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Keith Richards

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Beschreibung

Ein großes Leben – der Rolling Stone erzählt

Bei den Rolling Stones erschuf Keith Richards die Songs, die die Welt veränderten. Sein Leben ist purer Rock’n’Roll. Jetzt endlich erzählt er selbst seine atemberaubende Geschichte inmitten eines »crossfire hurricane«. Und er tut dies mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit, die bis heute sein Markenzeichen geblieben ist. Die Geschichte, auf die wir alle gewartet haben – unverwechselbar, kompromisslos und authentisch.

Wie er als Kind in England die Platten von Chuck Berry und Muddy Waters rauf und runter hörte. Wie er Gitarre lernte und mit Mick Jagger und Brian Jones die bis heute größte Rockband aller Zeiten gründete – die Rolling Stones. Er berichtet von dem frühen Ruhm und den berüchtigten Drogen-Razzien, die ihm sein Image als ewiger Rebell und Volksheld einbrachten. Wie er die unsterblichen Riffs zu Songs wie »Jumpin’ Jack Flash« oder »Honky Tonk Women« erfand. Die Beziehung mit Anita Pallenberg und der tragische Tod von Brian Jones. Die Flucht vor der Steuerfahndung nach Frankreich, die legendären Konzerte und Tourneen in den USA. Isolation und Sucht. Die Liebe zu Patti Hansen. Streitereien mit Mick Jagger und die anschließende Versöhnung. Heirat, Familie, die Soloalben und die Xpensive Winos – und das, was am Ende bleibt.

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Seitenzahl: 1030

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Die Originalausgabe erschien 2010 bei Little, Brown and Company, Hachette Book Group, New York
Copyright © 2010 by Mindless Records, LLC Copyright © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München. Redaktion: Tamara Rapp und Stefan RohmigLektorat: Maurkus Naegele Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsser vice G. Pfeifer, Germering
Die Verwertung des Textes, auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. ISBN 978-3-641-05174-7V002
www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
Widmung
KAPITEL 1
KAPITEL 2
KAPITEL 3
KAPITEL 4
KAPITEL 5
KAPITEL 6
KAPITEL 7
KAPITEL 8
KAPITEL 9
KAPITEL 10
KAPITEL 11
KAPITEL 12
KAPITEL 13
Danksagung
COPYRIGHTS
BILDLEGENDE
REGISTER
Copyright
Für Patricia
KAPITEL 1
In dem ich während unserer US-Tour 1975 in Arkansas von der Polizei angehalten werde, woraus sich eine ziemlich verfahrene Situation entwickelt.
Warum mussten wir ausgerechnet am Independence-Day-Wochenende zu Mittag ins 4-Dice-Restaurant in Fordyce, Arkansas? Und warum überhaupt? Nach allem, was ich in zehn Jahren Reisen durch den Bibelgürtel erlebt hatte? Das Städtchen Fordyce. Rolling Stones auf der Speisekarte der Polizei in den gesamten Vereinigten Staaten. Jeder Bulle in den USA wollte uns einlochen, egal wie, wollte sein Land ganz patriotisch von diesen schwulen kleinen Engländern säubern und dafür befördert werden. Es war das Jahr 1975, eine brutale und aggressive Zeit. Seit unserer letzten Tournee 1972, der sogenannten »STP-Tour«, galten die Rolling Stones als Freiwild. Das Außenministerium hatte überall Ausschreitungen (korrekt), zivilen Ungehorsam (auch korrekt), rechtswidrigen Sex (was immer das sein mag) und Gewalttätigkeiten registriert. Und wir, einfache Bänkelsänger, waren schuld. Wir hatten die Jugend zur Rebellion aufgestachelt, wir korrumpierten Amerika, und sie hatten beschlossen, dass sie uns nie wieder durch die Staaten touren lassen würden. In der Ära Nixon hatte sich das zu einer wichtigen politischen Angelegenheit entwickelt. Nixon höchstpersönlich hatte seine Hunde und alle schmutzigen Tricks bereits gegen John Lennon eingesetzt, weil er Angst hatte, seinetwegen die Wahl zu verlieren. Wir hingegen waren, wie unserem Anwalt ganz offiziell mitgeteilt wurde, die gefährlichste Rock’n’Roll-Band der Welt.
An den Tagen davor hatte uns unser großartiger Anwalt Bill Carter im Alleingang aus diversen heiklen Situationen gerettet, die sich die Polizei von Memphis und San Antonio als Falle für uns ganz persönlich ausgedacht hatte. Und jetzt sah es danach aus, als würde Fordyce, ein 4237-Seelen-Kaff, dessen Schule einen seltsamen roten Käfer im Schulwappen führte, den Triumph einfahren. Carter hatte uns dringend davon abgeraten, durch Arkansas zu fahren, und auf gar keinen Fall sollten wir die Interstate verlassen. Er wies uns darauf hin, dass man im Bundesstaat Arkansas noch vor kurzem an einem Gesetzentwurf gebastelt hatte, der Rock’n’Roll verbieten sollte (den Gesetzestext hätte ich mir gerne mal angeschaut – »Im Fall, dass wiederholt vier laute Viertel auf den Takt gespielt werden …«). Und ausgerechnet hier kurvten wir in einem brandneuen gelben Chevrolet Impala über die Landstraßen. In den ganzen Vereinigten Staaten gab es wahrscheinlich keinen idiotischeren Ort, um mit einem Auto anzuhalten, das bis unters Dach voller Drogen war, als diese konservative, reaktionäre Südstaatengemeinde, die mit Fremden, die ein bisschen anders aussahen, nun wirklich nichts zu tun haben wollte.
Mit von der Partie waren Ronnie Wood, mein Freund Freddie Sessler, für mich fast so etwas wie ein Vater, ein ganz unglaublicher Typ, von dem hier noch öfter die Rede sein wird, sowie Jim Callaghan, seit Jahren schon unser Security-Chef. Wir wollten die vierhundert Meilen von Memphis bis Dallas, wo wir am kommenden Abend unseren nächsten Auftritt im Cotton Bowl absolvieren sollten, mit dem Auto zurücklegen. Jim Dickinson, der Junge aus dem Süden, der bei »Wild Horses« Klavier spielte, hatte uns erzählt, dass die Gegend um Texarkana einen Ausflug wert wäre. Außerdem hatten wir die Fliegerei satt. Von Washington nach Memphis hatten wir einen fürchterlichen Flug erlebt: Ohne Vorwarnung waren wir plötzlich mehrere hundert Meter abgesackt, alles schrie und schluchzte, die Fotografin Annie Leibovitz war mit dem Kopf an die Decke geknallt, und als wir landeten, küssten die Passagiere den Boden. Während das Flugzeug durch die Luft schlingerte, wurde ich dabei beobachtet, wie ich nach hinten ging und gewisse Substanzen mit noch mehr Hingabe als sonst zu mir nahm – schließlich durfte nichts verschwendet werden. Schlimme Sache, vor allem in Bobby Shermans altem Flugzeug, dem Starship.
Wir fuhren also mit dem Auto. Ronnie und ich stellten uns besonders dumm an. Wir hielten an dieser Raststätte namens 4-Dice, setzten uns, bestellten und verschwanden dann gemeinsam aufs Klo. Einfach um in Gang zu kommen. Wir wurden high. Die Kundschaft draußen interessierte uns so wenig wie das Essen, deshalb blieben wir länger auf dem Klo, rissen Witze und kifften weiter. Vierzig Minuten lang. Aber so was macht man da nicht. Damals schon gar nicht. Die Situation spitzte sich immer mehr zu, und schließlich holte das Personal die Polizei. Beim Wegfahren sehen wir noch ein schwarzes Auto ohne Nummernschild am Straßenrand stehen, und kaum sind wir zwanzig Meter weit gekommen, gehen die Sirenen los, das Blaulicht blinkt, und wir haben ihre Knarren vor der Nase.
Ich trug eine Jeanskappe mit lauter kleinen Taschen, und jede war prall gefüllt mit Dope. In unserem Auto musste man nur die Verkleidung abmontieren, um auf Plastikbeutel voller Kokain und Gras, Peyote und Meskalin zu stoßen. Großer Gott, wie sollten wir uns da je wieder rauswinden? Zu einem schlimmeren Zeitpunkt hätten wir gar nicht verhaftet werden können. Es grenzte an ein Wunder, dass wir für die Tour überhaupt in die Staaten gelassen worden waren. In den Großstädten wusste jede Polizeiwache, dass unsere Visa mit einem Rattenschwanz von Bedingungen verbunden waren, die Bill Carter während der vergangenen zwei Jahre in unzähligen Ferngesprächen mit dem Außenministerium und der Einwanderungsbehörde ausgehandelt hatte. Allererste Voraussetzung war selbstverständlich, dass wir nicht mit Rauschmitteln verhaftet wurden. Carter hatte dafür zu bürgen.
Das ganz harte Zeug nahm ich damals nicht; für die Tour wollte ich clean sein. Natürlich hätte ich den Stoff auch im Flugzeug transportieren können. Allein schon deshalb kann ich bis heute nicht verstehen, warum ich den ganzen Shit unbedingt mit mir rumschleppen und es drauf ankommen lassen musste. Verschiedene Leute hatten mir das Zeug in Memphis gegeben, und ich wollte mich um keinen Preis schon im Flieger davon trennen. Warum musste ich es bloß ins Auto laden wie ein blöder Dealer? Vielleicht hatte ich im Flugzeug einfach nicht geschaltet. Ich weiß noch, dass ich im Wagen einige Zeit damit zubrachte, die Verkleidung abzumachen und das Zeug reinzustopfen. Dabei war ich auf Peyote gar nicht so scharf.
In den Taschen der Kappe steckt also Haschisch, Amobarbital, ein bisschen Koks. Ich grüße die Polizisten, indem ich die Kappe schwenke und dabei Pillen und Hasch in die Büsche schleudere. »Hallo, Officer«, (schwenk). »Oh, habe ich etwa gegen ein hiesiges Gesetz verstoßen? Das tut mir leid. Ich komme aus England. Bin ich auf der falschen Straßenseite gefahren?« Und schon hast du sie in der Defensive, und der Shit ist auch weg. Leider nicht der ganze Shit.
Mitten auf dem Rücksitz entdeckten sie ein Jagdmesser, das sie später in der Beweisführung als »versteckte Waffe« bezeichnen würden, die dreckigen Lügner. Jedenfalls mussten wir ihnen zu einer Parkgarage unter dem Rathaus folgen. Auf der Fahrt behielten sie uns natürlich scharf im Auge und sahen, wie wir noch ein bisschen Stoff aus dem Fenster warfen.
Nach unserer Ankunft in der Garage untersuchten sie das Auto nicht sofort. An Ronnie erging der Befehl: »Okay, Sie steigen in den Wagen und holen das Zeug raus.« Ronnie hatte eine kleine Handtasche oder so was Ähnliches im Auto, aber er stopfte seinen ganzen Shit lieber rasch in eine Kleenex-Schachtel. Als er wieder zum Vorschein kam, zischte er mir zu: »Unterm Fahrersitz.« Als ich dran war, war im Wagen nichts mehr zu sehen. Ich hätte also nur geschäftig rummachen und dabei die Schachtel verschwinden lassen müssen. Dummerweise wusste ich aber ums Verrecken nicht, wie ich das anstellen sollte. Schließlich knüllte ich sie zusammen und steckte sie unter den Rücksitz. Als ich wieder ausstieg, erklärte ich, dass ich nichts hätte. Mir ist bis heute rätselhaft, warum sie das Auto nicht gleich auseinandergenommen haben.
Mittlerweile war ihnen klargeworden, wen sie da im Käscher hatten (»Duglaubstesnich: Wir haben ein paar von denen lebendig erwischt«), doch plötzlich schienen sie nicht mehr zu wissen, was sie mit diesen internationalen Stars anfangen sollten. Also forderten sie Verstärkung aus dem ganzen Bundesstaat an. Auch über die Art der Anklage waren sie sich unschlüssig. Und sie wussten, dass wir versuchten, Bill Carter zu erreichen, was sie komplett verunsicherte, denn das hier war Bill Carters Vorgarten. Er war in der Nachbarstadt Rector aufgewachsen und kannte jeden Polizeibeamten, jeden Sheriff, jeden Staatsanwalt, alle wichtigen Politiker. Wahrscheinlich bereuten sie schon, dass sie die Nachricht von ihrem tollen Fang so großkotzig an die Agenturen rausgegeben hatten. Die landesweiten Medien versammelten sich bereits vor dem Gerichtsgebäude – ein Fernsehsender aus Dallas hatte sogar einen Learjet gemietet, um die Pole-Position zu ergattern.
Es war Samstagnachmittag, und sie riefen in Little Rock an, um sich mit den Behörden zu besprechen. Statt uns einzusperren und die Bilder davon um die Welt zu schicken, behielten sie uns im Büro des Polizeichefs in milder »Schutzhaft«, was bedeutete, dass wir ein bisschen auf und ab gehen durften. Wo steckte Carter? Sein Büro war übers verlängerte Wochenende geschlossen, und Handys gab es damals noch nicht. Es dauerte eine ganze Weile, ihn aufzuspüren.
In der Zwischenzeit versuchten wir, das restliche Zeug loszuwerden. Wir waren komplett zugedröhnt. Die Siebziger verbrachte ich in einem sagenhaften Rausch aus allerreinstem Merck-Kokain, dieser flaumweichen pharmazeutischen Droge. Freddie Sessler und ich marschierten aufs Klo, und unsere Aufpasser kamen nicht einmal mit. »Jesus Christus«, die Floskel, mit der Freddie jeden seiner Sätze begann, »bin ich vielleicht drauf.« Er hat Flaschen voller Tuinalkapseln dabei und es so eilig, sie runterzuspülen, dass ihm eine Flasche aus der Hand fällt und die ganzen türkisroten Pillen überall herumkullern, während er schon dabei ist, das Koks loszuwerden. Ich schmeiße inzwischen das Haschisch und Gras ins Klo, aber es lässt sich nicht runterspülen, es ist einfach zu viel Gras. Ich spüle und spüle, und plötzlich kommen diese Pillen in meine Kabine gerollt. Ich versuche sie aufzuheben und wegzuwerfen, aber es gelingt mir nicht ganz, weil sich zwischen meiner und der von Freddie eine weitere Kabine befindet, in der sich schließlich ungefähr fünfzig Pillen sammeln. »Jesus Christus, Keith!« – »Ganz ruhig, Freddie, ich hab meine alle, hast du deine?« – »Glaub schon.« – »Okay, dann gehen wir jetzt in die andere Kabine und räumen auf.« Es schneite Stoff, es war einfach unfassbar, in jeder Tasche, überall steckte was. Ich wusste gar nicht, dass ich so viel Koks hatte!
Das wahre Überraschungsei war Freddies Aktenkoffer, der sich noch ungeöffnet im Kofferraum befand und natürlich voller Kokain war. Den konnten sie gar nicht übersehen. Wir beschlossen, dass wir Freddie für diesen Nachmittag aus taktischen Gründen verstoßen und als Anhalter ausgeben würden. Selbstverständlich würden wir ihm bei Bedarf gern die Dienste unseres Rechtsberaters zur Verfügung stellen – sofern der Kerl denn endlich mal auftauchte.
Wo war Carter bloß? Es würde schließlich seine Zeit brauchen, bis wir unsere Truppen aufgestellt hatten. Unterdessen schwoll die Bevölkerung von Fordyce zu einer Größe an, die Ausschreitungen befürchten ließ. Die Menschen kamen von überall her – Mississippi, Texas, Tennessee -, um sich das Schauspiel anzusehen. Doch ehe Carter, der irgendwo unterwegs war, aufgespürt war, würde sowieso nichts passieren. Sicher war er gar nicht weit weg, hatte bloß einen wohlverdienten freien Tag genommen. Es blieb also genug Zeit, um darüber nachzudenken, wie ich dermaßen sorglos hatte sein können, alle, aber auch wirklich alle Regeln zu vergessen. Wenn du nicht gegen das Gesetz verstößt, dann winken sie dich auch nicht raus. Die Bullen und erst recht die Südstaatenbullen haben nämlich ein ganzes Repertoire quasilegaler Tricks, um dich einzusperren, wenn ihnen danach ist. Kein Problem, dich schnell mal drei Monate hinter Gitter zu bringen. Deshalb hatte uns Carter auch empfohlen, die Interstate auf gar keinen Fall zu verlassen. Der Bibelgürtel war damals noch um einiges straffer gezogen.
Auf den ersten Tourneen hatten unsere Reifen eine Menge Meilen gefressen. Raststätten waren Glückssache. Da musste man auf einiges gefasst und – vor allem – zu einigem bereit sein. Zum Beispiel Truckerkneipen, 1964,’65,’66 im Süden oder in Texas. Das war bei weitem gefährlicher als sämtliche Innenstädte. Du kommst da rein, und da sitzen diese netten Jungs, und dir wird ganz langsam klar, dass du hier, in Gesellschaft der Trucker mit Bürstenschnitt und Tattoos, bestimmt nicht in aller Ruhe dein Essen verzehren wirst. Du stocherst nervös auf dem Teller herum und … »Äh, können Sie das einpacken, muss leider schon weiter.« Wegen der langen Haare riefen sie uns immer »Mädchen«. »Wie geht’s, Mädels? Kleines Tänzchen gefällig?« Haare … Wer hätte gedacht, dass solche Kleinigkeiten ganze Gesellschaften verändern können. Die Reaktionen, die wir hier im Süden erleben durften, kannten wir bestens von zu Hause, aus bestimmten Vierteln in London. »Hey, Süße«, und ähnliche Scheiße.
Im Rückblick war es ein einziger Kampf, aber wenn du mittendrin steckst, denkst du ganz anders. Zunächst waren das vollkommen neue Erfahrungen, und wir verschwendeten keinen Gedanken daran, was sie mit uns anstellen würden oder auch nicht. Man gewöhnte sich einfach daran. Irgendwann wurde mir klar, dass die Sache immer gleich viel besser lief, sobald sie merkten, dass wir Gitarren dabeihatten, also Musiker sein mussten. Moral: Nie ohne Gitarre in die Truckerkneipe. »Kannst du das Ding auch spielen, Junge?« Manchmal haben wir das sogar getan, haben die Gitarren rausgeholt und die Rechnung mit Musik beglichen.
Du musstest aber nur über die Gleise, und schon gab es wirklich was zu lernen. Wenn wir mit schwarzen Musikern aufgetreten sind, haben die sich um uns gekümmert. Da hieß es einfach: »Hey, willst du heut noch einen wegstecken? Sie wird dich mögen. So was wie dich hat die in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen.« Du warst willkommen, es gab zu essen, und es gab Frauen. Die weiße Seite der Gleise war tot, aber auf der anderen Seite ging es echt ab. Wenn du die richtigen Leute kanntest, warst du dabei. Da konnte man echt was lernen.
Manchmal hatten wir an einem Tag zwei oder drei Auftritte hintereinander. Keine langen Shows, nur zwanzig, vielleicht dreißig Minuten. Man wartete, bis man an der Reihe war, denn das Programm war meist bunt gemischt, Schwarze, Amateure, weiße Lokalgrößen, alles Mögliche.
Wenn man runter in die Südstaaten fuhr, hörte es gar nicht mehr auf. Städte und Staaten sausten nur so vorbei. »White Line Fever« nennt man das. Bist du wach, starrst du auf diese weißen Streifen in der Mitte, bis einer sagt: »Ich muss mal« oder »Ich hab Hunger«. Dann geht man in diese kleinen Schuppen am Straßenrand. An diesen Nebenstraßen in North und South Carolina, Mississippi und so weiter. Du musst dringend mal aufs Klo und steuerst auf die Aufschrift »Men’s« zu, aber da steht ein riesiger schwarzer Kerl und sagt: »Nur für Farbige«, und du denkst: »Wer wird denn jetzt hier diskriminiert?« Du fährst weiter, an diesen kleinen Juke Joints vorbei, auf einmal hörst du diese wahnsinnige Musik, und aus den Fenstern dringt der Dampf.
»Hey, lass uns da mal rausfahren.«
»Könnte gefährlich werden.«
»Mann, hör dir das doch an!«
Und dann ist da eine Band, drei große schwere Schwarze, um die ein paar Nutten herumtanzen, denen die Dollarscheine im Tanga stecken. Also marschierst du rein, und die Raumtemperatur fällt schlagartig, denn bis dahin hatte sich noch kein einziger Weißer reingetraut. Aber die Schwarzen wissen, es ist einfach zu viel Energie im Raum, als dass die paar Weißen groß auffallen würden. Außerdem sehen wir nicht gerade aus wie die Jungs vom Dorf. Sie werden also neugierig, und bald wollen wir gar nicht mehr weg. Leider müssen wir weiter. Scheiße, ich hätte tagelang dableiben können. Aber keine Chance, trotz dieser reizenden schwarzen Damen, die dich zwischen ihren riesigen Titten schier ersticken. Wir verabschieden uns, verschwitzt und in Parfüm getränkt; wir steigen ins Auto, wir riechen gut, und die Musik verklingt im Hintergrund.
Für manche von uns muss es gewesen sein, als wäre man gestorben und im Himmel wieder aufgewacht. Im Jahr zuvor hatten wir noch in den Londoner Clubs gespielt, nicht dass das schlecht gewesen wäre, aber jetzt befanden wir uns an einem Ort, von dem wir nie gedacht hätten, dass wir ihn jemals sehen würden: im Bundesstaat Mississippi. Wir hatten diese Musik zwar gespielt, aber gaaanz ehrfürchtig … und nun konnten wir sie plötzlich auf der Zunge schmecken. Du träumst davon, dass du den Blues spielst, und im nächsten Augenblick bist du ein echter Bluesman, du bist verdammt noch mal mittendrin, und neben dir steht Muddy Waters. Es geht so schnell, dass du von all den Eindrücken komplett überfordert bist. Später, mit Hilfe von ein paar Flashbacks, kapierst du es irgendwann, aber zunächst ist das alles einfach zu viel auf einmal. Es ist eine Sache, ein Stück von Muddy Waters zu spielen, aber es ist ganz was anderes, mit Muddy Waters zu spielen.
Bill Carter wurde schließlich in Little Rock aufgespürt, wo er im Haus eines Freundes beim Grillen war. Dieser Freund war passenderweise Richter, kein schlechter Zufall. Bill wollte ein Flugzeug chartern und den Richter gleich mitnehmen. Dieser Richter kannte den Polizisten, der unser Auto filzen sollte, und erklärte ihm am Telefon, dass die Polizei seiner Meinung nach dazu kein Recht habe. Die Untersuchung dürfe keinesfalls beginnen, ehe er eingetroffen sei. Damit passierte die nächsten zwei Stunden: nichts.
Seit dem College hatte Bill Carter bei sämtlichen Wahlkämpfen mitgemischt und kannte deshalb praktisch jeden wichtigen Mann im Bundesstaat. Aus den Leuten, für die er in Arkansas gearbeitet hatte, waren einige der einflussreichsten Demokraten in Washington geworden. Sein Ziehvater war Wilbur Mills aus Kensett, der Vorsitzende des Committee on Ways and Means im Repräsentantenhaus, also der zweitmächtigste Mann nach dem Präsidenten.
Carters Eltern waren arm gewesen. Während des Koreakriegs ging er zur Air Force, finanzierte sich das Jurastudium mit der Kohle, die er als GI bekam, und als die aufgebraucht war, ging er zum Secret Service und landete schließlich bei Kennedys Sicherheitstruppe. An dem besagten Tag war er nicht in Dallas, sondern befand sich auf einem Fortbildungskurs. Aber sonst hatte er Kennedy ständig begleitet, hatte seine Reisen vorbereitet und kannte alle wichtigen Figuren in jedem Staat, den Kennedy besuchte. Der Herzschlag der Macht war ihm vertraut. Nach Kennedys Tod untersuchte er den Mord für die Warren Commission, um anschließend in Little Rock seine eigene Kanzlei zu eröffnen, wo er eine Art Volksanwalt wurde. Carter fürchtete nichts und niemanden. Er kämpfte leidenschaftlich für Recht und Gesetz, für die korrekte Befolgung der Regeln, streng nach der Verfassung – darüber hielt er bei der Polizei Vorträge. Er war Verteidiger geworden, erklärte er mir, weil er die Polizisten satthatte, die systematisch ihre Macht missbrauchten und die Gesetze nach Lust und Laune handhabten – mit anderen Worten fast alle, die er auf einer Tournee der Rolling Stones traf, in fast jeder Stadt. Carter war der geborene Verbündete.
Seine Kontakte in Washington waren seine Trumpfkarte, als man uns 1973 das Visum für die USA verweigerte. Als Carter am Ende jenes Jahres zum ersten Mal wegen uns nach Washington fuhr, stellte er fest, dass die Nixon-Doktrin weiterhin galt und in der Bürokratie bis ganz nach unten befolgt wurde. Man erklärte ihm hochoffiziell, dass die Rolling Stones nie wieder in den Vereinigten Staaten auftreten würden. Abgesehen davon, dass wir die gefährlichste Rock’n’Roll-Band der Welt waren, weil wir Ausschreitungen auslösten, für schlimmes Fehlverhalten und Missachtung der Gesetze sorgten, wurde uns zudem ziemlich verübelt, dass sich Mick als Uncle Sam in den Stars and Stripes, der amerikanischen Flagge, auf der Bühne gezeigt hatte. Das allein reichte schon, um ihm die Einreise zu verweigern. Immerhin: die US-Fahne! Da musste man sehr vorsichtig sein. Brian Jones wurde in den Sechzigern mal festgenommen, ich glaube in Syracuse im Staat New York, weil er eine amerikanische Flagge aufgehoben hatte, die hinter der Bühne herumlag. Er hängte sie sich um die Schultern, aber ein Zipfel schleifte noch auf dem Boden. Das war nach dem Auftritt, wir waren bereits auf dem Weg nach draußen, aber die Polizei-Eskorte drängte uns alle in eine Wache, wo sie zu schreien anfingen: »Die Flagge über den Boden schleifen! Ihr entehrt die Nation! Das ist Volksverhetzung!«
Obendrein verwiesen die Behörden auf mein Strafregister – da war nichts zu machen. Jeder wusste genau, dass ich ein Junkie war; wenn die Zeitungen über mich schrieben, dann darüber. Gerade erst war ich wieder wegen Drogenbesitz verurteilt worden, außerdem Oktober 1973 in England, und davor in Frankreich, 1972, ebenfalls wegen Drogenbesitz. Als Carter mit seiner Kampagne begann, kochte gerade die Sache mit Watergate hoch. Ein paar von Nixons Handlangern saßen schon im Knast, und zusammen mit Haldeman, Mitchell und Co. sollte Nixon selbst bald stürzen – manche von denen hatten gemeinsam mit dem FBI schon an der hinterhältigen Kampagne gegen John Lennon mitgewirkt.
Carters entscheidendes Plus bei der Einwanderungsbehörde bestand darin, dass er einer von ihnen war, dass er aus der Strafverfolgung kam; darüber hinaus genoss er hohes Ansehen, weil er für Kennedy gearbeitet hatte. Er sagte brav: »Ich weiß doch, wie ihr euch fühlt, Jungs«, und bat dann einfach um eine Anhörung, denn seiner Meinung nach wurden wir nicht fair behandelt. Er arbeitete sich langsam vor, eine monatelange Schufterei. Den unteren Instanzen widmete er die meiste Aufmerksamkeit, da er wusste, dass die mit irgendwelchen Formalitäten alles blockieren konnten. Um zu beweisen, dass ich keine Drogen nahm, unterzog ich mich mehreren medizinischen Tests. Und zwar beim selben Pariser Arzt, der mich schon mehrfach für clean erklärt hatte. Dann trat Nixon zurück. Und Carter bat den obersten Beamten um ein Treffen, damit er sich im Gespräch mit Mick selber ein Urteil bilden konnte. Mick zieht natürlich seinen besten Anzug an und dem Mann mit seinem Charme die Schuhe aus. Mick ist so was von wandlungsfähig, dafür liebe ich ihn. Er könnte ohne weiteres eine philosophische Diskussion mit Sartre führen. Auf Französisch! Und mit Kommunalgrößen ist er besonders gut. Carter erzählte mir, er habe die Visa extra nicht in New York oder Washington beantragt, sondern in Memphis, wo alles etwas ruhiger ablief. Deshalb diese erstaunliche Kehrtwende. Einreiseerlaubnis und Visum wurden sofort erteilt, allerdings nur unter einer Bedingung: dass Bill Carter mit den Stones auf Tournee ging und der Regierung persönlich dafür geradestand, dass es weder zu Ausschreitungen noch irgendwelchen anderen illegalen Aktivitäten kam. (Eine weitere Bedingung war, dass uns ein Arzt begleitete – von ihm wird später noch die Rede sein. Auf dieser Tour wurde er drogensüchtig und brannte mit einem Groupie durch.)
Carter hatte sie beruhigen können, indem er ihnen anbot, die Tour im Stil des Secret Service und zusammen mit der Polizei zu organisieren. Seine anderen Kontakte machten es möglich, dass wir gewarnt wurden, wenn uns die Polizei hochgehen lassen wollte. Damit rettete er uns mehrfach den Arsch.
Durch die Demonstrationen und Antikriegsmärsche während Nixons Amtszeit war das Klima seit der Tournee von 1972 um einiges rauer geworden. Eine Kostprobe bekamen wir am 3. Juni in San Antonio. Das war die Tour mit dem riesigen aufblasbaren Schwanz. Der Schwanz stieg über der Bühne auf, während Mick »Starfucker« sang. Und er war toll, der Schwanz, allerdings mussten wir das später büßen, weil Mick, um seine Unsicherheit zu kaschieren, von da an auf jeder Tour solche Requisiten haben wollte. In Memphis wollten wir mordsmäßig was veranstalten und Elefanten auftreten lassen, aber dann krachten sie durch die Absperrungen und schissen bei der Probe die Bühne voll, weshalb wir lieber darauf verzichteten. Bei unseren Eröffnungskonzerten in Baton Rouge hatten wir keinerlei Schwierigkeiten mit dem Schwanz. Doch für die Bullen, die es schon aufgegeben hatten, uns im Hotel, unterwegs oder in der Garderobe zu verhaften, war das Ding einfach zu verlockend. Sie konnten uns eigentlich nur mehr auf der Bühne festnageln. Also drohten sie damit, Mick festzunehmen, wenn er den Schwanz an diesem Abend aufsteigen ließ, was zu einer bedrohlichen Pattsituation führte. Carter warnte sie, dass die Fans womöglich die Arena abfackeln würden. Er hatte ein bisschen die Stimmung getestet und war zu dem Schluss gekommen, dass die Fans sich das nicht gefallen lassen würden. Am Ende entschied sich Mick, Rücksicht auf die Gefühle der Verantwortlichen zu nehmen, und darum gab es in San Antonio keinen Ständer. In Memphis drohte Mick die Festnahme, weil er die Worte »Starfucker, Starfucker« gesungen hatte, aber Carter bremste die Bullen aus, indem er ihnen eine Liste der Musikstücke vorlegte, die der Lokalsender gespielt hatte: Sie hatten das Stück zwei Jahre lang gesendet, ohne dass jemand dagegen protestiert hatte. In jeder Stadt musste Carter erleben, wie die Polizei zu illegalen Mitteln griff, wie sie gegen Gesetze verstieß, wie sie Festnahmen ohne Haftbefehl versuchte und Durchsuchungen ohne begründeten Verdacht durchführte – und er war fest entschlossen, sich mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen.
Es war also bereits einiges zusammengekommen, als Carter endlich mit dem Richter im Schlepptau in Fordyce eintraf. In der Stadt hatte sich ein beeindruckendes Presseaufgebot eingefunden. Straßensperren sollten weitere Neugierige fernhalten. Die Polizisten brannten darauf, den Kofferraum zu öffnen, da sie davon überzeugt waren, dort Drogen zu finden. Als Erstes wurde mir »rücksichtsloses Fahren« vorgeworfen, weil die Reifen gequietscht und etwas Kies aufgewühlt hatten, als wir den Parkplatz vor dem Restaurant verließen. Zwanzig Meter »rücksichtsloses Fahren«. Zweite Beschuldigung: Ich hätte eine »versteckte Waffe«, das Jagdmesser, bei mir gehabt. Doch um den Kofferraum legal zu öffnen, mussten sie den Verdacht »glaubhaft machen«, also Beweise oder zumindest Anhaltspunkte dafür vorbringen, dass ein Verbrechen begangen worden war. Sonst wäre die Durchsuchung nicht legal, und der Fall würde auch dann verworfen, wenn das Zeug doch gefunden wurde. Sie hätten den Kofferraum öffnen dürfen, wenn sie durch das Autofenster verbotene Dinge erspäht hätten, aber sie hatten nichts gesehen. Die Sache mit der »Glaubhaftmachung« sorgte dann für den Brüllwettbewerb, der immer wieder zwischen den verschiedenen Beamten ausbrach, während sich der Nachmittag hinzog. Zunächst machte Carter klar, dass es sich seiner Meinung nach um eine getürkte Anschuldigung handele. Um einen glaubhaften Fall zu erfinden, behauptete der Bulle, der mich verhaftet hatte, er habe, als wir vom Parkplatz fuhren, durch unser offenes Autofenster Marihuanarauch gerochen. Deshalb hätten sie das Recht, den Kofferraum zu öffnen. »Die glauben offenbar, dass sie es mit dem letzten Hinterwäldler zu tun haben«, sagte uns Carter. Im Klartext: In der einen Minute, die zwischen dem Verlassen des Restaurants und der Abfahrt lag, war angeblich Zeit genug gewesen, sich einen Joint zu drehen, ihn anzuzünden und damit das Auto so vollzuqualmen, dass es aus mehreren Metern Entfernung zu riechen war. Deswegen hätten sie uns verhaftet, hieß es. Allein das zerstörte die Glaubwürdigkeit der Beweise, die die Polizei vorgebracht hatte. Carter besprach das Ganze mit einem bereits wutschnaubenden Polizeichef, dessen Stadt sich im Belagerungszustand befand, der aber genau wusste, dass er unser ausverkauftes Konzert am nächsten Abend im Cotton Bowl in Dallas verhindern konnte, wenn er uns in Fordyce festhielt. Für Carter und uns war Polizeichef Bill Gober der klassische Redneck-Bulle, die Bibelgürtel-Version meiner Freunde von der Polizeiwache in Chelsea, die nur darauf lauerten, das Gesetz zu umgehen und ihre Macht zu missbrauchen. Gober empfand die Rolling Stones als persönliche Beleidigung – ihre Klamotten, ihre Haare, alles, was sie vertraten, ihre Musik und vor allem ihre Verachtung jeder Form von Autorität. Insubordination. Sogar Elvis sagte: »Yes, Sir.« Nur diese langhaarigen Penner nicht. Carter drohte ihm zwar damit, die Sache bis zum Obersten Gerichtshof durchzufechten, aber Gober kümmerte sich nicht darum und machte den Kofferraum auf. Als der Kofferraum endlich offen war, kam der echte Brüller. Wir hätten uns bepissen können vor Lachen.
Als wir Tennessee, wo es im Wesentlichen abstinent zuging, verlassen hatten und über den Fluss nach West Memphis, also nach Arkansas fuhren, stießen wir auf Läden, die Schnaps in braunen Papiertüten verkauften, in der Regel schwarzgebrannten. In einem dieser Läden waren Ronnie und ich schier durchgedreht und hatten jede Flasche Bourbon gekauft, wenn sie nur einen skurrilen Namen hatte – Flying Cock, Fighting Cock, the Grey Major -, und dazu lauter kleine Flachmänner, alle mit handbeschrifteten, exotischen Etiketten. Deshalb hatten wir jetzt über sechzig von diesen Pullen im Kofferraum stehen. Prompt wurden wir als Alkoholschmuggler verdächtigt. »Nein, die haben wir gekauft, ist alles bezahlt.« Ich glaube, diese Unmenge Fusel hat sie ziemlich durcheinandergebracht. Wir reden hier schließlich von den Siebzigern, als Alkis nichts mit Kiffern zu tun hatten. Da wurde eine klare Linie gezogen. »Wenigstens sind die Kerle richtige Männer und trinken Whiskey.«
Doch dann entdeckten sie Freddies Aktenkoffer, der verschlossen war. Er behauptete, er habe die Kombination vergessen. Sie brachen also das Schloss auf, und natürlich fanden sie zwei kleine Döschen mit pharmazeutischem Kokain. Gober glaubte, jetzt hätte er uns, oder zumindest Freddie.
Es dauerte einige Zeit, bis wir den zuständigen Richter auftreiben konnten. Mittlerweile war es dunkel geworden. Der Richter hatte den Tag auf dem Golfplatz verbracht und getrunken. Inzwischen war er sternhagelvoll.
Von nun an schwankt die Geschichte zwischen Komödie, absurdem Theater und Keystone Kops-Polizeiklamotte. Der Richter nahm hinter seinem Tisch Platz, und die verschiedenen Anwälte und Bullen versuchten, ihn von ihrer jeweiligen Vorstellung von Recht und Gesetz zu überzeugen. Gober wollte den Richter natürlich dazu bringen, die Durchsuchung und den Kokainfund für legal zu erklären, so dass er uns alle wegen schwerer Vergehen hätte festhalten können – sprich: Wir sollten in den Bau wandern. Von diesem winzig kleinen juristischen Knackpunkt hing also die Zukunft der Rolling Stones ab, jedenfalls in den Vereinigten Staaten.
Das Weitere spielte sich ziemlich genau so ab, wie nachfolgend geschildert, jedenfalls nach allem, was ich so mitbekam und was Bill Carter mir später bestätigte. So – und Perry Mason möge Nachsicht zeigen – erzählt es sich am einfachsten.
Die Darsteller:
Bill Gober, Polizeichef: rachsüchtig, zornig.
Richter Tom Wynne, Vorsitzender Richter in Fordyce: sehr betrunken.
Frank Wynne, Staatsanwalt: der Bruder des Richters.
Bill Carter: berühmter, angriffslustiger Strafverteidiger, Vertreter der Rolling Stones. Gebürtig aus Little Rock, Arkansas. Tommy Mays, Staatsanwalt: idealistisch, frisch von der Uni.
Des Weiteren: Richter Fairley. Von Carter mitgebracht, um einen fairen Prozess zu garantieren und uns vor dem Gefängnis zu bewahren.
Gerichtsgebäude, außen:
Zweitausend Rolling-Stones-Fans, die gegen die Absperrungen vor dem Rathaus drücken und dabei singen: »Freiheit für Keith! Freiheit für Keith!«
Gerichtssaal, innen:
Richter:
Also gut, ich glaube, dass es heute um ein Verbrechen geht. Ein Verbrechen, meine … meine Herren. Ich erwarte Ihre Hann-Anträge. Herr Anwalt?
Junger Staatsanwalt:
Euer Ehren, da gibt es ein Problem mit dem Beweismaterial.
Richter:
Sie müssen mich bitte einen Moment entschuldigen bitte. Ich ziehe mich zurück.
[Verwirrung im Gericht. Verhandlung für zehn Minuten unterbrochen. Richter erscheint wieder. Seine Expedition hat ihn über die Straße geführt, wo er schnell vor Ladenschluss um zehn noch eine handliche Flasche Bourbon kaufte. Die Flasche befindet sich nun in seinem Strumpf.]
Carter [am Telefon verbunden mit Frank Wynne, dem Bruder des Richters]:
Frank, wo bist du? Komm mal rüber zu uns. Tom ist betrunken. Yeah. Okay. Okay.
Richter:
Fahren Sie fort, Mister … äh, fahren Sie fort.
Junger Staatsanwalt:
Ich glaube nicht, dass das polizeiliche Vorgehen durch die Gesetze gedeckt ist, Euer Ehren. Wir haben keinerlei Recht, diese Männer festzuhalten. Ich denke, wir müssen sie freilassen.
Polizeichef [zum Richter, schreiend]:
Das wär ja noch schöner! Sie wollen diese Lumpen freilassen? Ich werde Sie verhaften lassen, Richter, ja, genau Sie. Sie sind nicht nüchtern. Sie sind betrunken, und zwar in aller Öffentlichkeit. Sie sind überhaupt nicht in der Lage, den Vorsitz zu führen. Sie sind eine Schande für unsere Stadt! [Versucht ihn zu packen.]
Richter [schreiend]:
Sie Scheißkerl! Sofort loslassen! Ich fühle mich bedroht! Dada-dafür werde ich Sie … [Handgemenge]
Carter [der eingreift, um sie zu trennen]:
Hey, Jungs, Jungs, ruhig. Schluss mit dem Hickhack, wir müssen reden. Die Messer lassen wir lieber mal stecken, die brauchen wir noch, haha … Draußen ist das Fernsehen, draußen ist die Weltpresse. Das sähe einfach nicht gut aus. Ihr könnt euch vorstellen, was der Gouverneur dazu sagen wird. Wir müssen wieder sachlich werden. Wir können uns doch bestimmt irgendwie einigen.
Gerichtsbeamter:
Entschuldigen Sie bitte, Herr Richter. Da ist die BBC. Sie wollen ein Statement für die Live-Nachrichten.
Richter:
Ahh ja. Schulligung, Jungs. Bin gleich wieder da. [Er zieht die Flasche aus dem Strumpf, nimmt einen Schluck.]
Polizeichef [der noch immer schreit]:
Gottverfluchter Zirkus! Verdammt noch mal, Carter, diese Burschen hier haben sich eines schweren Vergehens schuldig gemacht. Wir haben Kokain in diesem verfluchten Auto gefunden. Was wollen Sie denn noch? Ich werde diese Ärsche in den Knast bringen. Hier bei uns wird nach unsren Regeln gespielt, die krieg ich schon noch an den Eiern. Wie viel zahlen die dir eigentlich dafür, du Saftsack? Wenn die Durchsuchung nicht für legal erklärt wird, sperre ich den Richter wegen öffentlicher Trunkenheit ein.
Richter [über BBC]:
O yeah, ich war in England im Zweiten Weltkrieg. Bomberpilot, 385. Geschwader. Station Great Ashfield. War schon eine tolle Zeit da drüben … Ja, ich liebe England. Habe viel Golf gespielt, auf ein paar super Plätzen. Ihr habt ganz besondere Plätze dort … Wennnworth? Yeah. Und um Ihnen das noch mitzuteilen: Wir werden eine Pressekonferenz mit den Jungs abhalten und ein bisschen erklären, wie wir hier arbeiten und wie die Rolling Stones überhaupt in unsere Stadt gekommen sind.
Polizeichef:
Ich habe sie, und ich werde sie festhalten. Ich will diese Briten, diese kleinen Schwuchteln. Was bilden die sich eigentlich ein?
Carter:
Wollen Sie hier wirklich Ausschreitungen haben? Haben Sie mal nach draußen geschaut? Sie brauchen nur mit Handschellen winken, und die Menge gerät völlig außer Kontrolle. Das sind die Rolling Stones, Herrgottnochmal!
Polizeichef:
Und deine kleinen Jungs werden trotzdem hinter Gittern landen.
Richter [vom Interview zurück]:
Was soll das?
Der Bruder des Richters [der ihn beiseitenimmt]:
Tom, kann ich dich einen Moment sprechen? Es gibt keine Rechtsgrundlage für die Festnahme. Wenn wir uns hier nicht an den Wortlaut der Gesetze halten, kommt uns das teuer zu stehen.
Richter:
Weiß ich, klar. Ja, ja. Mr. Carrer. Treten Sie bitte alle an den Richtertisch.
Außer Polizeichef Gober hatten sich mittlerweile alle beruhigt. Die Durchsuchung hatte nichts zutage gefördert, was sie gegen uns hätten verwenden können. Sie konnten uns nichts anhängen. Das Kokain gehörte dem Tramper Freddie und war auf unrechtmäßigem Wege entdeckt worden. Die Polizei hatte sich bereits mehrheitlich auf Carters Seite geschlagen. Nach vielem Hin und Her und nachdem die Beteiligten sich mehrfach irgendetwas ins Ohr geflüstert hatten, machten Carter und die anderen Anwälte einen Deal mit dem Richter. Es war ganz einfach: Der Richter wollte das Jagdmesser haben und ließ die diesbezügliche Anklage fallen – es hängt noch heute im Gerichtssaal. Das rücksichtslose Fahren reduzierte er auf ein bloßes Vergehen, auf ein besseres Bußgeld wie bei Falschparken, das mich 162,50 Dollar kostete. Mit den 50 000 Dollar, die Carter in bar mitgebracht hatte, zahlte er eine Kaution von 5000 Dollar für Freddie und das Kokain, und es wurde vereinbart, dass er später beantragen würde, die Sache aus verfahrensrechtlichen Gründen fallenzulassen. Damit war Freddie frei. Es gab allerdings eine letzte Bedingung. Bevor wir verschwanden, mussten wir eine Pressekonferenz mit dem Richter geben und uns Arm in Arm mit ihm fotografieren lassen. Ronnie und ich setzten uns für die Konferenz hinter den Richtertisch. Irgendwo hatte ich einen Feuerwehrhelm gefunden, und sie filmten mich, wie ich mit dem Hammer auf den Tisch schlug und vor den Journalisten verkündete: »Fall abgeschlossen.« Puh!
Dieser Ausgang der Gerichtsaffäre war typisch Stones. Die Behörden, die uns festsetzten, standen jedes Mal vor der gleichen heiklen Entscheidung: Sollen wir sie einsperren, oder wollen wir uns mit ihnen fotografieren lassen und sie mit einer Motorrad-Eskorte aus der Stadt begleiten? Die Meinungen gingen immer wieder auseinander. In Fordyce stand es auf Messers Schneide – und dann bekamen wir doch die Eskorte. Die Polizei musste uns den Weg durch die Menge bahnen und uns gegen zwei Uhr morgens zum Flughafen bringen, wo der Flieger mit laufenden Motoren und einem ausreichenden Vorrat an Jack Daniel’s schon auf uns wartete.
Im Jahr 2006 war der politische Ehrgeiz von Mike Huckabee, dem Gouverneur von Arkansas, der sich um die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner bewarb, groß genug, um mich wegen meines inzwischen dreißig Jahre zurückliegenden Fehlverhaltens zu begnadigen. Gouverneur Huckabee spielt übrigens selbst Gitarre, ich glaube sogar, er hat eine eigene Band. In Wirklichkeit gab es gar nichts zu begnadigen. In Fordyce lag nichts gegen mich vor, doch egal, ich wurde so oder so begnadigt. Bloß – was zum Henker wurde aus dem Auto? Wir ließen die mit Stoff vollgestopfte Karre damals einfach in der Parkgarage stehen. Ich würde zu gern wissen, was sie damit angestellt haben. Vielleicht wurde die Verkleidung nie abgemacht. Und vielleicht fährt noch immer jemand mit dem ganzen Shit in der Gegend herum.
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KAPITEL 2
Einzelkind im Moorland von Dartford. Campingferien in Dorset mit meinen Eltern Bert und Doris. Abenteuer mit meinem Großvater Gus und Mr. Thompson Wooft. Gus bringt mir den ersten Lick auf der Gitarre bei. Ich lerne, Prügel einzustecken, und bezwinge später den Schulhofschläger der Dartford Tech. Doris schult meine Ohren mit Django Reinhardt, und durch Radio Luxemburg entdecke ich Elvis. Ich verwandle mich vom Chorknaben zum Rebellen und werde von der Schule verwiesen.
Jahrelang schlief ich im Durchschnitt zweimal die Woche. Das heißt, ich war mindestens drei Leben lang bei Bewusstsein. Noch vor diesen Leben lag meine zähe Kindheit, die ich östlich von London an der Themse verbrachte, in Dartford, wo ich am 18. Dezember 1943 geboren wurde. Laut meiner Mutter geschah das während eines Luftangriffs. Das wird wohl so sein. Der erste Fetzen einer Erinnerung ist jedenfalls, dass ich bei uns hinterm Haus im Gras liege, zu dem brummenden Flugzeug hochzeige und Doris sagt: »Spitfire.« Der Krieg war da schon vorbei, aber wo ich aufwuchs, brauchte man sich bloß umzudrehen, und man sah den Horizont, Brachland, Unkraut und vielleicht ein oder zwei einzelne Häuser, die wie durch ein Wunder den Krieg überlebt hatten und an einen Hitchcock-Film erinnerten. In unserer Straße kam eine Fliegerbombe runter, aber da waren wir gerade nicht zu Hause. Doris erzählte, dass das Ding am Bordstein entlanghüpfte und jeden tötete, der sich links und rechts von unserem Haus befand. Ein oder zwei Backsteine landeten in meinem Gitterbett. Das war der Beweis, dass Hitler mir im Nacken saß. Danach wandte er sich Plan B zu. Seit dieser Geschichte hielt meine geliebte Mum Dartford für nicht ganz ungefährlich.
Als mein Vater Bert einberufen wurde, waren Doris und er von Walthamstow nach Dartford in die Morland Avenue gezogen, um näher bei meiner Tante Lil zu sein, Berts Schwester. Lils Angetrauter war ein Milchmann, den eine neue Tour hierherverschlagen hatte. Nachdem dann die Bombe in unserem Teil der Morland Avenue eingeschlagen hatte, war meinen Eltern unser Haus nicht mehr sicher genug, und wir zogen bei Lil ein. Einmal, als wir nach einem Luftangriff aus dem Schutzraum kamen, stand das Dach von Lils Haus in Flammen. Trotzdem hauste die gesamte Familie nach dem Krieg dort zusammen, in der Morland Avenue. In meinen frühesten Erinnerungen steht unser altes Haus noch, aber ein Drittel der Straße war bereits ein einziger mit Gras und Blumen überwucherter Krater. Das war unser Spielplatz.
Eine andere von Doris’ Versionen besagt übrigens, dass ich im Livingstone Hospital zur Welt gekommen bin, just als das Heulen der Sirenen Entwarnung signalisierte. Bleibt mir nur, ihr zu glauben. Vom ersten Tag an habe ich nun wirklich nicht mitgeschrieben.
Als sie von Walthamstow nach Dartford zog, hatte meine Mutter gedacht, jetzt hätte sie einen sicheren Platz aufgetan. Sie schaffte uns also ins Darenth Valley – mitten in die »Bomb Alley«, die Route der feindlichen Bomber nach London. Dort befanden sich die Chemiefabrik Burroughs Wellcome und das größte Werk von Vickers-Armstrongs was es zu einer wunderbaren Zielscheibe für Angriffe machte. Obendrein lag Dartford auch noch in der Gegend, wo den deutschen Piloten allmählich der Arsch auf Grundeis ging, wo sie einfach ihre Bomben abwarfen und wieder umkehrten. »Jetzt wird’s mir langsam zu heiß hier.« Und WUMM. Ein Wunder, dass uns keine erwischte. Beim Heulen einer Sirene stellen sich mir noch heute die Nackenhaare auf, was sicher daran liegt, dass ich laufend mit Mum und der ganzen Familie im Schutzraum hockte. Wenn irgendwo eine Sirene aufheult, kommt diese instinktive Reaktion, ganz automatisch. Und ich höre das Geräusch oft, weil ich mir viele Spielfilme und Dokumentationen über den Krieg anschaue. Jedes Mal ist sofort das Kribbeln wieder da. Immer.
Meine frühesten Erinnerungen sind die Nachkriegsbilder, die alle Londoner im Kopf haben. Schuttlandschaften, halb verschwundene Straßen, von denen manche noch zehn Jahre später nicht anders aussahen. Für mich lag die wichtigste Bedeutung des Krieges in einer simplen Redewendung: »vor dem Krieg«. Schließlich hörte man die Erwachsenen dauernd darüber reden. »Tja, vor dem Krieg war alles anders.« Ansonsten hatte er keine besonderen Auswirkungen für mich. Klar, es gab keinen Zucker, keine Bonbons und Süßigkeiten, was schätzungsweise gar nicht mal schlecht war, auch wenn es mich nicht gerade glücklich machte. Ob später als Erwachsener auf der Lower East Side oder damals in dem Süßigkeitenladen in East Wittering, nicht weit von meinem Haus in West Sussex – ich hatte schon immer Probleme, an Stoff zu kommen. Das ist der einzige Dealer, bei dem ich heute noch Kunde bin: der Candies Sweet Shop. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich mit meinem Kumpel Alan Clayton, dem Sänger der Dirty Strangers, morgens um halb neun mit dem Wagen da rübergefahren bin. Wir waren die ganze Nacht auf gewesen und hatten plötzlich Gelüste auf Süßes verspürt. Wir mussten eine halbe Stunde warten, bis der Laden öffnete. Wir kauften Lollis, Karamellbonbons, Lakritz und Schwarze-Johannisbeer-Drops. Klar, dass wir uns nie dazu herabgelassen hätten, unseren Stoff im Supermarkt zu kaufen.
Der Umstand, dass ich mir bis 1954 keine Tüte Bonbons kaufen konnte, sagt viel über die Turbulenzen und Veränderungen, die nach einem Krieg noch Jahre andauern. Der Krieg war seit neun Jahren vorbei, ehe ich – wenn ich das Geld gehabt hätte – in einen Laden hätte gehen und sagen können: »Ich nehme eine Tüte von denen da« – Toffees und Anisbonbons. Vorher kriegte man bloß zu hören: »Hast du dein Rationierungsheft dabei?« Das Geräusch des Stempels, der aufs Papier klatscht. Eine Ration war eine Ration. Eine kleine braune Papiertüte, eine winzige, für eine ganze Woche.
Bert und Doris hatten in der gleichen Fabrik in Edmonton gearbeitet – er als Drucker, sie im Büro. Dort lernten sie sich kennen und zogen dann in Walthamstow zusammen. Vor dem Krieg, als er um sie warb, unternahmen sie viele Rad- und Campingtouren. Das brachte sie zusammen. Sie kauften sich ein Tandem und machten Touren nach Essex und Campingausflüge mit Freunden. Als ich geboren war, packten sie mich, sobald es ging, hinten auf ihr Tandem. Das muss sofort nach dem Krieg gewesen sein, vielleicht auch noch während des Krieges. Ich habe die Vision, wie wir bei einem Luftangriff unbeirrt weiterradeln – Bert vorne, Mum dahinter und ich in einem Babysitz auf dem Gepäckträger, kotzend wegen des Sonnenstichs, den ich mir in der gnadenlosen Hitze eingefangen habe. Das ist die Geschichte meines Lebens – immer on the road.
In der ersten Kriegszeit – vor meiner Geburt – fuhr Doris den Lieferwagen einer Genossenschaftsbäckerei. Obwohl sie ihnen gesagt hatte, dass sie gar nicht fahren könne. Glücklicherweise waren in jenen Tagen kaum Autos auf den Straßen. Einmal nahm sie verbotenermaßen den Wagen, um einen Freund zu besuchen, setzte ihn gegen eine Mauer und wurde trotzdem nicht gefeuert. Für Brotauslieferungen, die nicht so weit entfernt waren, nutzte sie ein Pferdegespann, damit sich die Genossenschaft das in Kriegszeiten knappe Benzin sparen konnte. Doris war für die Kuchenverteilung in einem großen Gebiet zuständig. Ein halbes Dutzend Kuchen für dreihundert Menschen. Und sie entschied, wer die bekommen würde. »Kann ich nächste Woche einen Kuchen haben?« – »Hatten Sie nicht erst letzte Woche einen?« Ein heldenhafter Krieg. Bert war bis zum D-Day in einem kriegswichtigen Betrieb beschäftigt, der Elektronenröhren herstellte. Nach der Invasion war er in der Normandie Kradmelder gewesen und bei einem Mörserangriff verwundet worden. Er war der einzige Überlebende. Der Überfall bescherte ihm eine hässlich klaffende Wunde – später eine bleiche Narbe, die sich über den ganzen linken Oberschenkel zog. Ich wollte immer so eine haben, wenn ich mal groß wäre. Ich: »Was ist das, Dad?« Er: »Das hat mich aus dem Krieg geholt, Sohnemann.« Bis zu seinem Lebensende litt er unter Alpträumen. Mein Sohn Marlon hat in den letzten Jahren viel Zeit mit seinem Großvater Bert in Amerika verbracht, und die beiden sind häufig zusammen campen gewesen. Marlon sagt, dass Bert oft mitten in der Nacht schreiend aufgewacht sei und gerufen habe: »Pass auf, Charlie, da kommt das Scheißding. Wir gehen alle drauf! Wir gehen alle drauf! Scheiße, verdammte Scheiße!«
Jeder, der aus Dartford stammt, ist ein Dieb. Das liegt uns im Blut. Der unabänderliche Charakter dieses Ortes ist in einem alten Vers verewigt: »Sutton for mutton, Kirkby for beef, South Darne for gingerbread, Dartford for a thief.« Zu seinem damaligen Reichtum kam Dartford durch Raubüberfälle auf die Postkutsche, die von Dover nach London über die alte Römerstraße fuhr, die Watling Street. Der East Hill ist sehr steil. Und plötzlich ist man im Tal und auf der anderen Seite des Flusses Darent. Der Fluss war schmal, aber dann folgte die kurze High Street, und man musste den West Hill hoch, wo die Pferde mächtig zu schnaufen hatten. Egal, aus welcher Richtung man anrückte, das war die perfekte Stelle für einen Hinterhalt. Die Kutscher bremsten erst gar nicht ab, um sich rumzustreiten. Der Dartford-Obolus war schon im Fahrpreis inbegriffen, damit die Reise glatt weitergehen konnte. Sie warfen einfach den Beutel mit den Münzen aus der Kutsche. Wenn man nämlich nicht zahlte, gaben sie ein Zeichen, sobald man den East Hill herunterfuhr. Ein Schuss – er hat nicht bezahlt -, und am West Hill wurde man dann endgültig gestoppt. Sie konnten also auf jeden Fall abkassieren. Man hatte keine Chance.
Als Züge und Autos den Transport übernahmen, war es mit dieser Geschäftsidee allerdings vorbei, und so haben sich die Leute wahrscheinlich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts nach einer anderer Möglichkeit umgetan, um diese Tradition irgendwie fortzuführen. Dartford entwickelte ein unglaubliches kriminelles Netzwerk – man braucht nur bei einigen Mitgliedern meiner weitläufigen Familie nachzufragen. So ist das Leben. Immer fällt hinten irgendwas vom Laster. Wenn plötzlich jemand mit was Hübschem aus Diamanten aufkreuzt, dann fragt man nicht: »Wo kommt das denn her?«
Als ich neun oder zehn war, lauerte mir über ein Jahr lang nach guter Dartford-Tradition fast jeden Tag auf dem Nachhauseweg von der Schule irgendwer auf. Seither weiß ich, wie man sich als Feigling fühlt. Das werde ich mir nie wieder antun. Es wäre gar kein Problem gewesen, einfach abzuhauen, aber ich ließ mich trotzdem vermöbeln. Meiner Mum sagte ich, dass ich mal wieder mit dem Fahrrad hingefallen sei. Worauf sie antwortete: »Junge, lass die Finger von dem Rad.« Früher oder später kriegen wir eben alle unsere Abreibung. Eher früher. Die einen sind Verlierer, die anderen Schlägertypen. Ich zog daraus ein paar nachhaltige Lehren für später, wenn ich groß genug sein würde, sie umzusetzen. Das Wichtigste ist, den Vorteil auszuspielen, den man als kleiner Scheißer hat: Geschwindigkeit. Was in der Regel heißt: abhauen. Aber irgendwann ist man es leid abzuhauen.
Es war die alte Dartford-Abzocke. Inzwischen gibt es den Dartford-Tunnel mit Mautstellen: Jeder, der von Dover nach London will, muss da durch. Das Abkassieren ist legal, und die Schlägertypen tragen Uniform. Man zahlt, so oder so.
Mein Garten war die Moorlandschaft von Dartford, drei Meilen Niemandsland zu beiden Seiten der Themse. Furchteinflößend und faszinierend zugleich, aber trostlos. Als Kinder sind wir immer bis runter ans Ufer, das war von zu Hause etwa eine halbe Stunde mit dem Fahrrad. Auf der anderen Seite des Flusses, am Nordufer, lag Essex County. Hätte genauso gut Frankreich sein können. Man konnte den Rauch von dem Ford-Werk in Dagenham sehen, und auf unserer Seite das Zementwerk in Gravesend. Letzteres ein passender Name, denn alles, was andernorts unerwünscht war, wurde seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts nach Dartford abgeschoben: Quarantäne- und Pockenkrankenhäuser, Leprakolonien, Schießpulverfabriken, Irrenanstalten – eine nette Mischung. Dartford war seit der Pockenepidemie 1880 Englands Zentrum für die Behandlung dieser Krankheit. Die Krankenhäuser am Fluss quollen über, so dass man die Patienten in Long Reach auf Schiffen unterbrachte – ein makaberer Anblick, wenn man durch die Themsemündung Richtung London segelte, heute noch auf Fotografien zu sehen. Aber berühmt waren Dartford und Umgebung für ihre Irrenhäuser – die verschiedenen Projekte des gefürchteten Metropolitan Asylums Board für mental Benachteiligte oder wie auch immer man diese Menschen heutzutage nennt. Man zog einen Gürtel um Dartford, als hätte irgendwer entschieden: »Okay, hier stecken wir jetzt die Irren rein.« Eine Einrichtung, ein klobiger, düsterer Gebäudekomplex, hieß Darenth Park und blieb bis in die jüngste Vergangenheit eine Art Arbeitslager für zurückgebliebene Kinder. Dann gab es noch das frühere City of London Lunatic Asylum, einen Bau im viktorianischen Stil, mit gotischen Giebeln und einem Turm mit Beobachtungsposten, das man später auf den etwas gefälligeren Namen Stone House Hospital umtaufte und wo mindestens einer der Jack-the-Ripper-Verdächtigen eingesperrt gewesen war, Jacob Levy, der hier an Syphilis starb. Einige der Irrenhäuser waren für schwerere, andere für leichtere Fälle. Als wir zwölf oder dreizehn waren, hatte Mick Jagger einen Sommerjob im Irrenhaus von Bexley, das Maypole genannt wurde. Ich glaube, da saßen die etwas betuchteren Verrückten, mit Rollstühlen und so. Dort lieferte Mick die Verpflegung an, ging herum und teilte das Mittagessen aus.
Fast einmal pro Woche heulten die Sirenen los. Wieder war ein Verrückter abgehauen, den sie dann am nächsten Morgen zitternd in seinem Nachthemdchen im Dartford Heath wieder aufgabelten. Manche ließen sich nicht so leicht schnappen, die sah man dann manchmal durchs Gestrüpp kriechen. Das war ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Man glaubte sich immer noch im Krieg, weil sie bei einem Ausbruch die gleichen Sirenen aufheulen ließen.
An was für einem schrägen Ort man da aufwuchs, bekam man gar nicht mit. Wenn man nach dem Weg gefragt wurde, sagte man: »Sie gehen jetzt da vorne an der Klapse vorbei, aber an der kleinen, nicht an der großen.« Und dann wurde man angestarrt, als wäre man gerade selbst aus der Klapse getürmt.
Außer den Irrenhäusern gab es nur noch Wells, eine Fabrik für Feuerwerkskörper, die lediglich aus ein paar vereinzelten Hütten im Moor bestand. Die flog eines Nachts in den Fünfzigern in die Luft, zusammen mit ein paar Typen. Sensationell! Als ich aus dem Fenster schaute, dachte ich, der Krieg wäre wieder ausgebrochen. Die Fabrik produzierte damals Zwei-Penny-Böller, Römische Lichter und Goldregen. Und Knallfrösche. Daran erinnert sich jeder aus der Gegend – denn bei der Explosion flogen im Umkreis von mehreren Meilen alle Fenster raus.
Unsere Fahrräder, die waren wichtig für uns. Mein Kumpel Dave Gibbs, der in Temple Hill wohnte, und ich hatten die coole Idee, an die Gabel vom Hinterrad kleine Pappstreifen zu kleben, die bis in die Speichen reichten und scheppernde Geräusche machten, wenn man fuhr, fast wie ein Motor. »Macht die Scheißdinger ab«, bekamen wir dauernd zu hören. »Bei dem Krach kriegt man ja kein Auge zu.« Also sind wir ins Moor und in die Wälder an der Themse gefahren. Die Wälder waren gefährliches Terrain. Da trieben sich üble, beinharte Typen rum, die uns anschrien, dass wir uns verpissen sollten. Also nahmen wir die Pappstreifen tatsächlich wieder ab. Das waren Verrückte und Landstreicher, viele waren auch Deserteure der britischen Armee, so ähnlich wie die japanischen Soldaten, die nicht wussten, dass der Krieg vorbei war. Manche von denen lebten schon seit fünf oder sechs Jahren dort. Sie hatten sich einen Wohnwagen oder ein Baumhaus zusammengeflickt, und da hausten sie dann. Brutale, versiffte Schweinehunde. Meine erste Kugel hat mir einer von diesen Pennern verpasst – eine Luftgewehrkugel in den Hintern, guter Schuss. Einer unserer Treffpunkte war ein Unterstand, ein alter Maschinengewehrposten, von denen es an diesem Abschnitt der Themse jede Menge gab. Dort machten wir uns über die »Literatur« her, die zusammengeknüllt in der Ecke lag und ausschließlich aus Pin-up-Fotos bestand.
Eines Tages fanden wir dort einen toten, zusammengekrümmten Tramp, auf dem die Schmeißfliegen herumkrabbelten. Überall Schmuddelmagazine und benutzte Kondome. Fliegen schwirrten umher. Der Typ lag wohl schon seit Tagen da. Wir haben die Beine in die Hand genommen und nie jemandem ein Wort davon gesagt.
Ich weiß noch, wie ich von Tante Lils Haus das erste Mal zur Vorschule musste, zur West Hill School, und mir die Lunge aus dem Leib geschrien habe. »Ich geh da nicht hin, Mum, ich geh da nicht hin!« Ich weigerte mich, trat um mich, sagte Nein und immer wieder Nein, aber gegangen bin ich trotzdem. Erwachsene, die hatten eine ganz spezielle Art. Ich habe mich gewehrt, wusste jedoch gleichzeitig, das ist der Moment der Wahrheit. Doris fühlte mit mir, aber nicht allzu sehr. »So ist das Leben, Junge, dagegen kann man sich nicht wehren.«
Ich erinnere mich an meinen Cousin, Tante Lils Sohn. Großer Bursche. Er war mindestens fünfzehn und hatte einen unvorstellbaren Charme. Er war mein Held. Er hatte ein kariertes Hemd! Und er ging aus, wann er wollte. Ich glaube, er hieß Reg. Meine Cousine Kay hingegen nervte mich, weil sie so lange Beine hatte und immer schneller war als ich. Jedes Mal kam ich nur als Zweiter ins Ziel. Aber sie war auch älter. Mit ihr zusammen bin ich das erste Mal auf einem Pferd geritten, ohne Sattel. Auf einer herrlichen alten Schimmelstute, die ihr Gnadenbrot bekam, wenn man das bei uns in der Gegend überhaupt so nennen konnte. Die wusste kaum, wie ihr geschah. Wir und ein paar Kumpels kletterten auf den Zaun, und von da rutschten Cousine Kay und ich irgendwie auf den Rücken der Stute. Gott sei Dank war sie lammfromm, denn wäre sie durchgegangen, wäre ich in hohem Bogen durch die Luft geflogen. Ich hatte nämlich keinen Strick zum Festhalten.
Ich hasste die Vorschule. Schule überhaupt. Doris sagte, ich sei nach der Schule oft so durch den Wind gewesen, dass sie mich huckepack nach Hause tragen musste. Ich konnte offenbar vor lauter Zittern nicht laufen. Und dabei war das noch vor den Hinterhalten und den Prügeleien. Das Essen war grauenhaft. Ich weiß noch, dass ich in der Vorschule Gypsy Tart essen sollte, einen süßen Kuchen, den man mit Büchsenmilch machte. Irgendein verbranntes schmieriges Zeug war da drin, Marmelade oder Karamell. Ekelhaft. Ich weigerte mich. Jedes Schulkind kannte diesen Kuchen, und manche mochten ihn sogar. Aber Nachtisch stellte ich mir anders vor. Unter Androhung von Strafe wollten sie mich zwingen, den Kuchen zu essen. Genau wie bei Dickens. Also musste ich mit meiner Kinderschrift dreihundertmal schreiben: »Ich werde mein Essen essen.« Schließlich hatte ich den Dreh raus: »Ich, ich, ich, ich … werde, werde, werde, werde …«
Ich war berüchtigt für meine Ausraster. Als wenn sonst keiner ausgerastet wäre. Meine Ausraster kamen jedenfalls von der Gypsy Tart. Rückblickend betrachtet, hatte das durch den Krieg aus der Bahn geworfene britische Erziehungswesen nicht viel geeignetes Personal vorzuweisen. Der Sportlehrer war gerade noch Nahkampfausbilder gewesen und sah keinen Grund, warum er uns anders behandeln sollte, obwohl wir erst fünf oder sechs Jahre alt waren. Alle Lehrer waren in der Army gewesen. Alle waren im Zweiten Weltkrieg gewesen, und einige von ihnen kamen frisch aus Korea. Mit deren Art von Brüllpädagogik wurden wir also erzogen.
Dafür, dass ich die frühen Zahnärzte des National Service überlebte, hätte ich eigentlich einen Orden verdient. Ich glaube, man hatte zwei Untersuchungen pro Jahr, die in der Schule durchgeführt wurden und zu denen ich kreischend am Arm meiner Mutter ging. Es kostete sie einiges von ihrem schwer verdienten Geld, um mir danach etwas zu kaufen, denn jeder Termin war die reine Hölle. Es gab keine Gnade. »Halt den Mund, Junge.« Eine rote Gummischürze, wie bei Edgar Allan Poe. In jenen Jahren 1949 und 1950 hatten sie noch ziemlich klapprige Apparaturen, riemengetriebene Bohrer und Folterbankgurte, die einen an den Stuhl fesselten.
Der Zahnarzt war auch in der Army gewesen. Das hat meine Zähne ruiniert. Meine Angst vor dem Zahnarzt zeitigte bis Mitte der Siebziger sichtbare Folgen – einen Mund voll schwarzer Zähne. Lachgas war teuer, also bekam man nur einen Hauch davon. Außerdem kassierten sie für eine Extraktion mehr als für eine Füllung. Also alles raus. Sie rissen die Zähne einfach raus, mit dem winzigsten Hauch von Gas. Und mittendrin wachte man auf, sah den roten Gummischlauch und die Maske und glaubte, man wäre ein Bomberpilot, nur dass man keinen Bomber hatte. Die rote Gummimaske und der Mann beugten sich über einen wie Laurence Olivier in Der Marathon Mann. Das war das einzige Mal, dass ich den Teufel so sah, wie ich ihn mir vorstellte. Ich träume von ihm und seinem Dreizack und wie er sich schlapplacht, und dann wache ich auf, und er sagt: »Hör auf zu flennen, Junge. Da warten noch zwanzig andere draußen.«
Und was sprang für mich dabei heraus? Ein billiges Spielzeug, eine Plastikknarre.
Schließlich wurde uns von der Kommune eine Wohnung in einer Ladenzeile in der Chastilian Road zugewiesen, über einem Obst-und Gemüsehändler, zwei Zimmer plus Wohnzimmer. Die gibt es immer noch. Mick wohnte eine Straße weiter, in der Denver Road. Posh Town1 nannten wir die Gegend – der Unterschied war der zwischen freistehendem Haus und Doppelhaushälfte. Mit dem Fahrrad waren es fünf Minuten ins Dartford Heath, und meine nächste Schule war nur zwei Straßen entfernt: die Wentworth Primary School, auf die Mick und ich zusammen gingen.
Vor gar nicht so langer Zeit war ich mal wieder dort, um ein bisschen Dartford-Luft zu schnuppern. In der Chastilian Road hat sich nicht viel verändert. Der Obst- und Gemüsehändler ist jetzt ein Blumenladen namens Darling Buds of Kent, dessen Besitzer fast im gleichen Augenblick, als ich den Gehweg betrat, mit einem gerahmten Foto aus seinem Laden geschossen kam und mich um ein Autogramm bat. Er schien mich praktisch erwartet zu haben, hatte das Foto griffbereit und war nicht im mindesten überrascht, ganz so, als käme ich einmal die Woche vorbei. Dabei war ich seit fünfunddreißig Jahren nicht mehr hier gewesen. Auf dem Weg hoch zu unserer alten Wohnung erinnerte ich mich genau an die Anzahl der Treppenstufen. Zum ersten Mal seit fünfzig Jahren betrat ich mein altes Zimmer in dem Haus, das jetzt der Blumenhändler bewohnte. Ein winziges Zimmer, völlig unverändert, und gegenüber, auf der anderen Seite des ein Meter breiten Gangs, das ebenso winzige Zimmer von Bert und Doris. Da hatte ich von 1949 bis 1952 gelebt.
Auf der anderen Straßenseite befanden sich der Co-op und der Metzger – dort hatte mich damals der Hund gebissen. Mein erster Hundebiss, von einem bösartigen Scheißvieh, das vor der Tür angekettet gewesen war. An der Ecke war Finlays Tabakladen gewesen. Der Briefkasten hing noch an derselben Stelle; davor auf dem Ashen Drive hatte eine Bombe ein riesiges Loch gerissen, von dem jetzt natürlich nichts mehr zu sehen war. Nebenan hatte Mr. Steadman gewohnt. Er hatte einen Fernseher und immer die Vorhänge offen gelassen, damit wir Kinder mitschauen konnten.
Meine schlimmste, schmerzlichste Erinnerung wurde wieder lebendig, als ich in dem kleinen Garten hinter unserem Haus stand. Der Tag mit den verfaulten Tomaten. Mir sind einige üble Sachen zugestoßen, aber jener Tag ist bis heute einer der schlimmsten meines Lebens geblieben. Der Gemüsehändler stapelte hinten im Garten immer seine alten Obstkisten, und ein Freund und ich stolperten eines Tages über die vergammelten Tomaten. Wir zermanschten alle, wie sie da waren. Dann lieferten wir uns eine Schlacht mit den matschigen Tomaten und sauten den ganzen Garten ein – die Fenster, die Mauern und uns selbst. Wir bombardierten uns nach allen Regeln der Kunst. »Nimm das, du Saukerl!« Und schon klatschte einem eine faulige Tomate ins Gesicht. Als ich später zurück ins Haus ging, jagte mir meine Mum einen Höllenschrecken ein.
»Ich hab die Polizei angerufen.«
»Wieso denn?«
»Die holen dich ab, du bist ja völlig außer Rand und Band.«
Ich brach zusammen.
»In einer Viertelstunde sind sie da und bringen dich ins Heim.«
Ich hätte mir fast in die Hose geschissen. Ich war sechs oder sieben.
»Oh, Mum!« Ich fiel auf die Knie, flehte und bettelte.