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Ein geschickt komponierter Roman Nach einer wahren Begebenheit 1940: Der norwegische Schauspieler Martin Linge wird von der britischen Armee angeworben, um ein geheimes Spezialeinsatzkommando anzuführen. Gemeinsam mit seiner handverlesenen Einheit zieht er nach Norwegen, um die dort stationierten Deutschen auszuspionieren und ihre Pläne zu vereiteln. Es ist nicht nur seine tollkühne Art, die ihn zu dem perfekten Mann für die Mission macht, sondern auch sein Charisma und seine Bühnenerfahrung. Mit der »Kompanie Linge« macht er den Deutschen das Leben schwer. Doch sein wohl größter Clou ist der Diebstahl der ›Enigma-Maschine‹, mit der verschlüsselte Nachrichten der Deutschen dechiffriert werden können. Martin verzeichnet einen Erfolg nach dem anderen, doch je höher er fliegt, desto tiefer droht er zu fallen. Wird ihm sein Wagemut letztendlich zum Verhängnis? Øystein Wiik verdichtet das Leben des Schauspielers und norwegischen Nationalhelden Martin Linge zu einem mitreißenden Spionageroman.
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Seitenzahl: 464
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Øystein Wiik
Aus dem Norwegischen von Maike Dörries und Günther Frauenlob
Mit einem Nachwort des Autors
Prolog
Erster Akt MARTIN
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Zweiter Akt ROSEMARY
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Dritter Akt BJØRN
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Vierter Akt NORIC 1, Die Kompanie
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Fünfter Akt DER KRIEG
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Epilog
Nachwort
Danksagung
Verwendete Zitate
Quellen
Måløy,27. Dezember 1941
Der Regen löschte die aus den zerschossenen Häusern lodernden Flammen, während die Bevölkerung die Gefallenen von der Straße trug und nach Uniformen trennte. Die meisten Opfer waren Deutsche. Die Engländer hatten den Großteil ihrer Gefallenen mitgenommen, als sie sich im Laufe des Tages zurückgezogen hatten. Aus dem Gebäude, in dem die Deutschen ihre Toten sammelten, klangen Hammerschläge. Zwei junge Schreiner aus der Umgebung waren herbeigerufen worden, um Särge zu zimmern.
Am anderen Ende von Gate 1 lagen sieben tote Soldaten in einer engen Gasse. Sechs Briten und ein Norweger. Während die deutschen Offiziere damit beschäftigt gewesen waren, die Schreiner zu rekrutieren, hatten einige wenige Männer, angeführt von einem jungen Polizisten, die Leichen unter Einsatz ihres Lebens beiseitegeschafft.
Ohne viel Aufheben trugen sie die sieben Toten zu dem Friedhof außerhalb des Zentrums. Wenige Minuten später lagen sie in den Särgen, die der örtliche Bestatter zur Verfügung gestellt hatte.
Ein Polizist hielt vor der Steinmauer Wache. Sie hatten ein Warnsignal vereinbart, sollte jemand auftauchen.
Eine andere Gruppe hatte am Nordende des Friedhofs, unweit der Straße, ein breites Grab ausgehoben. Es galt, die Toten schnell unter die Erde zu bringen. Das betraf ganz besonders den toten Norweger. Sie hatten ihn aus den Trümmern eines Hauses gezogen und dank des Namensschilds an seiner Brusttasche identifizieren können, obwohl sein Gesicht nicht mehr zu erkennen gewesen war.
„Ich würde gern ein Foto machen, bevor wir die Särge verschließen“, flüsterte der Anführer des kleinen Trupps, ein ungelenk wirkender Mann in den Fünfzigern. Er hatte eine Kamera und ein Blitzlicht bei sich und gab sich bei dem Norweger besondere Mühe. „Verdammt, was für eine Schande“, sagte er leise, vergewisserte sich, dass keine Unbefugten in der Nähe waren, und schoss das Foto. Das Gesicht im Sarg leuchtete für einen Augenblick blass auf.
„Dir ist schon klar, dass die Deutschen dieses Foto niemals sehen dürfen?“, fragte ein anderer mit hochgeschlagenem Jackenkragen und tief in die Stirn gezogener Skippermütze. „Wenn jemand sieht, dass wir …“
„Schhh!“, kam es vom Anführer. „Keine Namen, man kann nie wissen …“ Für einen Moment war es still, und alle Männer sahen sich wachsam um.
„Alles gut“, sagte der Fotograf. „Ich entwickele die Bilder erst, wenn hier wieder Ruhe herrscht.“
„Niemand darf wissen, wer hier liegt. Das ist alles nicht passiert, verstanden?“
Die Männer nickten gleichzeitig. Dann schlossen sie die Särge, ließen sie ohne einen Bibelvers in die Grube hinab und schaufelten das Loch wieder zu. Anschließend klopften sie die nasse Erde mit ihren Schaufeln fest. In der Nacht sollten die Temperaturen sinken, und der angekündigte Schnee würde alle Spuren der hastigen Beerdigung beseitigen.
Sie blieben noch einen Moment auf ihre Schaufeln gestützt stehen. Wer eine Mütze trug, nahm sie ab.
„Er war wirklich ein ganz besonderer Mann“, sagte der Anführer, gefolgt von andächtiger Stille.
Die Männer gingen in unterschiedliche Richtungen auseinander und verschwanden in der Stadt.
Es war ihnen gelungen, den gefallenen Norweger vor den Deutschen zu verstecken. Später einmal wollten sie auf dem Grab ein Kreuz mit seinem Namen aufstellen, vielleicht sogar einen Grabstein mit einem passenden Spruch. Wenn Norwegen wieder frei war.
Vestre gravlund,18 Tage vor der Premiere, Dezember 1991
Die Büste seines Chefs auf dem quadratischen, grob zugehauenen Grabstein wurde von oben beleuchtet, wie er es aus seinen Lebzeiten gewohnt war. Die Schrift war einfach, ergänzt durch seinen Namen und zwei Titel: Kapitän und Schauspieler.
Bjørn wich dem leblosen Blick aus und fixierte das Sterbedatum, den 27. Dezember 1941. Der Tag der Toten.
„Sie haben ein Theaterstück über dich geschrieben, Chef. Es soll am Norwegischen Theater uraufgeführt werden.“
Bjørn stand zum ersten Mal seit 50 Jahren vor dem Chef. Sein Magen knurrte, aber er ignorierte den Protest. Das Bedürfnis nach einem Gespräch unter vier Augen war einfach zu groß. Aber die Antworten blieben aus. Er wollte über das Geheimnis sprechen, das er seit dem Tag nach Weihnachten im dritten Jahr des Krieges hütete. Damals war er 17 Jahre alt gewesen. Seitdem war ein ganzes Leben vergangen.
Das Wetter war so klar, wie es nur an einem richtig kalten Dezembertag sein konnte.
„Ich lasse nicht los“, sagte er. „Das habe ich nie, verstehst du?“ Die Stimme versickerte einsam und tonlos vor ihm im Kies.
Natürlich erwartete er nicht wirklich eine Antwort von der Büste, aber innerlich hoffte er auf Versöhnung zwischen ihnen und Akzeptanz für das, was vor ihm lag. Sein Atem ging schwer. Er streckte die Hände vor, um sich an den Grabstein zu klammern wie an einen Rettungsring, schaffte es aber nicht, ihn zu berühren. Stattdessen drehte er sich um und ging in Richtung Stadt. Er fluchte, weil er sich alledem ausgesetzt hatte. Aus Dummheit und Übermut, sonst nichts.
Bjørn beschleunigte seine Schritte. Es stach in der Brust, wenn er Luft holte. Er wusste, dass am Ausgang des Parks in Richtung Frognerveien eine Toilette war, aber der Weg bis dorthin war verdammt weit.
Gleich würde er „das lange Gesicht“ bekommen, eine Art Tick, bei der er mit hervortretenden Augen vor sich hinstarrte, als wollten sie ihm aus dem Schädel springen. Viele missverstanden ihn, wenn das geschah, aber er konnte nichts dagegen tun. In den letzten Jahren hatte er keinen Rückfall mehr erlitten und fast schon daran geglaubt, doch endlich genesen zu sein. Jetzt war alles Erreichte wie weggeblasen. 50 Jahre wurden durcheinandergerüttelt und verzerrt. Vergangenheit und Gegenwart zu einem Brei verrührt. Bilder verbrannten sein Gehirn, setzten Gift in tödlichen Dosen frei, und Arme und Beine zuckten in einem unkontrollierten, spastischen Tanz mit Namen Ataxie.
Endlich näherte er sich dem weißen Holzhäuschen. Das Wort Toilette strahlte ihm über der offenen Tür entgegen. Er kämpfte sich bis zum Geländer vor, zog sich hoch, schlüpfte in eine Kabine und setzte sich gerade noch rechtzeitig hin. Stützte sich mit den Unterarmen auf die Oberschenkel und ließ den Kopf hängen. Schweiß tropfte von seiner Stirn auf den Boden. Nasse Kreise, die einander überlappten und eine kleine Pfütze bildeten. Er war in Sicherheit. Jetzt musste er nur warten, bis es vorbei war.
Er starrte auf die Schultertasche vor seinen Füßen, aus der der obere Rand eines Manuskripts mit dem Logo des Theaters herausragte.
Warum hatte er bloß eingewilligt?
Der Anruf der Theaterchefin hatte ihn überrumpelt. Und dass sie ihn, Bjørn Sjøvåg, um Hilfe bat, hatte ihm geschmeichelt. Sie wollte ihn als Zeitzeugen. In seiner Überraschung hatte er spontan zugesagt und nicht einmal gefragt, wie sie ihn gefunden hatten. Es fühlte sich wichtig an, war ihm eine Ehre, doch schon beim Auflegen hatte er es bereut. Nur, dass es da zu spät gewesen war. Er war ein solcher Idiot.
In einer Dreiviertelstunde sollte er im Theater sein. Dabei hatte er das Manuskript, für das er als Berater eingestellt worden war, noch nicht einmal gelesen. Nicht aus Desinteresse oder fehlendem Willen, sondern aus Angst, denn das Stück handelte von dem Mann, den er gerade auf dem Friedhof besucht hatte.
Martin Linge, Kapitän und Schauspieler.
Bjørn fürchtete den Inhalt des Stückes.
Er zog ab und wusch sich die Hände. Legte die Hand auf die Klinke, überlegte es sich dann aber noch einmal und setzte sich auf den Klodeckel. In der kleinen, verschlossenen Kabine war es sicherer. Die Wände waren solide. Ein guter Ort, um mit der Lektüre zu beginnen. Er fischte das Manuskript aus der Tasche, nahm den Bleistift, der sich unter dem braunen Mäppchen am Boden versteckte und fuhr mit einem Finger über das raue Leder.
Er schlug das Manuskript auf und murmelte den Titel vor sich hin: „Eine Frage der Moral, ein Schauspiel über den Kriegshelden Martin Linge.“
Die erste Szene spielte am Abend des 8. April 1940. Martin war in der Festung Akershus, um sich für den Kriegsdienst zu melden. Etwas herablassend sagte der wachhabende Sergeant, dass sie ihn nicht bräuchten, die Deutschen stünden ja nicht vor der Tür.
Bjørn notierte mit dem Bleistift am Rand: Gute Eröffnung! Bestätigt, dass Kapitän Linge bereits am Abend des 8. April in der Festung war. Er kam von einer Generalprobe im Norske Teatret, gemeinsam mit seinem Sohn Jan Herman. Er sprach zweimal in Akershus vor, war aber beide Male auf Desinteresse gestoßen. Das zeigt, wie schlecht vorbereitet die Behörden waren.
Es klopfte dreimal energisch an der Toilettentür, dann war eine laute Stimme zu hören: „He, die Toilette wird auch noch von anderen gebraucht!“
„Gleich fertig!“, rief Bjørn und machte eine weitere Notiz. Martin ist am Tag darauf ohne Zögern in den Krieg eingetreten!
Dombås,15. April 1940
Es war das totale Chaos.
Panik griff um sich, und die Abwesenheit einer klaren Führung vermittelte Leutnant Martin Linge ein Gefühl absoluter Verlassenheit. Auch die anderen Soldaten in der Gegend litten darunter. Die Verlorenheit drang ihnen wie Kälte bis ins Knochenmark, weil nirgendwo eine klare Linie zu erkennen war. Ihm wurde bewusst, dass er sterben würde und seine Handlungen für den Ausgang des Kampfes vermutlich keine Rolle spielten. Er fürchtete den Tod nicht, wollte aber nicht sterben, ohne sich wenigstens gewehrt oder die Chance bekommen zu haben, etwas von Bedeutung zu tun. Er wollte nicht ohne Hoffnung draufgehen, nicht mit der Gewissheit, dass Norwegen verloren und alles nutzlos war.
Am Himmel über Dombås kreuzten Junker 52. Einige von ihnen flogen so tief, dass sie die Bäume zum Schwanken brachten. Die Flugzeuge spuckten unzählige deutsche Fallschirmjäger aus, aber Nebel, Regen und Dämmerung machten es nahezu unmöglich, sie vom Himmel zu schießen.
Es war ein Sprung ins kalte Wasser, derart unvorbereitet in den Krieg geschickt zu werden, schließlich war er erst vor wenigen Tagen mit dem Zug nach Setnesmoen gefahren, um sich als Soldat zu melden. Jetzt war er ein Stück Fleisch mit einer Waffe, an den Ort verfrachtet, wo er am dringendsten gebraucht wurde. Die Kontrolle über sein eigenes Handeln war ihm genommen worden, was sich für ihn unnatürlich anfühlte. Es schien niemand auch nur die leiseste Ahnung zu haben, wie sie weiter vorgehen sollten.
Die Situation war so frustrierend wie ungewohnt, obwohl er den Großteil seines erwachsenen Lebens damit verbracht hatte, Regieanweisungen umzusetzen und vorgeschriebene Rollen zu spielen. Aber vielleicht wartete er ja genau deshalb auf Anweisungen oder den Befehl, vorzurücken, während immer mehr deutsche Soldaten an dem Waldrand vor der Bergflanke landeten. Sollte er selbst die Regie übernehmen? Ein verlockender Gedanke, denn ihre Aufgabe wurde umso schwerer, je länger sie warteten.
Martin hatte sich Kriegshandlungen immer schnell und voller Elan vorgestellt. Jetzt sah er enttäuscht ein, dass das Gegenteil der Fall war. Ein Krieg bestand aus qualvoll in die Länge gezogenen Augenblicken. Es war wie bei einer Filmaufnahme, wenn man ungeduldig darauf wartete, dass der Regisseur endlich „Action“ rief.
Aus einem Anflug von Langeweile feuerte er eine Salve auf die Fallschirmjäger, die ihm am nächsten waren. Schüsse ins Blaue, die nichts erreichten. Martin hatte hinter einer abgeschossenen Junker 52 Deckung gesucht. Das Flugzeug war mit der Schnauze im Dickicht vergraben, während das Heck mit dem Hakenkreuz nach oben ragte.
„Worauf warten wir?“
„Auf die hohen Herrschaften“, lautete die Antwort. Sergeant Eilertsen, ein untersetzter Kraftprotz, spuckte braunen Tabaksaft in den Schnee, wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, schüttelte sich und legte die Hand wieder an das Maschinengewehr. „In Åndalsnes werden Regierungsvertreter erwartet, vorher sollen wir nicht vorrücken.“
Mit jeder Sekunde, die wir warten, verlieren wir Terrain, dachte Martin.
Flugzeug auf Flugzeug spuckte neue Fallschirmjäger über Dombås aus. Die acht abgeschossenen Maschinen änderten nichts daran, dass immer mehr Soldaten ins Land kamen. Einige wurden sofort gefangen genommen. Zwölf waren in einem Güterwagen aus den Bergen nach Dombås transportiert worden, aber diese kleinen Erfolge täuschten niemanden.
Allem Anschein nach hatte General Falkenhorst den Einsatzbefehl gegeben, weil Gerüchte von der möglichen Landung alliierter Kräfte in Åndalsnes kursierten. Martin war in aller Eile von Setnesmoen hierher kommandiert worden, hatte bislang aber nicht einen einzigen Engländer gesehen.
Hin und wieder huschten Signallichter über den tief hängenden grauen Himmel. Der Regen machte den Schnee nass und schwer, sodass man kaum über die meterhohen Wehen kam. Flammen und Regen, dachte Martin. Seit seiner Kindheit verfolgten sie ihn. Der Regen an der Scheibe zu Hause in Valldal. Das Feuer in Bergen, das ihn gezwungen hatte, am dortigen Theater aufzuhören. Flammen und Regen.
Eine Bewegung rechts von ihm zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Angeführt von einem Kapitän näherte sich eine Gruppe Soldaten und war bereit, weiter vorzurücken. Der Kapitän zeigte auf den Gipfel der bewaldeten Anhöhe. Martin sah zu dem Sergeant, der ein leises „Okay“ flüsterte.
Er klopfte dreimal mit den Fingerknöcheln auf das Holz des Gewehrkolbens und rannte los, innerlich auf einen Kugelhagel eingestellt, sobald sie aus der Deckung kamen. Aber das Glück war auf dem Weg über die Ebene mit ihnen. Sie hatten den Waldrand fast erreicht, als zwei Granaten auf sie zuflogen. Eine bohrte sich tief in den nassen Schnee neben ihm. Wegrennen war keine Option. Er ließ das Gewehr fallen, warf sich auf den Boden und schob die Hand in das Loch, in dem die Granate verschwunden war. Er spürte das kalte Metall an den Fingern, bereute sein Vorgehen und glaubte, dass jetzt alles zu Ende war, doch schließlich gelang es ihm, sie aus dem Schnee zu ziehen und wegzuwerfen. Sie explodierte noch in der Luft, aber wenigstens ein Stück entfernt. Eilertsen brüllte, drehte sich auf die Seite, zog sich einen Splitter aus dem Schenkel und rappelte sich wieder auf, als wäre nichts geschehen. Der Kerl war wirklich ein zäher Hund. Gleich darauf knallte es erneut und zwei Männer an ihrer linken Flanke wurden in Stücke gerissen.
„Verteilt euch und rückt weiter vor!“ Die Stimme des Kapitäns schnitt durch einen Moment der Stille, bevor die Hölle losbrach.
Die Schüsse kamen vom Waldrand, um sie herum spritzte der Schnee auf, aber sie robbten weiter auf die Bäume zu. Das trockene Knattern der Gewehre und die flüchtigen Mündungsfeuer zeugten davon, wie die Männer sich langsam den Hügel empor kämpften. Die zwei toten Kameraden blieben im Schnee liegen. Es war zu gefährlich, sie zu bergen.
Die Lungen brannten, die Muskeln in den Beinen krampften. Mit seinen 45 Jahren war es eine harte Prüfung, durch den nassen Schnee zu robben. Der Rest der improvisierten Einheit war bereits ein Stück vor ihm. Eilertsens gekrümmter Rücken verschwand rechts von ihm zwischen den Bäumen und er versuchte, dem kräftigen Mann im selben Tempo zu folgen. Er wollte nicht der Letzte sein.
Es war mittlerweile so dunkel, dass er kaum noch etwas sah. Hin und wieder waren die Stimmen von Deutschen zu hören, die überrascht wurden. „Bitte, nein! Nicht schießen!“
Trugen sie letzten Endes doch den Sieg davon?
Im Wald waren die Norweger in ihrem Element. Da schlugen plötzlich Kugeln in den Baum vor ihm ein. Martin ging in die Hocke und feuerte auf die Stelle, an der er die Mündungsflammen zu sehen geglaubt hatte. Jemand schrie auf, er sah den Rücken eines fliehenden Deutschen. „Stehenbleiben!“, schrie er und schoss noch einmal. Der Deutsche kniete sich hin und reckte die Arme über den Kopf. „Bitte, bitte!“
Der Soldat war entweder ein Nachzügler oder Teil einer Einheit, die ihnen von hinten folgen sollte, um sie ins Kreuzfeuer zu nehmen. Plötzlich brach der Mond durch die Wolkendecke und warf fahles Licht auf die Szenerie. Martins Sinne waren geschärft.
„Umdrehen!“
Der Fallschirmjäger drehte sich um, die Hände noch immer über dem Kopf. Das Gewehr lag vor ihm im Schnee und aus seinem Gürtel ragte eine Luger. Das Gesicht war glatt, die Züge weich wie bei einem Kind. Wie alt mochte er sein? 20?
„Bitte, nicht schießen, bitte!“
Verdammt! Er war bereits abgehängt und hätte sich beeilen müssen, um die anderen zu unterstützen. Weiter oben hörte er einen heftigen Schusswechsel. Jetzt auch noch einen Gefangenen zu machen, hielte ihn nur auf, außerdem gab es diesbezüglich keinerlei Instruktionen. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke.
„Langsam aufstehen, die Hände über dem Kopf “, kommandierte Martin, während er im Kopf seine Möglichkeiten durchging. Sollte er ihn an einen Baum fesseln? Erschießen? Mitnehmen?
Der Deutsche beugte sich ruhig vor und stemmte die Hände auf den Boden vor sich. „Hände hoch, habe ich gesagt. Verdammt!“
Blitzschnell griff der Deutsche nach seiner Pistole. Martin glaubte erst nicht, was sich vor seinen Augen abspielte, und zögerte eine Sekunde. Es war nicht leicht, so dicht vor einem Menschen zu stehen, den man töten sollte. Das Licht in den Augen des jungen Mannes, der Atem aus seinem Mund. Ein Leben das ausgelöscht werden würde. Der Soldat hatte die Luger gezückt, ihre Schüsse fielen beinahe gleichzeitig. Martins Schädel dröhnte, und er war sich sicher, getroffen zu sein, als der Junge vor ihm zusammensackte und den Mund öffnete. „Ich wollte nur …“, begann er und starrte auf seine Pistole.
„Was?“, fauchte Martin. „Was wolltest du?“
Die Waffe rutschte aus den Händen des Deutschen, dann kippte er nach hinten und starrte mit gebrochenem Blick zum Himmel.
Er hatte ein Leben genommen, und auch wenn er darauf vorbereitet gewesen war, war die Erkenntnis ein Schock. Er suchte nach einem Gefühl, nach etwas, das ihm erklären konnte, was in ihm vor sich ging, fand aber weder Reue noch Genugtuung. Tief in sich spürte er nur nackte Kälte, die langsam Herz und Hirn einfror.
Über ihm dröhnte und knallte es, und er riss sich zusammen, um weiter vorzurücken. Der Kugelhagel nahm kein Ende. Kaum hatte er das gedacht, verstummte das Feuer, und kurz darauf kam eine dunkle Gestalt von oben auf ihn zu. Martin hob das Gewehr, bereit, erneut zu töten, als der Mann rief: „Ich bin’s, Eilertsen, nicht schießen!“
Eilertsen hatte seine Waffe verloren, er war verschwitzt, das Gesicht voller Pulverschlamm. „Ein Hinterhalt. Viele sind tot, auch der Kapitän. Den Rest haben sie gefangen genommen! Lauf, Linge, renn um dein Leben!“
Gemeinsam zogen sie sich zurück, den Pulvergeruch in der Nase, erschöpft und von dem Gefühl der Niederlage fast in die Knie gezwungen.
Als sie es endlich zurück ins Hauptquartier und zum 2. Bataillon geschafft hatten, kam ein junger Offizier zu ihm. Er trug eine Brille und hielt eine Mappe in der Hand. „Leutnant Linge, Sie sollen noch heute Nacht zurück nach Åndalsnes. Wir erwarten die Landung der Briten, sie werden dort als Verbindungsoffizier gebraucht.“
Eine Hütte nördlich des Sognefjords,20. April 1940
Oberstleutnant John Durnford-Slater spannte den Hahn des Revolvers auf dem Nachtschrank. Er lag voll angezogen auf dem Bett, über sich eine einfache Steppdecke. Obwohl er den zivilen schwarzen Mantel bis oben hin zugeknöpft hatte, setzten die Minusgrade ihm zu. Sein Atem stand ihm in einer Frostwolke vor dem Mund, obwohl er den Ofen vor dem Zubettgehen angefeuert hatte, wie man es ihm aufgetragen hatte. Die Hütte war ein Unterschlupf für britische Agenten, hier sollte er sich verstecken, falls seine Deckung aufflog. Der nachts aus dem Schornstein aufsteigende Rauch war das Signal, dass er Hilfe brauchte. Seine Glieder schmerzten und nach Tagen auf der Flucht entglitt ihm langsam die Kontrolle über seinen Körper.
Er hatte den Alkoven im Dachboden gewählt, obwohl die Hütte recht viel Platz bot. Sollten unerwünschte Besucher auftauchen, hatte er so noch ein paar zusätzliche Sekunden. Der Haken an der Sache war, dass es von hier oben keine Fluchtmöglichkeit gab, falls wirklich jemand kam.
Draußen waren Geräusche zu hören. Freund oder Feind?
Vielleicht spielten seine erschöpften Sinne ihm auch nur einen Streich. Vielleicht war das Flüstern, das er zu hören glaubte, lediglich der Wind in den Bergen.
John streckte sich vorsichtig aus, schob die Gardine zur Seite und sah durch den Spalt nach draußen. Wolken waren aufgezogen und die Dunkelheit wurde nur durch die schimmernden Reflexe des Schnees rund um die Hütte unterbrochen. Die linke Hand tastete die Brusttasche des Flanellhemds unter seinem Mantel ab. Mit einem beruhigten Nicken stellte er fest, dass die kleine Giftampulle da war. Schluckte er sie ganz, würde sie sein Verdauungssystem durchlaufen, ohne Schaden anzurichten. Zerbiss er sie, blieben ihm nur noch Sekunden.
Erst vor einer Woche war er in einer Sackgasse in Nordnes in Bergen dem Tod um ein Haar entkommen. Bei der verzweifelten Flucht durch die engen Gassen hatte er auf einen seiner Verfolger geschossen. Ob der Mann überlebt hatte, wusste er nicht. Aber hätten sie ihn geschnappt, wäre er aufs Übelste gefoltert worden. Den Status eines Kriegsgefangenen konnte er nicht einfordern, da es die Einheit, für die er arbeitete, offiziell gar nicht gab. Sie war so geheim, dass nur handverlesene Männer des War Office Bescheid wussten.
Er hatte einen Wagen gestohlen, der ihn ein Stück weggebracht hatte, und als der Tank leer war, ging es per Anhalter, zu Fuß und mit dem Fahrrad weiter. Sechs Jahre Dienstzeit in Indien hatten ihn abgehärtet und ihm eine gewisse Ruhe gegeben. Dort hatte er gelernt, dass er den Tod nicht zu fürchten brauchte, der in Indien allgegenwärtig war. Tod, Wiedergeburt, Lebensrad und Karma. Viele Männer der Slater-Familie hatten im Dienst für das Vaterland ihre Leben gelassen. Sein eigener Vater war gleich zu Beginn des Ersten Weltkrieges auf den Schlachtfeldern in Frankreich gefallen. John war damals erst neun Jahre alt gewesen.
Sein Vater war in einem Sarg, bedeckt mit der britischen Flagge, nach Hause gekommen, und es war nur ein schwacher Trost gewesen, dass er unter Salutschüssen beigesetzt worden war. John hatte nur das schwarze, tiefe Loch gesehen.
Damals hatte er beschlossen, mit der Familientradition zu brechen und stattdessen Pferde zu züchten. Seine Mutter hatte ihn dennoch zu einer Karriere beim Militär überredet, um den Vater und das Gedenken an ihn zu ehren. Die Pflicht hatte über den Traum triumphiert. Er bezweifelte, dass die Entscheidung richtig gewesen war, denn er war nicht unbedingt ein militärisches Talent. Er hatte gebüffelt, sich angepasst und sich in Selbstdisziplin geübt. Man sollte nicht immer auf die Mütter hören.
Plötzlich hatten die Deutschen vor der Tür gestanden, und er hatte sich den Knöchel verstaucht, als er aus dem ersten Stock des kleinen Holzhauses gesprungen war, das er gemietet hatte. Er war verraten worden, und vermutlich lauerten genau diese Verräter jetzt draußen vor der Tür. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass es jemand aus dem Konsulat in Bergen war.
Das ihm zugeteilte „Forschungsstipendium“ war eigentlich der perfekte Deckmantel. Mit Basis im Aquarium in Nordnes sollte er an der Westküste Norwegens meeresbiologische Studien vornehmen.
John Durnford-Slaters eigentlicher Auftrag war es, die Operation Ajax vorzubereiten – die britische Invasion Norwegens – denn sollte Hitler die norwegische Westküste besetzen, war der Weg zu den britischen Inseln bedrohlich offen. Die ultrareaktionäre Politik und das träge und vollkommen zerstrittene Kriegsministerium sorgten dafür, dass die Pläne immer wieder aufgeschoben wurden und die Wehrmacht ihnen zuvorgekommen war.
Es klopfte an der Tür der Hütte, erst vorsichtig, dann immer kräftiger.
John stellte die Füße auf den Boden, sah sich um und bezog neben der Tür zum Dachboden Stellung. Wenn nötig, konnte er von dort schießen. Sein Blick fiel in den Spiegel neben dem Fenster. Für gewöhnlich war er ein gepflegter Mann, aber mit den fettigen Haaren und dem Fünftagebart sah er eher aus wie eine Romanfigur von Dostojewski. Konnten sie sein Spiegelbild sehen, wenn sie hereinkamen? Er korrigierte seine Position, um das zu vermeiden.
Schwere Stiefelschritte ließen den Boden erzittern. Hatte er wirklich vergessen, die Tür abzuschließen? Dann waren sie auf der Treppe, John erkannte zwei unterschiedliche Arten von Schritten. Der rechte Zeigefinger legte sich um den Abzug, die linke Hand fischte die Zyankalikapsel aus der Hemdtasche und legte sie behutsam auf die Zunge. Die Schritte blieben vor der Tür des Dachbodens stehen. Es wurde still. Die Klinke ging nach unten, und die Tür glitt auf. Das Licht einer Taschenlampe fiel auf den Spiegel, und die Gestalt eines jungen Mannes mit blauer Wollmütze zeigte sich in dem gesprungenen Glas. Hinter ihm war ein weiterer Mann zu erkennen, sein Gesicht im Schatten.
„John Durnford-Slater?“
„Ich habe sechs Kugeln in der Trommel und den Finger am Abzug“, sagte John und hoffte, dass die Eindringlinge ihn verstanden. Durch die Kapsel auf der Zunge war seine Aussprache etwas undeutlich. „Heben Sie die Hände über den Kopf und kommen Sie herein. Keine plötzlichen Bewegungen, sonst schieße ich!“
Der junge Mann trug einen weißen Anorak, Kniebundhosen und kräftige Bergstiefel. Er war groß gewachsen und wirkte vertrauenswürdig. Aber die blonden Haare unter der Mütze konnten trügen. Er konnte ebenso gut ein deutscher Spion wie ein norwegischer Patriot sein.
Auch der zweite Mann weckte Vertrauen. Er war kleiner, mit dunklen Haaren und intelligenten Augen.
„Alf van der Hagen“, sagte er. „Und das ist Johannes Kvittingen.“
John entspannte den Griff um die Pistole. Den Namen van der Hagen hatte er schon gehört, aber den Mann noch nie persönlich getroffen. Um den Seemannspastor, der seine Zeit zwischen Liverpool und London aufteilte, rankten sich diverse Gerüchte und es gab einige Hinweise darauf, dass er eine zentrale Figur in der sich langsam entwickelnden Widerstandsbewegung Norwegens war.
„Ich wollte Sie schon auf Nordnes abholen, aber die Deutschen waren schneller“, sagte Kvittingen.
„Immer die gleiche Geschichte“, antwortete John und dachte daran, wie seine eigene Regierung alle Möglichkeiten verspielt hatte. „Nennen Sie mir einen Grund, Sie nicht zu erschießen.“
„Ajax“, sagte der Seemannspastor. „Ich weiß, dass es Ihre Aufgabe war, die Operation vorzubereiten, und dass sie vorerst auf Eis liegt.“
„Das kann auch der Feindesseite zu Ohren gekommen sein, als Nachweis reicht mir das nicht.“
„Sektion D, linker Flügel“, kam es von Kvittingen. John horchte auf. Sektion D war das Codewort für seinen Auftrag und der Zusatz linker Flügel, gab ihm Gewissheit. Nur der innerste Kreis um Oberst Colin Gubbins wusste, was damit gemeint war. Die Abteilung sollte unkonventionell vorgehen und eine Art Partisanenkrieg führen. Eine geheime, frisch ins Leben gerufene Einheit. John hatte davon erfahren und sich dafür interessiert, hatte gehofft, eine Führungsfigur der skandinavischen Einheit dieses Projekts zu werden. Er ließ die Waffe sinken, spuckte die Zyankalikapsel auf seine Handfläche und steckte sie zurück in die Hemdtasche. Er schnitt eine Grimasse, von der er hoffte, dass sie freundlich aussah. „Entschuldigen Sie meine Skepsis, aber man kann in diesen Tagen nicht vorsichtig genug sein.“
Van der Hagen lächelte breit. „Wir bringen Sie schnellstmöglich nach England, so Sie denn ein einigermaßen passabler Skifahrer sind.“
John hatte noch nie zuvor auf Skiern gestanden.
Setnesmoen, Åndalsnes,30. April 1940
Das Geräusch war leicht wiederzuerkennen, er hatte es in den letzten Tag oft genug gehört. Ein schnarrender Ton wie ein lang gezogenes deutsches „R“, das sich wie eine aufkommende Migräne in sein Nervensystem fraß. Martin wusste, was das zu bedeuten hatte, wollte sich davon aber nicht einschränken lassen. Die Luftangriffe kamen schon seit mehr als einer Woche, und an den schlimmsten Tagen hatte die Luftwaffe bis zu 400 Bomben auf Åndalsnes abgeworfen. Die Bomber flogen so hoch, dass die norwegischen Gladiator-Maschinen sie nicht erreichen konnten, aber zumindest verminderte es auch ihre Treffsicherheit. Darum ließ Martin sich von diesem neuerlichen Angriff nicht beirren. Die Landebahn musste fertiggestellt werden, und zwar jetzt, koste es, was es wolle. Die Kreuzer, die im Fjord vor Anker lagen, würden die Deutschen schon auf Distanz halten.
Es war einer dieser Tage, an denen seine Wut wie Unkraut wucherte und ihn dazu brachte, Dinge zu tun, die er hinterher bereute.
Ursache dafür war die Landung der Briten in Åndalsnes kaum zwei Wochen zuvor. Die Infanteriebrigade, die zur Unterstützung nach Norwegen gekommen war, war ein erbärmlicher Haufen. Das Bataillon gehörte dem britischen Territorialheer an und war schlecht ausgebildet. Außerdem kamen sie ohne Feldartillerie oder Panzer. Gemeinsam mit den norwegischen Truppen sollten sie Dombås sichern und so verhindern, dass die Deutschen über das Dovrefjell Verstärkung nach Trondheim schickten. Krieg war in erster Linie Logistik, und das Ganze war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Die gewaltige Kriegsmaschinerie der Wehrmacht schuf Panik und Verwirrung. Wieder ein Beweis dafür, wie unvorbereitet die Welt gewesen war. Als hätten alle Staatsoberhäupter geschlafen und wären von Hitler überrascht worden.
Diese täglichen Luftangriffe zeigten nun schmerzhaft deutlich, in welcher Situation Norwegen sich befand.
Einige Wochen vor dem Angriff der Deutschen hatten Gerüchte über die Operation Ajax kursiert. Martin hatte damals wirklich geglaubt, dass Churchill Hitler zuvorkommen würde. Jetzt waren die Chancen für eine Invasion aus dem Westen minimal. Im Gegenteil – es drohte die Evakuierung der britischen Einheiten.
Martin rückte sich die Mütze zurecht und knöpfte den oberen Knopf seiner Uniformjacke zu. Es war an der Zeit, Kraft und Disziplin zu zeigen. Mit verbissener Ruhe beugte er sich über die Motorhaube des Ordonnanzwagens und vollendete die Nachricht. Er brauchte mehr Männer für die Arbeit an der provisorischen Landebahn, und er brauchte sie jetzt. Das Rollfeld war eine Notwendigkeit, wenn sie der deutschen Aggression etwas entgegensetzen wollten.
Der Bote trat mit immer besorgterer Miene von einem Fuß auf den anderen.
Martin schrieb langsam. Seine Schrift war krakelig.
„Leutnant Linge … wir sind … es wird gleich einen Angriff geben, wir sollten … ja … auch Sie sollten Deckung suchen.“ Die Stimme des jungen Soldaten versagte. Er war noch ein Kind, kaum halb so alt wie er selbst. Sicher nicht älter als sein Sohn Jan Herman. Es war eine der bedrückenden, aber unausweichlichen Begleiterscheinungen eines Krieges, dass man die Jungen opferte.
Martin signierte den Befehl, faltete das Papier sorgsam zusammen und fragte: „Wie viele Möwen gibt es hier in Åndalsnes?“
„Ich weiß es nicht“, sagte der Bote und richtete den Blick ängstlich auf den Horizont. Die Flugzeuge hingen wie Wagners Walküren am Himmel. Ein Heer Heinkel 111-Bomber. Der Westwind schob den Motorenlärm vor ihnen her. Er hallte zwischen den bleigrauen Bergen wider und ließ die Maschinen näher wirken, als sie waren. „20000, vielleicht? Oder mehr?“
„Und hatten Sie jemals einen Möwenschiss in den Haaren?“ Martin reichte dem Boten lachend den Befehl.
„Nein, Sir, nicht dass ich mich erinnern könnte“, sagte der junge Mann und bemühte sich erfolglos, das Lachen zu erwidern.
Martin legte ihm die Hand auf die Schulter und zwang den flackernden Blick zur Ruhe. „Diese verfluchten Teufel treffen uns nicht, verstanden? Wenn die in dem Tempo und aus der Höhe ihre Last abwerfen, ist das wie ein Schuss ins Blaue. Wir schaffen das. Ich bin Pilot, ich weiß, wovon ich rede.“
„Verstehe“, sagte der Soldat, schluckte und streckte den Rücken, sah deshalb aber nicht weniger ängstlich aus.
„Gut.“ Martin achtete darauf, Ruhe und Autorität auszustrahlen. „Sorgen Sie dafür, dass Oberstleutnant Ford diese Nachricht erhält, und dann gehen Sie vor dem Möwendreck in Deckung.“ Er ließ die Schulter des Soldaten los und wandte sich ab.
Der Bote rannte zum Wagen und würgte vor lauter Hektik den Motor ab, bevor er kurz darauf wegfuhr.
Martin richtete seinen Blick wieder auf den Horizont. Trotz des Luftangriffs war die Aussicht faszinierend. Die Sonne versank blutrot hinter den Bergen und ließ die Gipfel wie Diamanten aufblitzen. Gold aus Granit. Von dem Plateau, auf dem er stand, sah es so aus, als könnte er die Zehen direkt in den tiefblauen Fjord unter ihm eintauchen. Der Wind trug den Duft von Salz und Tang herauf.
Diese verdammten Deutschen!
Der Arbeitertrupp hatte es plötzlich eilig. Sie schnappten sich ihre Hacken und Äxte und liefen auf ihn zu. Er richtete sich auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Wir geben noch nicht auf, Jungs!“, rief er. „Dafür ist es zu früh!“
Der Vorarbeiter lächelte ihn an. „Sie sollten auch zusehen, dass Sie in Deckung kommen, Leutnant Linge“, sagte er ausweichend.
Martin hatte einen deftigen Kommentar auf den Lippen, begnügte sich aber damit, den Soldaten streng anzustarren, ihm die Hacke abzunehmen und loszumarschieren.
„Sir!“, rief der Vorarbeiter entsetzt. „Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, aber das ist doch der blanke Wahnsinn!“
„Das ist nur Möwendreck!“, rief Martin, ohne sich umzudrehen.
Die Flugzeuge flogen dröhnend zwischen den Bergen hindurch. Er stellte sich breitbeinig auf das Feld und hob die Hacke über den Kopf. „Kommt nur, ihr Teufel, kommt nur!“
Flakfeuer stieg von den Kreuzern in den Himmel und zwang die Flugzeuge abzuschwenken, um dem Beschuss zu entgehen.
Martin lachte und wandte sich an die Arbeiter. „Habe ich doch gesagt. Zum Aufgeben ist es noch zu früh!“
Er schwang die Hacke in die nächste Wurzel. Heiße Wut stieg ihm in den Kopf. Es war die gleiche, die er spürte, wenn sich der Vorhang hob und er bereits wusste, dass die Vorstellung eine Katastrophe werden würde.
Die Flugzeuge kamen zurück, und dieses Mal näherten sie sich mit ungeheurer Geschwindigkeit. Etwas war anders. Sie flogen jetzt so tief, als wollten sie landen. Er sah sogar die Umrisse der deutschen Piloten hinter den Fenstern der Cockpits. Die Bomben fielen dicht wie Regentropfen und schwarzer Qualm stieg aus den zerstörten Gebäuden am Fjord auf. Vielleicht waren auch Schiffe im Hafen getroffen worden. Er schwang die Hacke erneut in den Boden. An Rückzug war jetzt nicht mehr zu denken.
Durch den Lärm der Explosionen glaubte er, den Schrei des Vorarbeiters zu hören. Eine verzweifelte Warnung.
Dann explodierte die Luft in einem weißen Licht, begleitet von unbeschreiblicher Hitze.
Das darauffolgende Dröhnen war wie ein Hammerschlag aufs Trommelfell. Es riss ihn von den Beinen, als hätte ihn etwas am Hinterkopf getroffen und mit der Stirn gegen eine Mauer geschleudert. Dann kam die Druckwelle und mit ihr der Gestank nach Pulver, Blut und verbranntem Fleisch. Dichter, bitterer Qualm klebte an seinen Schleimhäuten. Er wollte wegkriechen, doch sein Körper fühlte sich an wie eine platt gedrückte Dose, deren Inhalt herausquoll. Fehlte ihm ein Arm oder Bein? Er wusste es nicht, registrierte nur die dumpfe Benommenheit.
Er verlor das Bewusstsein, wachte aber immer wieder für kurze Momente auf. Jemand trug ihn. Er sah Gesichter, hörte Stimmen. Wurde auf eine Trage gelegt und weggebracht. Rauch, Sand und Pulverreste trieben vorbei. Er versuchte, die Beine zu bewegen und war erleichtert, als er an einem Fuß seine Zehen spürte. Er fror. Er schwitzte. Sein Hosenbein war weggebrannt, eine Wunde im Oberschenkel blutete heftig. Die Brandwunden schmerzten, und in seinem Inneren pochte und hämmerte es.
Wieder verlor er das Bewusstsein, und als er das nächste Mal aufwachte, hing die Trage an der Seite eines Schiffes. Weiter hinten sah er ein Flammenmeer über Åndalsnes. Selbst die Berghänge schienen zu brennen, sie glühten rot vor dem schwarzen Nachthimmel. Er gab sich alle Mühe, wach zu bleiben, aber die Augen fielen ihm immer wieder zu, und wenn er fluchte, schnitten die Schmerzen sich durch seinen ganzen Körper. Er hatte das Schicksal wie ein Narr herausgefordert.
Det Norske Teatret,18 Tage vor der Premiere, 1991
Banner rahmten den Haupteingang des Theaters. Auf dem einen stand: Eine Frage der Moral. Und auf dem anderen: Martin Linge.
In den Fenstern hing das ikonische Foto vom ihm im langen Uniformmantel. Die dunklen Augen schienen Bjørn zu fixieren. Martin ließ ihm keinen Frieden, ließ ihn immer wieder an seinem Tun zweifeln.
Er wandte sich ab und blickte die Kristian IV’s Gate hinunter. Eine dunkelblaue, rhythmisch weiße Frostwolken ausstoßende Gestalt kam von der Rosenkrantz’ Gate auf ihn zu. Als sie nah genug war und er seinen Blick scharf stellen konnte, erkannte er sie. Blaue Jacke mit passender Hose und nur ein Schal gegen die Kälte. Durchtrainiert. Klein, dunkle, zurückgekämmte Haare und markante Augenbrauen. Der grüne Blick richtete sich auf ihn.
„Bjørn Sjøvåg, nehme ich an?“
Sie reichte ihm die Hand.
„Gerd Hovden, ich leite das Theater. Wunderbar, dass Sie kommen konnten. Kurz zusammengefasst haben wir auf den ersten Entwurf des Stückes Kritik von einigen Historikern geerntet.“ Hovden zog einen Zeitungsartikel aus der Tasche und faltete ihn auseinander: Man bewirft unsere Helden nicht mit Dreck!
„Die norwegische Kriegsgeschichte ist ein sensibles Feld“, erwiderte Bjørn.
„Deshalb muss unsere Geschichte auf Fakten basieren. Der Autor hatte sich auch noch krankgemeldet, und da kamen Sie ins Spiel. Linges Nachfahren haben uns empfohlen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen, Herr Sjøvåg. Sie haben mehrere Hundert Seiten über Ihre Zeit gemeinsam mit dem Kriegshelden geschrieben?“
„Ja, ich habe eine Kopie an die Familie geschickt“, sagte Bjørn und strich sich diskret über den rechten Unterarm. Der Schorf unter dem Hemdstoff juckte grauenvoll. „Ich habe aber nachträglich noch einiges verändert, unter anderem den Schluss.“
„Genau das brauchen wir, wenn wir zeigen wollen, dass unser Stück nicht auf Lügen und bloßer Fantasie beruht.“
Die letzten Worte bohrten sich wie Nägel in sein Gewissen.
„Sind Sie bereit für Ihr Fernsehdebüt in den Nachrichten?“
Bevor Bjørn antworten konnte, hatte die Theaterchefin ihn ins Foyer des Theaters gelotst, wo die Leute vom Fernsehsender bereitstanden. Er bekam Puder auf die Stirn, dann wurde ihm ein Mikrofon angesteckt. Die Kamera lief: „Martin Linge hat selbst ganz normale Dinge auf seine eigene Weise gemacht, und plötzlich war er ein Kriegsheld.“ Bjørn schluckte. Sein Hals war rau wie Sandpapier. „Ich bin mit 17 Jahren auf die Lofoten gekommen … neun Monate später, einen Tag nach Weihnachten, vor genau 50 Jahren …“
Er kam ins Stocken und wusste genau, warum. „Was zu dieser Tragödie geführt hat, ist noch heute mythenumsponnen. Es gibt mehrere, sich widersprechende Zeugenaussagen …“
Die letzte, dachte Bjørn, war seine eigene, die er aus gutem Grund für sich behalten hatte.
„Kapitän Linge wurde in einem namenlosen Grab beigesetzt … Ich kann nicht … Wir bewerfen Martin nicht mit Dreck! Ich kann das nicht!“
„Danke“, sagte der Mann mit dem Kopfhörer.
Die Theaterchefin zog Bjørn zur Seite und klopfte ihm auf die Schulter.
„Tut mir leid, ich wollte nicht …“, stotterte Bjørn.
„Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Das ist nur eine Aufnahme. Die schneiden das zusammen, das wird schon gut werden. Konzentrieren Sie sich jetzt auf das Stück, okay?“
Es war das Gegenteil von in Ordnung, dachte Bjørn. Er hatte sich lächerlich gemacht und fast verplappert. Außerdem wurde ihm hier eine Verantwortung zugeschoben, die er nicht zu tragen bereit war.
„Ist es für Änderungen nicht viel zu spät, so kurz vor der Premiere?“
Welch jämmerlicher Versuch, der Vergangenheit zu entkommen.
Hovden dämpfte die Stimme: „Wenn nötig, ändern wir das Stück, bis der Vorhang aufgeht. Die fressen uns mit Haut und Haar, wenn wir jetzt Mist bauen. Es geht nicht nur um die Kritik. Die Produktion ist fantastisch, aber was mir fehlt, ist die Magie. Warum ist das so, Sjøvåg. Ich muss wissen, was da fehlt.“
Ein Krankenhaus in Manchester,Mai 1940
Es tat weh, die Augen zu öffnen. Die letzten wachen Momente hatte er nur zu gut in Erinnerung. Den Stahltisch an Bord des Lazarettschiffes, die Operationslampen und die Ärzte mit der Knochensäge. Die Wut auf seine eigene Dummheit und der fremde, verzweifelte Klang in seiner Stimme, als er den Feldchirurgen anflehte: Nein, tun Sie das nicht! Lassen Sie mir meine Beine. Erschießen Sie mich, aber nehmen Sie mir nicht meine Beine!
Die Angst, die Kontrolle zu verlieren, als die Krankenschwester ihm die Spritze gab und ihm eine Maske aufs Gesicht legte. Nicht … Das Letzte, was er registriert hatte, war ein blonder Mann, der den Raum betrat und dem Chirurgen etwas zuflüsterte. Dann hatte sich Schwärze über ihn gelegt, und plötzlich war er auf dem 70. Geburtstag seiner Mutter Gunhild zu Hause in Valldal. Wegen einer verlorenen Wette musste er den Fjord durchqueren, der an dieser Stelle mehr als zwei Kilometer breit war. Niemand hatte das jemals geschafft. Das Wasser war eiskalt, und selbst im Sommer konnten plötzliche Windböen das Leben kosten. Dort draußen war sein Onkel Martin ertrunken, der Mann, nach dem er benannt worden war.
Die Wette war die Folge einer erregten Diskussion, bei der einer der Gäste sich aufregte, dass die Gunhild-Söhne, wie er und seine Brüder genannt wurden, sich immer so aufspielen mussten. Er hatte ihn beim Wort genommen und war nach draußen gelaufen, im Fjord geschwommen, bis er steif vor Kälte an der anderen Seite an Land geklettert war.
Warum tauchte diese Erinnerung jetzt auf? Er rieb sich die Augen. Sie schmerzten und seine Gedanken waren zäh und langsam. Wie lange war er weg gewesen? Stunden? Tage? Wochen? Er war nicht mehr an Bord des Lazarettschiffes. Er lag in einem Krankenbett unter einer weißen Decke.
War er … ganz?
Ihm graute vor der Wahrheit und er wagte es nicht, sich zu bewegen.
Etwas entfernt saß ein ihm unbekannter Mann. Er war in den Dreißigern, trug ein schwarzes Hemd mit weißem Kollar. Das willensstarke, wie aus Stein gemeißelte Gesicht, passte so gar nicht zu dem Pastorenkragen.
„Guten Morgen, Linge“, sagte er mit rauer Stimme.
„Werde ich sterben? Sind Sie deshalb hier?“
Der Pastor lachte. „Nicht, soweit ich weiß, Linge. Es war knapp, aber allem Anschein nach waren Sie noch nicht an der Reihe. Mein Name ist Alf, Alf van der Hagen.“
War der Humor des Pastors ein plumper Versuch, einen Mann zu erheitern, der zum Krüppel geworden war?
„Wo bin ich, und wie lange bin ich schon hier?“
Er griff nach dem Deckenzipfel, doch bevor er ihn anheben konnte, verließ ihn der Mut wieder.
„Sie sind in einem Krankenhaus in Manchester. Sie sind mit dem Lazarettschiff von Åndalsnes hierhergebracht worden, nachdem die Briten sich zurückgezogen hatten“, sagte der Pastor.
„Könnten Sie mir einen Gefallen tun, Herr van der …“
„Alf!“
„Kannst du die Decke wegnehmen und nachsehen, ob ich noch beide Beine habe?“
Alf machte ein schwer zu deutendes Gesicht, und Martin befürchtete schon das Schlimmste, als der Pastor aufstand und einen Blick unter die Decke warf.
„Kein Grund zur Sorge. Sie sind beide noch dran.“
Er schloss die Augen für einen Moment, ehe er selbst einen Blick wagte.
Das linke Bein war von der Hüfte abwärts bandagiert, aber wenn er sich konzentrierte, gelang es ihm, die Zehen zu bewegen. Mit feuchten Augen flüsterte er ein „Danke“. Dann biss er sich auf die Lippen. Er wusste nicht, wem sein Dank galt. Dem Schicksal? Gott? Oder den Ärzten an Bord des Lazarettschiffes? Vielleicht allen zusammen? Er war ganz, hatte das Leben geschenkt bekommen.
Trotz des Schmerzes musste er lachen, und die Freude hatte eine betäubende Wirkung. Er drückte sich hoch und stellte die Füße auf den Boden. Das linke Bein war taub, was vermutlich an der Bandage lag. Er wollte aufstehen. Wenn er liegen blieb, würde er nur verfaulen.
„Linge, du darfst nicht …“ Alf sah ihn schockiert an.
„Doch, verdammt, ich muss!“
Im nächsten Augenblick knallte er mit dem Kinn so hart auf das Linoleum, dass es im Kiefer knackte. Der Puls hämmerte wie Paukenschläge gegen seine Trommelfelle. Gleich darauf waren zwei Krankenschwestern zur Stelle und halfen ihm zurück ins Bett. Der Verband war mit Blut vollgesogen.
„Du bist ein bisschen zu vorschnell, Linge!“, sagte Alf, und dieses Mal lachte er nicht.
„Ich kann hier nicht bleiben!“
„Willst du das Bein lieber amputiert bekommen?“
„Ich muss zurück in die Schlacht.“
„Dann bleib im Bett, bis du wieder gesund bist.“
Die Schwestern machten sich an ihm zu schaffen. Eine schnitt den Verband auf, die andere untersuchte die genähte Wunde, die an ein paar Stellen wieder angefangen hatte, zu bluten. Die Haut ringsherum war beängstigend dunkel. Würde er jemals wieder laufen können? Natürlich würde er das. Er beschloss, die weißen Laken, das weiche Kissen und den Geruch von Desinfektionsmitteln zu hassen, all das, was an Verderben und Tod erinnerte, als ihm einfiel, dass der Pastor noch nicht gesagt hatte, warum er bei ihm war.
„Ich gehe davon aus, dass du nicht als mein Babysitter hier bist“, sagte Martin und musterte Alf eingehend. „Wir kennen uns nicht, oder irre ich mich?“
„Dein Ruf eilt dir voraus“, antwortete van der Hagen mit demselben ironischen Unterton wie Martin. Man bekommt, was man verdient, dachte Martin. „Und wie ich sehe, wirst du diesem Ruf gerecht“, fügte der Pastor mit einem entwaffnenden Lächeln hinzu. „Als Seemannspastor kümmere ich mich um die Norweger, die hierherkommen.“
„Speis mich bitte nicht mit Selbstverständlichkeiten ab“, rutschte es Martin heraus. „Wie ist die Lage in Norwegen? Hast du Neuigkeiten?“
Van der Hagens Blick verfinsterte sich und für einen Moment sah es so aus, als ringe der Pastor mit einer Reihe nicht sehr gottesfürchtiger Worte.
„Østlandet ist verloren, die Verteidigungsoffensiven in Trondheim und Dombås wurden ausgesetzt.“
„Verdammt! … Du musst entschuldigen.“
„Manchmal gibt es kein besseres Wort, um seine Gefühle auszudrücken“, sagte Alf.
„Dann dürfen wir jetzt anfangen, Deutsch zu lernen?“
Ein fast schon diabolisches Lächeln huschte über die Lippen des Pastors. „Damit würde ich mir noch ein bisschen Zeit lassen. Vielleicht lohnt sich die Mühe nicht.“
Die Schwestern hatten ihm eine neue, saubere Bandage angelegt und nickte ihnen zu, als sie das Krankenzimmer verließen. Van der Hagen schob seinen Stuhl näher an Martins Bett und beugte sich zu ihm vor. „Sobald es dir wieder besser geht, will ich, dass du nach London fährst und dort ein paar Männer triffst.“ Er legte den Zeigefinger an die Lippen, stand auf und streckte ihm die Hand hin. Martin schlug ein. Es konnte viel in einem Handschlag liegen, und Alfs Händedruck war wie ein Fixpunkt, ein neuer Anker in seinem Leben.
„Ich werde schneller dort sein, als du es erwartest“, sagte Martin.
„Daran zweifle ich nicht. Viel Glück und gute Besserung.“
Kaum hatte der Pastor den Raum verlassen, schlug Martin die Decke zur Seite. Langsam und vorsichtig beugte und streckte er das linke Bein, atmete tief ein und wiederholte die Übung.
Ihm fehlte die Zeit. Der ganzen Welt fehlte die Zeit.
Det Norske Teatret,18 Tage vor der Premiere, 1991
Bjørn packte den Schminktisch mit beiden Händen und hielt sich daran fest. Er atmete ruhig und zählte von 50 rückwärts, musste aber schon bei 39 aufgeben. Er hatte eine eigene Garderobe bekommen. Ein einfacher Raum, ein schmales Sofa, ein Schminktisch mit Schubladen und Spiegel und drei kräftigen Glühbirnen an jeder Seite. Das Licht war rücksichtslos ehrlich. Wer war der alte Kerl, der sich da selbst anstarrte? Er dachte von sich, dass er häufig lächelte, aber nun war der Mund in dem grauen Bart ein strenger Strich.
Viele Jahre lang war er nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu erkennen, was ein Teil des Krankheitsbildes war. Jetzt wusste er zumindest, dass der Typ im Spiegel er selbst war, Bjørn.
Er riss den Blick los und sah auf das Manuskript.
Er hatte die Hälfte des ersten Aktes akribisch durchgearbeitet, als die Symptome sich erneut gemeldet hatten. Danach hatte er nur noch die Dialoge überflogen und darauf gehofft, dass es falscher Alarm war. Er begegnete sich in diesem Manuskript selbst, aber es war die Summe der Geschehnisse, die ihn traf und immer wieder die falschen Knöpfe drückte.
Er musste hier weg, raus aus dem Theater, weg von der Vorstellung, aber er würde es nicht schaffen, nach Hause zu fahren. Er war gefangen. Es war genau wie mit dem Alkohol, wenn er sich dem hingab, wollte er nur noch trinken, bis alles weg und kaputt war.
Bjørn trat ans Waschbecken neben der Tür, drehte das kalte Wasser auf, krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch und hielt die Handgelenke unter den kühlen Strahl. Die alten Wunden an seinem rechten Unterarm hatten sich wieder entzündet. Er dachte an die Notizen, die er sich gemacht hatte. Wie das, was damals geschehen war, ihn seit jenem verfluchten Tag nach Weihnachten quälte.
Selbst wenn es ihm gelang, die Erinnerung aus seinen Gedanken zu verdrängen, erinnerte ihn sein Körper gnadenlos daran. Was er über Martin geschrieben hatte, hatte ihn irgendwie am Leben und doch auch außen vor gehalten. Jetzt stand er wieder mittendrin in den Geschehnissen. Ob er sich das tief in seinem Inneren gewünscht hatte, konnte er nicht sagen. Er hatte jedenfalls die Gelegenheit bekommen, ins Licht zu treten und seine Version der Geschichte zu erzählen. War sie wahrer als die Versionen der anderen?
Er selbst war keine Figur des Stückes, zumindest nicht unter seinem richtigen Namen. Eine Erleichterung und gleichzeitig auch eine Bestätigung dessen, was er immer schon geglaubt hatte. Er war der unbekannte Soldat, der im Schatten stand, damit andere als Helden im Rampenlicht glänzen konnten. Wie viele Menschen wie er kamen auf einen Max Manus, einen Gunnar Sønsteby, einen Martin Linge? Hunderte? Was kostete das ewige Leben in den Geschichtsbüchern zuzüglich zu dem eigenen Opfer der Helden? Helden warfen lange Schatten.
Es war ein großer Unterschied, ob man loyal und aufrecht darin stand oder sich feige im Dunkel versteckte, weil das, was man getan hatte, kein Tageslicht vertrug. Es war feige und erbärmlich, genau wie er, Bjørn Sjøvåg.
Sollte er es wagen, den Schluss zu lesen und zu sehen, wie der Autor alles gedreht hatte?
Wenn es ihm jetzt gelang, sich selbst nicht ganz so wichtig zu nehmen, konnte er vielleicht wirklich einen Unterschied machen. Die Geschichte, die das Theaterstück erzählte, galt als unvollständig, und der Gedanke, dass dies für immer das Bild von Martin Linge prägen sollte, quälte ihn.
Es fehlte ein zentraler Name auf der Rollenliste, eine Figur, die mit ihrer Geschichte entscheidende Dinge über Martin Linge erzählen konnte. Was ihn antrieb, was er opferte und warum er getan hatte, was er getan hatte.
Bjørn hatte dieser Person, die auch mit seiner eigenen Geschichte untrennbar verknüpft war, in seinen Notizen sehr viele Seiten gewidmet. Durch diese Frau hatte Bjørn sich selbst kennengelernt, seine grundlegenden Gefühle und den inneren Konflikt, der viel tiefer reichte, als er tauchen konnte.
Möglicherweise stürzte es die Produktion ins Chaos, Martins junge Geliebte aus London, die nur halb so alt wie er selbst gewesen war, in das Stück hineinzuschreiben, vorschlagen musste er es aber. Oder beschmutzte er damit das Bild des Helden?
Rosemary Reed, die Frau an Martins Seite, brachte sein eigenes Dilemma ans Licht. Ihre Figur im Stück trat möglicherweise einen Stein los, der ihn zwang, sein größtes Geheimnis zu offenbaren, das er eigentlich mit ins Grab nehmen wollte. Das ihn vom Leben isoliert und ihm die Fähigkeit zu fühlen genommen hatte. Den Grund für sein selbst gewähltes, einsames Leben als Lehrer in Svolvær.
Sollte er ihnen die Wahrheit sagen? Martin, der Chef, hätte es verdient.
Wie oft hatte er vorgehabt, Rosemary anzurufen und ihr das Unaussprechliche zu sagen. Er hatte so lang geübt, die Worte aber niemals laut ausgesprochen. Einmal hatte er sie tatsächlich angerufen und den Hörer aufgeworfen, als sie sich gemeldet hatte.
Jetzt gab ihm das Leben ganz unerwartet die Chance, Ordnung zu schaffen. Aber dafür musste er den Kopf aufs Schafott legen und offen eingestehen, was er niemals hatte verraten wollen.
Es klopfte an der Tür. Hovden steckte den Kopf herein.
„Und?“
„Ich lese“, sagte Bjørn.
„Und?“
„Martin hatte eine Lebensgefährtin. Rosemary Reed. Sie muss in das Stück.“
„Ach die“, sagte die Theaterchefin. „In einer früheren Version war sie drin. Wir hatten Benedicte Brekke für die Rolle eingeplant, sie kommt direkt von der Schauspielschule. Aber der Regisseur hat sie wieder rausgestrichen, weil Soldaten und Seeleute doch in jedem Hafen irgendwelche Liebschaften haben. Das sind nicht meine Worte, sondern seine.“
„Martin war nicht so. Rosemary war seine große Liebe.“
Er hätte hinzufügen können, dass das nur die halbe Wahrheit war, ließ es aber bleiben.
„Ich meine mich daran zu erinnern, dass der Autor des Stückes mit ihr in Kontakt war, sie aber herausgelassen werden wollte.“
„Dann müssen Sie versuchen, sie zu überreden. Sie war wichtig.“
„Ich nehme Kontakt zu ihr auf “, sagte Hovden. Sie verschwand, tauchte aber gleich darauf wieder auf. „Gute Arbeit, Sjøvåg!“
Er legte den Stift beiseite, schloss die Tür und ging zu seiner Tasche, die auf dem schmalen Sofa stand. Holte das abgewetzte, braune Lederetui heraus. Unter der Klappe, die den Schaft verbarg, kam ein Colt 1922.45 ACP zum Vorschein. Martin Linges persönliche Waffe. Sie begleitete ihn seit diesem tragischen Wintertag und war, so ironisch das klang, zu seiner Lebensversicherung geworden. Solange das Vergessen nur einen Zentimeter vom Abzug entfernt war, schaffte er auch noch einen weiteren Tag.
London, Colin Gubbins’ Büro,1940
„Ich bin jedenfalls froh, dass Sie wohlbehalten zurück sind.“
John betrachtete den Mann hinter dem schweren Schreibtisch. Oberst Gubbins sah alles andere als erfreut aus. Die buschigen Brauen bildeten eine tiefe Furche über der Nasenwurzel und der Körper schien sich aus reinem Frust aufzublähen. Er nahm sich eine Zigarre aus dem Humidor.
„Sir, ich bedaure den Ausgang aufs Äußerste, ich …“
„Wie war die Skitour übers Fjell?“
„Ich habe mich nicht gerade als begnadeter Skiläufer hervorgetan.“
„Aah.“ Gubbins zündete die Zigarre an. „Der Zug wäre ohnehin abgefahren. Wären die großen Jungs, The Big Brass, nur ein kleines bisschen weniger schwerfällig, könnten wir längst in Norwegen stehen und die Deutschen auf der Zielgeraden ausbremsen. Erzählen Sie mir, was da schiefgelaufen ist. Wer war der Verräter und warum?“
Die Fragen waren relevant, John hörte aber nur den unterschwelligen Vorwurf des Obersts, er habe die Befehle missachtet. Und in einem Punkt hatte Gubbins recht: Ihm war ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen.
„Die Meeresforscher in Bergen sind ein internationaler Haufen mit ziemlich hohem Niveau. Ich habe, so gut es eben ging, fachliche Diskussionen vermieden …“
„Wollen Sie damit sagen, dass Sie sich nicht ausreichend vorbereitet haben?“
„Sir …“
„John, lassen Sie die Förmlichkeiten, ich heiße Colin, und ich mache natürlich Witze. Niemand ist gründlicher als Sie.“
„Sir … Colin, ich glaube, ich habe mir mit einer Fischart einen Schnitzer erlaubt.“
Gubbins legte die Zigarre weg und sah ihn mit amüsierter Neugier an.
„Es war draußen auf Askøy, in der Nähe vom Flugplatz Herdla. Ich sollte die Möglichkeiten für einen Landgang ermitteln, unmittelbar vor dem Angriff der Deutschen. Da tauchte plötzlich ein Forscher aus Berlin auf, Christof Meinel. Ich hab anfangs versucht, ihn zu meiden, aber er ließ sich nicht abwimmeln. Meinel erzählte, dass er den Einfluss des Flugverkehrs auf den Fischbestand um Askøy untersuche. Ich hätte da schon hellhörig werden müssen, aber … Er erkundigte sich nach meinem Projekt – meine Tarngeschichte basiert auf dem Bestand an Aalmüttern dort draußen.“
„Aalmütter!“, wieherte Gubbins. „Allein das liegt schon weit über meinem Kompetenzniveau!“
John konnte nichts Komisches an der Situation erkennen.
„Es gibt weltweit unglaublich viele Arten dieser Gebärfische, und auf einen deutschen Experten für ausgerechnet diese spezielle Art zu stoßen, geht gen Null. Aber der Teufel steckt, wie bekannt, oft im Detail.“
„Klären Sie mich auf!“ Gubbins hatte sich in seinem Chefsessel zurückgelehnt und blies Rauchringe in die Luft. Er hatte zu seiner extrovertierten, sprudelnden Energie zurückgefunden, seinem Markenzeichen.
„Die gemeine Aalmutter lebt in bis zu 40 Metern Tiefe, die arktische Aalmutter zwischen 500 und 3000 Meter tief.“
„Ich bin beeindruckt.“
„Und das wusste der Deutsche. Als ich sagte, dass ich die arktische Variante erforsche, behauptete er, das Meer um Askøy sei gar nicht tief genug für diese Art. Ich bin mir nicht sicher, ob er mir meinen Versuch, die Situation irgendwie zu retten, abgekauft hat.“
„Aufgeflogen durch eine Aalmutter.“ Der Oberst paffte an der Zigarre und sah aus, als würde er angestrengt nachdenken. „Das war mein Fehler“, sagte er nach einer langen Pause. „Ich hätte nicht Sie nach Norwegen schicken sollen. Wir hätten einen Norweger …“
„Sir, ich meine Colin, ich versichere Ihnen, dass ich … Sir …“
Gubbins wedelte abwehrend mit der Zigarre. „Hier gibt es genug zu tun, John. Die Organisation soll ausgebaut und Pläne geschmiedet werden. Dann sehen wir weiter.“
Wieder tauchte Alf van der Hagen in seiner Erinnerung auf. Irgendwas lief da zwischen dem Pastor und dem Oberst, und das machte ihm Sorgen. Was wollte Gubbins mit den Worten andeuten, dass sie einen Norweger gebraucht hätten?
Der Oberst stand auf. Die Unterhaltung war beendet, mit dem schlechtestmöglichen Resultat. Gubbins sendete widersprüchliche Signale, und John konnte Unsicherheit ganz schlecht ertragen. Er hatte einen Fehler gemacht, für den er ganz allein verantwortlich war.
Ein Krankenhaus in Manchester,1940