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Das mit uns fühlt sich richtig an. Wir werden uns immer richtig anfühlen
Torwart Mike Beacon ist eine Legende auf dem Eis. Seit einem schweren Schicksalsschlag läuft es bei dem jungen alleinerziehenden Vater privat allerdings weniger gut. Doch als Lauren Williams die Brooklyn Bruisers während der Play-offs als Office-Managerin begleitet, wittert er seine zweite Chance bei der Frau, mit der er die schönste Zeit seines Lebens verbracht hat. Aber Lauren hat sich geschworen, die Grenze zwischen Job und Privatleben kein zweites Mal zu überschreiten. Auch wenn das Prickeln zwischen ihr und Mike nicht zu leugnen ist ...
"Wild, romantisch und so sexy: The Brooklyn Years sind genau das Richtige für Herz und Seele!" LAUREN BLAKELY
Band 3 der Sports-Romance-Reihe THE BROOKLYN YEARS von USA-TODAY-Bestseller-Autorin Sarina Bowen
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Seitenzahl: 438
Veröffentlichungsjahr: 2021
Titel
Zu diesem Buch
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Die Autorin
Die Romane von Sarina Bowen bei LYX
Impressum
SARINA BOWEN
The Brooklyn Years
WER WENN NICHT WIR
Roman
Ins Deutsche übertragen von Wiebke Pilz und Nina Restemeier
Torwart Mike Beacon ist eine Eishockey-Legende, abseits des Spielfelds läuft es bei dem jungen alleinerziehenden Vater allerdings eher weniger gut. Seit dem plötzlichen Tod seiner Ex-Frau gehört seine ganze Liebe und Aufmerksamkeit seiner kleinen Tochter Elsa, für Beziehungen hat er schlichtweg keine Zeit. Aber als Mike erfährt, dass Lauren Williams die Brooklyn Bruisers als Office-Managerin während der Play-offs begleiten wird, wittert er seine zweite Chance bei der Frau, mit der er nach dem tragischen Schicksalsschlag die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hat. Doch Lauren hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt und sich geschworen, die Grenze zwischen Job und Privatleben kein zweites Mal zu überschreiten. Sie hat große Pläne für ihre Zukunft. Pläne, die sie vor allem ohne die Hilfe eines Mannes umsetzen will. Auch wenn das heiße Prickeln zwischen ihr und Mike nicht zu leugnen ist …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Dieses Buch ist für Jenn Gaffney, die mich von Anfang an ermutigt hat.
Buchblogger:innen sind unbezahlbar. Danke!
Brooklyn, April 2016
Lauren Williams trank den ersten Whiskey in Gegenwart ihres Chefs, als die Brooklyn Bruisers sich einen Platz in den Play-offs sicherten – zum ersten Mal, seit Nate Kattenberger das Team gekauft hatte.
Abends um zehn ging das Spiel gegen Pittsburgh in die erste Verlängerung. Die etwa ein Dutzend Leute in Nates privater Lounge beugten sich angespannt in ihren Plüschsesseln vor und beobachteten, was das Schicksal für den Verein bereithielt. Die Sportreporter hatten geunkt, unter einem neuen Coach würde das junge Team nicht schnell genug zusammenwachsen, um es in die Play-offs zu schaffen.
Was wussten schon die Experten? Ein Leben voller Eishockey-Enttäuschungen hatte Lauren gelehrt, ihnen nicht zu trauen. Als Kapitän Patrick O’Doul einen Schlagschuss in der Ecke versenkte und damit den Sieg besiegelte, stockte ihr trotzdem der Atem. Nein, seufzte ihr armes, geschundenes Herz.
»JA!«, brüllten die Fans.
Da ging Lauren umgehend zur Bar an der Seite der VIP-Lounge und schenkte sich zwei Fingerbreit Scotch ein, großzügig bemessen. Sie hob das Glas und leerte es in einem Zug.
Nicht, dass jemand ihre neue Vorliebe für Whiskey bemerkt hätte. Währenddessen drängten sich die anderen VIPs um ihren Boss, um ihm zu gratulieren. Für den jungen Milliardär, dem das Team gehörte, war das ein großer Augenblick. Ein erhabener Augenblick. Und tief in ihrer verhärteten Seele freute sich Lauren für ihn.
Dabei war es für sie eine Katastrophe.
Lauren gab sich einen Ruck, ging hinüber und warf einen Blick auf die Eisfläche, wo die Spieler ihren Sieg feierten. Sie standen in einem Haufen lila Trikots zusammen, rieben sich über die Helme und klapsten einander auf die Hintern wie siegreiche Sportler überall auf der Welt.
Früher war diese Mannschaft Laurens Leben gewesen.
Bis zu dem schrecklichen Moment, der alles verändert hatte.
Irgendwo in dem Gewirr von Spielern da unten war auch derjenige, der ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte. Er hatte ihr nicht nur das Herz gebrochen, er war auch der Grund dafür, warum sie sich in dem Verein, dem sie über zehn Jahre ihres Lebens gewidmet hatte, nicht mehr wohlfühlte. In den letzten beiden Jahren hatte sie das Team, das Stadion und alles, was mit Eishockey zusammenhing, gemieden.
Sogar ganz Brooklyn hatte sie gemieden, außer wenn sie mit ihrem Boss zu einem Termin auf die andere Seite des Flusses musste. Und jedes Mal war sie so schnell wie möglich zurück nach Manhattan geflüchtet, wo sie hingehörte.
Aber nicht in diesem Monat.
Vor einer Woche hatte Nate sie gebeten, für den Rest der Saison die Leitung des Büros zu übernehmen. Rebecca, die normalerweise dort arbeitete, hatte eine Gehirnerschütterung erlitten, und er brauchte jemanden, der für sie einsprang. Und weil Lauren genau diesen Job gemacht hatte, bevor der Verein nach Brooklyn umgezogen war, war die Wahl logischerweise auf sie gefallen. Leider. Hätten es die Bruisers nicht in die Play-offs geschafft, wäre das Thema nächste Woche erledigt gewesen.
War’s aber nicht.
Der Scotch in Laurens Magen machte sie mutig, und sie schaute noch einmal zur Eisfläche hinunter. Die Play-offs bestanden aus vier Serien von je sieben Spielen, wobei jede Serie länger als zwei Wochen dauerte. Bis der Gewinner des Stanley Cups – der Meister der NHL also – feststand, würden noch Monate vergehen.
Es war nicht abzusehen, wie weit das Team kommen würde. Obwohl sie sich so bemüht hatte, der Mannschaft aus dem Weg zu gehen, würde Lauren noch mindestens zwei Wochen mit zu Auswärtsspielen reisen müssen. Es gab keinen Ausweg, es sei denn, sie kündigte. Und das kam nicht infrage.
Sie hörte einen Korken knallen. »Geschafft!«, rief Rebecca. Sie hielt eine Magnumflasche Champagne Cristal in beiden Händen und war im Begriff, damit eine erste Reihe von Champagnerflöten zu füllen.
Angesichts dieser überbordenden Freude verengte Lauren die Augen. Miss Keck erholte sich derzeit angeblich von einer ernsten Kopfverletzung, die sie sich beim Betreten der Eisfläche mit Straßenschuhen zugezogen hatte. Zunächst hatte es wie ein harmloser Unfall gewirkt, allerdings mit schrecklichen Folgen für das kleine Dummerchen. Sie war schon seit einer Woche nicht mehr bei der Arbeit gewesen und damit der Grund für Laurens plötzliches Verlangen nach Scotch.
Aber jetzt reichte Becca Gläser herum, als wäre sie kerngesund. Sie füllte noch ein Glas, da rauschte ihre Freundin Georgia aus der Presseabteilung mit einem breiten Grinsen in die Lounge. »Pressekonferenz in zehn Minuten, Jungs. Oh! Champagner.«
»Bitte sehr.« Becca reichte Georgia ein Glas und ging weiter zu ihrem Boss, der sie anstrahlte. »Ich freue mich so für dich«, sagte Becca, schlang die Arme um den Milliardär und drückte ihn liebevoll.
Nate wirkte ein wenig erstaunt über die überschwängliche Ganzkörperumarmung. Wie immer konnte er seine Gefühle für Becca nicht verbergen. Er tat, was er sich vermutlich schon lange gewünscht hatte, und umarmte sie fest. Er schloss sogar die Augen.
Lauren musste den Blick abwenden. Nates Verlangen war fast schon greifbar. Rebeccas Umarmung musste für Nate mindestens so aufregend sein wie der Sieg.
Rebecca ließ von ihm ab, so ahnungslos wie immer. Sie schnappte sich noch ein Glas vom Tisch und hielt es Lauren hin. »Champagner? Ich weiß, du trinkst eigentlich nicht, aber …«
Lauren nahm das Glas von Miss Keck und nippte daran. »Danke.«
»Äh … gern geschehen«, sagte Becca erstaunt. Dann verschwand sie mit zwei weiteren Gläsern, und ihre Hüften wiegten sich im Takt der Siegeshymne, die im Stadion lief: »No Sleep Till Brooklyn« von den Beastie Boys.
Lauren sah zu ihrem Boss und bemerkte, dass er Becca mit dem Blick durch den walnussgetäfelten Raum folgte. Seit zwei Jahren war sie nun schon Zeugin dieser Schmonzette. Es war, als lebte sie in einer Sitcom, die sich nicht abschalten ließ.
Wäre Nates Geschmachte jedoch das Nervigste an Laurens Job, würde sie heute Abend nicht trinken.
Ihr Problem war nicht die Arbeit, die sie in den nächsten Wochen erwartete. Bevor Nate Kattenberger das Team gekauft und umbenannt hatte, war sie zehn Jahre lang die Bürochefin der Mannschaft in Syosset gewesen. Sie hatte das Team während der letzten drei Play-offs gemanagt. Verdammt, Lauren war hier die Stammspielerin und Becca der Rookie.
Aber vor zwei Jahren hatte das junge Internetgenie einige Veränderungen im Unternehmen vorgenommen. Lauren hatte gedacht, sie würde mit dem Rest der Stammbelegschaft gefeuert. So hatte Nate, nachdem er das Team gekauft hatte, als Ersten ihren Vater entlassen, den Geschäftsführer.
Doch Lauren wurde nicht rausgeworfen. Im Gegenteil: Als Nate das Team nach Brooklyn verlegte, überraschte er sie mit einer Beförderung und katapultierte sie in den Hauptsitz seiner Internetfirma in Manhattan.
Sie war begeistert gewesen, weil ein Job in Nates Top-Unternehmen genau der Karrieresprung war, den sie sich immer erhofft hatte. Nicht nur das, auch die Trennung vom Eishockeyteam löste auf einen Schlag einige ihrer Probleme, darunter auch das Riesenproblem, das ihr den Boden unter den Füßen weggezogen hatte.
Und dieses Problem stand gerade in verschwitzter Torwartmontur da unten auf der Eisfläche und reihte sich für den traditionellen Abschlusshandschlag mit der gegnerischen Mannschaft ein. Zum tausendsten Mal in dieser Woche schloss Lauren die Augen und betete darum, wieder in Nates Büroturm verschwinden zu können, wo es keine Eishockeyspieler gab und keine Erinnerungen an den Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte.
Aber solange Becca nicht arbeiten konnte, saß Lauren in Brooklyn fest. Und jetzt, da die Bruisers sich ihren Platz in den Play-offs gesichert hatten, kam eine Flut von Planungen und Überstunden zwecks Organisation der Spiele auf sie zu. Möglicherweise vier Runden. Zwei Monate. Und Auswärtsspiele.
»Lauren.« Nate riss sie aus ihren Gedanken. »Ruf Becca bitte einen Wagen. Sie muss nach Hause und sich ein wenig ausruhen.«
»Meine Güte, mir geht’s gut.« Rebecca verdrehte die Augen. »Ich kann einfach laufen oder mir selbst ein Taxi rufen. Und ich mache ohnehin nichts anderes als mich auszuruhen!«
Aber Nate warf Lauren über Beccas Kopf hinweg einen Blick zu. Und dieser Blick sagte: Ruf ihr einen Wagen.
»Kein Problem.« Lauren seufzte und trank einen großen Schluck Champagner. »Ich habe sowieso Fahrer organisiert, sie warten draußen.« Sie hatte sich im Schlussdrittel des Spiels darum gekümmert, während alle anderen das Team angefeuert hatten. »Auf dich wartet«, sie zog ihr Katt-Phone aus der Tasche, »Wagen Nummer 117. Er parkt direkt vor dem Sportlereingang.«
Nate nickte ihr dankbar zu. Dann ging er zur Garderobe in der Ecke und holte Beccas Leopardenprint-Jacke. Er legte sie ihr um die Schultern, bis Becca ihr leeres Wasserglas abstellte und sich mit irritiertem Gesichtsausdruck von ihm hineinhelfen ließ. »Penetrant«, murmelte sie leise.
Unglücklich verliebt, konterte Lauren in Gedanken. Machte es sie zu einem schlechten Menschen, dass sie gerade am liebsten die Köpfe der beiden gegeneinandergeschlagen hätte?
Möglicherweise.
»Komm mit, Nate!«, sagte Georgia und klatschte in die Hände. »Du solltest nicht zu spät zu deiner eigenen Pressekonferenz kommen.« Sie schnappte sich sein Jackett von einem Stuhl und schob ihn Richtung Tür.
Die Tatsache, dass ihr furchtloser Boss einen Anzug trug, unterstrich die Bedeutung dieses Abends. Nate war selbst an Spieltagen ein Jeans-und-Hoody-Typ, kombiniert mit sauteuren Sneakers.
Lauren folgte ihrem Boss, der Pressesprecherin und Rebecca in den privaten Aufzug und fragte sich, warum sie sich nicht wenigstens für Nate freuen konnte. Er hatte sich den Einzug in die Play-offs so sehr gewünscht. Aber im Hinblick auf die nächsten Wochen verspürte Lauren nur Grauen. Und eine ordentliche Portion Wut.
War sie verbittert? Tja, offensichtlich immer noch.
Was für eine unangenehme Erkenntnis. Die meiste Zeit konnte Lauren sich sowohl von Eishockey als auch von Brooklyn fernhalten. In Manhattan konnte sie sich auf ihren großartigen Job, ihre aufgeräumte kleine Wohnung in Murray Hill und ihren Collegeabschluss konzentrieren, den sie bald in der Tasche haben würde. Sie war viel zu beschäftigt, um verbittert zu sein. Aber während der Aufzug in Richtung der Umkleiden hinabglitt, erging es ihrem Magen ähnlich.
Die Türen öffneten sich im Erdgeschoss, damit Becca aussteigen konnte. »Gute Nacht!«, rief Miss Keck und verließ den Fahrstuhl.
»Nacht, Süße!«, rief Georgia ihr nach. »Erhol dich gut! Wir brauchen dich hier!«
Und wie.
Becca salutierte frech und ging davon, während Nate ihr mit besorgter Miene nachblickte. Als sich die Türen wieder schlossen, richtete er schließlich seine Aufmerksamkeit auf Georgia. »Okay, wie gehen wir vor? Ich bin es nicht gewohnt, Siegesreden zu halten.«
»Du solltest jedenfalls nicht selbstzufrieden klingen«, bat Georgia. »Versuch’s mal mit dankbar.«
Er grinste. »Zum Beispiel wie: Brooklyn sollte mir dankbar sein, dass ich das Team hergebracht habe?« Sie verdrehte die Augen, und er lachte. »Nur ein Witz! Okay, wie wäre das: Ich bin stolz, dass sich mein Team erfolgreich einen Platz in den Play-offs erspielt hat?«
»Angesichts des großartigen Einsatzes meines Teams bin ich demütig«, schlug Georgia vor.
»Klar. Ich kann auch demütig sein.«
»Nein, kannst du nicht«, unterbrach ihn Lauren. »Aber im Notfall kannst du so tun als ob.«
Nate grinste. »Du kannst das auch nicht.«
»Deshalb lässt du mich im Büro arbeiten anstatt vor den Kameras«, konterte Lauren. »Morgen früh werde ich die Hotelzimmer in D. C. buchen. Jetzt bringt das doch kein Unglück mehr, oder?« Bevor sie nicht offiziell in der ersten Runde der Play-offs waren, hatte Nate sich geweigert, auch nur über Reisepläne nachzudenken.
»Feuer frei«, sagte er. »Aber alle müssen im selben Hotel unterkommen«, mahnte er. »Der Coach kriegt einen Herzinfarkt, wenn die Jungs nicht alle zusammen sind. Teamgeist und so. Wenn du Schwierigkeiten damit haben solltest, ruf bei der Liga an und bitte um Unterstützung.«
»Verstanden«, sagte Lauren. Sie hatte das alles schon mal gemacht, und das war noch gar nicht so lange her. Obwohl es ihr vorkam, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.
Wieder glitten die Türen auf, und Georgia legte Nate eine Hand auf den Arm. »Setz dein demütiges Gesicht auf, Nate. Jetzt geht’s los.«
Ein ganzer Korridor voller Journalisten richtete die Objektive auf Nate. Sie riefen Fragen, während er an ihren Kameras vorbeiging. »Die Pressekonferenz beginnt in fünf Minuten!«, rief Georgia. »Hier entlang, bitte!«
Nate ging zu dem Presseraum, der heute bis zum Bersten gefüllt sein würde. Am anderen Ende des Flurs entdeckte sie Coach Worthington und Verteidiger Patrick O’Doul. Der Kapitän war schon geduscht und trug seinen Anzug. Der neue Pressesprecher, Tom, musste O’Doul bestochen haben, dass er so schnell bereit für die Kamera war. Und er lächelte sogar.
O’Doul lächelte normalerweise nicht. Heute Abend stand die Welt kopf.
Sie folgte ihrem Boss in die Pressekonferenz, wo sie die nächste halbe Stunde versuchte, fröhlich zu wirken, während sie den Blickkontakt mit den Spielern mied. Ein ganz normaler Tag im Büro.
Es war bereits nach elf, als sich der Raum nach den üblichen Statements und Fragerunden wieder leerte. Lauren war schon seit fünfzehn Stunden im Einsatz. So war das Leben im Profisport. Jetzt stand ihr eine Autofahrt nach Midtown bevor. Immerhin würde auf dem FDR Drive kaum Verkehr sein.
Sie hatte alle angeforderten Wagen schon vergeben, deshalb stand sie auf dem Bürgersteig der Flatbush Avenue und tippte auf ihrem Katt-Phone herum, um sich einen Uber zu rufen. Die App zeigte vier Minuten Wartezeit an. Sie nutzte die Zeit, um eine riesige To-do-Liste für morgen anzulegen. Sie musste nicht nur die Play-off-Planungen voranbringen, sondern auch im Büro in Manhattan vorbeischauen, um sicherzugehen, dass in ihrer Abwesenheit nicht der Schlendrian Einzug hielt.
Und irgendwo inmitten dieser Katastrophe musste sie auch noch die letzte Überarbeitung ihrer Masterarbeit unterbringen, die sie bald abgeben wollte. Sie hatte in diesem Semester nur noch einen letzten Kurs belegt. Mehr brauchte sie nicht für ihren Abschluss, und ihre Arbeit war Gott sei Dank so gut wie fertig. Wenn sie wegen der Brooklyn Bruisers im Juni ihr Zeugnis nicht entgegennehmen könnte, würde sie für nichts garantieren.
Das würde Nate nicht zulassen, flüsterte Laurens Gewissen. Ihr Boss war ihr in den letzten zwei Jahren, während Lauren sich um ihren Abschluss bemühte, so weit wie möglich entgegengekommen. Trotz all seiner Macken gefiel es Nate, wenn seine Mitarbeiter Erfolg hatten. Sie war trotzdem noch sauer auf ihn. Er wusste ganz genau, warum sie die Mannschaft mied, und doch hatte er sie in diese Situation gebracht.
»Hi«, sagte jemand neben ihr.
Erschrocken wirbelte Lauren herum und entdeckte auf dem Bürgersteig neben sich genau den Grund für ihren Kummer, der sie jetzt neugierig mit seinem markanten Gesicht musterte.
Ihr Magen machte einen Satz und verabschiedete sich dann rasend schnell in Richtung Knie. Mike Beacon im Anzug hatte sie schon immer um den Verstand gebracht. Er hatte die Krawatte gelockert und erlaubte ihr so einen Blick auf den Kontrast zwischen seiner gebräunten Haut am Hals und dem blütenweißen Anzughemd. Ein leichter Bartschatten unterstrich seine kantige Kieferpartie und sammelte sich in dem sexy Grübchen an seinem Kinn.
Wenn sie die Hand an seine Wange gelegt hatte, um ihn zu küssen, hatte sie immer ihren Daumen genau dort, unter seiner vollen Unterlippe, hineingelegt.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Sehr gut, danke!«, behauptete sie. Reiß dich zusammen! Sie wandte den Blick von dem einzigen Mann, den sie je geliebt hatte, ab und hielt auf der Flatbush Avenue nach dem Toyota SUV Ausschau, den ihr Uber angekündigt hatte. Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt, und sie hoffte, dass der Torhüter endlich ging.
Was er nicht tat.
Sie drehte sich um und durchbohrte ihn mit dem Blick, den ihre Kollegen im Büro in Manhattan Laurens Laserblick nannten. Dieser Blick brachte Praktikanten dazu, ihr Handy wegzulegen und weiterzuarbeiten. Er versengte inkompetente Kuriere und brachte sie dazu, ihre Pakete zügig zuzustellen. Laut ihren Kollegen war er eine »mächtige, einschüchternde Waffe«.
Beacon lächelte nur.
Was für ein Arsch.
»Warum bist du immer noch hier?«, fragte sie.
»Weil du mitten in der Nacht alleine auf dem Bürgersteig stehst?«
Ernsthaft? Und das von einem Mann, der so offensichtlich keinen Gedanken an ihr Wohlbefinden verschwendete? Wenn es ihn interessiert hätte, wäre er vor zwei Jahren nicht einfach ohne Erklärung abgehauen. Er hätte ihr Herz nicht leichtfertig auf die Straße geschmissen, nicht darauf herumgetrampelt und wäre dann aus ihrem Leben verschwunden. Achtundvierzig Stunden, bevor sie verstanden hatte, dass er weg war, hatten sie gemeinsam Immobilienangebote in der Zeitung eingekreist und darüber nachgedacht, ob sie eine Wohnung mit drei Schlafzimmern brauchten oder ob zwei ausreichten. Und das nackt. Im Bett.
Lauren erinnerte ihn jetzt aber nicht daran, weil sie das alles schon einmal gesagt hatte. Wochenlang hatte sie ihm schluchzend Voicemails hinterlassen, weil er nicht ans Telefon ging. Sie hatte um eine Erklärung gebettelt und sich gefragt, was sie falsch gemacht hatte.
Es war sinnlos, das noch einmal zu versuchen. »Lass es einfach, okay?«, verlangte sie stattdessen.
»Was soll ich lassen?«, fragte er heiser.
Ach, verdammte Scheiße. Sie drehte sich um, sah ihn an, und ihr Blutdruck schoss in die Höhe. »Sei nicht nett zu mir. Sprich mich nicht an. Sieh mich nicht an. Bleib einfach zwischen den Pfosten und halt das Netz sauber. Und lass mich in Ruhe.«
Er schluckte, und ein Schatten verdunkelte seine Miene, doch es ging so schnell, dass sie das Gefühl nicht benennen konnte. Merke:Lege dich nie mit einem Ausnahme-Torhüter an. Sie waren am besten darin, unbeteiligt zu tun, wenn es darauf ankam. Lauren starrte ihn wieder an und versuchte, die Erinnerung zu verdrängen, wie leicht sie ihn dazu hatte bringen können, die Maske abzulegen und das Leben zu genießen. »Niemand berührt mich so wie du«, hatte er ihr damals oft ins Ohr geflüstert.
Offensichtlich war das eine Lüge gewesen.
Ein kurzes Hupen brach den Bann, mit dem er sie belegt hatte. Sie drehte sich um, sah einen Toyota SUV, dessen Fahrer dem Profilfoto in der Uber-App glich, am Bordstein.
Danke, lieber Gott.
Ohne ein weiteres Wort ließ sich Lauren auf den Rücksitz sinken und schloss die Tür. Sie konnte jedoch nicht widerstehen und warf noch einen letzten Blick auf Beacon.
Die Hände in den Taschen vergraben, stand er da und sah dem davonfahrenden Wagen nach.
Long Island, August 2012
Lauren betrat zum ersten Mal seit vier Wochen das Büro in Syosset und schaute sich um. Sie entdeckte ein paar vergessene Starbucks-Becher auf dem Fensterbrett, und der Kopierer zeigte blinkend einen Papierstau an. Hätte schlimmer sein können. Eine Stunde Arbeit, und alles wäre wieder in Ordnung.
Dieser Preis war nicht zu hoch für einen langen Urlaub mit ihren Highschool-Freundinnen auf Fire Island. Den Urlaub hatte sie wirklich gebraucht. Die Play-offs hatten in der dritten Runde mit einer Niederlage gegen die Rangers geendet, und alle waren ebenso enttäuscht wie erschöpft gewesen.
Aber immerhin hatte sie jetzt Bikinistreifen und eine schöne Perspektive. In vier Tagen würde ihr neues Semester mit Abendkursen an der Long-Island-University beginnen, und sie würde ihrem Bachelor in Business Management immer näher kommen.
Es ging bergauf.
Sie verstaute ihre Tasche in einer Schreibtischschublade und fing an, das Büro aufzuräumen. Sie schaltete die Klimaanlage von neunzehn Grad (das war bestimmt ihr Vater gewesen) auf vernünftigere einundzwanzig Grad. Der alte Griesgram war gerade nebenan im Trainingszentrum, deshalb summte sie beim Arbeiten vor sich hin.
»Schönes Top. Sexy«, sagte ihre Kollegin Jill, die eine halbe Stunde später ankam. »Das ist neu, oder?«
»Hm?«, machte Lauren nur und ging nicht näher darauf ein. Das Top war sexy. Es war ärmellos und entblößte ihre gebräunten Schultern, in Knallpink mit einer spielerischen Raffung auf der Brust, ohne zu viel Ausschnitt zu zeigen. Sie wollte die neue Saison nicht mit einer Standpauke ihres Vaters beginnen.
»Hast du ihn schon gesehen?«, fragte Jill.
»Wen?« Lauren stellte sich dumm. Sie und Jill saßen seit acht Jahren nebeneinander in diesem Büro. Es gab nichts in Laurens Leben, was Jill nicht wusste, die Tatsache eingeschlossen, dass Lauren seit acht Jahren in einen verheirateten Mann verliebt war. Aber Lauren ließ sich nicht dazu verleiten, darüber zu sprechen. Was sollte das bringen?
»Wen«, äffte Jill sie leise nach, und hätte Lauren den Kopf gedreht, hätte sie sicher gesehen, wie Jill die Augen verdrehte. »Mike Beacon natürlich. Ich bin überrascht, dass er noch nicht an deinem Tisch sitzt und dich volltextet.«
Lauren hielt sich auch diesmal zurück. Sie und Beacon waren sich nahe, das stimmte. Als Kapitän verbrachte er mehr Zeit im Büro als jeder andere Spieler. Das bedeutete automatisch mehr Zeit mit Lauren und Jill. Und klar – zwischen ihm und Lauren gab es diese Anziehung. Sie waren im gleichen Alter und arbeiteten beide seit acht Jahren für den Verein. Beacon war im selben Monat, in dem Lauren hier angefangen hatte, als Tausch aus Québec gekommen. Damals witzelten alle, dass sie beide Rookies – »Frischlinge« – waren.
Der Unterschied war nur, dass Beacon mit Frau und Kind in Long Island ankam und eine halbe Million im Jahr verdiente. Lauren hingegen arbeitete für ihren Vater – den Geschäftsführer –, weil er ihr das Studium nicht finanzieren wollte.
»Es wird dir guttun herauszufinden, wie es in der echten Welt läuft«, hatte ihr Vater gesagt. »Leg etwas Geld zurück, und mach dann deinen Bachelor, wenn du das so unbedingt willst.«
Acht Jahre später belegte sie immer noch in jedem Herbst zwei Seminare, im Frühling jedoch nicht, weil sie während der Play-offs nicht an den Abschlussprüfungen teilnehmen konnte.
Ihr ganzes Leben drehte sich um Eishockey, und ein Ende war nicht abzusehen.
Mittlerweile, nach acht Jahren, waren Lauren und Mike Beacon gute Freunde. Ihr Job verlangte, dass sie einander auf Kurzwahl hatten und ganz oben in den Textnachrichten auftauchten. Es machte nichts, dass der glückliche Klang seines Lachens jedes Mal in ihrer Brust vibrierte oder dass sie sein Lächeln in- und auswendig kannte.
Damit beschäftigte sie sich nicht so oft, genauso wenig wie mit den Penthousewohnungen in der Immobiliensparte der New York Times. Manche Sachen waren nicht für sie bestimmt, und wenn sie zu viel darüber nachdachte, kam sie sich bloß bemitleidenswert vor.
»Jill«, sagte sie und wechselte das Thema, »ist das Benefizspiel Ende September immer noch in Planung? Ich weiß nicht mehr, auf welches Datum wir uns geeinigt haben.«
Ihre Kollegin sah sie nur an, und Lauren wurde langsam verlegen. So sexy war ihr neues Top nun auch wieder nicht. Und Jill konnte nicht wissen, dass sie vor dem Spiegel in der Anprobe bei Macy’s an ein Kompliment gedacht hatte, das Beacon ihr im letzten Frühjahr gemacht hatte. Pink steht dir. Solltest du öfter tragen.
»Er war noch nicht hier?«, fragte Jill und forderte das Glück heraus. »Ehrlich nicht?«
»Nein«, sagte Lauren. Langsam war sie verwirrt. »Es ist neun Uhr. Zeit für das morgendliche Training. Um diese Uhrzeit sehen wir die Spieler nie. Warum sollte er hier sein?«
Jills Augen wurden ein wenig größer. »Ich dachte nur, er wäre hier und würde mit dir reden, das ist alles.«
Lauren war die Spielchen leid, deshalb drehte sie sich um und loggte sich an ihrem Computer ein. Wahrscheinlich hatte sie wahnsinnig viele ungelesene E-Mails, weil sie sie zum ersten Mal in ihrem Leben nicht im Urlaub gecheckt hatte. Sie griff nach ihrem Kaffeebecher und trank einen Schluck.
»Vielleicht«, fuhr Jill leise fort, »ist es jetzt anders zwischen euch, wo er doch seine Frau verlassen hat.«
Lauren erstickte fast an ihrem Kaffee. Er nahm die falsche Röhre, und sie bekam einen Hustenanfall. »Was?«, keuchte sie trocken und schnappte krampfhaft nach Luft.
»Du hast es noch nicht gehört?« Jill wirkte sehr selbstzufrieden. »Er hat sie in flagranti mit ihrem Tennislehrer erwischt und ist noch am selben Tag ausgezogen. Ich habe gehört, dass er ein Haus am Rand von Old Westbury gemietet hat.«
»Oh«, brachte Lauren hervor, die Augen feucht vom Husten und einem plötzlichen Schwindelanfall. »Wie traurig«, sagte sie und meinte es ernst. Die beiden hatten eine süße neunjährige Tochter, die das Lächeln ihrer Mutter geerbt hatte. Und der arme Mike! Betrogen zu werden war so mies.
Jill schnalzte nur mit der Zunge. »Wir werden sehen, wie traurig du in einem Monat bist.«
Der Kaffee in Laurens Magen verwandelte sich in Säure. Sie stand auf und warf den Becher in den Müll.
Brooklyn, April 2016
Am Tag vor dem ersten Play-off-Spiel kam Mike Beacon gerade rechtzeitig an der Brooklyn Preparatory Academy an, um seine dreizehnjährige Tochter abzuholen. Als ein Auto vor ihm wegfuhr, ergatterte er sogar eine der begehrten Parklücken und brauchte keine entwürdigende Runde nach der anderen um den Block zu drehen, bis Elsa auftauchte.
Die ersten Kinder strömten schon aus der eindrucksvollen Holztür, und er beobachtete, wie sich Grüppchen bildeten, auflösten und wieder neu formierten. Die Mädchen redeten alle gleichzeitig, ohne einander tatsächlich zuzuhören. Die Jungs im Zentrum des Gedränges waren eher daran interessiert, sich gegenseitig herumzuschubsen.
Einer riss einem anderen die metallene Retro-Lunchbox aus der Hand und duckte sich hinter eine Gruppe kichernder Mädchen. Sein Opfer nahm die Verfolgung auf.
Beacon schüttelte den Kopf. Er wollte nicht noch einmal dreizehn sein. Was für ein grässliches Alter. Nie hatte er es seinen Lehrern recht machen können. Nie seinen Eltern. Nur im Eishockey war er gut gewesen. Also hatte er damit einfach immer weitergemacht. Mit zweiunddreißig war es immer noch das Einzige, das er nicht verbockt hatte.
Ziemlich einseitig, was?
Endlich erschien auch Elsa in der Tür. Obwohl Dutzende Kinder seine Sicht einschränkten, erkannte er sofort das pinke Haargummi, das ihren Pferdeschwanz zusammenhielt. Dann war sie ganz zu sehen, mit dem Geigenkoffer auf dem Rücken bewegte sie sich langsam vorwärts. Sie redete mit einem anderen Mädchen.
Er setzte sich auf, um zu erkennen, wer es war. Dabei war er nicht wählerisch – Elsa brauchte Freundinnen. Sie waren erst vor sieben Monaten, im September, nach Brooklyn gezogen, und er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, weil er sie gezwungen hatte, ein halbes Jahr nach dem Tod ihrer Mutter die Schule zu wechseln.
Shelly war erst ein gutes Jahr unter der Erde. Elsa hatte eine ganze Menge zu verarbeiten.
Aber der Umzug war die einzige Möglichkeit, wie er mehr Zeit mit Elsa verbringen konnte. Die teure neue Privatschule lag nur vier Kilometer von ihrem teuren neuen Zuhause entfernt. Und das wiederum nur drei Kilometer von der Trainingsanlage. Hätten sie weiterhin auf Long Island gewohnt, hätte er sie jetzt unmöglich von der Schule abholen können. Er hätte seine gesamte Zeit auf dem Long Island Expressway verbracht und versucht, rechtzeitig zu Hause zu sein, um ihr noch Gute Nacht zu sagen.
Elsa hatte das Auto entdeckt und schlängelte sich nun schnellstmöglich durch die Menge. Im nächsten Moment riss sie die Beifahrertür auf und ließ sich auf den Sitz fallen. Sie wand sich aus dem Instrumentenrucksack und knallte die Tür zu. »Fahr«, sagte sie.
Er fuhr aber nicht. »Dir auch einen schönen guten Tag«, sagte er stattdessen.
Elsa verdrehte die Augen. »Hi, Daddy. Wie geht es dir?«, presste sie bemüht höflich hervor.
»Ach, danke der Nachfrage! Mir geht es bestens!«
Ihr herzförmiges Gesicht verzog sich zu einem gekünstelten Grinsen, und er musste lachen. Sie war schließlich sein Kind, zumindest heute noch. Angeblich sollten sich Teenager ja in herzlose Monster verwandeln, aber bisher war das nicht passiert. Jedenfalls nicht oft.
Er legte den Gang ein und wartete auf eine Möglichkeit zum Ausparken. Er kannte keine anderen Teenager. Die Kinder seiner Teamkameraden gingen alle noch in den Kindergarten. Beacon war nicht nur einer der Ältesten in der Mannschaft, seine Jugendliebe war außerdem schwanger geworden, als sie beide gerade erst achtzehn waren.
Beim Elternabend an Elsas schicker neuer Schule war ihm als Erstes aufgefallen, dass die anderen Väter alle graue Haare hatten. Sie waren Anwälte, Banker und Fernsehproduzenten. Viele von ihnen hatten Fragen zu den Hausaufgaben gestellt und sich erkundigt, wie man die Kinder am besten auf die Bewerbungsessays für eine Elite-Uni vorbereitete.
Beacon hätte ein Elite-Uni-Essay nicht einmal erkannt, wenn es ihm in den Hintern gebissen hätte. Aber er hatte eine Wahnsinnstochter, die gerade durch Snapchat scrollte und dabei ein Concerto oder eine Etüde oder eine Gavotte vor sich hin summte. Was auch immer das war.
»Hey«, sagte er, um auf sich aufmerksam zu machen. »Hans hat mir geschrieben, dass ich bei deinem Frühjahrskonzert in der Stadt bin.«
Sie blickte auf. »Super. Ich brauche ein neues Kleid.«
Er wartete, um in die Fourth Avenue einzubiegen, und schnaubte. »Er hat mich außerdem vorgewarnt, dass du das sagen würdest.«
»Brauche ich wirklich«, sagte sie bestimmt. »Es sei denn, du willst, dass ich den zweiten Geigen meinen Arsch zeige. Meine Kleider sind langsam alle zu kurz.«
»Verstehe.« Er tadelte sie nicht, weil sie »Arsch« gesagt hatte. Er wollte nicht scheinheilig sein, wenn es sich vermeiden ließ. »Und bestimmt hast du auch schon ein Ziel im Auge, wo es zum Shoppen hingehen soll?«
»Jep. Eine Boutique in Greenwich Village. Wir können am Sonntag hinfahren. Oder ich fahre mit Hans.« Sie widmete sich wieder ihrem Handy.
Er musterte sie verstohlen von der Seite. Mit jedem Tag sah sie Shelly ähnlicher. Sie hatte die gleichen rotbraunen Locken und biss sich genau wie ihre Mutter auf die Lippe, wenn sie sich konzentrierte.
Die arme Shelly hatte es nicht leicht gehabt. Am Tag nach ihrem Schulabschluss schon verheiratet mit einem Typen, der keine Ahnung hatte, was er tat. Mit neunzehn Mutter. Eine Spielerfrau, die aus ihrem Heimatort in Ontario nach Québec und dann nach Long Island ziehen musste, je nachdem, welches Team ihn gerade verpflichtet hatte.
Gestorben mit nicht einmal einunddreißig. Ihre letzten Worte waren »Pass auf unsere Kleine auf« gewesen.
Mike trommelte mit den Daumen auf das Lenkrad. Das mache ich, versprach er Shelly lautlos. Zu seiner Tochter sagte er: »Sei nett zu Hans, während ich weg bin.«
»Bin ich doch immer.«
Das stimmte im Großen und Ganzen. »Steh aber auch morgens von alleine auf, damit er dich nicht lange bitten muss.«
»Klar«, sagte sie, immer noch in ihr Handy vertieft. »Ich stehe rechtzeitig auf, damit wir nicht in Schwulitäten kommen. Seine Worte!«, fügte sie hinzu, bevor Mike etwas sagen konnte.
Er lachte, weil es wirklich sehr nach Hans klang. Hans lebte bei ihnen im Haus. Er war Elsas Geigenlehrer und gleichzeitig ihre Nanny. Beziehungsweise Manny, wie Elsa ihn nannte.
»Warum kann ich nicht einfach mit nach Washington kommen? Es sind doch die Play-offs!«
»Da gibt es was, das nennt sich Schule.«
»In der dritten Klasse war ich auch mit in Nashville.«
»Das war was anderes. Du warst noch klein, und wir hatten es in die dritte Runde geschafft.«
»Wenn ihr es wieder in die dritte Runde schafft, will ich aber mitkommen.«
»Mal sehen. Wie sieht’s mit den Hausaufgaben aus?«
»Böse, böse, böse.«
»So gut also, was?«
»Scheiß Algebra.«
»Elsa! Das ›Sch‹-Wort will ich hier nicht hören. Hast du schon einen Mathe-Nachhilfelehrer zugewiesen bekommen?«
»Nö. Gott sei Dank.« Elsa hasste Mathe. Sie hatte mit ihrer Mutter so manchen langen Abend am Küchentisch verbracht, wo Shelly zum zehnten Mal versucht hatte, ihr Bruchrechnen oder sonst was zu erklären. Elsa hatte geweint, dass sie es nicht könne, und Shelly hatte behauptet, sie strenge sich einfach nicht genug an.
Er hatte sich aus diesen Kämpfen immer vornehm herausgehalten. Aber nun war er mit diesen Elternproblemen auf sich allein gestellt. Seiner Tochter Algebra zu erklären lag komplett außerhalb seiner Fähigkeiten, aber Shelly hätte nicht gewollt, dass ihr Tod dafür verantwortlich war, dass ihre Tochter niemals Mathe verstand. Also stand Mathe-Nachhilfe ganz oben auf der langen Liste der Dinge, über die er sich den Kopf zerbrechen musste.
Im zähen Stadtverkehr brauchten sie zwanzig Minuten für den kurzen Weg, aber es hätte ihn auch nicht gestört, wenn es noch länger gedauert hätte, denn solange sie zusammen im Auto saßen, musste Elsa sich mit ihm unterhalten. Zu Hause würde sie sofort mit Kopfhörern auf den Ohren in ihrem Zimmer verschwinden.
»Was habe ich noch verpasst?«, fragte er, als er an der nächsten roten Ampel anhielt.
»Ich war mit Hans und Justin in dem neuen Sushi-Restaurant auf der Clark Street. Nächstes Mal musst du unbedingt mitkommen. Ich habe Tintenfischtentakel gegessen, damit Hans sich ekelt.«
Beacon schnaubte. »Gab es da irgendetwas, das er mochte?«
»Er sagte, die Tempura war der Hammer.«
»Na, immerhin.« Der Babysitter verwöhnte Elsa viel zu sehr. Es war aber auch schwierig, einer trauernden Siebtklässlerin etwas abzuschlagen. Mike konnte das auch nicht.
»Dann ist aber noch etwas Fieses passiert.«
»Ja?«
»Als wir nach Hause gegangen sind, waren ein paar Jungs gemein zu Hans und Justin.«
Oh, oh. »Inwiefern gemein?«
»Justin hat Hans zum Abschied am Eingang zur U-Bahn umarmt, und die Jungs haben sie beleidigt. Das andere ›Sch‹-Wort.«
Herrje. Seine Tochter benutzte gerne Schimpfwörter, um ihre Grenzen auszutesten, aber sie hätte niemals absichtlich jemanden beleidigt. Leider musste sie nun lernen, dass andere damit kein Problem hatten. »Hast du dich bedroht gefühlt?« Er kam sich unfair vor, weil er das fragte, aber die Sicherheit seiner Tochter ging ihm über alles.
»Nein«, erwiderte sie rasch. »Da waren noch tausend andere Leute in der Nähe. Die Jungs haben das nur im Vorbeigehen gerufen. Sie waren nicht einmal mutig genug, es Justin direkt ins Gesicht zu sagen.«
»Okay«, sagte er langsam. Es war wohl keine große Sache gewesen. Wenn die Situation brenzlig geworden wäre, hätte Hans es ihm sicher erzählt. Wahrscheinlich erlebte er so etwas ständig.
Himmel. Was sagte ein weiser Vater in so einer Situation? Er probierte es mit: »Es tut mir wirklich leid, dass Hans sich mit diesem Mist herumschlagen muss.«
»Mir auch. Er hat sich geschämt.«
»Die Typen, die so etwas sagen, sollten sich schämen!«
»Dumme Arschlöcher«, bekräftigte Elsa.
»Ja.« Er ließ ihr das Schimpfwort durchgehen. Wieder einmal. »Soll ich Hans darauf ansprechen?«
»Nein! So schlimm war es doch auch wieder nicht. Ich habe es dir nur erzählt, weil es mir für ihn leidtut. Das ist alles. Es wird immer jemanden geben, der auf ihm herumhackt. Das ist, als wäre man immer die Neue in der Klasse.«
»Wird auf dir herumgehackt, weil du neu in der Klasse bist?«
»Eigentlich nicht. Es ist nur …« Sie verstummte. »Ich kenne halt die ganzen Insiderwitze nicht, verstehst du?«
»Klar«, sagte er, obwohl er es nicht wirklich verstand.
»Können wir heute Abend Pizza bestellen?«
»Okay.«
Sie fuhren eine Weile schweigend weiter, und Elsa tippte wieder auf ihrem Handy herum. »Gewinnt ihr morgen?«, fragte sie unvermittelt.
»Vielleicht«, wich er aus. »Muss Snapchat das wissen?« Über ihr Handy kommunizierte sie mit all ihren Freunden, die sie auf Long Island zurückgelassen hatte.
»Jawoll«, flötete sie. »Außerdem muss ich das Wettbüro anrufen.«
»Elsa!«
Sie lachte, und das war wie Musik in seinen Ohren.
Wie das Schicksal es wollte, gewannen sie tatsächlich das erste Spiel in Washington.
Er hoffte, Elsas Snapchat-Freunde wussten es zu schätzen, denn das Spiel war brutal. Er stellte sich förmlich auf den Kopf, um die Schüsse abzuwehren, nachdem sein Team es ins Penalty-Schießen geschafft hatte. Achtundvierzig Stunden später endete das zweite Spiel mit einer enttäuschenden Niederlage. Beacon hatte den ganzen Abend nur einen Treffer durchgelassen, aber dann schossen sie in der zehnten Minute der zweiten Verlängerung einen an seiner Schulter vorbei.
»Du hast es versucht, Daddy«, tröstete Elsa ihn am Telefon.
»Allerdings.« Er saß noch immer schweißgebadet in der Umkleide, aber es war schon spät, und sie würde erst ins Bett gehen, wenn sie mit ihm gesprochen hatte.
»Und es ist ja noch nicht vorbei. Freitag habt ihr Heimvorteil.«
Er seufzte ins Handy. »Richtig. Aber gerade bin ich einfach hundemüde. Ab in die Falle, ja? Es ist schon spät.«
»Holst du mich morgen von der Schule ab?«
»Ich denke schon. Ich versuche es auf jeden Fall. Kannst du mir noch kurz Hans geben?«
»Haaans!«, jodelte seine Tochter. »Gute Nacht, Daddy.«
»Nacht, Süße.«
Hans kam an den Apparat. »So ein Pech«, sagte er mit seinem leichten deutschen Akzent.
»Nicht wahr? Schweinebande.«
Der Babysitter lachte. »Tut mir leid, dass diese Woche so blöd ist.« Normalerweise war Hans eine oder zwei Nächte die Woche bei seinem Freund. Aber wegen der Play-offs konnte Beacon keine Nacht zu Hause sein.
»Ist schon in Ordnung. Ist es okay, wenn Justin sie am Donnerstag von der Schule abholt? Ich bin zu einem Vorspielen eingeladen, das ich nicht verpassen möchte.«
»Kein Problem«, beeilte Mike sich zu sagen. Er wollte wirklich nicht, dass Hans ein Vorspielen verpasste. »Und wenn er es nicht schafft, finden wir jemand anderen. Sie kann vielleicht mit zu einer Freundin gehen. Wie geht es ihr denn eigentlich?«
»Gut. Ich glaube, die Play-offs machen sie beliebt.«
»Na, wenigstens bin ich für irgendetwas gut. Jetzt erzähl mir noch von dem Konzert morgen Abend.«
»Ja, okay. Um sieben geht’s los. Das Kleid hat dich zweihundert Dollar gekostet, geht auf deine Kreditkarte. Und das war noch das günstigere.«
Na sicher. »Sag ihr, für den Preis muss sie wie Yo-Yo Ma spielen.«
»Yo-Yo spielt Cello.«
»Das weiß ich doch. Bis morgen!«
»Bis dann.«
Nachdem er aufgelegt hatte, bekam ihn ein Reporter in die Klauen. Hoffentlich brachte er ein paar verständliche Worte heraus. Danach wartete er auf die Dusche. Die Umkleiden der Gastmannschaft waren nicht so geräumig wie ihre in Brooklyn. Zum Glück waren das dritte und vierte Spiel der Serie Heimspiele, sodass er sich morgen wieder in besseren Räumlichkeiten umziehen konnte.
Als er seinen erschöpften Körper geduscht und sich den Anzug angezogen hatte, war es ruhig geworden. Der Zeugwart und Jimbo, der Junge aus dem Orga-Team, packten die Ausrüstung in Taschen. »Der Bus ist schon weg, aber es gibt noch Autos«, sagte Jimbo.
»Danke.«
»Gut gespielt, Beak«, fügte der Junge hinzu. »Eine gute Serie.«
»Danke.« Er verließ die Umkleide und checkte auf dem Weg zum Ausgang sein Katt-Phone. Alle bei den Bruisers hatten das gleiche schicke Handy, und das große, glänzende Display war voller Nachrichten. Offenbar hatten es seine Teamkameraden schon zur Hotelbar geschafft. Schwing deinen Arsch hier runter, schrieben sie. Wir wollen dich abfüllen.
Er grinste angesichts der Flut von fast gleichlautenden Nachrichten. Ein kurzer Zwischenstopp an der Bar musste wohl sein. Er versuchte, seine sozialen Kontakte zu pflegen, wenn sie während der Saison unterwegs waren, damit er zu Hause in Brooklyn jeden Abend bei Elsa sein konnte. Er war der Einzige im Team, der nicht damit aufgezogen wurde, wenn er die Abende mit seinem Kind verbrachte. Offensichtlich bekam man einen solchen Freifahrtschein nur als Witwer. Er lächelte immer noch, als er den Ausgang des Stadions erreichte und aufblickte.
Am Ende des Korridors stand Lauren und starrte durch das schmale Fenster in der Tür hinaus.
Er verlangsamte seine Schritte, um ihren Anblick in sich aufzunehmen. Angesichts der vertrauten Neigung ihres Kopfes hätte er ihr am liebsten einen Kuss auf die Wange gedrückt. Ihre seidigen Haare ringelten sich um ihr Gesicht, und er sehnte sich danach, sie durch seine Finger gleiten zu lassen. Sie beachtete ihn gar nicht, aber wenn er sich nicht täuschte, wurde sie nervös.
»Na du«, sagte er. »Alles in Ordnung?«
Mit eisigem Blick schnellte sie zu ihm herum. »Alles gut, danke. Ich habe Autos bestellt.«
»Okay.«
Lauren sah demonstrativ aus dem Fenster, und er nutzte die Gelegenheit, sie genauer zu mustern. Sie wurde mit jedem Jahr hübscher. Das Mädchen, das er vor zwölf Jahren auf Long Island kennengelernt hatte, war nicht so elegant gewesen wie Lauren 2.0. Diese Frau hatte sich so weit von Long Island entfernt, dass es schon nicht mehr lustig war. Sie trug ein türkisfarbenes Outfit mit einem Rock, der ihr knapp bis unters Knie reichte. Ihre langen schlanken Beine ließen ihn die teuren Schuhe, die man nur in den schicken Boutiquen in Lower Manhattan bekam, dabei fast vergessen.
Sie war schon immer gern shoppen gegangen, und er hatte sich jedes Mal an den Ergebnissen erfreut. Als sie noch ein Paar waren, hatte sie manchmal etwas mit nach Hause gebracht und ihn um seine Meinung gebeten. »Findest du das zu gewagt?«, hatte sie zum Beispiel gefragt und sich dabei um die eigene Achse gedreht. »Es ist ganz schön tief ausgeschnitten.«
»Solange du noch etwas ganz für mich reservierst, ist es mir recht. Und jetzt komm her, damit ich dir das ausziehen kann.«
Anderthalb Jahre waren sie zusammen gewesen, und jede Stunde davon war perfekt gewesen. An manchen Tagen hatten sie es nicht einmal aus dem Bett geschafft. In anderen Bereichen ihres Lebens lief es weniger glatt. Das Team spielte damals nicht so gut. Der Geschäftsführer – Laurens Vater – hatte die Gehaltsdeckelung nicht beachtet, und deshalb hatten sie nun nicht genug Reservespieler für eine schlagkräftige Offensive. Und in ihr Stadion in Long Island hätte man Milliarden stecken müssen.
Laurens Familie war entsetzt, weil sie mit einem Spieler zusammen war. Dass Mike noch nicht einmal geschieden war, machte ihren Vater rasend.
Aber trotz allem waren es die besten anderthalb Jahre seines Lebens. Er kam abends zu einer Frau nach Hause, die ihm zuhörte, über seine Witze lachte und ihm nicht ständig vorhielt, dass sie seinetwegen Tausende von Kilometern von ihrer Familie weggezogen war. Trotz aller Widrigkeiten hatten Lauren und er sich füreinander entschieden. Zum ersten Mal in seinem Erwachsenenleben hatte er dem Schicksal den Mittelfinger gezeigt und gesagt: Das ist es, was ich will. Und was ich brauche.
Doch dann hatte das Schicksal sie ausgelacht. Himmel. Wahrscheinlich hatte es sich sogar bepisst vor Lachen.
Lauren 2.0 checkte ihr Handy. »Dein Wagen kommt in einer Minute.« Sie sah ihn nicht an.
»Danke«, sagte er leise und grübelte, was er noch sagen könnte, um diesen Moment ein bisschen erträglicher zu machen.
Als er vor zwei Jahren Hals über Kopf Schluss gemacht hatte, hatte er gehofft, sie würde darüber hinwegkommen. So hübsch und intelligent, wie Lauren war, mussten die Männer doch Schlange stehen.
Also, wo waren die alle?
In den letzten zwei Wochen hatte er Lauren öfter gesehen als in den letzten zwei Jahren zusammen. Und was er sah, machte ihn nervös. Sie sah fantastisch aus und hatte es offensichtlich weit gebracht. Nate Kattenberger vertraute ihr und bezahlte sie offenbar gut dafür, dass sie ihn in verschiedenen Geschäftsbereichen unterstützte. Außerdem stand sie kurz davor, ihren Collegeabschluss zu machen, den ihr Vater ihr Jahre zuvor verwehrt hatte.
Eigentlich hätte es der tollsten Frau, die er je gekannt hatte, gut gehen müssen. Aber in ihren Augen lag eine Härte, die an ihm nagte. Er hasste den Gedanken, dass er vielleicht der Grund dafür war.
Lauren drückte die Stadiontür auf. »Dein Wagen ist da«, sagte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
Er zögerte. »Und was ist mit dir? Ich glaube, ich bin der Letzte hier.«
»Ich nehme den nächsten.«
»Das ist schon etwas albern für eine Fahrt von sieben Minuten. Wollen wir nicht gemeinsam fahren?«
Da sah sie ihm schließlich doch in die Augen. Ihr Ausdruck war angespannt. »Warum sollten wir?«
»Warum nicht?«, erwiderte er. »Es ist doch Ressourcenverschwendung, noch einen Wagen zu bestellen.«
Ihr perfekter Kiefer spannte sich an, und augenblicklich überkam ihn ein schlechtes Gewissen, weil er ihr unterstellt hatte, die Dinge nicht professionell zu managen. Aber war es wirklich so schlimm, ein paar Minuten mit ihm im selben Auto zu sitzen? Herrgott. »Nimm du den Wagen, Lo. Ich rufe mir einen Uber.«
Vielleicht lag es an seinem alten Kosenamen für sie, aber der harte Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht, und der unglaubliche Schmerz, der dahinter zum Vorschein kam, traf ihn wie ein Schlag in den Magen.
»Steig ein«, flüsterte er. »Ist schon gut.«
Er sah sie an, und offensichtlich nahm sie sich zusammen. Sie straffte die Schultern und hob das Kinn. »Okay, wir teilen uns den Wagen.« Sie sagte es so, wie jemand anders »Dann lass uns mit der Wurzelbehandlung loslegen« gesagt hätte. Dann stieß sie die Tür auf und deutete auf den Wagen wie ein General, der einen Angriff befehligte.
Also dann.
Er folgte ihr nach draußen, überholte sie und öffnete die hintere Tür des wartenden Escalade. Er hatte ihr immer die Tür aufgehalten. Es machte ihm Spaß, sie zu umsorgen, weil sie so unglaublich patent war und den ganzen Tag alles für sein Team organisierte. Es war schön, nach Feierabend auch einmal etwas für sie zu tun.
Und sie hatte ihn gewähren lassen.
Beacon stieg auf der anderen Seite ein und schloss die Tür. »Wir sind so weit«, sagte er zum Fahrer.
Der Wagen reihte sich in den Verkehr ein. Washington war selbst mitten in der Nacht noch voller Autos. Wahnsinn. Aber im Inneren des nagelneu riechenden Autos war es still. Zu still. Nachdem sie ihn nach dem Spiel vor zwei Wochen auf der Straße angefaucht hatte, hatte er auch keine herzliche Begrüßung erwartet.
»Hat Nate im letzten Drittel schon den Scotch geöffnet?«, versuchte er sich an einer Unterhaltung. Nate war dafür bekannt, dass er nur trank, wenn er befürchtete, sie würden verlieren.
»Nein, er ist optimistisch geblieben.«
»Ich wette, jetzt trinkt er.«
»Vielleicht. Aber Nate verfällt nicht in Panik. Er hat diese Woche wirklich Spaß.«
Im Gegensatz zu dir, dachte er. Sie hatte sich abweisend an die gegenüberliegende Tür gepresst. »Hast du jetzt gerade eigentlich zwei Jobs, solange Becca nicht da ist?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Bisher gab es in Midtown keine großen Katastrophen zu managen«, wiegelte sie ab.
»Klopf auf Holz.« In anderen Zeiten hätte er ihr seinen Kopf hingehalten, und sie hätte darauf geklopft. Aber da hätten sie auch nicht wie zwei Gegner auf der Rückbank gesessen.
Eine Erinnerung überkam ihn. Er musste an andere Fahrten in anderen Städten denken. Egal, ob das Team gewonnen oder verloren hatte, Lauren und er hatten sich aneinandergekuschelt und über den langen Tag gelacht, der hinter ihnen lag. Das hatte meistens damit geendet, dass Beacon an der zarten Haut in ihrem Nacken knabberte. Und wenn die Fahrt lang genug gewesen war, hatten sie sich währenddessen schon mal warm gemacht für die heiße Nacht in seinem Hotelbett.
Diese ganzen Erinnerungen saßen fett und bräsig auf dem großen leeren Ledersitz zwischen ihnen. Jetzt war ihm klar, warum Lauren sich nicht das Auto mit ihm hatte teilen wollen. Die Geister waren lebendig.
Aber scheiß auf die Geister, sie würden nicht gewinnen. Es gab schon genug Geister in seinem Leben. Selbst wenn Lauren immer noch genauso sauer auf ihn war wie am Tag ihrer Trennung, war das nur ein Grund mehr, diese Angespanntheit zwischen ihnen zu beenden.
»Darf ich dich auf einen Drink einladen?«, brach es aus ihm heraus. »Wir sollten uns mal unterhalten, es ist viel passiert.«
Ihr Blick hing am imposanten Gebäude des Smithsonian Instituts, an dem sie gerade vorbeifuhren. Falls sie ihm sagte, er solle sich zum Teufel scheren, könnte er es ihr nicht verübeln. »Das ist keine gute Idee«, sagte sie schließlich. »Die Leute erinnern sich …« Sie räusperte sich. »Es wird Gerede geben.«
Scheiße. Er kümmerte sich einen Dreck um das Gerede anderer Leute. Aber sie hatte recht. Wenn er mit ihr an der Hotelbar noch etwas trank, würden ihn morgen ein halbes Dutzend Spieler dazu ausfragen.
Noch während er das dachte, kam der Wagen vor dem Marriott zum Stehen, und ihre gemeinsame Zeit war zu Ende.
»Der Bus zum Flughafen fährt um sechs Uhr dreißig«, sagte sie und stieg aus dem Auto. »Sei pünktlich.«
»Alles klar.« Obwohl sie anscheinend nicht schnell genug von ihm wegkommen konnte, hielt er ihr demonstrativ die Hoteltür auf. Sie waren schon fast an der Rolltreppe, als sie von einer Gruppe gerufen wurden, die etwas abseits in einer Sitzecke saß. »Heyyyy, Beak!«, »Komm rüber!« Und: »Hey, das ist doch Lauren. Gibt’s ja nicht!«
Sie warf ihm einen Blick zu, der Sonnenstrahlen hätte gefrieren können, betrat die Rolltreppe und schwebte rasch von ihm weg.
Okay. Er blickte ihr nach. Und als die Rolltreppe das Zwischengeschoss erreichte, ging er hinüber zu seinen Freunden.
»Alter, ey«, sagte O’Doul, die Finger um den Hals einer Bierflasche gelegt. »Rauft ihr beide euch wieder zusammen?«
»Sieht es danach aus?« Er ließ sich in einen der Sessel fallen. »Was trinken wir?«
Long Island, August 2012
Mike wartete eine Woche, bis er nach Laurens Strandurlaub wieder bei ihr auftauchte.
Er blieb ihr sieben Tage fern, und mit jedem Tag wurde es schwieriger. Sein Gewissen wollte es so. Er hatte niemals fremdgehen wollen. Er war niemals fremdgegangen.
Solange man Verlangen nicht mitzählte.
Acht Jahre waren sie umeinander herumgetänzelt. Sie hatten zu laut über Nichtigkeiten gelacht, und bei Betriebsfeiern hatten sich ihre Blicke sogar in den überfülltesten Räumen getroffen.
Unzählige Male hatte er sich gefragt, wie sie wohl schmecken würde, wenn er sie küsste, und ob sie sanft und leise oder wild und laut im Bett war. Er wollte, dass sie ihre langen, straffen Beine um seine Hüfte schlang, während er in sie stieß.
Aber er war ihr nie nähergekommen als dieses eine Mal, als sie ihm den letzten Donut aufbewahrt und er flüchtig ihren Ellenbogen gedrückt hatte.
Er wartete eine Woche, damit die ganzen Jahre der Zurückhaltung nicht ihre Bedeutung verloren. Aber hatten sie das nicht schon? Seine Frau musste furchtbar unglücklich gewesen sein, wenn sie im Auto in ihrer Dreifachgarage den Tennislehrer gevögelt hatte.
An einem Tag Ende Juli – gerade als das Training wieder beginnen sollte –, hatte der Hausmeister die Eistemperaturen nicht im Griff gehabt. Niemand konnte skaten. Beacon war am frühen Nachmittag nach Hause gefahren und hatte auf seinem üblichen Platz geparkt. Als er den Schlüssel abgezogen hatte und ausgestiegen war, blickte ihn das erschrockene Gesicht seiner Frau vom Beifahrersitz ihres SUVs an. Und sie war nicht allein im Auto. Sie saß rittlings auf jemandem.
Sein erster Gedanke war: Das sieht wirklich unbequem aus.
Fassungslos war er ins Haus gegangen und hatte sich an den Küchentisch gesetzt. Einige Minuten später war sie mit rotem Kopf und Tränen in den Augen nachgekommen. Sie führten die unangenehmste Unterhaltung seines ganzen Lebens, in der Shelly zugab, dass sie schon seit fast einem Jahr etwas mit dem Tennistypen hatte.
Noch am selben Abend war er ausgezogen, zuerst auf das Sofa eines Teamkameraden, dann in ein Haus, das er mietete, ohne nach dem Preis zu fragen. Dann kamen die rechtlichen Probleme auf ihn zu – er musste einen Anwalt beauftragen und einen vorläufigen Betreuungsplan ausarbeiten. Er ging zu Pottery Barn und kaufte die Möbel, die am schnellsten lieferbar waren. Ein Sofa und ein Kingsize-Bett für ihn, ein weißes Doppelbett mit geschnitzten Rosen für die neunjährige Elsa, damit sie einen Platz zum Schlafen hatte, wenn sie ihn besuchte.
Diese letzten drei Wochen waren absolut surreal.
Zu den unmöglichsten Gelegenheiten kam ihm Lauren in den Sinn. Im Garten des neuen Hauses stehen Hortensien. Das waren ihre Lieblingsblumen. Sie würde sich totlachen, wenn sie wüsste, dass ich ein Sofa in Pilzbraun gekauft habe, weil ich immer Pizza mit Pilzen bestelle. Und: Lauren würde die Augen verdrehen, wenn sie diese Deko im Nachbargarten sehen könnte.
Aber bei jedem noch so kleinen Gedanken an sie fühlte er sich schuldig. Vielleicht hätte sich seine Frau keinen anderen gesucht, wenn er ein bisschen weniger an Lauren gedacht hätte.
Was das alles seine Schuld?
Zum Glück war Lauren mit ihren Highschool-Freundinnen im Strandurlaub. Sie hatte gesagt, dass sie ihr Jobhandy nicht mitnehmen würde. Also konnte er gar nicht in Versuchung kommen, ihr eine Nachricht zu schreiben. Aber als ihr Urlaub dann vorbei war (und er wusste es auf den Tag genau – was bedeutete das wohl?), vermied er es, in die Nähe ihres Büros zu kommen.
Eine Woche lang bastelte er an seinem neuen Heim herum und räumte die wenigen Möbel hin und her. Nach dem Training betrank er sich mit den Jungs. Damals war Beacon der Mannschaftskapitän. Seine Jungs waren alle äußerst loyal.
»Das Miststück! Sie wusste gar nicht, wie gut sie es hatte.«
»Der Tennislehrer? Was für ein Klischee.«
Seine Teamkameraden waren genauso sauer wie er, aber nichts von dem, was sie sagten, konnte ihn aufheitern. Jedes Mal, wenn sie schlecht über Shelly redeten, fühlte er sich unwohl.
