Lindenhaus - Marlies Lüer - E-Book
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Lindenhaus E-Book

Marlies Lüer

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Beschreibung

„Das Gute verschwindet nicht, weil Schlechtes zeitgleich passiert. Das Gute bleibt euch. Wer lebt, hat Möglichkeiten. Es wird sicher alles wieder gut, Honey. Wenn auch anders.“

Das Leben der jungen Journalistin Melissa erfährt eine Wendung, als sie zusammen mit ihrer Mutter Johanna auf die spirituell begabte Mira Mertens trifft, die beide Frauen einlädt, im "Lindenhaus" für eine Zeit zu verweilen. Durch die Hausherrin, die mit Engeln sprechen kann, werden sie an eine ihnen unbekannte Welt herangeführt, erleben eine nie gekannte Geborgenheit und ein Aufatmen der eigenen Seele.

Das Leben von Melissa und ihrer Familie ist fortan eng verbunden mit dem spirituellen Erbe der Mira Mertens, die noch zwei Jahrzehnte nach ihrem Tod ihre schützende Hand über die Familie Winter hält.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Über die Linde

Miras Welt - Engelshauch und Kaffeeduft

-1- Das Rad des Schicksals

-2- Trümmerfrauen

-3- Die Erkundung von Schatten und Licht

-4- Die Geister der Vergangenheit

-5- Gottes Gästezimmer

-6- Auf zu neuen Ufern

-7- Wenn Engel vor Freude tanzen

-8- Mein Haus, mein Drache, mein Buch

-9- Briefe

-10- Wer bist du?

-11- Von Beichten und Brücken

-12- Johanna und der Wind

-13- Novembertage

-14- Reisezeit

-15- Wendezeit

-16- Miras Welt

-17- Der Sommer, in dem mein Daumen grün wurde

-18- Ausklang

-19- Auszug aus dem Testament der Mira Mertens

-20- Aus Miras Nachlass

Anmerkungen

Nachwort und Danksagung

Geleitwort des Hospizpflegers

Melissas Welt – Bienenflüstern und Drachenraunen

-1- Unter der Linde

-2- Als meine kleine heile Welt die ersten Risse bekam

-3- Der Boden unter meinen Füßen

-4- Das Lavendelpferd

-5- Schwarze Flügel schlagen

-6- Mirandas Geständnis

-7- Roberts Geständnis

-8- Es ist die Pflicht eines jeden Mannes

-9- Johanna will nach Sylt

-10- Wir haben Alpakas!

-11- Ben Hur im Supermarkt

-12- Donner und Blitz

-13- Hannahs Heimkehr

-14- Brüllaffen mögen Plumpudding

-15- Wenn Honigkerzen duften

-16- Frühlingsboten

-17- Das Märchen vom Lavendelpferd und dem Roseneinhorn

Hannahs Welt – Hibiskustraum und Harfenklang

-1- Abschied

-2- Luftschloss oder guter Plan?

-3- Zoff im Lindenhaus

-4- Der Ruf des Adlers

-5- Das Café in Waiblingen

-6- Das Gewitter

-7- Wo ist Robert?

-8- Schicksal und Schlangentränen

-9- Adi spielt den Kellner

-10- Der Engel im Café Mira

-11- Eine halbe Wahrheit ist auch nur eine Lüge

-12- Thermianer im Café!

-13- Mirandas Wut

-14- Gartenglück und Engelgeflüster auf dem Tablett serviert

-15- Angels & Dragons

-16- Die Grenze des guten Kitschgeschmacks

-17- Jonte

-18- Adis Tarnung platzt

-19- Jontes Wortschatz

-20- Hibiskustraum

-21- Ist dies das Ende?

-22- Auf nach Hawaii! Lucinda zahlt …

-23- Handtücher, flauschig wie Einhornfell

-24- Jontes Bitte um Segen und Vergebung

-25- Etwa anderthalb Jahre später …

Kochen und Backen im Lindenhaus

Marlies Lüer

LINDENHAUS

© 2021

Überarbeitete Gesamtausgabe der „Lindenhausbücher“

Miras Welt – Engelshauch und Kaffeeduft

Melissas Welt – Bienenflüstern und Drachenraunen

Hannahs Welt – Hibiskustraum und Harfenklang

Impressum

Autor: Marlies Lüer, Esslinger Str. 22, 70736 Fellbach

www.Silberworte.de

Cover: Isabell Schmitt-Egner

Inhaltsverzeichnis

Über die Linde

Miras Welt – Engelshauch und Kaffeeduft

1. Das Rad des Schicksals

2. Trümmerfrauen

3. Die Erkundung von Schatten und Licht

4. Die Geister der Vergangenheit

5. Gottes Gästezimmer

6. Auf zu neuen Ufern!?

7. Wenn Engel vor Freude tanzen

8. Mein Haus, mein Drache, mein Buch

9. Briefe

10. Wer bist du?

11. Von Beichten und Brücken

12. Johanna und der Wind

13. Novembertage

14. Reisezeit!

15. Wendezeit

16. Miras Welt

17. Der Sommer, in dem mein Daumen sich grün färbte

18. Ausklang

19. Auszug aus dem Testament von Mira Mertens

20. Aus Miras Nachlass

Anmerkungen

Nachwort und Danksagung

Geleitwort des Hospizpflegers

Melissas Welt

1. Unter der Linde

2. Als meine kleine Welt die ersten Risse bekam

3. Der Boden unter meinen Füßen

4. Das Lavendelpferd

5. Schwarze Flügel schlagen

6. Mirandas Geständnis

7. Roberts Geständnis

8. „Es ist die Pflicht eines jeden Mannes …“

9. Johanna will nach Sylt

10. Wir haben Alpakas!

11. Ben Hur im Supermarkt

12. Donner und Blitz

13. Hannahs Heimkehr

14. Brüllaffen mögen Plumpudding

15. Wenn Honigkerzen duften

16. Frühlingsboten

Das Märchen vom Lavendelpferd und dem Roseneinhorn

Hannahs Welt

1. Abschied

2. Luftschloss oder guter Plan?

3. Zoff im Lindenhaus

4. Der Ruf des Adlers

5. Das Café in Waiblingen

6. Das Gewitter

7. Wo ist Robert?

8. Schicksal und Schlangentränen

9. Adi spielt den Kellner

10. Der Engel im Café Mira

11. Eine halbe Wahrheit ist auch nur eine Lüge

12. Thermianer im Café!

13. Mirandas Wut

14. Gartenglück und Engelgeflüster auf dem Tablett serviert

15. Angels & Dragons

16. Die Grenze des guten Kitschgeschmacks

17. Jonte

18. Adis Tarnung platzt

19. Jontes Wortschatz

20. Hibiskustraum

21. Ist dies das Ende?

22. Auf nach Hawaii! Lucinda zahlt …

23. Handtücher, flauschig wie Einhornfell

24. Jontes bitte um Segen und Vergebung

25. Etwa anderthalb Jahre später

Über die Linde

Die Linde ist einer der wichtigsten Bäume in der europäischen Kultur. Ungefähr 850 Orte/Ortsteile in Deutschland tragen Namen, die auf den Lindenbaum zurückzuführen sind. Sie galt früher in mehreren Kulturkreisen als heiliger, weiblicher Baum, wo unanfechtbares Recht gesprochen wurde. Unter der „Dorflinde“ wurde Brautschau gehalten und bis in die Nacht getanzt. Die Linde spendet Schatten, Trost und Gemeinschaft, sie schenkt Insekten Nahrung und den Menschen heilkräftigen Tee und Honig aus den Blüten. Sogar ihre winzigen Früchte sind essbar, was aber nur die Wenigsten wissen. Der Tee vertreibt Erkältungen, senkt leicht Fieber und wirkt schlaffördernd. Aus dem Wortstamm der Linde lassen sich weitere Wörter ableiten wie „lind“ (linde Lüfte wehen), ein Synonym für angenehm, mild, sanft. Und wer möchte nicht, dass seine Schmerzen oder eine Not „gelindert“ wird? Auch weibliche Vornamen wie Sieglinde, Gerlinde, Rosalinde, Linda gehen auf den Lindenbaum zurück.

Unter der Linde im Garten von Mira Mertens finden wichtige Gespräche und Begegnungen statt. Auch der Gartendrache Thaddäus hat ganz in der Nähe seinen Platz. Als ich mit meinem Mann den Ort Strümpfelbach erstmals besuchte, einige Jahre nach der Erstveröffentlichung, war ich überrascht, wie stark geprägt er ist von diesem Baum. Eine Lindenallee, eine Straße, ein Brunnen, Gasthäuser, die die Linde im Namen tragen … das hatte ich vorher nicht gewusst! Anscheinend wählte ich unbewusst genau den richtigen Ort der Handlung. Oder ein Engel hat es mir eingeflüstert …

Miras Welt - Engelshauch und Kaffeeduft

BUCH 1

Dies ist die Geschichte der Begegnung von Mira und Melissa, zwei sehr unterschiedliche Frauen, die füreinander sehr wichtig sein werden. Erzählt wird weitgehend aus der Sicht Melissas, denn sie ist der Dreh- und Angelpunkt zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aber die Hauptperson ist Mira, die alte Dame, die eine Rückschau auf ihr Leben hält und von dem Wunsch beseelt ist, ihr spirituelles Erbe weiterzugeben. Es ist gleichzeitig eine fiktive Geschichte und eine mit wahrem Kern, weil nur das echte Leben solche Geschichten schreiben kann. Viele der medialen Erlebnisse sind authentisch, einige sogar 1:1 übernommen, einiges ist Dichtung und dem Fluss des Romans geschuldet.

Lassen Sie sich verzaubern von „Miras Welt“ und ihren bildhaften Geschichten, die mit ihrer Symbolkraft und Wahrheit des Lesers Seele anrühren mögen.

Wer weiß, vielleicht sie Sie einer der „Funken aus dem See“?

-1- Das Rad des Schicksals

Ein Sommermorgen. Kaffeeduft zieht durch das kleine Haus am Rande einer Kleinstadt im Rems-Murr-Kreis. Eine alte Frau schlurft in ihre Küche. Sie nimmt ihren Lieblingsbecher aus dem Schrank, den mit den orientalisch anmutenden blauen Ranken. Ockerfarbene Blüten vervollständigen das Muster, oben ist ein grüner Rand, auf dem sich dieselben stilisierten Blüten in kleinerer Ausführung wiederholen. Der Becher ist über 40 Jahre alt und ein Geschenk von ihrem jüngsten Sohn. Auf dem Tisch steht noch Kuchen vom Vortag. Sie nimmt sich zwei Stücke, legt sie auf einen kleinen Teller und schnuppert selig daran. Die Freuden des Alters sind unspektakulär, aber so gut! Sie lächelt und geht zur Kaffeemaschine, schaltet sie aus und füllt ihre Thermoskanne mit Maragogypekaffee, dem sie eine Prise Kardamom und Zimt hinzugefügt hat. Den Kaffee auf diese Art zu würzen, hat sie vor vielen Jahren von ihrer großen Schwester gelernt.

Sie stellt ihr Frühstück auf den sehr sauberen Holztisch und öffnet dann das Küchenfenster weit und setzt sich hin. Vom Tisch aus kann sie in ihren Garten sehen und auch die Wolken betrachten, die am Himmel ihren Morgenspaziergang machen. Gemächlich schwebt das weiße Volk über den Himmel. Für einen kurzen Moment dehnt sich das Bewusstsein der Alten weit aus und fliegt mit den Wolken mit. Sie weiß, selbst Wolken haben eine Art Bewusstsein, sie sind ein lebendiger Teil der Mutter Erde.

In diesem Moment kommt der Briefträger auf seinem Fahrrad vorbei. Er winkt von der Straße aus durchs Fenster freundlich zur Bewohnerin dieses Hauses, eilt mit der Post zum Briefkasten und ist gleich darauf schon wieder verschwunden. Wie immer ist er voller Energie und mit Freude an der Arbeit. Seine Aura wirkt vital und er selbst friedvoll. Im Frieden mit sich und seiner Welt. „Wie selten das doch ist“, denkt die Alte.

Sie erhebt sich mit etwas Mühe vom Stuhl und geht zur Tür, nimmt den Briefkastenschlüssel vom Haken an der Wand, geht vor die Haustür und öffnet das Türchen des Briefkastens, um die Post herauszunehmen. In diesem Moment verändert sich ihre Sicht. Sie nimmt zwei Briefkästen wahr, ihren und den einer anderen Person. Die Bilder überlappen sich. Zwei Hände greifen zu. Ihre Hand und die Hand einer jungen Frau. Dann endet die Vision so unvermittelt, wie sie begann. Die alte Frau, ihr Name ist Mira, lebt schon seit vielen Jahren nicht nur in dieser Welt. Sie verfügt über mediale Fähigkeiten, das weiß sie seit langem.

Sie geht zurück ins Haus, legt den Brief auf ihren Tisch neben den Kuchenteller und schenkt sich erst einmal eine Tasse Kaffee ein.

Zeit für die Tageskarte! In einem kleinen, von kindlicher Hand gezimmerten Holzkästchen, warten Tarotkarten auf ihren Einsatz. Mira mischt die Karten durch und greift eine aus dem Stapel, legt sie mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch und beißt erst mal vom Kuchen ab. Mit geschlossenen Augen kaut sie zufrieden vor sich hin. Das Schicksal kann warten, denkt sie sich. Ihr ist ohnehin klar, welche Karte dort liegt und aufgedeckt werden möchte. Dann nimmt sie einen großen Schluck vom duftenden Kaffee und nimmt ihre Blutdrucktabletten ein. Sie ist froh, dass sie in ihrem Alter nicht noch mehr Tabletten braucht als diese.

Sie dreht die Tarotkarte um. Es eine Karte aus der Großen Arkana.

Das Rad des Schicksals.

Sie hatte es gefühlt, dass bald Wichtiges geschehen würde.

Zur selben Zeit am selben Tag in einem anderen Ort in dieser Gegend macht sich eine junge Frau bereit, das Haus zu verlassen, um zur Arbeit zu gehen. Sie nimmt ihre Handtasche, überprüft vor dem Spiegel den Sitz ihrer kastanienbraunen Haare, die einen Stich ins Kupferrote aufweisen, und nimmt den Schlüssel, der griffbereit in einer Olivenholzschale auf dem Flurschränkchen liegt. Sie freut sich auf ihren Arbeitstag in der Redaktion, obwohl sie im Hals ein Kratzen und ein leichtes Unwohlsein spürt. Heute ist ihr 29. Geburtstag und sie wird für die Kollegen einen kleinen Brunch ausgeben, den sie im Feinkostladen vorbestellt hat. Sie verlässt die Wohnung im 5. Stock, schließt sorgfältig die Tür ab und läuft die Treppe hinunter, überspringt dabei leichtfüßig einige Stufen an jedem Treppenabsatz und weiß genau, dass sich ihre zänkische Nachbarin, die unter ihr wohnt, darüber ärgern wird, aber das ist ihr heute absolut egal. Im Erdgeschoss angekommen, öffnet sie den Briefkasten und findet einen Brief des Vermieters vor. Sie steckt ihn in die Handtasche, um ihn dann später im Büro zu lesen. „Seltsam“, denkt sie. „Er ist direkt an mich adressiert, obwohl doch Hardy der Mieter ist.“

Sie tritt vor die Haustür und atmet tief und genussvoll ein. Es ist ein herrlicher Sommertag. Weiße Wolken ziehen über die Stadt und es weht ein sanfter Wind, der die Blätter der Bäume am Straßenrand leise singen lässt.

Die junge Frau, ihr Name ist Melissa, steigt gut gelaunt in ihr altes Auto namens „Max“ und fährt nun zur Arbeit. Sie weiß noch nicht, dass noch heute ihr wohlgeordnetes Leben eine große Änderung erfahren wird. Hätte sie, rein theoretisch, denn sie würde so etwas Esoterisches niemals tun, heute Morgen eine Karte aus dem Tarot gezogen, es wäre wohl Der Turm gewesen.

Rückblick:

Ich bin Melissa Fink und ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen.

Damals, es war ein Montag im Juli und mein 29. Geburtstag, sollte mein Leben sich massiv verändern. Ich stand am frühen Morgen mit Max an einer roten Ampel. „Max“ ist mein alter VW-Käfer. Ich liebte dieses Auto, aber ich hasste rote Ampeln! Mein Handy, das auf dem Beifahrersitz lag, ließ unerwartet die Anfangstakte von Beethovens Fünfter erklingen. Wer würde mich jetzt auf dem Weg zur Arbeit anrufen? Ich schaute kurz auf das Display. Das konnte doch nur … ja, es war Mutter.

„Hier ist Melissa.“

„Guten Morgen, Melli! Alles Gute zum Geburtstag! Ich liebe dich!“

„Danke, Mutter. Das ist lieb von Dir. Ich bin gerade auf dem Weg zur Arbeit.“

„Oh.“ Ihre Stimme ließ ein ganz leises Zittern hören. „Ich wollte dich nicht stören, entschuldige bitte.“ Die Tonhöhe senkte sich etwas.

„Ich stehe noch an einer roten Ampel, ein paar Sekunden habe ich noch.“

„Nein, nein. Wir legen jetzt auf. Ich will nicht schuld daran sein, wenn du Ärger mit der Polizei bekommst. Ich wollte dir ja nur eine Freude machen und dich als Erste anrufen, weil dein Geburtstag ist.“

Ihre Stimme schlug leicht ins Weinerliche um, ich hasste das! Was hatte ich denn wieder Falsches gesagt?

„Mutter, ich freue mich wirklich über deinen Anruf, aber ich muss jetzt weiter, die Ampel schaltet gleich um. Ich rufe dich nachher wieder an! Wir gehen doch heute Abend gemeinsam essen. Du darfst dir auch das Lokal aussuchen.“

Ich hörte nur noch ein leises Schluchzen von ihr, bevor sie die Verbindung unterbrach. Gott, wie ich das hasste! Immer, wenn ich Geburtstag hatte, war sie so schräg drauf.

Die Ampel sprang auf Grün um und ich warf das Handy beiseite, legte den ersten Gang ein, ließ die Kupplung kommen und gab Gas, schaltete in den nächsthöheren Gang und hoffte, dass ich nun ohne weitere Zwischenfälle zur Redaktion kommen würde. Vor allem, dass ich pünktlich ankommen würde. Ich hasste es, dass ich so oft zu spät kam!

Mir wurde dann bewusst, dass ich in den letzten paar Minuten mindestens drei oder vier Mal einen „Hassgedanken“ gehabt hatte. Gott, wie ich das … (hasste)!

Ich konzentrierte mich wieder auf den Verkehr und schaffte es, ganz bei mir selbst zu bleiben und ging den geplanten Tagesablauf durch. Zuerst die übliche Morgenroutine in der Redaktion, dann der Brunch mit den Kollegen und anschließend Telefonate und der andere tägliche Kleinkram. Dann nach Hause fahren, mich umziehen, meine Mutter zum Essen abholen, vorher noch tanken, und am späten Abend würde ich mit Hardy telefonieren. Ich vermisste ihn so sehr! Noch ein halbes Jahr, dann würde er aus Washington zurückkommen und hier wieder seinen Job in der Firma seines Onkels übernehmen. Und wir würden wieder jeden Tag zusammen sein. Das war eine freudige Aussicht.

Inzwischen hatte ich den Parkplatz der Redaktion erreicht. Ich schien sogar Glück zu haben, und den Parkplatz unter meinem Fenster nehmen zu können. Ich hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als mein Kollege Norbert, genannt Nobby, (möge er von Automardern heimgesucht werden!) mir mit quietschenden Reifen den angepeilten Parkplatz wegnahm.

Er stieg grinsend aus und rief: „Alles Gute zum Geburtstag, Melissa!“

Ich zeigte ihm das zuckersüße, allerfalscheste Lächeln aus meinem Repertoire und parkte wütend auf der anderen Seite des Parkplatzes neben den Mülltonnen des Hochhauses ein.

„Der Tag fängt ja wieder mal gut an“, murmelte ich und griff nach meiner Edel-Handtasche (der einzige echte Luxus, den ich mir geleistet hatte, seit mein Studentenleben beendet war) und meinem Handy, stieg aus und verschloss gewissenhaft die Autotüren. Aber hey, heute ist mein Geburtstag! Ich werde mir doch nicht von Nobby die Freude nehmen lassen, nur weil er mir schon wieder zuvorgekommen ist. Mit diesem Gedanken betrat ich dann das Gebäude und fuhr im Fahrstuhl zur Redaktion hoch.

Es war der dritte Geburtstag, den ich bei „FRiZ“ feierte.

In der Redaktion wurde ich von meinen anderen Kollegen freudig begrüßt und beglückwünscht. Ich musste lachen, als ich die vielen bunten Luftballons unter der Zimmerdecke über meinem Schreibtisch schweben sah.

„Oh, ihr seid süß! Luftballons, danke! Wer ist denn auf die Idee gekommen?“

„Naja, Nobby war es jedenfalls nicht“, sagte Erika, nahm mich in den Arm und drückte mich herzlich, bis ich in der Parfümwolke, die sie umgab, in Atemnot geriet.

„Alles Liebe und Gute zum Geburtstag, Lissa!“

Ich erwiderte ebenso herzlich die Umarmung meiner Lieblingskollegin, ging dann zu meinem Schreibtisch und öffnete dort das Fenster, um das Parfüm abzuschwächen, bevor ich meinen PC hochfuhr. Nachdem ich einige E-Mails und die offiziellen Mitteilungen der Chefetage gelesen hatte, fing ich mit der aktuellen Arbeit an.

Ich arbeitete zu der Zeit an einer Reportage über deutsche Landfrauen, die altes spirituelles Brauchtum pflegten, insbesondere über die „Heilerinnen des Dorfes“, die das Wissen der Vergangenheit für die Nachwelt erhalten wollten. Ich hätte lieber eine echte Schamanin aus dem Altaigebirge interviewt, die Kontakte mit Tiergeistern herstellte, Wetter machte und andere, für Westler seltsame, aber doch höchst eindrucksvolle Aktivitäten pflegte. Aber Linda, unsere Redaktionsleiterin, hatte mein Ansinnen sofort abgewimmelt, und zwar mit einem Hinweis auf die knappen Finanzen des Verlages. Schade.

Auf meiner Liste standen jetzt noch drei Adressen zur Auswahl für ein Interview, zwei davon lagen im Umkreis von 30 Kilometern. Ich warf einen Blick auf die Uhr: In zwei Stunden würde der Brunch geliefert werden. Bis dahin wollte ich den Text der Reportage in die vorläufige Endfassung bringen, die Fotos einarbeiten und die letzten Interviewpartnerinnen ausgewählt haben.

Hoffentlich war die nächste Frau nicht auch wie diese merkwürdige Möchtegernschamanin aus Travemünde von einem Nöck vor dem Ertrinken bewahrt worden und lebte seitdem mit ihm in trauter (eingebildeter!) Zweisamkeit.

Ich wünschte mir von Herzen, eine ernstzunehmende Gesprächspartnerin zu finden. Gab es eigentlich einen Schutzheiligen für geplagte Journalisten?

Während ich darauf wartete, dass eine gewisse Mira Mertens den Hörer abhob, ging ich im Geiste die bisherigen Ergebnisse durch. Von zweiundzwanzig Adressen hatten sich bisher nur vier als brauchbar erwiesen! So manch eine „Dorfhexe“ wollte etwas Besonderes sein, war es aber in Wirklichkeit nicht. Ich selbst stand dem Thema der Reportage mit einer Mischung aus Skepsis und Aufgeschlossenheit gegenüber.

„Ja? Hier Mertens am Apparat.“

„Frau Mertens, ich grüße Sie! Ich bin Melissa Fink vom Magazin „FriZ, Frauen in der Zeitenwende“ und möchte Sie um ein Interview bitten. Vor einiger Zeit haben wir einen Leserbrief von Ihnen abgedruckt, zum Thema „Alternative Heilmethoden“. Sie berichteten von ihrer selbstgemachten Salbe, mit der Sie die Neurodermitis des Nachbarkindes heilten.“

„Also, geheilt würde ich jetzt nicht sagen, es war eine deutliche Besserung der Haut, mehr nicht“.

„Frau Mertens, wären Sie denn bereit, mir einige Fragen zu beantworten? Ich arbeite an einer Reportage über Dorfheilerinnen, die ihr Wissen an die Nachwelt weitergeben möchten.“

„Wie bitte? Ich kann Sie so schlecht verstehen, ich bin etwas schwerhörig und es rauscht grad so im Telefon. Schorffeilerinnen?“

„Nein, Dorfheilerinnen!“

„Was für Dachrinnen?“

Ich merkte, das würde schwierig werden und schielte schon zur nächsten Adresse auf meiner Liste.

„Junge Frau, wenn Sie netterweise zur mir nach Hause kommen würden und ich dann auch Ihre Lippen sehen kann, dann würde ich mich gerne mit Ihnen unterhalten, aber am Telefon ist mir das zu anstrengend, ich bin über 70 Jahre alt, das müssen Sie bitte verstehen. Und jetzt habe ich auch keine Zeit, weil gleich jemand kommt, dem ich die Karten legen soll.“

Kräutersalben und Kartenlegen? Vielleicht passte sie ja doch in die Reportage.

„Frau Mertens, wäre es Ihnen recht, wenn ich übermorgen, also Mittwoch, gegen halb zehn zu Ihnen komme? Das Gespräch würde etwa eine halbe Stunde dauern.“

„Übermorgen? Ja, meinetwegen. Wir können eine halbe Runde durch das Dorf gehen.“

„Halbe Stunde, Frau Mertens, das Gespräch würde eine halbe Stunde dauern!“

„Und wie war noch mal Ihr Name? Frau Fritz?“

„Nein, ich bin Frau Fink und arbeite für das Magazin „FriZ“.

„Schön, schön, ich freue mich auf den Besuch, Frau Fink. Ich backe für uns dann was Leckeres, so erzählt es sich doch angenehmer.“

„Das ist wirklich nicht nötig, liebe Frau Mertens. Ich bin also Mittwoch um 9.30 Uhr bei Ihnen.“

Gott, das hätte mir noch gefehlt, dachte ich. Kaffeekränzchen am Morgen, oder was?

„Ach ja, Frau Fink, bevor wir auflegen, möchte ich Ihnen noch sagen, wie leid mir das mit dem Brief tut! Bis bald, und seien Sie pünktlich, liebe Frau Fink!“

Ich drückte die Leitung weg und wollte zur nächsten Kontaktnummer übergehen, da merkte ich, dass Frau Mertens etwas Seltsames gesagt hatte. Wieso tat ihr das mit dem Leserbrief leid? Wollte sie nun doch nicht über ihr Kräuterwissen sprechen, oder hatte die Kleine der Nachbarin Nebenwirkungen der Salbe gehabt, und das war ihr nun peinlich, weil im Heft ihr Lesername vollständig abgedruckt gewesen war? Ich verstand das nicht und nahm mir vor, sie während des Interviews danach zu fragen. Nicht, dass ich mir die ganze Arbeit umsonst machte und mir vergebens die Zeit nahm, zu ihr zu fahren, und dann würde sie am Ende die Freigabe des Interviews verweigern!

Als der Feinkostladen den Brunch lieferte, hatte ich eine weitere Kandidatin für ein Interview gewinnen können und die dritte der Damen ließ sich sogar am Telefon befragen, was für mich eine Zeitersparnis bedeutete, die ich sehr zu schätzen wusste.

Der Brunch war köstlich trotz seiner Schlichtheit. Ich hatte aus Jux eine „70er Jahre-Party“-Auswahl bestellt: den „Mett-Igel“, ein Brötchen-Sonnenrad, „Fliegenpilze“ aus Ei und Tomate, Würstchen im Blätterteig, natürlich war auch der unsterbliche „Toast Hawaii“ dabei, Mixed Pickels, Käse-Weintrauben-Spieße, kleine Türmchen aus runden Pumpernickel-Scheibchen mit Käse, in zwei Farben abwechselnd geschichtet und mit aufgespießter Olive gekrönt, roten und weißen Heringssalat, einen Berg Weißbrot und auch Schinkenröllchen mit Spargel gefüllt. Fehlten nur noch die Pril-Blumen, aber die waren ohnehin nicht essbar. Wir langten ordentlich zu und ich vermutete, insgeheim waren die meisten Kollegen erleichtert, dass es mal etwas „Hausmannskost“ zu essen gab, und nicht immer nur Sushi, Garnelen und Prosecco!

Nobby, dem ich immer noch nicht das Intermezzo auf dem Parkplatz verziehen hatte (ich bin schließlich bekannt dafür, nachtragend zu sein und habe einen gewissen Ruf zu verlieren), langte ordentlich zu, so als gäbe es ab morgen keine Nahrung mehr auf diesem Planeten. Unerklärlicherweise fand er eine fette, tote Fliege in seinem Schälchen mit Heringssalat vor, so einen richtig ekligen Brummer. Oh, nein! Nicht was Sie jetzt denken ... ich hatte nichts damit zu tun!

Naja, irgendwie doch. Ich hatte die Fliege zwar nicht persönlich in finsterer Absicht hineingelegt, aber ich hatte durchaus gesehen, dass sie in den Salat hineingefallen war. Keine Ahnung, wo die auf einmal hergekommen war. (Netterweise tot und zielstrebig vom Himmel gefallen?) Es war mir ein großes Vergnügen, Nobby nicht zu warnen.

Hey, es war mein Geburtstag! Das Geburtstagskind, also ICH, durfte doch wohl etwas Spaß haben!?

Leider rief uns die Arbeit bald wieder an die Schreibtische zurück. Die Reste des kleinen Büffets und auch das geliehene Geschirr würde der Angestellte des Feinkostladens im Laufe des Tages abholen, ich musste mich um nichts kümmern.

Am späten Nachmittag, als ich mir einen Kaffee aus dem Automaten geholt hatte, fiel mir der Brief von heute Morgen wieder ein. Ich holte ihn aus meiner Handtasche und öffnete ihn.

Sehr geehrte Frau Fink!

Bezugnehmend auf das Kündigungsschreiben des Mieters zum Ende des Quartals, teile ich Ihnen mit, dass ich vorhabe, die Wohnung künftig für Eigenbedarf zu nutzen und sie vorher noch zu sanieren. Daher kann ich nicht die Übernahme des Mietvertrages anbieten. Ich bitte Sie also höflich, da ich nicht mit Ihnen, sondern nur mit Herrn Meinhardt Nickel einen Mietvertrag habe, die Wohnung bis zum 30. September des Jahres zu räumen.

Hochachtungsvoll, Klaus Riemann.

Ich las den Brief ein zweites und drittes Mal und konnte nicht glauben, was da geschrieben stand. Das konnte doch nur ein Irrtum sein! Oder ein übler Scherz! Hardy sollte die Wohnung gekündigt haben, ohne mit mir darüber zu sprechen? Unmöglich!

Wutschnaubend griff ich zum Hörer und wählte die Nummer des Vermieters.

„Riemann.“

„Herr Riemann? Hier ist Melissa Fink. Ich habe einen Brief von Ihnen bekommen, das kann doch nicht ihr Ernst sein? Ich erwarte eine Erklärung!“

„Was gibt es da bitte zu erklären, Schätzchen? Wir beide hatten nie einen Vertrag miteinander, also kann ich Sie auch vor die Tür setzen. Herr Nickel hat mir mitgeteilt, dass er nicht daran denkt, in seine Wohnung zurückzukehren, und er wollte den Mietvertrag zum schnellstmöglichen Zeitpunkt lösen. Von Ihnen war nicht die Rede. Tut mir leid, Kleine.“

Ich stand auf und holte tief Luft.

„Jetzt hören Sie mir mal zu! Ich bin weder Ihr Schätzchen, noch Ihre Kleine und Sie können mich mal kreuzweise! Hardy würde so etwas NIE TUN!“

Bevor ich so richtig ausfallend werden konnte (ich kenne mein unglückseliges Temperament) unterbrach ich die Leitung und knallte das Telefon auf den Schreibtisch.

Erika, die mir gegenübersaß, schaute mich erschrocken an.

„Melissa, du bist weiß wie eine Wand. Setz dich bloß schnell wieder hin! Was ist passiert?“

Ich gab ihr den Brief in die Hand. „Hier, lies selbst.“

Mittlerweile sahen mich die Kollegen fragend an und auch Linda, die mit besorgtem Blick um die Ecke schaute, schien sich zu fragen, ob ich noch ganz bei Sinnen war.

„Du hast gerade hoffentlich nicht mit einem Anzeigenkunden gesprochen?“, fragte Linda.

Ich warf ihr einen strafenden Blick zu und nahm den Brief wieder an mich. Dann ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen, weil meine Knie weich wurden.

„Ich muss mit Hardy sprechen“, sagte ich leise. Mir war auf einmal ganz elend zumute. Die schwarze Wut war verraucht und hatte einer hässlichen, schmutzig-gelben Angst Platz gemacht.

Mit zitternden Händen drückte ich die Kurzwahltaste auf meinem privaten Handy und während es läutete, zog ich mich zurück in die Teeküche und schloss die Tür hinter mir.

Es läutete immer noch. „Verdammt, Hardy – geh ran!“

„Der Teilnehmer ist nicht zu erreichen“, sagte nach einer Weile eine Automatenstimme. Ich konnte nicht einmal auf die Mailbox sprechen! Was war nur los mit Hardy? Normalerweise ging er immer ans Handy.

Deprimiert schlich ich zu meinem Arbeitsplatz zurück.

„Erika, mir ist total schlecht, ich gehe lieber nach Hause. Ich habe noch Überstunden abzubummeln. Sagst du Linda bitte Bescheid?“

„Ja, Liebes, das mache ich. Brauchst du irgendwas? Soll ich vielleicht …?“

„Nein, lass nur, danke.“

Nobby kam näher und schaute mich ungewohnt mitfühlend an.

„Soll ich dir deine Luftballons hinterhertragen?“

Ich brach in Tränen aus. Ein freundlicher Nobby, das war jetzt einfach zu viel, mehr als ich verkraften konnte.

„Nein, danke“, schniefte ich. „Lass sie einfach unter der Decke hängen.“

Ich schlich hinaus und wollte den Fahrstuhl nehmen. Leider hing mittlerweile ein Schild daran: Defekt!

Großartig.

Wie ich nach Hause gekommen war, weiß ich nicht mehr, Max hatte wohl selbst das Steuer übernommen. Auf Autos ist manchmal mehr Verlass als auf Menschen.

Als ich in meiner Wohnung war, rief ich noch mal Hardys Nummer an. Wieder kein Anschluss.

Ich versuchte es noch vier Mal, leider vergebens. Mittlerweile hatte ich mich so aufgeregt, dass ich mich erbrechen musste. Nachdem ich mir den Mund mit Pfefferminztee ausgespült hatte, weinte ich mich in den Schlaf. Mir schien nur kurze Zeit vergangen zu sein, als Beethovens Fünfte mich aus dem Schlaf aufschreckte. Hardy! Endlich!

„Hardy Liebling, ich habe so oft versucht dich zu erreichen!“

„Melissa? Hier ist deine Mutter!“

„Oh.“

„Melli, was ist los? Wir wollten doch zusammen Essen gehen, ich warte darauf, dass du kommst und mich abholst!“

Ich schaute entsetzt auf die Uhr. Schon nach zwanzig Uhr! Heilige Makrele, ich hatte meine Mutter vergessen!

„Mutter, es tut mir so leid. Ich habe das ganz verschlafen.“

„Was ist denn los, mein Liebes? Deine Stimme klingt ja ganz furchtbar. Bist du krank?“

Ich erzählte ihr kurz, was passiert war.

„Melissa, ich kann mir nicht erklären, was das zu bedeuten hat. Am besten rufst du heute oder morgen Hardy in der Firma an. Ach so, dieser Zeitunterschied nach Amerika – das musst du selber ausrechnen. Ich meine, wenn er nicht an sein privates Handy geht, dann ist er doch sicher auf der Arbeit für dich zu erreichen?“

„Ja, das wird wohl das Beste sein. Es müsste jetzt in Washington erst drei Uhr nachmittags sein. Sag, wäre es okay für dich, wenn wir unser Essen auf morgen Abend verschieben? Ich fühle mich wirklich nicht wohl.“

„Natürlich, Melli, ruf mich einfach morgen wieder an! Gute Nacht, mein Kind.“

„Gute Nacht, Mama.“

Ich ging in die Küche und schenkte mir ein großes Glas Weißwein ein. Eine Schulfreundin von mir war eine Wengertertochter und belieferte mich aus der eigenen Kelterei, wo sie arbeitete. Ich liebte diesen Wein, der eine sanfte Aprikosenfarbe hatte.

Nachdem ich zwei Gläser getrunken und mir die Nase geschnäuzt hatte, griff ich zum Telefon. Da fiel mir erst auf, dass ich ja gar nicht die Nummer von der Firma in Washington hatte. Ich hatte Hardy immer nur auf seinem Privathandy angerufen.

Was soll´s, dachte ich bei mir. Es ist mein Geburtstag! Er wird mich bald sowieso anrufen.

Ich wartete. Trank noch ein Glas Wein.

Und wartete. Die Flasche wurde immer leerer.

Wartete immer noch. Die Flasche gab ihren letzten Tropfen.

Dann schlief ich ein.

Mitten in der Nacht schreckte ich auf, weil zwei Katzen sich einen erbitterten Straßenkampf lieferten. Ich machte die Nachttischlampe an und schaute auf das Display meines Handys.

Keine Nachricht, kein Anruf.

Dafür aber Kopfschmerzen, richtig fiese Kopfschmerzen! Ich stand auf, um mir das Pfefferminzöl zu holen, das im Bad stand. Vorsichtig und langsam mit den Fingerspitzen an meinen Schläfen kreisend, massierte ich das duftende Öl ein und passte auf, dass nichts davon in meine Augen kam. Ich wusste, wie höllisch das brennen würde. Dann zog ich mein mittlerweile übel verknülltes Kostüm aus und schlüpfte in meine Nachtwäsche. Ich legte mich auf mein Bett und starrte in die Dunkelheit, bis der Morgen dämmerte. Die Katzen hatten sich längst verzogen und den ansässigen Amseln und Kohlmeisen Platz gemacht.

Die Vögel begrüßten erst etwas zaghaft, dann immer kräftiger mit großem Jubel und Gezwitscher den neuen Tag.

Ich hegte Zweifel, ob ich ebenfalls den Tag freudig begrüßen sollte.

War heute nicht der Termin mit der Frau Mertens? Ach nein, das war ja erst für den nächsten Tag geplant. 9.30 Uhr. Seien Sie pünktlich, ich backe uns was. Gott, es grauste mir jetzt schon davor. Da fiel mir ein, was sie gesagt hatte: „…bevor wir auflegen, möchte ich Ihnen noch sagen, wie leid mir das mit dem Brief tut!“ Wie hatte sie das gemeint? Was wusste sie von dem Brief des Vermieters?

Ach, Blödsinn, schimpfte ich mit mir selber. Das kann sie nicht gemeint haben, das ist unmöglich. Einfach unmöglich! Sie muss ihren Leserbrief gemeint haben.

Als es sieben Uhr war, stand ich auf und schlurfte ins Bad. Im Spiegel blickte mir eine Fremde entgegen. Wie viele Gläser Wein hatte ich gestern getrunken? Nun, mindestens eines zu viel. Zum Glück musste ich heute nicht in die Redaktion, ich hatte lauter Außerhaustermine und den Rest der Arbeit konnte ich auch vom Notebook aus erledigen.

Gegen Mittag fuhr ich mit Max Richtung Heimat als mein Handy wieder Beethovenklänge erschallen ließ. „Anrufer unbekannt, Nummer unterdrückt“ stand auf dem Display. Ich fuhr rechts ran, bevor ich das Gespräch annahm, denn hinter mir fuhr zufällig ein Polizeiwagen. Ich hatte keine Lust auf ein Knöllchen.

„Hier Fink.“

„Hi, Lissy!“

„Hardy! Endlich! Ich warte schon ewig auf deinen Anruf, was ist mit deinem Handy? Ich habe letzte Nacht versucht, dich zu erreichen, aber es ging nicht, und dann habe ich gewartet und gewartet, aber du hast nicht angerufen. Ich war so unglücklich und konnte nicht schlafen, weil Katzen sich vorm Fenster massakriert haben und der Wein war wohl schlecht und …“

„Lissy, nun halte mal die Luft an! Du redest wie ein Maschinengewehr. Hör mal, Schätzchen …“

Nenn mich heute bloß nicht Schätzchen, dachte ich finster.

„Ich muss mit dir reden. Eigentlich wollte ich am Wochenende zu dir fliegen und es persönlich sagen, aber ich muss was Wichtiges für die Firma erledigen, weißt du, so ein richtig dickes Ding ist das, ich muss dabei sein, sagt der Boss.“

Hicks! Ich bekam einen Schluckauf. Hicks! Den bekam ich immer, wenn ich eine ungute Vorahnung hatte.

„Hardy, was ist los? Warum hast du gestern nicht an meinem Geburtstag angerufen?“

Ich hörte ihn leise fluchen.

„Das habe ich vergessen, tut mir leid, Lissy. Ich hatte zu viel um die Ohren. Ich gratuliere dir jetzt nachträglich, okay?“

Warum war kein Lächeln in seiner Stimme? Mein Schluckauf wurde stärker.

„Also, ähm, bist du noch dran? Ja? Also, was ich dir sagen wollte, ähm, ich meine, du musst das verstehen. Eigentlich wollte ich es dir ja persönlich sagen, aber nun muss das eben so gehen.“

Mein Herz klopfte wie wild. Was versuchte Hardy mir zu sagen?

„Ich mache es kurz: Ich werde in den USA bleiben, ich komme nicht wieder zurück. Mein Boss will mich zum Teilhaber machen, in zwei Jahren schon. So eine Chance bekäme ich nie in Deutschland, das verstehst du doch sicherlich? Ich muss dir auch noch etwas sagen. Ich mache Schluss mit uns. Das hat ja doch keine Zukunft. Ich weiß, wie sehr du an deiner Heimat hängst und an deiner ewig trübsinnigen Mutter und an deinem Job bei dieser Frauenzeitschrift, Fratz oder wie die heißt. Es ist sicher das Beste für uns. Meinst du nicht auch?“

Inzwischen kochte ich vor Wut.

„Bist du noch ganz bei Trost? Ist das vielleicht eine Art und Weise, mich einfach so vor die Tür zu setzen? Nach zwei wundervollen Jahren?“

„So wundervoll waren sie nun auch nicht“, sagte Hardy leise.

„WAS?“

Ich schnappte empört nach Luft. „Und wie KANNST DU ES WAGEN, MICH AUS DER WOHNUNG WERFEN ZU LASSEN?“

„Wieso? Was hat jetzt die Wohnung damit zu tun, die sollst du doch behalten. Die Miete kannst du auch alleine tragen, wenn du mal aufhörst, dir Designerhandtaschen zu kaufen.“

„Ich habe gestern einen Brief bekommen, du Mistkerl. Dein Vermieter sagt, ich muss bis Ende September raus aus der Wohnung, weil DU den Mietvertrag gekündigt hast. OHNE MIR ETWAS ZU SAGEN!“

„Wie? Ich habe ihm doch gesagt, er soll dich weiterwohnen lassen. Außerdem, wann hat er dir geschrieben? Jetzt schon? Verdammt, er sollte doch noch damit warten!“

„Hardy, ich fass es nicht. Du WAGST ES, mit mir am Telefon Schluss zu machen? Und dein Scheißvermieter weiß VOR MIR, dass du aus den USA nicht zurückkommen willst? Ich hasse dich, MEINHARDT, damit du es nur weißt, ich hasse dich! Wie kannst du mir das nur antun?“

Mittlerweile hatte meine Lautstärke ein beachtliches Maß erlangt. Ich vermutete, jenseits der Landesgrenzen war ich auch noch zu hören. Jedenfalls blickte die Kuh auf der Weide neben der Straße irritiert zu mir herüber.

„Und das alles nur wegen deiner Karriere? Wegen einer blöden Karriere machst du unsere Beziehung kaputt? Unsere Liebe?“

Ich hörte Hardy nach Luft schnappen.

„Blöde Karriere? Ich werde dir mal was sagen! Ich HABE wenigstens eine Karriere und schreibe mir nicht die Finger wund für so ein affiges Frauenmagazin. Und damit du es weißt: Es ist nicht nur die Karriere! Ich liebe eine andere! So, jetzt weißt du es!“

Mein Schluckauf verschwand von einem Moment zum anderen.

„Lass mich raten: die Tochter vom Boss?“ Meine Stimme klang bitter. Nein, bitterböse.

„Woher …?“, stammelte Hardy.

„Oh, das war jetzt nicht schwer zu erraten. Es passt irgendwie zu dir. Mistkerl, elender! Ich will nie wieder ein Wort von dir hören. Ich hasse dich auf ewig, hörst du, Herr Nickel? Fahr zur Hölle! Und außerdem heißt das Magazin FriZ, du Idiot!“

Vor Wut und Enttäuschung heulend, warf ich mein Handy aus dem Fenster. Ich hätte es ihm gern ins Gesicht geworfen! Aber ich traf nur die blöde, wiederkäuende Kuh hinterm Zaun. Zum Glück war das Fenster eh schon herunter gekurbelt gewesen, sonst hätte ich es in meiner Wut gegen die Scheibe gedonnert.

Die Kopfschmerzen waren wieder da. Sie klopften von innen an meine Stirn und begehrten Einlass. Ach nein, sie waren ja schon in meinem Kopf. Was begehrten sie dann? Wollten sie raus? Meinetwegen. Sollten sie sich doch verpissen zusammen mit meinem Ex.

Ich saß eine ganze Zeit lang aufs Äußerste angespannt im Auto, starrte vor mich hin und erging mich in Mordfantasien, in deren Mittelpunkt Hardy stand, und als Nebenfigur kam eine dralle Blondine vor. Naja, vielleicht war die Tochter vom Boss auch brünett und mager. Keine Ahnung. Schließlich rief ich mich zur Ordnung und brachte meine Aggressionen unter Kontrolle, wie meine Therapeutin es mich gelehrt hatte. Dann stieg ich aus, um mein Handy zurückzuholen. Ich ging hinüber zur Kuhweide, beugte mich leicht über den Zaun und suchte mein Handy, das überaus wichtige Kunden- und Geschäftsdaten in seinem Inneren barg. Mehrere Minuten suchte ich es, dann konnte ich es sehen. Und ich begann, hysterisch zu kichern.

Mein Handy lag in einem Haufen Kuhscheiße!

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“

Ich erschrak und drehte mich um. Da stand aber nur eine junge Frau, die mit ihrem Hund spazieren ging. Anstatt ihr eine Antwort zu geben, deutete ich nur auf mein Handy, das gerade vollständig in stinkender, grüner Biomasse absoff. Die Hundefrau grinste und zog wortlos ein schwarzes Beutelchen aus ihrer Hosentasche, das für die Beseitigung hündischer Hinterlassenschaften konzipiert war, drückte es mir in die Hand und ging dann vor sich hin lachend weiter ihres Wegs.

Leise fluchend ergab ich mich in mein Schicksal, kletterte über den Zaun, machte einen großen Bogen um die neugierige Kuh und griff dann, den Atem anhaltend, beherzt zu.

Nicht nur mein Handy lag in der Scheiße, mein Liebesglück lag dicht daneben und verschwand blubbernd auf Nimmerwiedersehen.

Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich die Außerhaustermine, die noch vor mir lagen, mehr schlecht als recht bewältigte. Es war eine meiner Schwächen, dass ich mich von meinen Emotionen so überwältigen ließ, dass sie mein Befinden im beruflichen Alltag beeinträchtigten. Ich konnte das nicht abstellen. Während der ganzen Zeit sehnte ich den Feierabend herbei.

Als ich wieder zuhause war, hatte ich das dringende Bedürfnis nach einem heißen Bad. Am liebsten mit einem Badeschaum, der „Oblivion“ hieße und das namentliche Versprechen des Vergessens einhielte! Doch ich hatte immerhin noch einen Rest rotes Badeöl namens „Harmony“.

Während das Badewasser einlief, legte ich noch die gewisse kleine schwarze Tüte auf den Balkon, und reservierte dann einen Tisch für zwei Personen beim Italiener. Wie gut, dass diese Wohnung auch einen Festnetzanschluss hatte! Ich rief meine Mutter an, um ihr zu sagen, dass ich sie gegen 19 Uhr abholen würde. Und dann ließ ich die Hüllen fallen, tauchte unter und versuchte zu vergessen.

-2- Trümmerfrauen

Meine Mutter wartete schon unten vor ihrer Haustür, als ich mit meinem Wagen vorfuhr. Sie hatte ein sehr schön verpacktes Geschenk in der Hand und lächelte mich liebevoll, aber auch mit prüfendem Blick an.

„Wie geht es dir heute, meine Liebe?“

Eine ehrliche Antwort wäre gewesen: Abgesehen davon, dass ich immer noch Kopfweh habe, mein Hals wund und meine Nase verschnupft ist und meine Beziehung nicht mehr existent – gut. Doch ich antwortete nur einsilbig: „Gut.“

Meine Mutter schaute mich vielsagend an und meinte: „Ja, das sehe ich. Hast du Hardy erreicht? Was sagt er denn zu dem Brief?“

Freudlos sagte ich: „Lass uns bitte erst nach dem Essen darüber sprechen“, setzte den Blinker und fuhr Richtung Innenstadt. Wir genossen zwei Stunden später einen Espresso als Abschluss eines sehr guten Abendmahles. Der Koch hatte sich selber übertroffen. Mutter und ich hatten eines unserer Lieblingsgerichte gegessen: Tortellini mit Kürbisfüllung in Butter-Salbei-Soße. Dazu hatte es einen frischen Salat gegeben und als Nachtisch Tiramisu, wie jedes Mal, wenn wir hier aßen. Das war eine fast zehnjährige Tradition für uns, abschließend Tiramisu zu essen. Der Kellner wusste das und fragte erst gar nicht mehr, welchen Nachtisch wir wollten.

„Ich werde es kurz machen, Mama. Hardy hat mit mir Schluss gemacht und ich muss auch die Wohnung verlassen. Er kommt nicht mehr aus den USA zurück und hat wirklich den Mietvertrag gekündigt. Allerdings wollte er wohl, dass ich da weiterhin wohnen kann und den Vertrag übernehme, aber den Vermieter interessierte das nicht.“

„Melli, ich bin schockiert! Wieso verlässt er dich? Und vor allem so plötzlich, gab es denn einen Streit zwischen euch?“

„Nein. Ich glaube, er hat einfach was Besseres als mich gefunden.“

„Och, etwas Besseres als dich kann er gar nicht haben. Du bist viel zu gut für ihn! Was fällt ihm ein?“

„Mama, lass gut sein. Ich verstehe es auch nicht wirklich. Vielleicht habe ich mir etwas vorgemacht, was unsere Beziehung angeht. Er hatte mich, bevor er in die USA ging, gar nicht gefragt ob ich mitgehen möchte. Das war schon etwas seltsam. Aber andererseits, ich wäre nicht mitgegangen, nein. Ich mag meine Arbeit hier. Meine Heimat ist hier, und du bist hier! Und Vatis Grab auch.“

Mutter legte bewegt ihre warme, zarte Hand auf meine. „Das ist rührend von dir, meine Kleine. Ich weiß, dass du es mit mir nicht immer leicht hast. Aber deine Gefühle für deine Eltern dürfen dir nicht im Wege stehen, wenn dein eigenes Leben weitere Kreise ziehen möchte. Du sollst frei sein, hörst du?“

Ich legte meine andere Hand auf ihre, drückte sie sanft und sagte: „Ich danke dir. Aber vorerst werde ich ganz kleine Kreise ziehen. Im Moment kreisen meine Gedanken mehr um mein Bett, ich fühle mich gar nicht wohl. Und Hardy ist von nun an außerhalb meines Lebenskreises, das schwöre ich. Ich bin so wütend auf ihn, dass er für mich ein toter Mann ist.“

Mutter machte ein erschrockenes Gesicht. „Sag so was nie!“

Da fing ich leise an zu weinen: „Mama, er hat wirklich eine andere! Das hat er mir einfach so am Telefon an den Kopf geknallt. Er liebt mich nicht mehr und war wohl auch nie wirklich glücklich mit mir. Ich will nie wieder über ihn reden!“

Meine Stimme wurde immer rauer und mir war unnatürlich warm.

„Kind, es tut mir alles so leid für dich. Am besten bleibe ich in deiner Nähe und fahre nicht zu Tante Ursula.“

„Tante Ursula? Hat sie dich in ihre Ferienwohnung auf Sylt eingeladen? Natürlich fährst du zu ihr! Ich bin doch ein großes Mädchen. Du wirst sehen, mir geht es bald wieder gut. Unkraut vergeht nicht.“ Ich brachte immerhin ein schiefes Lächeln zustande.

Lorenzo, unser Kellner, kam der erbetenen Rechnung an unseren Tisch und schaute mich betroffen an: „Aber Signorina Melissa, so traurig? Kann ich Ihnen etwas Gutes tun? Vielleicht noch einen Cappuccino mit Zimt oder Schokostreusel auf Kosten des Hauses?“

„Das ist wirklich lieb, aber nein danke. Ich will jetzt nach Hause.“

Ich zahlte, nahm mein Geschenk, einen wunderbaren Amethyst für meine kleine Sammlung, in die Hand und fuhr Mutter nach Hause, die sich mit einer festen Umarmung von mir verabschiedete. Dann ging es auf kürzestem Wege in meine Wohnung, die im Grunde nie meine Wohnung gewesen war.

Ich hatte das Gefühl, mein ganzes Leben lag in Trümmern.

Mira Mertens saß etwa zur selben Zeit wie Melissa und ihre Mutter an einem Tisch. Ihr Tag neigte sich dem Ende zu, vor ihr lag ein geöffneter Brief auf dem Küchentisch. Doch es war weniger der Inhalt dieses unerwarteten Briefes, der sie innerlich beschäftigte, es war mehr der gestrige Tag, über den sie nachdachte.

Wieder einmal war ein ratsuchender Mensch zu ihr gekommen und hatte sich die Karten legen lassen. Irgendwie hatte es sich weit herumgesprochen, dass sie gewisse nichtalltägliche Fähigkeiten hatte. Sie hatte nie dafür Werbung gemacht, es ging wohl von Mund zu Mund und zog seine Kreise. Einerseits war sie es überdrüssig geworden, tief in das Leben anderer Menschen zu blicken, andererseits war es ihr aber auch ein inneres Bedürfnis zu helfen, soweit dies überhaupt möglich war. Alles hatte seine Grenzen. Im Grunde war sie nur der Überbringer der Nachrichten. Und sie konnte, wenn der Besucher es wünschte, auch aus dem Erfahrungsschatz ihres langen Lebens heraus einen Rat geben. Oder sie hörte nur aufmerksam zu, bis der Besucher seine Herzenslast bei ihr abgeladen hatte und erleichtert das Haus verließ. Manchmal war es auch wichtig, dass sie die „richtigen Worte“ fand, dabei halfen ihr dann ihre Engel, sie gaben die Richtung vor oder ihr auch die genauen Worte ein, und es war dann, als hätte sie ihrem Gegenüber eine Art Schlüssel überreicht, sodass dieser sich selbst aus seinem geistigen Gefängnis entlassen konnte und wieder das Licht der Gedankenfreiheit erblickte.

Ja, es war eine schöne Aufgabe, die ihr da zugefallen war. Aber mit zunehmendem Alter wurde es ihr einfach zu viel, zu schwer. Sie war so müde. So lebenssatt und müde. Ein Leben lang war sie Anderen ein Licht gewesen. In jungen Jahren nur ein kleines Lichtlein, doch auch dies hatte schon seine Wirkung entfalten dürfen. Später, viel später, nachdem sie selbst durch die dunkle Nacht der Seele gegangen war und sich selbst ein Licht hatte sein müssen, wuchs ihre Intensität als Lichtbringer enorm an. Sie fand den Mut und das nötige Selbstwertgefühl, ihr Licht nicht länger unter den Scheffel zu stellen und sich der Welt zu zeigen. Sie erinnerte sich deutlich an die Worte ihrer Geistmutter, welche ihre Inkarnation helfend und führend aus dem Jenseits heraus begleitete. Damals, in der schmerzlichsten Zeit ihres Lebens, hatte sie den Dienst eines gewerblichen Mediums in Anspruch genommen. Eine ihrer Fragen hatte darauf abgezielt, ob sie einen besonderen Lebensauftrag hätte. Die Antwort aus der liebevollen Lichtwelt war:

Ja, das hast du, du gehörst zur Familie der Lichtbringer, darum geht es, dass du den Menschen, denen du begegnest, Licht bringst.

Was ist Licht?

Es vertreibt die Dunkelheit!

Es darf kein Feuer sein, das verbrennt, und es darf auch nicht unter dem Scheffel stehen.

Dein Wissen teile, aber achte darauf, dass es dein Wissen ist und du nicht Dinge bezeugst, die du nicht bezeugen kannst, weil du nicht Zeuge warst.

Lichtbringer sein heißt, mit anderen sein, heißt, ihre Dunkelheit erkennen und dann helfen.

Du versäumst nichts meine Kleine, du tust, was du tun kannst, nur bist du geneigt, dein Licht nicht Allen leuchten zu lassen. Du hast viel gelernt, bist von vielem Zeuge geworden, nun geh und schau, wo du dein Licht hinstellst, damit es viele sehen.

Freude hast du daran, daran merkst du, dass es richtig ist!

Langsam wurde es dunkel, der Garten vor dem Küchenfenster strahlte eine tiefe Ruhe aus, die sich auf die alte Frau übertrug. Sie spürte deutlich, dass das morgige Interview etwas „ins Haus bringen würde“.

Aber was?

09.30 Uhr. Ich war pünktlich und stand direkt vor Mira Mertens Haus in Strümpfelbach, als ein Postbote das mit weißen und roten Rosen umwachsene Gartentor öffnete und das kleine Grundstück betrat. Er kam mit federnden Schritten auf mich zu, sagte „Darf ich mal?“ und schob mich ein wenig beiseite, um Post und Werbung in den Briefkasten stopfen zu können. Er lächelte mich freundlich an und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Ich sah ihm verdutzt hinterher. Als ich mich wieder zur Tür drehte, um auf die Klingel zu drücken, da war diese schon geöffnet und eine weißhaarige Dame mit entzückend altmodischer Küchenschürze lächelte mich warmherzig an. Ein köstlicher Duft umschwebte sie, das konnte ich sogar mit meiner verschnupften Nase riechen.

„Guten Morgen, Frau Fink. Kommen Sie doch bitte herein, der Tisch ist schon gedeckt.“

Ich grüßte zurück und betrat das Haus. Innen war es wesentlich dunkler als draußen, sodass meine Augen sich erst langsam an die veränderten Sichtverhältnisse anpassen mussten. Frau Mertens war schon in der Küche verschwunden, jedenfalls nahm ich das an, denn von dort kam dieser Duft, dessen Einladung ich nur zu gerne folgte.

„Bitte, nehmen Sie Platz. Kaffee oder Tee?“

„Eine Überdosis Aspirin bitte“, dachte ich. „Frau Mertens, ich habe nicht viel Zeit. Aber da Sie schon alles vorbereitet haben, sage ich danke und nehme gern eine Tasse Kaffee.“ Ich hatte am Morgen nicht gefrühstückt, nur einige Schlucke Wasser getrunken. Die Halsschmerzen waren stärker geworden und ein Husten hatte sich auch eingestellt. Ich sah mich ein wenig in der Küche um. Helle Holzmöbel, hellgrüne Tapete, die Decke war zartgelb gestrichen, die Gardinen am einzigen Küchenfenster waren farblich darauf abgestimmt. Und überall, dekorativ verteilt, waren Amethyste! Ich traute meinen Augen nicht. „Frau Mertens, ich sehe, dass Sie hier viele Amethyste stehen haben. Ich bin begeistert! Ich liebe diese Steine, vor allem deren Farbe, ich sammle sie sogar.“

„Oh ja, ich auch, junge Frau. Die Farbe wirkt auf mich beruhigend und stärkend, geradezu zentrierend. Und ich mag ganz besonders dieses Kribbeln in der Hand, wenn ich einen Amethyst halte. Ich kann ihre Energie spüren. Sie auch?“

Ich verneinte bedauernd, hatte auch nicht gewusst, dass man etwas fühlen kann, wenn man sie in der Hand hält. Was meinte Frau Mertens denn bloß mit „Energie“? Steine sind Steine! Während ich das dachte, schaute ich mit wachsendem Interesse auf den Teller, der zwischen uns stand.

„Bitte, meine Liebe, greifen Sie zu. Extra für Sie gebacken!“

Mit diesen Worten schob sie den Porzellanteller zu mir, auf dem kleine Kokosbällchen lagen und diesen himmlischen Duft verbreiteten. Sie weckten meinen Appetit und ich nahm eines und biss hinein. Es zerging auf der Zunge und verlangte nach Gesellschaft. Daher nahm ich ungeniert ein weiteres. Frau Mertens hatte uns inzwischen Kaffee eingeschenkt. Er hatte einen ungewöhnlichen Geschmack, aber gut. Meine Güte, war der gut! Was tat sie hinein?

„Frau Mertens, ich muss sagen, beides ist außergewöhnlich gut. Kompliment!“ Plötzlich hatte ich doch Gefallen an einem Kaffeekränzchen. Ich weiß nicht warum, aber ein Teil meiner Anspannung war plötzlich verschwunden. Ich fühlte mich hier im Haus bei dieser alten Frau wohl, und zwar so richtig wohl! Das war mir noch nie zuvor passiert.

„Das freut mich, meine Liebe. Wenn ich das sagen darf, Sie sehen auch so aus, als bräuchten Sie etwas Gutes zur Stärkung. Sie sehen ja richtig krank aus!“ Ihr Blick war mitfühlend.

Ich konnte nicht glaubhaft widersprechen. Mittlerweile hatte ich Fieber, mein ganzer Kopf dröhnte und die Gelenke schmerzten. „Nun ja, ich bin etwas erkältet. Aber das soll mich nicht davon abhalten, das Interview mit Ihnen zu führen“, sagte ich tapfer lächelnd. „Frau Mertens, wenn ich wir jetzt beginnen könnten? Ich habe einige Fragen vorbereitet.“ Ich wühlte in meiner Handtasche. Verdammt, wo war das Blatt? Oh nein, es lag noch im Schreibtisch in der Redaktion. Aber ich war heute Morgen gleich von zuhause aus hierhergefahren. Ich sollte mir wirklich mal angewöhnen, keine Zettel zu schreiben, sondern alles im Notebook abzuspeichern! „Das ist mir jetzt etwas peinlich, ich habe meine Unterlagen vergessen. Aber mein Diktafon habe ich dabei. Es ist Ihnen doch recht, wenn ich das Gespräch aufzeichne?“

Ihre weißen Altfrauenlöckchen wippten mit, als sie zustimmend nickte. Ich legte ein Paket Papiertaschentücher unter das Gerät, um störende Geräusche zu vermeiden, die vom Tisch übertragen werden könnten. Dann drückte ich die Aufnahmetaste und wollte meine erste Frage stellen, als ein mächtiger Hustenanfall mir in die Quere kam. „Oh, entschuldi-husthust-huldigung! Geht gleich wieder.“

Ich japste ein wenig nach Luft, und Frau Mertens schaute mich besorgt an. „Also, meine erste Frage, an Ihren Leserbrief anknüpfend, ist: Wo haben Sie die Salbenherstellung gelernt?“

„Oh, das habe ich mir selber beigebracht mit Hilfe eines alten Buches. Anfangs habe ich mich strikt an die Rezepturen gehalten. Später fing ich an zu experimentieren und wählte eigene Kräutermischungen. Mit der Zeit wurde ich richtig gut darin!“ Frau Mertens lächelte verschmitzt.

Ich räusperte mich und fragte: „Nach welchen Gesichtspunkten wählten Sie die Kräuter aus?“

Sie beugte sich leicht nach vorn und sagte im Tonfall eines Verschwörers: „Ich habe meine Gartenkräuter um Rat gefragt, genauer gesagt, die Elfen der Kräuter. Die wissen nämlich genau, welches Kraut gegen welche Krankheit gewachsen ist!“

Zum Glück musste ich wieder husten, so konnte ich mein Grinsen hinter der Hand verbergen.

„In Ihrem Garten wohnen Elfen? Darf ich die auch interviewen?“, fragte ich frech.

Frau Mertens runzelte ihre Stirn. „Ich kann mir ehrlich gesagt nicht vorstellen, dass die Elfen und Pflanzendevas eben mal so mit Ihnen plaudern. Ich habe Jahre des Gebets und der Meditation gebraucht, ehe ich soweit war, mit ihnen geistig zu kommunizieren. Das ist nicht so wie in den netten Büchern und Filmen heutzutage, wissen Sie?“

Ich brauchte mich ob dieser Äußerung jetzt nicht um eine ernste Miene bemühen, denn mein Hals schmerzte inzwischen so stark, dass ich kaum noch schlucken oder sprechen mochte. Am besten würde ich dieses Interview so bald wie möglich beenden.

„Sie hatten erwähnt, dass Sie Tarotkarten legen und Beratungen anbieten“, fuhr ich krächzend fort.

„Brotkarten und Bratlungen?“

Ich holte tief Luft: „TAROTKARTEN und BERATUNGEN.“

„Ach so, jetzt habe ich verstanden. Möchten Sie vielleicht ein Glas Wasser?“

Sie wartete meine Antwort erst gar nicht ab, sondern griff zu einem gläsernen Wasserkrug, in dem ein Edelsteinstab steckte. Das untere Ende des Glasstabes war verdickt, ein Hohlraum, der anscheinend Rosenquarze und Bergkristall enthielt. Ich hatte davon schon mal gehört. ‚Schwingungsübertragung‘ oder etwas in der Art sollte Sinn und Zweck sein. Ich griff nach dem Glas mit Wasser und trank es in einem Zug aus. Mir war gar nicht gut. Das Atmen machte mir Schmerzen und mir war schwindelig.

„Frau Fink, brauchen Sie vielleicht eine Pause und etwas frische Luft? Wir könnten ein wenig im Garten spazieren oder dort sitzen.

„Ja, gerne. Das ist wohl eine gute Idee.“

Meine Gastgeberin ging voran und führte mich durch den Hintereingang des Hauses in den Garten. An der Türschwelle wurde mir wieder arg schwindelig und ich musste mich am Rahmen festhalten. Mir war so heiß!

Frau Mertens zeigte auf eine prächtige Königskerze und sprach zu mir, aber ich konnte ihre Worte nur wie durch Watte hören. Ich ging auf sie zu, weil ich zur Gartenbank neben ihr wollte, doch ich kam dort nicht an. Mir wurde schwarz vor Augen und ich sackte zusammen. Ich hatte das Gefühl, in ein Nichts zu fallen und wurde ohnmächtig.

Als ich wieder zu mir kam, nahm ich als erstes einen schwachen Geruch von Lavendel wahr, mit einer leisen Orangennote. Unter mir war es weich und ich spürte einen glatten, kühlen Stoff unter meinen heißen Händen.

„Sie kommt wieder zu sich“, hörte ich eine männliche Stimme wie aus weiter Ferne sagen. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, doch die Augenlider waren so schwer, dass ich es nicht vermochte. „Frau Fink! Machen Sie bitte die Augen auf! Hören Sie mich?“

Jemand stupste mich schmerzhaft in meine Schulter. Au! Ich wollte, dass er damit aufhört, was sollte das?

„Frau Fihink! Aufwachen!“

Dieser Mann ließ einfach nicht locker. Lieber wäre ich wieder in das wohlige Dunkel zurückgeglitten, aber nun war ich verärgert über diese ungebetene Einmischung. Der Ärger gab mir Energie und ich machte jetzt doch die Augen auf.

„Na bitte, sie ist wieder bei uns“, sagte er und lächelte mich väterlich und zufrieden an.

Ich schaute etwas verständnislos in seine Augen. Wer war das und wie kam er in mein Schlafzimmer? Weiße Altfrauenlöckchen tauchten in meinem Gesichtsfeld auf, und da kam die Erinnerung zurück. Frau Mertens! Ich war im Haus von Frau Mertens!

„Was“, krächzte ich, „was ist passiert?“

„Ich bin Dr. Wülfing, der Hausarzt von Frau Mertens. Sie sind gestürzt und haben eine dicke Beule am Kopf. Ich will Ihnen jetzt mal in die Augen leuchten.“

Mit einer kleinen Stablampe wedelte er vor meinen Pupillen herum, was mir etwas wehtat. Gott, mein ganzer Kopf tat so weh! Und dann wurde mir übel. Oh weh. Ich konnte nicht verhindern, dass die Kokosbällchen in hohem Bogen meinen Magen verließen. Irgendjemand hatte in weiser Voraussicht eine Schale bereitgestellt.

Frau Mertens gab mir anschließend einen kalten Waschlappen fürs Gesicht und ein Glas Wasser zum Mundausspülen. Es hatte einen ganz leichten Zitronengeschmack und tat gut.

„Nun, die Diagnose ist klar. Sie haben eine kleine Gehirnerschütterung.“ Dr. Wülfing lächelte jetzt vergnügt. „Kein Wunder, Thaddäus hat einen harten Schädel.“

„Wer ist Thaddäus?“, fragte ich verständnislos.

„Mein Gartendrache“, antwortete Frau Mertens. „Eine Steinfigur, die ich Thaddäus nenne. Als Sie in Ohnmacht gefallen sind, sind Sie bedauernswerterweise mit ihm zusammengestoßen.“

Ich runzelte meine Stirn. „Aber davon weiß ich nichts. Das letzte, woran ich mich erinnere, ist, dass wir beide in der Küche gesessen haben. Ich habe mich umgeschaut und all diese hübschen Amethyste gesehen. Danach weiß ich nichts mehr. Jedenfalls war dort kein Drache aus Stein.“

Der Doktor meldete sich wieder zu Wort: „Minimale retrograde Amnesie. Nicht ungewöhnlich, auch bei einer leichten Gehirnerschütterung. Was Sie jetzt vor allem brauchen, ist Bettruhe. Ich könnte Sie auch ins Krankenhaus einweisen. Wir können aber auch vereinbaren, dass Sie jetzt einfach hier liegenbleiben und ich schaue in sechs Stunden noch einmal nach Ihnen. Bevor ich gehe, gebe ich Ihnen noch eine Spritze gegen die Schmerzen, das senkt auch gleich etwas das Fieber. Die Lunge hört sich nicht so gut an. Sind Sie schon länger erkältet?“

„Nein, es fing gestern an. Ich kann aber doch nicht Frau Mertens hier so zur Last fallen. Muss nach Hause fahren, mein Auto…“, murmelte ich.

„Sie fahren jetzt nirgendwo hin!“, sagten Dr. Wülfing und die Hausherrin unisono.

Ich wollte mich aufsetzen, doch es ging beim besten Willen nicht. Mir wurde wieder schwindelig. Die Schwerkraft der Erde musste sich punktuell drastisch erhöht haben. Jedenfalls war das Zentrum dieses Phänomens direkt unter mir. Keine Chance, dagegen anzukommen.

„Frau Fink, es macht mir überhaupt nichts aus, wenn Sie hier im Gästezimmer bleiben. Ich kümmere mich gern um Sie, ganz ehrlich. Soll ich jemanden für Sie anrufen? Vielleicht Ihren Mann?“

Ich dachte an Mutter, aber dann fiel mir ein, dass sie heute früh nach Sylt abgereist war. „Nein, da ist im Moment niemand, den ich erreichen könnte. Ich lebe allein. Ich müsste mich aber in der Redaktion krankmelden.“

„Gut, dann komme ich heute gegen Abend noch mal rein“, sagte der Arzt. „Wenn Ihr Zustand sich verschlechtern sollte, und ich spreche jetzt von zunehmenden Kopfschmerzen und Übelkeit oder Bewusstseinseintrübungen, dann ruft Frau Mertens mich sofort an und ich bin innerhalb von fünf Minuten wieder hier. Meine Praxis ist gleich um die Ecke. Einverstanden?“

Ich nickte, schloss wieder die Augen und schlief sofort ein.

Frau Mertens ließ die Tür zum Gästezimmer angelehnt und ging in ihr Wohnzimmer, nachdem sie den Hausarzt zur Tür begleitet hatte. Sollte das Mädchen etwas brauchen, würde sie es bemerken. Erschöpft ließ sie sich in den dunkelroten, plüschigen Fernsehsessel fallen. Die Aufregung war doch anstrengender als sie zugeben wollte. Nach kurzer Zeit fielen ihr die Augen zu und sie glitt in einen Zustand zwischen Wachen und Schlafen. Ihr Atem ging gleichmäßig und sanft.

Und sanft war auch das Lächeln ihres Engels, der ihr vor ihrem geistigen Auge erschien. Er hatte keine menschliche Gestalt mit Flügeln, nein. Was sie sah, war eher eine leicht pulsierende Lichtpräsenz, es war mehr ein Fühlen als ein Sehen. Aber sie wusste, dass der Engel lächelte, denn sie spürte seine Liebe und Freude und die übergroße Herzenswärme. Dann wurden ihr wortlos Bilder gezeigt. Mira sah ein großes Buch, edel eingebunden, eine Kostbarkeit! Der Engel blätterte es um bis zur vorletzten Seite. Dort erschien das Gesicht einer jungen Frau, sie blickte traurig auf die Trümmer, die sie umgaben. Etwas Schreckliches schien passiert zu sein. Dann drehte sie sich um und blickte direkt zu Mira auf und streckte Hilfe suchend die Hand aus. Frau Mertens Herz klopfte nun schneller, es war Frau Fink, die ihr gezeigt wurde! Sie wusste nun ganz sicher, dass hier für sie in ihrer Eigenschaft als Lichtbringerin eine Aufgabe lag. Dann verblasste diese Vision, und das Buch selbst war wieder im Vordergrund. Der Engel schickte der alten Frau ein Gefühl von großer Liebe und Vorfreude. Bedeutsam blätterte er die letzte Seite um und schloss dann mit Betonung das Buch, woraufhin es erstrahlte und sich in Licht auflöste. Mit ihm verschwand auch der Engel. Mira Mertens hatte verstanden. Sie sprach leise ein aus tiefstem Herzen kommendes Dankgebet. Ihr Wunsch würde sich also bald erfüllen. Ihre Zeit würde bald kommen!

Als ich viele Stunden später erwachte, fühlte ich mich schon etwas besser. Das Fieber war gesunken und mir war nicht mehr übel, auch nicht, wenn ich vorsichtig meinen Kopf bewegte. Aber ich hustete nach wie vor, der Hals war trocken und entzündet.

Es klopfte leise an der Zimmertür. Frau Mertens, die gute Seele, kam herein und hatte ein Tablett in der Hand.

„Ich bringe Ihnen einen Hustentee und ein Kännchen mit lauwarmem Salbeitee, aber dieser ist nicht zum Trinken gedacht, sondern zum Gurgeln. Der Doktor sagt, Sie sollten noch nicht aufstehen, nur zur Toilette wenn nötig, aber sonst strikt im Bett bleiben und flach liegen! Darum habe ich auch eine kleine Kanne als Spuckgefäß auf das Tablett gestellt, für den Salbeitee. Den anderen Tee, den trinken Sie jetzt bitte gleich.“

„Das ist wirklich lieb von Ihnen, Frau Mertens, ich mache Ihnen ja solche Umstände, das ist mir sehr peinlich.“

„Ach papperlapapp. Ich nutze Sie schamlos aus, junge Frau. Jetzt habe ich endlich mal wieder jemanden zum Aufpäppeln und Bevormunden. Ich habe wirklich gern Gesellschaft, auch wenn diese im Bett liegt.“

Ich setzte mich ein wenig auf und nahm einen Schluck vom heißen Tee. „Was ist denn da drin?“

„Königskerze, Lindenblüte, Malve und etwas Honig.“

„Ah ja. Der hilft gegen was? Gegen den Husten oder die Kopfschmerzen?“