tat es nicht. Denn ich war auch immer noch so wütend.

Von dieser Wut zehrend, schaffte ich es, ein wenig Willenskraft aufzubringen und zurückzutreten, um mich aus seiner Umarmung zu lösen. »Wenn ich dich frage, wie es dir geht, welchen Namen soll ich dann benutzen? Jonas oder John?«

Ein bestürzter Ausdruck legte sich auf sein attraktives Gesicht. Für einen Moment schloss er die Augen, bevor er sie wieder öffnete und mich mit seinem türkisfarbenen Blick fesselte. »Kira, das tut mir entsetzlich leid. In diesem Sommer wollte ich das einfach alles hinter mir lassen.«

Ich schluckte. »Tatsächlich? Aber ich habe dir alle meine Geheimnisse anvertraut. Das muss ziemlich lustig für dich gewesen sein.«

Er blinzelte überrascht, so als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. »Nein, Kira. Niemals.«

Diese Reaktion hatte ich nicht erwartet. Und plötzlich war es sehr schwer für mich, seinem Blick standzuhalten. Ich hatte die letzten Jahre damit verbracht, meine Vorstellung von ihm den Bildern in Us Weekly anzupassen. Das Problem dabei war aber, dass der Kerl vor mir auf dem Steg nicht aussah wie der leichtfertige Star aus diesen Artikeln. Das hier war derselbe Mann, den ich vor Jahren kennengelernt hatte. Sein Gesicht war offenherzig und jugendlich, seine Stimme volltönend und sanft. Sein Blick schien mich überall gleichzeitig zu berühren, was mich erröten ließ und mich ganz durcheinanderbrachte.

Er kam wieder auf mich zu und legte die Arme um mich. Und ich ließ es zu. Ich atmete ihn tief ein, und mein Herz fing zu galoppieren an. Als ich ihm die Arme um den Rücken legte, spürte ich, wie er die Lippen auf meinen Haaransatz drückte. Es war ein unschuldiger Kuss zwischen alten Freunden.

Zumindest hätte er das sein sollen. Aber das Gefühl seiner Lippen auf meiner Haut schickte einen Stromstoß durch meinen Körper. Als ich mein Gesicht anhob, um ihm zu begegnen, tat ich dies nicht einmal bewusst. Es war vielmehr das unvermeidbare Ergebnis seiner fünfjährigen Abwesenheit und der Anziehungskraft der Erde.

Ich hob das Kinn, und seine Lippen glitten sanft an meinem Wangenknochen entlang. Auch da hätte es vielleicht noch enden können. Er hätte mich loslassen können, aber das tat er nicht. »Sweetness«, flüsterte er.

Und dann? Sein Mund wanderte an meinen Mundwinkel und verweilte dort. Quälte uns beide.

Aber ich konnte nicht widerstehen. Also lehnte ich mich ein kaum messbares Stück vor. Da entrang sich ein tiefer Laut seiner Kehle, und er verschmolz seinen Mund mit meinem, während seine Hände sich um meinen unteren Rücken schlangen. Mit einem Seufzen neckte er meine Lippen, bis ich sie öffnete, damit seine warme Zunge meiner begegnen konnte.

In den darauffolgenden Augenblicken verlor ich mich in ihm. Ich schmiegte mich an seinen Körper und dachte an nichts mehr, außer an die Bewegung seiner Zunge an meiner und das Gefühl seines Atems auf meinem Gesicht. Seine starken Arme hielten mich fest im Griff. Der Klang meines eigenen Keuchens brachte mich schließlich wieder zurück auf den Boden der Tatsachen. Und mir wurde bewusst, dass jemand am Strand in unserer Nähe stand und uns beobachtete.

»Oh mein Gott, deine …« Entsetzen hielt mich davon ab, den Satz zu beenden.

Er sah über die Schulter nach hinten, ohne mich loszulassen. »Meine Drummerin«, sagte er schnell. »Wir sind alte Freunde.«

Ich drückte ihm die Hände gegen die Brust, bis er einen Schritt zurücktrat. Mir war heiß und ich war verwirrt. Ich brauchte Sauerstoff und Zeit zum Nachdenken. »Hör mal … Wir müssen reden.« Ich konnte ihm in diesem Moment nicht von meinem Geheimnis erzählen. Nicht mit Publikum. Und nicht, ohne vorher geübt zu haben. »Morgen«, fügte ich hinzu.

»Okay«, sagte er mit tiefer, ruhiger Stimme. »Das würde mir gefallen.«

»Ähm, zum Mittagessen?«, fragte ich und hielt den Blick auf meine Schuhe gerichtet. Ich hatte immer noch Schwierigkeiten zu atmen. Es war nicht mehr genug Sauerstoff in der Atmosphäre. Vielleicht würde es nie wieder genug davon geben.

»Wir könnten uns auf der Veranda des Ladens treffen«, schlug er vor.

Da hatten wir immer zusammengesessen. Aber der Ort war viel zu öffentlich für das Gespräch, das wir führen mussten. »Nein … Wo übernachtest du? Im B&B?« Allein bei dessen Erwähnung lief ich schon rot an.

Auch sein Blick loderte. »Nein. Meine ganze Band ist über das Wochenende in der Nest Lake Lodge. Ich habe sie alle dazu gebracht, mit mir herzukommen.«

»Okay.« Ich schluckte. »Kann ich mittags vorbeikommen?«

»Ich bereite ein Picknick für uns vor«, sagte er mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht.

Gott, war er schön. Ein Picknick mit John. In den letzten Jahren hatte es so viele Tage gegeben, an denen mich nur der Ausblick darauf, eine Stunde mit ihm zu verbringen, durch jede Prüfung getragen hätte. Aber unser Wiedersehen würde wahrlich eine Prüfung sein. Für uns beide. Das sollte ich im Hinterkopf behalten. »Das wäre gut.«

»Bis morgen, Sweetness«, sagte er.

Ich trat um ihn herum und zwang mich zu gehen. Mein Herz raste, und mein Gesicht war heiß. »Ich werde da sein.«

Als ich den Steg verließ, spürte ich den Blick der anderen Frau auf mir. Ich hätte ihr winken oder sie anlächeln, mich ihr sogar vorstellen sollen. Aber in dem Moment konnte ich diese Höflichkeit einfach nicht aufbringen. Also ging ich zu meinem Auto zurück und drehte mit bebenden Händen den Schlüssel in der Zündung. Ohne noch einmal zum Strand zu schauen, fuhr ich los.

Mit leerem Blick parkte ich das Auto in der zugewucherten Kieseinfahrt meines Vaters. Die Schlüssel ließ ich auf dem Sitz liegen und zwang mich aus dem Wagen und die knarzenden Holzstufen des Hauses meiner Kindheit hinauf. Als ich die Tür zur Veranda öffnete, sahen mir Vivi und Adam von den Schaukelstühlen aus entgegen.

»Mommy ist zu Hause!«, sagte mein Bruder.

»Wir haben Käse gekauft«, sagte Vivi. »Und Cracker.«

»Danke, Onkel Adam«, brachte ich heraus. Mein Bruder war mein Fels. Ohne ihn wären die letzten Jahre unmöglich gewesen.

»Was ist los?«, fragt er schnell.

Ich schüttelte nur leicht den Kopf. »Später.«

»Du hättest vor uns hier ankommen sollen«, drängte er.

»Ich weiß. Ich habe jemanden getroffen. Ich hole jetzt unser Zeug.« Ich lief nach draußen zum Auto zurück und fühlte mich immer noch unsicher auf den Beinen. Wieder außer Sichtweite meiner Familie, lehnte ich mich mit dem Rücken an den Wagen und beugte mich dann vor, um mich mit zitternden Händen auf den Knien abzustützen.

Atme, wies ich mich an. Es war schon Jahre her, dass ich das letzte Mal eine Panikattacke gehabt hatte, aber jetzt gerade war ich kurz davor. Ich stellte mich wieder aufrecht hin und atmete langsam ein. Der Trick dabei war, dass ich nur meine Herzfrequenz senken musste, um den Kreislauf zu durchbrechen.

Ein schneller Herzschlag überzeugt Ihr Gehirn davon, dass etwas nicht in Ordnung ist, hatte ein Therapeut mir vor Jahren erklärt. Und im Gegenzug sagt Ihr Gehirn Ihrem Herzen, dass es sich zur Flucht bereitmachen soll. Was wiederum Ihre Herzfrequenz noch weiter ansteigen lässt. Mit anderen Worten, Angst erzeugt Angst.

Mit zwanzig hatte ich jemanden gebraucht, der mir dabei half, meine Panik unter Kontrolle zu bekommen. Zu der Zeit war das Schlimmste, was ich getan hatte, einfach gewesen, dass ich zur falschen Tageszeit über den falschen Parkplatz gegangen war. Und für den Fehler hatte ich bezahlt.

Aber jetzt mit fünfundzwanzig hatte ich einige Fehler mehr auf dem Buckel.

Und ich würde nun für sie alle zahlen müssen.

Um mich zu beruhigen, zählte ich die Kiefern entlang der Straße. Es waren neun. Zwischen ihren geraden Stämmen blitzte in der Ferne das glitzernde Wasser des Nest Lake hindurch.

Hier in diesem Haus, von dem aus man das Wasser nur undeutlich sehen konnte, war ich aufgewachsen. Hätte mein Vater ein Haus auf der anderen Seite der Straße mit Zugang zum See gekauft, wäre der Wert des Grundstücks um das Zehnfache gestiegen.

Aber so lief nun mal das Leben. Manchmal bestimmte schon eine schmale Landstraße den Unterschied zwischen Reichtum und einem Leben, in dem man gerade so über die Runden kam.

Nach ein paar Minuten atmete ich schon etwas leichter. Ich holte unsere Reisetaschen aus dem Auto und schleppte sie rüber zum Haus. Ich würde wieder mein Pokerface aufsetzen müssen, um das Familienritual hier im Haus meines Vaters zu überstehen. Auch wenn ich mit den Gedanken einen halben Kilometer entfernt beim General Store sein würde. Dort hatte alles angefangen.

Es war kurz vor Ladenschluss gewesen, als er das erste Mal in den Laden gekommen war, und ich war allein gewesen. Da John Sneakers getragen hatte und so freundlich gewesen war, die Tür nicht zuknallen zu lassen, hatte ich ihn beim Hereinkommen nicht gehört. Als er mich gegrüßt hatte, hatte ich mich so erschrocken, dass ich ein Einmachglas mit eingelegten Zwiebeln fallen ließ und es auf dem Boden zersprang.

»Das tut mir schrecklich leid«, sagte er, bevor er mir half, alles aufzuräumen.

Ich war so durcheinander, dass ich ihn an diesem ersten Abend gar nicht richtig ansah. Während mein Herz vor unnötiger Sorge laut pochte, verkaufte ich ihm seinen ersten Meat Pie und eine Limonade.

Aber selbst wenn ich ihn richtig angesehen hätte, hätte ich ihn nicht erkannt. Ich war nicht die Art Mädchen, das Rocksongs im Radio viel Beachtung schenkte oder den Leuten, die diese produzierten.

Nach diesem Desaster kam er allerdings immer pfeifend in den Laden. Immer wenn ich den ersten Teil von You Are My Sunshine hörte, wusste ich, dass er zum Abendessen hereingekommen war.

Nach einer Woche fühlte ich mich wohl genug, um ihm mitzuteilen, dass ich die Vorwarnung zu schätzen wusste. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr mir das hilft. Ich bin letzten Herbst überfallen worden. Und obwohl es jetzt schon fast ein Jahr her ist, schrecke ich jedes Mal hoch, wenn sich jemand von hinten anschleicht.«

Seine türkisfarbenen Augen weiteten sich vor Schreck. »Scheiße, das tut mir leid. Du bist hier in Nest Lake überfallen worden?«

Ich lachte. »Kannst du dir das vorstellen? Nein, das war in Boston, auf dem Parkplatz bei der Uni.«

John rieb sich mit den Fingerknöcheln der einen Hand über den Bart, in seinem markanten Gesicht war immer noch Sorge zu lesen. »Das ist echt total mies.«

»Das ist es wirklich gewesen.« Ich wechselte das Thema. »Ich habe heute Whoopie Pies gemacht. Möchtest du einen zum Nachtisch?«

»Ja, absolut. Was auch immer das ist. Klingt unanständig.«

Da wurde ich rot, weil meine Schwärmerei für ihn bereits angefangen hatte. »Du weißt nicht, was Whoopie Pies sind? Die offizielle Süßigkeit von Maine? Die gibt’s hier doch überall. Eigentlich schmecken sie schrecklich, aber das hast du nicht von mir.«

»Du willst, dass ich etwas Schreckliches esse?« Seine strahlenden Augen funkelten.

»Ich sagte, eigentlich schmecken sie schrecklich. Meine sind natürlich ganz exquisit. Das solltest du wissen.« Es überraschte mich selbst, dass ich mit ihm flirtete. Es war schon so lange her, dass mir danach gewesen war, mit irgendjemandem zu flirten.

Als ich ihm die Tüte mit dem Essen über die Theke reichte, griff er sofort hinein und schnappte sich den obersten Whoopie Pie. »Mmm«, machte er nach einem Bissen. »Süß.«

»Es ist aber nicht zu süß«, argumentierte ich. »Die meisten sind es, aber meine haben dunkle Schokolade und Frischkäse als Frosting. Für das gewisse Extra.«

Er leckte sich die Lippen. »Der Pie ist perfekt. Du bist süß, Sweetness.« Er zwinkerte mir auf dem Weg nach draußen noch einmal zu.

Und dieses unanständige Zwinkern stellte seltsame Dinge mit mir an.

Danach nannte er mich immer mal wieder »Sweetness«. Der Mann war ein Charmeur. Ich freute mich immer so auf seine Besuche, dass ich einen Weg fand, sie in die Länge zu ziehen. Ein Ausflug auf unseren staubigen Dachboden zu Hause brachte einen alten Spieltisch und zwei Stühle hervor, die ich vor dem Laden auf der Veranda aufstellte.

Ich war zu schüchtern, um ihm deutlich zu machen, dass ich das nur für ihn tat. Aber er durchschaute es sofort. Von da an aß er sein Abendbrot auf der Veranda, anstatt es auf sein Zimmer bei Mrs Wetzle mitzunehmen. Wenn ich den Laden um acht Uhr schloss, saß er noch dort, starrte in die Dunkelt hinaus und lauschte den Grillen.

»Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte ich, als ich ihn das dritte Mal dort auf der Veranda antraf, wo er sich eine Stunde nach seinem Abendbrot noch immer entspannte.

»Klar.«

»Wenn du zum B&B zurückgehst, könnten wir dann zusammen gehen?« Ich war nervös, als ich diese Frage stellte, also stolperten mir die Worte nur so aus dem Mund. »Seit Jahren hat es hier keine … Überfälle mehr gegeben. Aber ich habe trotzdem Angst. Und ich habe den Typen vom Kreemy Kone schon ein paarmal gefragt, ob er mich begleitet. Aber er denkt, dass ich ihn anbaggere.«

Da lachte John. »Der Teenager, der dieses Metallica-T-Shirt mit den abgeschnittenen Ärmeln trägt? Der sollte es aber besser wissen.«

»Müsste man meinen.« Ich lächelte ihn an, um meine eigene Verlegenheit zu überspielen.

»Ich helfe gern«, sagte er und stand auf.

Und so nahm unsere Freundschaft ihren Anfang. Auch wenn er verdammt gut aussah, mit seinen vom Wind zerzausten Haaren und dem sündhaften Mund. Und das, obwohl er seinen Bart den ganzen Sommer über wachsen ließ. So ein unglaubliches Maß an Attraktivität war nicht leicht zu trüben.

Schon bevor aus Juni Juli wurde, fing ich an, ihn zu verehren. Allerdings gingen wir ausschließlich freundschaftlich miteinander um, auch wenn unsere Gespräche von Abend zu Abend länger wurden. Anstatt nach Ladenschluss nach Hause zu gehen, blieb ich mit ihm an dem Tisch sitzen. Manchmal kaufte er ein Sixpack Bier, das wir anschließend auf der Veranda austranken. Wir verbrachten Stunden damit, über belangloses Zeug und unser Leben im Allgemeinen zu reden.

Natürlich ließ John/Jonas einige sehr bedeutsame Dinge aus. Aber am Anfang behielt auch ich ein paar Knaller für mich.

Und trotzdem mangelte es uns nie an Themen. Ich erzählte ihm, dass ich Hospitality Management studierte. »Obwohl ich das Wort hasse«, sagte ich kichernd. Kichernd! Wie ein Schulmädchen. Aber es fiel mir schwer, in seiner Nähe die Ruhe zu bewahren. »Ich will irgendwann mal ein Restaurant eröffnen.«

»Wenn du das machst, dann werde ich zum Essen kommen«, versprach er.

Er erzählte mir, dass er Komponist in Seattle war. Das erklärte die Gitarrenklänge, die am Morgen oft durch mein Fenster hereinwehten. Oder noch spät in der Nacht. Er hatte die wunderschönsten Hände, mit langen, geschmeidigen Fingern. Ich wollte ihn so unbedingt spielen sehen, aber er schlug es nie vor, und ich war zu feige, um zu fragen.

Selbst wenn ich genug Mut aufgebracht hätte, um ihn um ein Privatkonzert zu bitten, hätte ich niemals gewusst, dass der Mann, der die Gitarre spielte, bereits vom Rolling Stone den Spitznamen »Goldjunge«verliehen bekommen hatte. Oder dass sein erstes Album mit den frühen Arbeiten von U2 verglichen worden war.

Er war einfach ein Kerl namens John, für den ich schwärmte.

An einem Abend kaufte er einen Satz Spielkarten. Und so fingen wir an, Rommé und Canasta auf dem klapprigen Tischchen zu spielen. Irgendwie schafften es die Kartenspiele, mir alle meine Geheimnisse zu entlocken. Ich erzählte ihm von meinem On-Off-Highschool-Freund, der bald von einem zweijährigen Einsatz in Afghanistan zurückkommen sollte. Und dass ich nicht sicher war, ob ich wieder mit ihm zusammenkommen wollte. Aber ich zog es in Erwägung.

Und John erzählte, dass er gerade von seiner Freundin verlassen worden war.

»Sie … hat dich verlassen?«, fragte ich ungläubig. Selbst als ich noch nicht wusste, dass der Mann vor mir ein Rockstar war, war es für mich unvorstellbar, dass eine Frau ihn zurückwies. Er war nicht nur unfassbar sexy, sondern hatte auch noch so ein Leuchten in den Augen, das ihn zu etwas ganz Besonderem machte. Er war klug, warmherzig und lustig. Wie konnte eine Frau sich davon abwenden?

»Na ja, ich bin ein richtiger Mistkerl gewesen«, gab er mit gesenkter Stimme zu.

»Vielleicht ist dir nur mal ein Ausrutscher passiert?«, fragte ich, weil ich an seiner Stelle verlegen war.

»Nein. Ehrlich, ich habe harte Zeiten durchgemacht. Ich hätte mich auch verlassen. Ich weiß nicht mal, ob sie mich je geliebt hat.«

Ich war perplex. »Aber warum …«

»Denke ich dann an sie?« Er lächelte reumütig. »Weiß nicht. Vielleicht will ich einfach nicht der Scheißkerl sein, als den sie mich darstellt. Vielleicht will ich sie anrufen, wenn ich wieder zu Hause bin, nur um sie wissen zu lassen, dass ich nicht der gedankenlose Aufreißer bin, für den sie mich hält.«

»Vielleicht nimmt sie dich zurück«, sagte ich. Und er zuckte einfach mit den Schultern, als spiele es keine Rolle.

Anschließend achtete ich immer darauf, die Gesprächsthemen frei von Freundinnen und Sex zu halten. Ich wollte nicht, dass er mir meine Schwärmerei an der Nasenspitze ansah.

Jeden Abend nach unserer Partie Karten oder einem Spaziergang bei Mondlicht den See entlang begleitete er mich noch zur Haustür und kamen dabei immer am B&B vorbei. Manchmal saß Mrs Wetzle auf der Veranda, und mir gefiel gar nicht, wie die alte Dame uns anstarrte. Dadurch fühlte ich mich seltsam schuldig. So als wäre ich wieder ein Teenager und noch zu spät draußen.

»Sie mag mich nicht«, flüsterte John. »Sie hat tatsächlich gesagt: ›Wenn ich gewusst hätte, dass Sie Musiker sind, hätte ich Ihnen das Zimmer nicht vermietet.‹«

»Das ist seltsam.«

»Ja. Ich meine … Ist ja nicht so, als würde ich da Schlagzeugsoli einüben, weißt du? Es ist nur ein bisschen Gitarrengeklimper hier und da.«

Ich musste an mich halten, um nicht zuzugeben, wie sehr ich es mochte, wenn die nächtliche Brise die Klänge seiner Gitarre hereinwehte. Ich musste schließlich noch meinen Stolz bewahren. »Sie ist etwas voreingenommen«, flüsterte ich stattdessen.

Und so war es auch. Ich hatte Mrs Wetzles Vorurteile selbst erlebt.

Als ich mich nach dem Überfall entschieden hatte, ein Semester freizunehmen, hatte ich angefangen, meinem Vater mit dem Austragen von Lebensmitteln zu helfen. Meine hässliche Geschichte hatte schrecklich schnell die Runde gemacht, wie das immer so ist. Das erste Mal, als ich Mrs Wetzle ihre Lieferung gebracht hatte, hatte die alte Dame nach meinem Handgelenk gegriffen und gesagt: »Du musst lernen, in der großen Stadt vorsichtiger zu sein.«

Ich hatte mich auf eine Weise geschämt, die ich nicht einmal hatte benennen können.

»Ich glaube, sie macht mir absichtlich schlechtes Mittagessen«, beschwerte John sich. »Sie hofft sicher, dass ich dann gehe.«

Da musste ich lachen. »Nimm es nicht persönlich. Sie ist bekannt dafür, schlecht zu kochen. Es gibt nur eine Ausnahme.«

»Wirklich? Was ist die Ausnahme?«

Wir waren bei meiner Veranda angekommen, was bedeutete, dass ich allein in das schlafende Haus gehen musste. Aber wir standen noch einen Moment da, um unser Gespräch zu Ende zu bringen. »Sie macht sehr leckeres Popcorn mit Sirup. Zur Weihnachtszeit bringt sie allen Nachbarn welches vorbei.«

John verschränkte die Arme vor der muskulösen Brust und lächelte mich an. »Vielleicht macht sie mir ja welches, wenn ich im September abreise. Aber ich werde nicht allzu sehr damit rechnen.«

Ich dankte ihm fürs Nachhausebringen. Und er winkte noch freundlich, bevor er die Verandatreppen hinunterging.

Das hatte er jeden Abend so gemacht, außer an dem einen, der mein Leben verändert hatte.

Und was da passiert war, war nicht einmal seine Entscheidung gewesen. Das ganze Drama war allein mir zuzuschreiben.