Linguistische Diskursanalyse - Sylvia Bendel Larcher - E-Book

Linguistische Diskursanalyse E-Book

Sylvia Bendel Larcher

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Beschreibung

Dieses Lehr- und Arbeitsbuch bietet fortgeschrittenen Studierenden eine umfassende Einführung in die linguistische Diskursanalyse. Nach einer kurz gehaltenen Übersicht über die wichtigsten Zweige der Diskursforschung erhalten die Lesenden eine methodische Anleitung zur Durchführung eigener Diskursanalysen, wie sie in dieser Ausführlichkeit im deutschen Sprachraum bisher nicht vorliegt. Neben der Analyse schriftlicher Texte wird auch eine Einführung in die diskursanalytische Analyse von Gesprächen und Bildern gegeben. Der Aufbau der Methodenkapitel folgt der Forschungslogik: von der Korpusbildung über die Analyse einzelner Texte zur Identifikation textübergreifender diskursiver Muster und schließlich der Ausweitung der Diskurs- zur Gesellschaftsanalyse. Zur Veranschaulichung werden Texte aus der Managementliteratur beispielhaft analysiert. Praktische Übungen an Beispieltexten mit Lösungsvorschlägen sowie kommentierte Literaturhinweise runden den Band ab.

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Sylvia Bendel Larcher / Marcel Eggler

Linguistische Diskursanalyse

© 2023 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

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Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

0941-8105

 

ISBN 978-3-8233-8586-8 (Print)

ISBN 978-3-8233-0524-8 (ePub)

Inhalt

Vorwort zur 2. AuflageVorwort zur 1. Auflage1 Einleitung1.1 Ziel und Aufbau dieser Einführung1.2 Erkenntnisinteressen und Verfahren der Diskursanalyse1.3 Diskurs: Gegenstandsbestimmung und AbgrenzungenAufgaben2 Wurzeln der Diskursanalyse2.1 Michel Foucault2.2 Linguistische Pragmatik2.3 Wissenssoziologie3 Zweige der Diskursanalyse3.1 Diskurslinguistik3.2 Kritische Diskursanalyse3.3 Soziale SemiotikAufgaben4 Korpusbildung4.1 Methodologische Vorbemerkungen4.2 Arten von DatenTexteAudiovisuelle Daten4.3 Korpus bildenGeschlossene KorporaOffene KorporaElektronische KorporaAufgaben5 Die Ebene des Einzeltextes I: Textanalyse5.1 Perspektivierung: Wer spricht?Ich-FormWir-FormAutorentilgungEine Stimme – viele StimmenLeseranspracheAufgaben5.2 Nomination & Prädikation: Wie werden die Akteure dargestellt?EigennamenGenerische BezeichnungenSoziale KategorienPronomenMetaphernDeagentivierungAttributeHandlungsbeschreibungenAufgaben5.3 Themenstrukturanalyse: Worüber wird gesprochen?Themen und DiskurseThemenentfaltungsmusterExkurs: ErzählungenWeggelassenesVorausgesetztesAufgaben5.4 Modalität: Wie werden die Aussagen gerahmt?Repräsentative ÄußerungenVerstärkungenAbschwächungenNormative ÄußerungenDirektive ÄußerungenAufgaben5.5 Evaluation: Wie werden die Gegenstände bewertet?KonnotationenEuphemismenMetaphernAttributeRhetorische FigurenPrädikatgebundene EvaluationenAufgaben5.6 Argumentation: Wie werden Aussagen begründet?Logische SchlussverfahrenBerufung auf AutoritätBerufung auf WerteBerufung auf VernunftBeispielgeschichtenAufgaben5.7 Zusammenfassung6 Die Ebene des Einzeltextes II: Gesprächsanalyse6.1 Stimme und KörperProsodieParaverbalesKörperhaltung und BlickverhaltenMimik und GestikKleidung und RequisitenAufgaben6.2 Prozessualität und InteraktivitätSteuerung der GesprächsorganisationSteuerung der HandlungskonstitutionSteuerung des ThemenverlaufsKooperative BedeutungskonstitutionKonkurrierende BedeutungskonstitutionAufgaben 6.3 Kontextbezug und AdressatenorientierungKontextbezugAdressatenorientierungHöflichkeitAufgaben6.4 Selbst- und FremdpositionierungenAufgaben6.5 Zusammenfassung7 Die Ebene des Einzeltextes III: Bildanalyse7.1 Methodologische Vorbemerkungen: Bilder, Bildtypen, BildanalyseAufgaben7.2 Inhalt und Ausschnitt: Was wird gezeigt?AusschnittHintergrundWeggelassenesSymbolische BedeutungAufgaben7.3 Perspektivierung: Wo steht der Beobachter?Horizontaler WinkelVertikaler WinkelBlickrichtungAufgaben7.4 Komposition: Wie sind die Elemente angeordnet?Zentrum und RandLinks und rechtsOben und untenSenkrecht, waagrecht, diagonalWichtigkeitRahmen und VektorenAufgaben7.5 Modalität: Wie werden die Gegenstände gezeigt?FarbeLichtKomplexitätSchärfeAufgaben7.6 Bild-Text-Beziehungen: Welche Funktion hat das Bild?BildfunktionenBild-Text-VerhältnisSpezialfall BildlegendeAufgabenAufgaben7.7 Zusammenfassung8 Die Ebene des Diskurses: Analyse textübergreifender Muster8.1 ArgumentationsmusterFormale ArgumentationsmusterInhaltliche ArgumentationsmusterAndere Formen der LegitimationZusammenfassungAufgaben8.2 DeutungsmusterKlassifikationen und MetaphernkomplexeZusammenfassungAufgaben8.3 TextmusterBeispiel: der wissenschaftliche AufsatzZusammenfassungAufgaben8.4 GesprächsmusterRitualeZusammenfassungAufgaben8.5 Visuelle StereotypeZusammenfassungAufgaben9 Die Ebene der Gesellschaft: Analyse von Wissen und Macht9.1 Diskurs und Wissen9.1.1 Die Produktion von Wahrheit9.1.2 Die Produktion von Normalität9.2 Diskurs und MachtIdeologienHegemonieAufgaben9.3 Ideologie- und GesellschaftskritikNormen für eine wissenschaftlich fundierte KritikAufgaben10 Rück- und AusblickZukünftige Aufgaben der Diskursforschung11 Lösungsvorschläge zu den ÜbungenRechts- und QuellennachweiseLiteraturverzeichnis

Vorwort zur 2. Auflage

Die erste Auflage dieses Lehrbuchs wurde von der wissenschaftlichen Gemeinschaft sehr wohlwollend aufgenommen. Dozierende verschiedener Hochschulen haben mir berichtet, dass sie das Buch in der Lehre regelmäßig einsetzen. Mir unbekannte Studentinnen schrieben mir, dank dieses Buchs hätten sie (wieder) Freude an der Diskursanalyse gefunden. Sogar die Zweitbetreuung einer Doktorarbeit kam über das Buch zustande. Aufgrund dieses positiven Echos erfolgt nun eine zweite Auflage des Lehrbuchs.

Seit der ersten Auflage sind einige gewichtige Handbücher erschienen. Vor allem aber erhielt die Analyse multimodaler Texte wesentlich größere Aufmerksamkeit. Schließlich wird zunehmend mit elektronischen Korpora und damit verbunden mit quantitativen Methoden gearbeitet. Die Literatur aus diesen drei Bereichen ist in die zweite Auflage eingeflossen. Ferner wurden veraltete Beispieltexte durch aktuellere Beispiele ersetzt. Ich wünsche allen Lesenden eine erhellende Lektüre und viel Freude bei den eigenen diskursanalytischen Projekten.

 

Altdorf, im November 2023         Sylvia Bendel Larcher

Vorwort zur 1. Auflage

Als ich die ehrenvolle Anfrage des Narr-Verlags annahm, eine Einführung in die linguistische Diskursanalyse zu verfassen, hatte ich als Diskursforscherin im Nebenamt nicht im Sinne, diese Arbeit allein zu stemmen. Daher begann ich das Buch in der Wir-Form zu schreiben und machte mich auf die Suche nach einem Co-Autor. Marcel Eggler erklärte sich nach einem Jahr bereit, in mein unterdessen weit fortgeschrittenes Buchprojekt einzusteigen und seine Kapitel inhaltlich und stilistisch an mein Konzept anzupassen. Leider war es ihm aus Zeitgründen dann nicht möglich, so viel zu schrei­ben wie ursprünglich geplant. Von ihm stammt jetzt das Kapitel über Michel Foucault, ferner hat er einige Ideen zu den Kapiteln 8 und 9 beigetragen. Dafür danke ich ihm an dieser Stelle bestens.

Das Buch wurde, was mich betrifft, aus einer Außenseiterposition geschrieben. Ich arbeite als kapitalismuskritische Person an einer Wirtschaftshochschule, wohne als städtisch geprägte Protestantin in einem katholischen Wallfahrtsort auf dem Land, bewege mich als praktizierende Christin im mehrheitlich glaubensaversen Wissen­schaftsbetrieb der Universitäten und liege damit in jeder Beziehung quer zu meinem Umfeld. Ich betrachte diese Außenseiterposition aber als ideale Voraussetzung, um in kritischer Distanz zu den Dingen zu bleiben, nicht zuletzt zum manchmal etwas abge­ho­benen Diskurs der Diskursforschung selber.

Trotz meiner geografisch und institutionell isolierten Lage ist dieses Buch natürlich nicht ohne Hilfe entstanden. Ich danke Martin Reisigl, der das erste Konzept für das Buch sorgfältig geprüft hat, und Jan-Henning Kromminga, der die Kapitel 1 und 5–7 lektoriert hat. Herrn Tillman Bub und Frau Karin Burger vom Narr-Verlag danke ich für die angenehme Zusammenarbeit. Ich danke meinem Mann für seine Arbeit „in Haus und Hof“, mit der er mir den Rücken frei gehalten hat, und ich entschuldige mich bei meinem Sohn für die vielen Stunden, die ich nicht mit ihm verbracht habe. Als kleine Entschädigung habe ich ihn in verewigt.

Wissenschaft unbezahlt zu betreiben mag vielen als reine Selbstausbeutung erschei­nen. Für mich bedeutet Freizeitwissenschaft das Privileg, nur das zu tun, was einem Spaß macht, und sie ist meine persönliche Antwort auf die Entartungen des Wissen­schaftsbetriebs, in welchem die Länge der Publikationslisten und die Höhe der akqui­rierten Forschungsgelder mehr zählen als die Denkfähigkeit und die Kreativität der Forschenden. Der Blick auf die Innerschweizer Berge und die Wanderungen durch die umliegenden Wälder entschädigten für die vielen Stunden am Schreibtisch.

 

Einsiedeln, im Juli 2015 Sylvia Bendel Larcher

 

1Einleitung

1.1Ziel und Aufbau dieser Einführung

In den letzten Jahren sind zahlreiche Einführungen und Sammelbände zur Diskurs­analyse erschienen. Wozu also dieses Lehr- und Arbeitsbuch? Die vorhandenen Einführungen in die Diskursanalyse richten sich überwiegend an Perso­nen mit Vorkenntnissen in der Diskursforschung. Sie betonen – zumal wenn sie als Sammelbände angelegt sind – eher die Heterogenität und die Komplexität des Feldes als den gemeinsamen Kern, sie sind häufig auf Englisch und sie setzen ihren Schwer­punkt bei der Diskurstheorie, während die Methodik eher stiefmütterlich behandelt wird.

Die genannten Gründe führen dazu, dass die vorhandenen Einführungen wirkliche Einsteigerinnen1 in die Diskursanalyse eher verwirren und angesichts der Komplexität des Themas vor Ehrfurcht erstarren lassen, als dass sie geeignet wären, sie für eigene Studien zu motivieren. Der vorliegende Band der narr studienbücher setzt daher andere Schwerpunkte. Das Studienbuch richtet sich an fortgeschrittene Studierende mit Kenntnissen in Text- und Gesprächslinguistik, setzt aber keinerlei Kenntnisse in der Diskursforschung voraus. Es ist bewusst in deutscher Sprache verfasst, um deutschen Muttersprachlern den Einstieg zu erleichtern.

Die Kapitel zur Diskurstheorie und zu den verschiedenen Zweigen der Diskursfor­schung sind eher knapp gehalten. Umso umfangreicher sind die Methodenkapitel, in welchen die Studierenden eine ausführliche Methodik zur Analyse von Texten, Gesprächen und Bildern unter diskursanalytischer Perspektive erhalten, verbunden mit praktischen Übungen samt Lösungsvorschlägen. Eine so ausführliche Anleitung zur Analyse von schriftlichen, mündlichen und visuellen Daten liegt bisher weder in deutscher noch in englischer Sprache vor. Ziel ist, dass die Lesenden nach dem Durch­arbeiten dieses Buches selbständig diskursanalytische Projekte für Master- oder Doktorarbeiten durchführen können. Um Einsteigerinnen nicht zu überfordern, werden radikale Vereinfachungen in Kauf genommen. Wer einzelne Aspekte vertiefen will, findet genügend Hinweise auf weiterführende Literatur.

Das Buch ist folgendermaßen aufgebaut: In der Einleitung wird dargelegt, was Diskursanalyse eigentlich ist, was die Erkenntnisinteressen von Diskursforschenden sind, und wie man den Begriff des Diskurses definieren kann. In den Kapiteln 2 und 3 erhalten die Lesenden einen Überblick über die wichtigsten Wurzeln und Zweige der Diskursforschung. Damit wird zugleich die theoretische Grundlage für die anschlie­ßende praktische Forschung gelegt. Im vierten Kapitel erfahren die Lesenden, wie man ein Korpus für eine diskursanalytische Arbeit erstellt.

Einen Schwerpunkt des Studienbuches bilden die Kapitel 5 bis 7. In ihnen wird aufgezeigt, wie man einzelne Texte, Gespräche und Bilder aus einer diskurs­analytischen Perspektive analysiert, versehen mit anschaulichen Beispielanalysen. Im achten Kapitel legen wir dar, wie man textübergreifende Muster erkennen und analy­sieren und damit den gesellschaftlichen Diskurs zu einem bestimmten Thema rekon­struieren kann. In Kapitel 9 wird das Verhältnis von Diskurs und Gesellschaft themati­siert und dargelegt, wie Diskurse das Wissen und die Machtverhältnisse einer Gesellschaft formen.

 

Die einzelnen Kapitel des Bandes bestehen aus

 

theoretischen Ausführungen,

 

Beispielanalysen,

 

Leitfragen für die Analyse,

 

kleineren Entdeckungs- und Anwendungsaufgaben,

 

Hinweisen für die Durchführung eines größeren Projekts,

 

Diskussion von Problemen,

 

weiterführender Literatur.

 

Die Beispielanalysen werden an Auszügen aus betriebswirtschaftlichen Lehrbüchern und anderen wirtschaftsnahen Texten durchgeführt. Der betriebswirtschaftliche (Lehr-) Diskurs wurde bislang kaum diskursanalytisch untersucht, ist aber gesellschaftlich bedeutsam, da er Generationen zukünftiger Manager und Entscheidungsträgerinnen prägt. Die Beispiele für die Entdeckungs- und Anwendungsaufgaben stammen aus dem Alltag der Studierenden: Kochrezepte, Werbung, Blogs, Formulare, Stellenanzeigen, Nachrichten etc. Die Studierenden sollen die Auswirkungen des alltäglichen Diskurses erforschen und sich nicht an den großen Themen wie Rassismus oder Gentechnik versuchen müssen. Letztere sind größeren Projekten vorbehalten. Lösungsvor­schläge zu den Aufgaben runden den Band ab.

1.2Erkenntnisinteressen und Verfahren der Diskursanalyse

In einer Schweizer Gemeinde müssen die Eltern vor dem Eintritt ihres Kindes in den Kindergarten ein Formular ausfüllen, in welchem unter anderem folgende Angaben zu einzutragen sind:

Festnetz- sowie Mobiltelefonnummern der Eltern

„Beruf des Vaters“

„Jetziger Beruf der Mutter“

„Beruflich bedingte Abwesenheit der Mutter vormittags/nachmittags“

„Telefon Geschäft.“

Dieses Formular ist nicht nur für verschiedene Personengruppen wie Alleinerziehende schwer auszufüllen, es erlaubt auch einen interessanten Einblick in das Weltbild seiner Verfasser.

Die Schulverwaltung besagter Gemeinde geht offenbar davon aus, dass jedes Kin­dergartenkind bei Vater und Mutter wohnt und dass sich für die Mutter der berufliche Status durch die Geburt eines Kindes häufig ändert (daher steht „jetziger“ Beruf, worunter vermutlich auch der Beruf der Hausfrau fällt), für den Vater jedoch nicht. Die Verwaltung geht ferner davon aus, das Mütter heute zwar teilweise berufstätig sind – vorwiegend halbtags –, bewertet diese Tätigkeit jedoch als „Abwesenheit“ von ihrem offenbar angestammten Platz daheim und macht klar, dass die Mutter auch während der Arbeitszeit erreichbar sein muss. Für den Vater gilt dies nicht, seine Geschäfts­nummer muss nicht angegeben werden.

Dieses Formular und seine Auslegung machen auf einfache und anschauliche Weise klar, worum es der linguistischen Diskursanalyse geht: Gestützt auf konkrete Texte versucht man zu rekonstruieren, was die Mitglieder einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit gedacht haben, wie sie die Welt interpretierten und erklärten, von welchen Überzeugungen und Normen sie sich bei ihren Handlungen leiten ließen, woran sie glaubten und wovon sie ihre Zeitgenossen zu überzeugen versuchten. Die Diskursanalyse versucht das kollektive Wissen einer Zeit zu erfassen und die damit verbundenen Ansprüche auf den Besitz der Wahrheit und die Durchsetzung der eige­nen Interessen. In ihrer kritischen Version untersucht und kritisiert die Diskursanalyse Formen gesellschaftlicher Diskriminierung wie Fremdenfeindlichkeit oder Sexismus.

Das zitierte Formular propagiert ein konservatives Familienbild, welches anders lebende Väter und Mütter, aber auch Kinder hütende Großeltern und Tagesmütter diskriminiert, indem diese nicht als Ansprechpersonen vorgesehen sind. Als amtliches Dokument hat dieses Formular eine einflussreiche normative Kraft.

Die linguistische Diskursanalyse arbeitet vorwiegend mit Methoden der Text- und Gesprächslinguistik, ihre Erkenntnisinteressen sind aber andere. Sie will nicht Einsicht in die Funktionsweise von Sprache oder in die Struktur von Texten gewinnen, sondern Aussagen machen über die Gesellschaft, die diese Texte hervorbringt und gleichzeitig von ihnen geformt wird. Damit verbunden ist ein spezifisches Verständnis von Sprache. Sprache wird nicht als Mittel betrachtet, sich über eine als außersprachlich verstan­dene Welt zu verständigen, sondern als Mittel, um in der Welt zu handeln und diese zu gestalten. Wie die Menschen ihre Welt gestalten und mit welchen sprachlichen Mitteln sie das tun, das ist das Erkenntnisinteresse der Diskursanalyse.

Ausgangspunkt für ein diskursanalytisches Projekt sind daher auch nicht die Texte, die man schließlich untersucht, sondern eine aktuelle gesellschaftliche Frage wie die Diskussion um den Einsatz von Gentechnik, die Impfdebatte oder der Kopftuchstreit. Die Textanalyse ist das Mittel zum Zweck, Aussagen über diese gesellschaftlichen Diskurse machen zu können, zu erkennen, worum sich die Debatte dreht, wer sich mit welchen Argumenten durchsetzt und was die konkreten Folgen für die Betroffenen sind.

Solche Analysen sind niemals neutral, sondern werden immer von einer Person vorgenommen, die aufgrund ihrer Sozialisation und ihrer gesellschaftlichen Position eine bestimmte Perspektive einnimmt und aufgrund ihrer Einstellungen und Über­zeugungen bestimmte Gewichtungen und Wertungen vornimmt. Daher wollen wir an dieser Stelle das tun, was in vielen Texten der (Kritischen) Diskursanalyse gefordert, aber meistens nicht umgesetzt wird: uns vorstellen und unsere Motive und Einstel­lungen offen legen.

Ich, Sylvia Bendel Larcher, komme aus einem wohlhabenden, politisch freisinnigen, bürgerlichen Haus und habe in Luzern (Schweiz) das Gymnasium absolviert. In Zürich und Bamberg studierte ich Germanistik und Geschichte und promovierte zur Geschich­te der Werbung im 17. und 18. Jahrhundert. An der Universität Bern habilitierte ich mich mit einer gesprächsanalytischen Arbeit über Individualität in der institutionellen Kommunikation. Seit vielen Jahren arbeite ich als Dozentin für Kommunikation an der Fachhochschule für Wirtschaft in Luzern. Lehraufträge führten mich an die Universitä­ten von Saarbrücken, Innsbruck und Bern.

Zur Diskursforschung kam ich über die Werbung. Es befriedigte mich nicht mehr, Werbung in linguistischer Manier nur zu analysieren, ohne zu den mit der Werbung verbreiteten Ideologien Stellung zu beziehen. Der Ansatz von Norman Fairclough erlaubte mir, Werbung in wissenschaftlich fundierter Weise zu kritisieren. Unterdessen gilt mein Interesse allen Texten, mit denen die Ideologie des freien Marktes, der Konkurrenz aller gegen alle und des permanenten Wachstums verbreitet wird.

Ich kritisiere diese Ideologie, weil ich davon überzeugt bin, dass nur eine radikale Veränderung in unserem Denken und Verhalten die Biosphäre auf diesem Planeten und damit die Menschheit retten kann. Was wir brauchen, sind keine Korrekturen am gegenwärtigen System, sondern völlig neue Formen des Zusammenlebens und eine gänzlich neue Wertordnung. Persönlich finde ich diese Werte in spirituellen Traditio­nen wie dem europäischen Lebensrad, aber auch in der evangelisch-reformierten Landeskirche der Schweiz, in der ich mich ehrenamtlich engagiere.

Dieses Buch habe ich aus Interesse am Thema geschrieben und weil es mir Freude macht, der nachfolgenden Generation mein Wissen und meine Überzeugungen weiter­zugeben. Das Buch ist ohne finanzielle Unterstützung in meiner Freizeit entstanden. Meine Arbeitgeberin hat aber die Kosten für den Besuch von Tagungen und die Anschaffung von Büchern übernommen.

1.3Diskurs: Gegenstandsbestimmung und Abgrenzungen

Für den Diskursbegriff gilt dasselbe wie für viele andere wissenschaftliche Konzepte: eine allgemeingültige, von allen Forscherinnen anerkannte Definition existiert nicht. Die Spannbreite der Definitionen sei an vier ausgewählten Beispielen illustriert:

„Ein Diskurs ist also eine prinzipiell offene Menge von thematisch zusammenhängen­den und aufeinander bezogenen Äußerungen.“ (Adamzik 2004: 254).

„Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die

sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissens­komplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen […]

und durch explizite oder implizite […] Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden.“ (Busse/Teubert 1994: 14).

„Ein Diskurs ist die Auseinandersetzung mit einem Thema,

die sich in Äußerungen und Texten der unterschiedlichsten Art niederschlägt,

von mehr oder weniger großen gesellschaftlichen Gruppen getragen wird,

das Wissen und die Einstellungen dieser Gruppen zu dem betreffenden Thema so­wohl spiegelt

als auch aktiv prägt und dadurch handlungsleitend für die zukünftige Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Bezug auf dieses Thema wirkt.“ (Gardt 2007: 30).

„We consider ‚discourse‘ to be

a cluster of context-dependent semiotic practices that are situated within specific fields of social action

socially constituted and socially constitutive

related to a macro-topic

linked to the argumentation about validity claims such as truth and normative vali­dity involving several social actors who have different points of view.“ (Reisigl/Wodak 2009: 89).

Der gemeinsame Nenner dieser und weiterer Definitionen besteht darin, dass Diskurse ein gesellschaftlich relevantes Thema betreffen und sich in Texten manifestieren, jedoch in ihrer Reichweite über diese Texte hinausgehen. Der Diskurs über das Thema Mobbing am Arbeitsplatz zum Beispiel schlägt sich nieder in Zeitungsartikeln, Internet­foren, unternehmensinternen Richtlinien gegen Mobbing usw. und lässt sich entspre­chend durch die Lektüre und Analyse dieser Texte erfassen. Er umfasst jedoch mehr als nur diese Texte, nämlich all das, was die Mitglieder der Gesellschaft zum Thema Mobbing denken, zu wissen meinen und glauben.

Die ersten beiden zitierten Definitionen beschränken sich auf diesen Kern des Diskursbegriffs. Die dritte Definition macht einen weiteren Aspekt des Diskursbegriffs explizit, den die meisten Diskursforschenden teilen: Ein Diskurs wird geprägt durch die Gesellschaft, die ihn führt, und wirkt auf diese zurück. Um beim Beispiel zu bleiben: Die aktuellen Arbeitsbedingungen in unserer Gesellschaft und unsere Mentalität wirken auf die Mobbingdiskussion ein (die Mehrheit lehnt diese Form des sozialen Umgangs ab), umgekehrt führt die erst vor Kurzem überhaupt in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs eingeführte Bezeichnung „Mobbing“ dazu, dass Mobbing vermehrt wahrge­nommen wird und eines Tages vielleicht ein Gesetz gegen Mobbing verabschiedet wird.

Die dritte Definition umfasst einen weiteren Aspekt, der sich nicht in allen Definitionen findet, nämlich die „gesellschaftlichen Gruppen“, die den Diskurs tragen. Andere Forscher bezeichnen diese als „Akteure“ im Diskurs. Das wären in unserem Beispiel Arbeitnehmerverbände, Personalverantwortliche, Journalistinnen, Betroffene. In dieser Definition umfasst der Diskurs also nicht nur die von der Gesellschaft produzierten Texte, sondern auch die Personen, die redend und schreibend am Diskurs teilnehmen (Kämper 2017).

Die vierte Definition ist die am weitesten gefasste, indem sie Diskurse nicht nur auf Texte bezieht, sondern sie als ‚semiotische Praktiken‘ bezeichnet. Mit diesem Ausdruck wird unterstrichen, dass Texte eben nicht nur den Diskurs repräsentieren, sondern selber eine Form sozialen Handelns sind und unmittelbar auf die Gesellschaft einwirken. Diskurse repräsentieren und konstruieren die Welt (Warnke 2013: 103). Eine interne Richtlinie gegen Mobbing repräsentiert nicht nur den Mobbingdiskurs, sondern führt zu ganz konkreten Verhaltensänderungen, indem Betroffene Fehlverhalten bei der Personalabteilung tatsächlich anzeigen mit unter Umständen gravierenden Konse­quenzen für alle Beteiligten. Ferner hebt die vierte Definition am deutlichsten hervor, dass in Diskursen Wahrheitsansprüche und Normen verhandelt werden.

Was in den zitierten Definitionen nicht zur Sprache kommt, aber einen wichtigen Aspekt des Diskursbegriffs darstellt, ist die Frage, was zu einer bestimmten Zeit in ei­ner bestimmten Gesellschaft zum fraglichen Thema nicht gesagt wird, weil es gesell­schaftlich nicht legitim ist oder kollektiv verdrängt wird. Michel Foucault, einer der Gründer der Diskursforschung, hat die limitierende Kraft von Diskursen hervorge­hoben. Danach bestimmt der Diskurs nicht nur, was zu einem Thema gesagt und gedacht wird, sondern er verfügt auch über Ausschlussmechanismen, die bestimmte Gedanken aus dem Diskurs verbannen.

Diese Ausschlussmechanismen und die mit ihnen verhinderten Äußerungen nachzuweisen, ist methodisch allerdings wesentlich anspruchsvoller, als in den vorlie­genden Texten aufzuzeigen, was tatsächlich gesagt und geschrieben wurde. Daher überrascht es nicht, dass in den praktischen Diskursanalysen dieser Aspekt meistens völlig ausgeklammert bleibt, obwohl das theoretische Postulat durchaus besteht, das Nichtgesagte als einen Aspekt des Diskursbegriffs mitzudenken:

„Nach meiner festen Überzeugung muss die Analyse des unreflektierten, unartikulierten, als selbstverständlich vorausgesetzten und daher nicht thematisierten, aber gleichwohl diskursstrukturienden Wissens in jeder historischen Semantik eine zentrale Stelle einnehmen“ (Busse 2003: 27, zit. in Roth 2015: 45).

Wir erachten es als außerordentlich wichtig, bei der konkreten Analyse eines gesellschaftlichen Diskurses immer auch darauf zu achten, mit welchen sprachlichen Mitteln bestimmte Gedanken ausgeschlossen und damit in den Raum des Unsagbaren oder gar „Unsäglichen“ gedrängt werden. Denn in diesem potenziellen Gedankenraum liegt all das auf der Lauer, was eine Gesellschaft ignoriert, negiert, verdrängt und fürchtet. So wäre es, um ein Beispiel zu nennen, noch vor 15 Jahren undenkbar gewesen zu behaupten, die Börse funktioniere nach irrationalen Prinzipien und die Börsenkurse würden nicht den wahren Unternehmenswert widerspiegeln. Heute sind viele Formen irrationalen Verhaltens an der Börse wie der sogenannte Herdentrieb oder das Prinzip des „more of the same“ bekannt und die „behavioral finance“ ist eine eigene Disziplin.

Wie wirksam diskursive Ausschlussmechanismen sind, wird vor allem am wissen­schaftlichen Diskurs sichtbar, der nur wenige Formen des Forschens anerkennt und alle anderen Formen des Erkenntnisgewinns ausschließt – das gilt selbstredend auch für die Diskursanalyse selber. So kann heute keine Wissenschaftlerin geltend machen, sie hätte eine bestimmte Erkenntnis geträumt oder in einer Vision gesehen. Sie und ihre Er­kenntnis würden von der wissenschaftlichen Gemeinschaft mindestens ignoriert wenn nicht gar öffentlich lächerlich gemacht. Träume und Visionen sind jedoch Formen der Erkenntnis, die in der Antike und im Mittelalter problemlos anerkannt wurden, wie die in der Bibel überlieferten Traumdeutungen oder die Lebensbeschreibungen von Heili­gen belegen.

Der Diskurs ist also ein Begriff mit unterschiedlicher Reichweite. Diese Reichweiten werden in der folgenden Abbildung am Beispiel der Klimaerwärmung illustriert. Würde man ein konkretes Textkorpus untersuchen, käme man zum Ergebnis, dass sich in den vergangenen 25 Jahren sukzessive jene lange Zeit umstrittene Ansicht durchgesetzt hat, dass die Klimaerwärmung nicht nur eine Tatsache ist, sondern auch vom Men­schen mitverursacht wird. Die Ansicht, die Klimaerwärmung finde nicht statt oder sei auf natürliche Schwankungen zurückzuführen, wird immer stärker aus dem Diskurs verdrängt, ist aber noch nicht ganz verschwunden. Allerdings wurde die noch 1907 von Arrhenius geäußerte Ansicht, die Klimaerwärmung sei zu begrüßen, weil sie in Europa zu besseren klimatischen Bedingungen führe (Arrhenius 1907, zit. in Braun-Thürmann 2013: 173), in den vergangenen 25 Jahren kaum mehr vorgebracht; nicht weil sie per se falsch wäre, sondern weil sie angesichts der unübersehbaren negativen Folgen der Klimaerwärmung in vielen Weltregionen nicht mehr geäußert werden durf­te und damit in den potenziellen Raum des Unsagbaren verbannt war.

Abb. 1: Diskurs – ein Begriff mit unterschiedlicher Reichweite

Trotz ihrer Tendenz, das Spektrum möglicher Ansichten einzuschränken, sind Diskurse keine monolithischen Gebilde, die nur noch eine einzige Sicht auf die Welt zulassen. Selbst unter sehr repressiven Bedingungen wie in totalitären Staaten existieren Gegen­diskurse, in welchen die herrschenden Ansichten in Frage gestellt und mit Alternativen konfrontiert werden. Diese Mehrstimmigkeit des Diskurses wird in der Diskurstheorie unterschiedlich konzeptualisiert: Als verschiedene Stimmen in einem Diskurs bzw. als verschiedene Diskurse zu einem Thema. So könnte man die Befürworter und die Gegner einer Anlaufstelle für Mobbingopfer als konkurrierende Stimmen in einem Dis­kurs auffassen. Man könnte aber auch das, was Juristinnen, Sozialpsychologen und Personalverantwortliche sagen, als verschiedene Fachdiskurse zum selben Thema Mobbing auffassen. Jeder fachliche (juristische, psychologische, betriebsökono­mische…) Diskurs entwirft eine je eigene Perspektive auf die Welt, mit der auch unterschiedliche Identitäten der Sprechenden verbunden sind (Fairclough 2005: 124).

In diesem Buch gehen wir zusammenfassend von diesem Diskursverständnis aus:

Ein Diskurs ist der gesellschaftliche Prozess der Verständigung darüber, wie die Welt zu deuten und zu gestalten ist. Der Diskurs wird durch die materielle Wirk­lichkeit geprägt und wirkt durch gesellschaftliche Praktiken auf diese zurück. Der Diskurs äußert sich in konkreten Texten, die das Wissen und Denken einer be­stimmten Zeit repräsentieren.

Zur besseren Einprägsamkeit wird die Definition in der folgenden Abbildung visuali­siert.

Abb. 2: Wechselwirkungen von Diskurs, sozialen Praktiken und Umwelt

Diskurse werden auch von materiellen Praktiken getragen und manifestieren sich in Dingen wie Körperbemalung, Kleidung, Architektur oder Stadtplanung. In Unterneh­men wird zum Beispiel die Hierarchie der Beschäftigten deutlich zum Ausdruck ge­bracht durch die Lage und die Größe der Büros (die sprichwörtlichen „oberen Etagen“ versus Lagerräume im Keller), durch die Kleidung (Anzug versus Blaumann) und durch Attribute wie Firmenwagen. Siefke schägt eine dementsprechend weite Definition von Diskurs als „material verankerte, mental bedingte und gesellschaftlich situierte Zeichenpraktik“ (2013: 365) vor. Viele Diskursforschende verstehen Kommunikation unterdessen als multimodale Kommunikation (Klug/Stöckl 2016) und untersuchen auch Bilder, Filme oder Texte im öffentlichen Raum. Linke und Schröter (2018) liefern mit ihrem Konzept des transsemiotischen Diskurses eine theoretische Grundlage für eine Diskursanalyse, die alle möglichen Erscheinungsformen von Diskurs berücksichtigt. Da eine umfassende multimodale Analyse allerdings ein anspruchsvolles, interdisziplinäres Unterfangen ist (Wildfeuer/Batemen 2020), beschränken wir uns in diesem Buch auf Texte, Gespräche und Bilder. Materielle Manifestationen von Diskursen wie Kleidung oder Architektur bleiben hingegen unberücksichtigt.

Der Begriff Diskurs wird nicht nur von Diskursanalytikern verwendet, sondern auch von Vertreterinnen der funktional-pragmatischen Diskursanalyse, die eine Form der Gesprächsanalyse ist (vgl. Abschnitt 2.2). Noch umfassender ist der englische Ausdruck „discourse“, der in der Kombination „discourse analysis“ und „discourse studies“ auftritt. Erstere ist meistens mit Konversationsanalyse zu übersetzen, letztere umfassen Arbeiten aus dem gesamten Spektrum der Gesprächs- und Textlinguistik. Wir benützen den Begriff Diskurs in dieser Einführung ausschließlich in der oben erörterten Definition.

Aufgaben

Aufgabe 1: Kochrezepte sind häufig nicht nur eine Anleitung zum Kochen, sondern auch Teil eines Diskurses über zeitgemäße Lebensführung. Versuchen Sie aus dem aufgeführten Kochrezept herauszulesen, von welchem typischen Haushalt die Auto­rinnen beim Schreiben dieses Rezepts ausgegangen sind und welches Wissen und welche Einstellungen sie bei den Lesenden voraussetzen.

Sommergemüse zu Gnocchi (Le Menu 6/2013)

 

Für 4 Personen

 

500 g weiße Spargeln, gerüstet, längs halbiert, in 4 cm lange Stücke geschnitten

200 g Bundrüebli, gerüstet, in Scheiben geschnitten

Butter zum Dämpfen

¼ TL Salz

Pfeffer, Zucker

1 dl Gemüsebouillon

90 g Saucenhalbrahm

je 150 g Kefen und Erbsen

2–3 Zitronenmelisse-Zweige, abgezupfte Blätter, grob gehackt

750 g Kartoffelgnocchi aus dem Kühlregal

wenig Butter

 

1 Spargeln und Rüebli in der Butter andämpfen, würzen. Mit Bouillon ablöschen, aufkochen. 10 Minuten dämpfen. Saucenrahm beifügen, aufkochen. Kefen und Erb­sen dazugeben, 5 Minuten leicht knackig köcheln.

 

2 Gnocchi in der Butter goldgelb braten.

 

3 Gemüse mit Zitronenmelisse bestreuen, mit den Gnocchi anrichten.

 

Infos: Zubereiten: ca. 30 Minuten

schnell

vegetarisch

leicht

Nährwerte pro Portion: Energie 457 kcal, Eiweiß 13g, Fett 10g, Kohlenhydrate 77g

Überlegen Sie, welches gesellschaftlich brisante Thema Ihnen unter den Nägeln brennt: Genmanipulation? Energiewende? Migration? Ost-West-Konflikte? Neoliberalismus? Cyber-Mobbing? Wenn Sie zu einem dieser Themen eine diskursanalytische Studie durchführen möchten, beginnen Sie jetzt, noch ganz unsystematisch, thematisch einschlägiges Material zu sammeln: TV-Diskussionen, Blog-Einträge, Zeitungsartikel, Romane, Parteiprogramme, Unternehmensbroschüren etc. Führen Sie mit Ihren Bekannten Gespräche, nehmen Sie an öffentlichen Veranstaltungen teil. Fördern Sie so Ihr Wissen und Ihre generelle Aufmerksamkeit für das Thema.

 

Der „State of the Art“ der Diskursforschung ist versammelt bei Warnke (2018). Als unverzichtbares Nachschlagewerk sei Wrana/Ziem/Reisigl/Nonhoff/Angermuller (2014) empfohlen. Eine verständliche Einführung in die Diskursanalyse mit methodisch eher schmalem Fokus bietet Niehr (2014). Einen ganz knappen, leicht verständlichen Abriss zur Dis­kursforschung gibt Ullrich (2008). Für Einsteiger ebenfalls nützlich sind die Aufsätze in Wodak/Krzyzanowski (2008). Verschiedene Ansätze der Diskurforschung sind vorge­stellt im Sammelband von Warnke (2007a). Die am häufigsten zitierte, relativ anspruchsvolle Einführung in die Diskurslinguistik ist Spitzmüller/Warnke (2011).

2Wurzeln der Diskursanalyse

Diskursforschung ist kein genuin linguistisches Unterfangen. Wir stellen in diesem Kapitel ausge­wählte Vorläufer bzw. Nachbardisziplinen der linguistischen Diskurs­analyse vor, zum besseren Verständnis der theoretischen Grundlagen und zur wissen­schaftshistorischen Verortung der Diskursanalyse.

2.1Michel Foucault

von Marcel Eggler

Zu den wichtigsten Wegbereitern einer linguistischen Diskursanalyse gehört ein Philo­soph, der sich selber weder als Philosoph noch als Linguist verstanden wissen wollte: Michel Foucault (1926–1984), seit 1970 Professor für „Geschichte der Denksysteme“ am renommierten Collège de France in Paris. Ganz gleich, ob sich Diskursanaly­tikerinnen ihn ihrer Arbeit von ihm abgrenzen, sich explizit und eng auf ihn beziehen oder lediglich „bei Bedarf“ auf ihn rekurrieren – um Focault kommt auch heute noch kaum herum, wer sich mit Diskurslinguistik beschäftigt. In seinem umfassenden Gesamtwerk, das auf einem profunden historischen Wissen gründet, hat er manche Konzepte entwickelt, auf welche die aktuelle Diskurslinguistik immer noch zurück­greift – und dies trotz der Tatsache, dass Foucault seine zentralen Konzepte, darunter „Diskurs“, immer wieder hinterfragt, verändert und im Verlaufe seines Schaffens zugunsten anderer, weiträumigerer Begriffe (vgl. unten in diesem Kapitel: „Dispositiv“) in den Hintergrund gestellt hat – zuletzt gab Foucault das Konzept „Diskurs“ sogar mehr oder weniger auf.

Knapp gesagt könnte man Foucaults Diskursbegriff (bzw. seine mäandrierenden Diskursbegriffe) auf den folgenden Nenner bringen: Ein Diskurs ist ein Geflecht von Aussagen zu einem Thema, die in einer Gesellschaft zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt nach Maßgabe bestimmter „Ordnungsstrukturen“ (Sarasin 2005: 99) gemacht werden. Diese Ordnungsstrukturen sind eine Art Instanz, die – oft unsichtbar, implizit – vorgibt, auf welche Art man in einer bestimmten Epoche in den Wissen­schaften und in verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens über „die Dinge in der Welt“ redet, reden kann und reden darf bzw. nicht reden darf. Vor allem in brisan­ten oder tabuisierten Kontexten setzt diese Instanz Grenzen; sie hält, nach Foucault, „gewisse Prozeduren [bereit; d.V.], deren Aufgabe es ist, die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedroh­liche Materialität zu umgehen“ (Foucault 1991: 11).

Dass man über „die Dinge“ auf eine bestimmte Art und Weise redet und dass ande­re Redensarten „verboten“ sind, hat eine gewisse Limitierung des Sagbaren zur Folge, dient aber auch als Orientierung. Es gibt eine Ordnung vor – eines von Foucaults Hauptwerken heißt denn auch: „Die Ordnung der Dinge“ –, an die sich die in einer bestimmten Epoche lebenden Zeitgenossen halten können oder auch nicht. Die „Ordnung der Dinge“ kommt also diskursiv-historisch zustande und ist damit eine flottierende, sich immer wieder verändernde Größe, die man mit gleichsam archäolo­gischem Interesse untersuchen kann (vgl. „Archäologie des Wissens“; Foucault 1981) und deren Fragmente man in einer Art „disursivem Archiv“ (heute sagen wir: „Kor­pus“) ablegen kann.

Obschon die Ordnung der Dinge also das Resultat diskursiver Regelmäßigkeiten ist, räumt Foucault ein, dass es auch „primäre oder wirkliche Beziehungen“ (Foucault 1981: 69) zwischen den Dingen gibt. Ein Beispiel für eine solche Beziehung wäre: Als Galileo Galilei um 1600 den Ausspruch tat: „Eppur si muove / Und sie bewegt sich doch“, formulierte er ein Naturgesetz, welches unabhängig von irgendeinem Diskurs astronomisch korrekt ist, nämlich dass sich die Erde um die Sonne dreht. Das diskursiv Interessante daran ist, dass zu Galileis Lebzeiten, im damaligen hegemonialen, klerikalen Diskurs noch kein Platz, keine „offene Stelle“ für dieses Naturgesetz vorge­sehen war. Die Eliten, welche die Macht hatten, über die Zulässigkeit neuen Wissens zu befinden, waren noch nicht bereit, den von Galilei in die Wege geleiteten Paradig­menwechsel zu akzeptieren.

Diese Beziehung – der Zusammenhang zwischen Wissen und Macht – hat Foucault zeit seines Lebens umgetrieben; die Frage, wer über ein bestimmtes Thema die Diskursmacht hat und damit quasi über das zum entsprechenden Zeitpunkt gerade erlaubte Wissen verfügen darf, ist gemäß Foucault zentral. Spätestens seit seiner Abhandlung über „die Geburt des Gefängnisses“ ist für ihn klar, „dass die Macht Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); dass Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne dass sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert, und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert“ (Foucault 1994: 39). Es wäre zu kurz gegriffen, die Foucaultsche Macht-Wissens-Relation mit dem deutschen Phraseologismus Wissen ist Macht gleichzusetzen – die Foucaultʼsche Logik funktioniert eher umgekehrt: Macht ist (bzw. generiert) Wissen; Macht legt fest, was man wissen darf und was nicht. Gemäß dieser Konzeption fällt die Idee des erkennenden, „interessierten“ (ebd.: 40) Subjekts mehr oder weniger dahin – die Apparaturen der Macht und des Wissens „besetzen und unterwerfen […] die menschlichen Körper […], indem sie aus ihnen Wissensobjekte machen“ (ebd.; Hervorh. d. Verf.).

Die bisherigen Ausführungen zu Foucaults Diskurstheorie zeigen, dass diese wesent­lich mit nicht-linguistischen Disziplinen verknüpft ist, so etwa mit der Philosophie, der Geschichte und der Soziologie. Die Frage, ob Diskurse überhaupt oder doch nur zu einem gewissen Teil sprachwissenschaftliche Objekte seien, ist eine von der Diskurs­forschung noch nicht beantwortete (und womöglich gar nicht abschließend beant­wortbare) Frage, mit der sich auch Foucault beschäftigt hat (vgl. auch Busse/Teubert 1994; Abschnitt 3.1). Er kam nicht immer zum gleichen Resultat. Sicher ist: Sprache war für Foucault zumindest der Ausgangspunkt der Diskursanalyse. Foucault interes­sierte sich dafür, welches Regelwerk, welche diskursiven Kräfte es möglich machen, dass eine bestimmte Äußerung in einem bestimmten Kontext genau so und nicht anders formuliert wird. Gemäß einer solchen Fragestellung sind Aussagen keine „Zufalls­produkte“, sondern sie gehorchen „der Ordnung des Diskurses“ (Foucault 1991). Das heißt konkreter: Der Diskurs stellt bestimmte Wörter, Phraseologismen (Wortverbin­dungen), zu Sprichwörtern geronnene Sätze bereit, die besonders gut zu einem Ereig­nis passen. Wenn Jugendliche im Zug die Füße auf den gegenüberliegenden Sitz stel­len, ohne die Schuhe auszuziehen, dann ist es wahrscheinlicher, dass andere Fahrgäste z.B. sagen: „Wenn das jeder täte!“ oder „Hattet ihr keine Kinderstube?“, als dass sie irgendetwas anderes sagen. Wenn im Rahmen der Abhöraffäre durch den amerikani­schen Geheimdienst NSA (von 2013 ff.) mit einer gewissen Regelmäßigkeit der Graffiti-Spruch „Yes, we scan“ auf manchen Mauern zu lesen ist, dann ist diese Zeichenfolge mehr als ein sprachliches Zufallsprodukt. Der Diskurs über die Abhöraffäre generierte diesen Spruch, der die Abwandlung des Diktums „Yes, we can“ von US-Präsident Barack Obama aus seinem Wahlkampfdiskurs von 2008 ist.

Foucault war einer der ersten, der das Augenmerk der Forscherinnen auf die sprachlichen Versatzstücke (Muster; engl. patterns) lenkte, welche einen Diskurs an der sprachlichen Oberfläche zusammenhalten (Foucault 1981). Es geht bei dieser Betrach­tungsweise grundsätzlich um die Frage, welche Wörter, Phraseologismen, Sätze, ja Textversatzstücke in bestimmten Kontexten – statistisch betrachtet – signifikant häufi­ger auftreten als andere. Oder auch umgekehrt: Was uns das (möglicherweise unerwar­tete) Auftreten einer gewissen sprachlichen Wendung in einem Kontext über die diskursive Verortung des entsprechenden Textes sagen kann. Foucault konnte nicht wissen, dass mit der Korpuslinguistik eine linguistische Teildisziplin entstehen würde, welche diesen – den oberflächenstrukturellen – Aspekt der Diskurslinguistik mit com­putergestützten quantitativen Analysen maßgeblich unterstützen kann (vgl. Kap. 4).

Aber auch wenn wir den Diskurs als primär linguistische Größe betrachten (und das tun wir in diesem Buch zu einem sehr großen Teil), wollen wir hier doch auf eine konzeptuelle Ausweitung hinweisen, die Foucault mit dem Begriff „Dispositiv“ benannte (Foucault 1977). Stark vereinfacht kann man sich ein Dispositiv als eine Reihe von sprachlichen wie auch außersprachlichen Maßnahmen vorstellen, mit denen das in den Diskursen gespeicherte „Macht-Wissen“ in die „Wirklichkeit“ übersetzt wird. Konkret können das soziale, administrative oder architektonische Maßnahmen sein, etwa eine Schuluniform, ein Gesetz, eine Zollschranke, eine psychiatrische Klinik. Wie man sich eine Dispositivanalyse vorstellen kann, soll das folgende Beispiel­fenster zeigen.

Beispielfenster: Die Normalisierung des Individuums durch die Justiz

In dem Werk „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“ (1994; frz. Original 1975) hatte Foucault seinen „bloß“ diskursanalytischen Blick auf die ge­sellschaftlichen Verhältnisse erweitert und sich, nach ausführlicher Beschäftigung mit Nietzsche, der Genealogie dieser Verhältnisse, d.h. der Geschichte ihres Entste­hens zugewandt. Sein Interesse an der Sezierung von Machtstrukturen fand Aus­druck in einer aus damaliger Sicht linksradikalen Studie über die Entstehung des französischen Repressionsapparates. „Überwachen und Strafen“ hebt an mit zwei Textauszügen zur Praxis des Strafens im Paris vergangener Jahrhunderte, die antithetischer nicht sein könnten:

„Am 2. März 1757 war Damiens dazu verurteilt worden, ‚vor dem Haupttor der Kirche von Paris, öffentlich Abbitte zu tun. […] [A]uf dem Grève-Platz sollte er dann im Stürzkarren auf einem dort errichteten Gerüst an den Brustwarzen, Armen, Oberschenkeln und Waden mit glühenden Zangen gewickt werden; seine rechte Hand sollte das Messer halten, mit dem er den Vatermord begangen hatte, und mit Schwefelfeuer gebrannt werden, und auf die mit Zangen gezwickten Stellen sollte geschmolzenes Blei, siedendes Öl, brennendes Pechharz […] gegossen werden; dann sollte sein Körper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert wer­den […].‘“ (ebd.: 9).

„Ein Dreivierteljahrhundert später verfasst Léon Faucher ein Reglement ‚für die jungen Gefangenen in Paris‘:

‚Art. 17. Der Tag der Häftlinge beginnt im Winter um sechs Uhr morgens, im Sommer um fünf Uhr. Die Arbeit dauert zu jeder Jahreszeit neun Stunden täglich. Zwei Stunden sind jeden Tag dem Unterricht gewidmet. Die Arbeit und der Tag enden im Winter um neun Uhr, im Sommer um acht Uhr. […]‘“(ebd.: 14).

Anhand dieser beiden kurzen Textauszüge lässt sich bereits erahnen, dass sich der Diskurs über das Bestrafen in Paris zwischen ca. 1750 und 1830 eklatant verändert hatte. Aber nicht nur der Diskurs! Mit verändert hatte sich das ganz konkrete Bestrafungs-Dispositiv: Die „Leibesmarter“ war von einer „Zeitplanung“ als Sanktion abgelöst worden (ebd.), an die Stelle des „Straf-Schauspiel[s]“ (ebd.: 17) trat die Disziplinierung durch Askese: durch „nicht mehr so unmittelbar physische Bestrafungen, [sondern durch] eine gewisse Diskretion in der Kunst des Zufügens von Leid, ein Spiel von subtileren, geräuschloseren und prunkloseren Schmerzen“ (ebd.: 15).

Doch damit nicht genug: Die Entstehung des Gefängnisses mit seiner Kontroll­funktion und dem Ziel der Disziplinierung und „Normalisierung“, der „Besserung“ der Insaßen zog eine Reihe von weiteren Institutionen nach sich, die wechselseitig aufeinander bezogen waren; es wuchsen ganze institutionelle Netze zur Diszpli­nierung der Gesellschaft überhaupt: „[D]ie Medizin, die Psychologie, die Erzie­hung, die Fürsorge, die Sozialarbeit [übernahmen] immer mehr Kontroll- und Sanktionierungsgewalten“ (ebd.: 395). All die entsprechenden Institutionen waren, nach Foucault, beteiligt an der „Normalisierung“ der modernen Gesellschaft. Die „Normalisierung“ des Individuums, sprich: das „Einebnen“ des statistisch Auf­fälligen vor allem im medizinischen, psychologischen und pädagogischen Bereich, war das vorherrschende diskursive Prinzip, das auch außerhalb des sprachlichen Diskurses – in den gesellschaftlichen Ritualen oder im Städtebau (Krankenhäuser, Waisenhäuser, Altenasyle usw.) – ihren Niederschlag fand. Das architektonische Dispositiv der ganzen Stadt war maßgeblich durch den „Normalisierungsdiskurs“ geprägt worden.

Wer sich ausführlicher mit Foucaults Werk befassen will, dem seien seine zwei – aus diskursanalytischer Sicht – Hauptwerke „Die Ordnung der Dinge“ (1974) und „Archäo­logie des Wissens“ (1981) empfohlen. Auch Foucaults Antrittsvorlesung vom 2. Dezem­ber 1970 am Collège de France gehört zur Grundausstattung der „Foucaultianer“ („Die Ordnung des Diskurses“; dt.: 1991). Wer an Dispositivanalyse interessiert ist, lese „Überwachen und Strafen“ (1994), eines der eindrücklichsten und (politisch) engagier­testen Werke des Philosophen. Eine sehr gute und instruktive Einführung in Foucaults Werk hat der Zürcher Historiker Philipp Sarasin verfasst (2005).

2.2Linguistische Pragmatik

Die linguistische Pragmatik ist ein genuin sprachwissenschaftlicher Ansatz, der in den 1970er Jahren von deutschen Sprachwissenschaftlern ins Leben gerufen wurde mit dem Ziel, den konkreten Sprachgebrauch in Institutionen zu untersuchen. Der Ansatz wird auch als funktional-pragmatische Diskursanalyse bezeichnet und ist ein Zweig der Gesprächsforschung, der bis heute rege Anwendung in der Grundlagenforschung, aber auch in der Angewandten Gesprächsforschung findet.

 

Im Kontext der funktional-pragmatischen Diskursanalyse bedeutet „Diskurs“ so viel wie „Gespräch“ oder „mündliche Interaktion“ und darf nicht mit dem in diesem Buch vertretenen Verständnis von Diskurs verwechselt werden.

 

Die linguistische Pragmatik steht in der auf Marx zurückgehenden Tradition des historischen Materialismus. Dieser geht davon aus, dass das Handeln des Individuums weniger von seinen individuellen Wünschen und Bedürfnissen bestimmt wird als vielmehr von den materiellen und institutionellen Lebensbedingungen, die dem Einzel­nen vorausgehen und ihm als „faits sociaux“ (Durkheim) entgegentreten. Heute bewe­gen sich die Menschen in ihrem Alltag überwiegend in institutionellen Kontexten wie Schulen, Unternehmen, Behörden oder Krankenhäuser. Der Kern der linguistischen Pragmatik besteht daher in der Frage, wie sich solche Institutionen auf das sprachliche Handeln der Individuen auswirken (Ehlich/Rehbein 1986) – und umgekehrt, wie Insti­tutionen durch Sprache konstituiert werden (Searle 2015).

Sprechen und Schreiben sind eine Form menschlichen Handelns und als solche immer intentional, das heißt auf einen Zweck ausgerichtet. Das Spezifische am Sprechen und Schreiben in Institutionen besteht nun darin, dass der Zweck der einzelnen sprachlichen Handlungen in der Regel nicht vom Individuum bestimmt wird, sondern von der Institution vorgegeben ist. Der Richter fragt den Angeklagten zu Beginn der Gerichtsverhandlung nicht deswegen nach seinem Namen, weil dieser ihn persönlich interessieren würde (der Name ist ihm im Gegenteil längst bekannt), son­dern weil es die Prozessordnung so vorschreibt, um sicherzustellen, dass die richtige Person verhört wird.

Die funktional-pragmatische Diskursanalyse untersucht nun, wie der Name sagt, welche Funktionen einzelne sprachliche Handlungen im institutionellen Kontext haben, und zwar unabhängig von deren grammatikalischer Form. Die Form sagt oft wenig über die Funktion einer Äußerung aus. So dient eine Frage keineswegs immer dazu, eine Wissenslücke zu stopfen, sondern sie kann auch dazu eingesetzt werden, Wissen zu überprüfen (die klassische Prüfungsfrage), die Aufmerksamkeit zu steuern („Was siehst du noch?“) oder jemanden zu verunsichern („Sind Sie sicher?“).

Die Erforschung konkreter Interaktionen deckte rasch auf, dass sich für die Bewältigung wiederkehrender gesellschaftlicher Probleme in der Sprachgemeinschaft sogenannte Handlungsmuster entwickelt haben, mit denen die Individuen die anste­henden Aufgaben in gesellschaftlich akzeptierter, für jedes kompetente Mitglied der Sprachgemeinschaft nachvollziehbarer Form abwickeln können (Bendel 2007). Beispiel für ein solches Handlungsmuster ist die Lehrerfrage, die im Unterricht dem Überprüfen des Lernfortschritts dient und die typische Form hat: Lehrer stellt Frage – Schüler gibt Antwort – Lehrer ratifiziert die Antwort als richtig oder falsch (Ehlich/Rehbein 1986).

Handlungsmuster sind kollektive Routinen zur Bewältigung wiederkehrender gesellschaftlicher Aufgaben. Sie bilden als Form-Funktions-Zusammenhang die Tiefen­struktur von sprachlichen Handlungen. An der sprachlichen Oberfläche können sie in stilistisch unterschiedlichen Varianten, das heißt in verschiedenen konkreten Formulie­rungen auftreten. Aber auch hier finden sich wiederkehrende Routineformeln (Coulmas 1981), das heißt stereotype Formulierungen für die sprachliche Umsetzung eines Handlungsmusters. Man denke an Floskeln wie „Sonst noch ein Wunsch?“ – „Nein, danke, das ist alles“ in der Bäckerei.

Einzelne Handlungsmuster treten selten isoliert auf, sondern sind eingebettet in größere Interaktionszusammenhänge. Daher ist es in der funktional-pragmatischen Dis­kursanalyse üblich, ganze Gespräche zu untersuchen und die ihnen zugrunde liegende Aufgabenkontur (Kallmeyer/Schütze 1976) zu untersuchen. Diese Aufgabenkontur ist nicht abhängig von den individuellen Absichten oder Fähigkeiten der Interagierenden, sondern ergibt sich aus dem Zweck der Sache selber.

Heute spricht man in der Regel von einem Aufgabenschema und meint damit ein Bündel von obligatorischen und fakultativen Aufgaben in einer oft prototypischen Reihenfolge, die im Rahmen eines institutionellen Gesprächs abzuarbeiten sind. Das Ziel einer funktional-pragmatischen Diskursanalyse besteht darin, die für eine Institution typischen Aufgabenschemata herauszuarbeiten. Diese zeigen sich konkret in der Form von Gesprächsmustern, die als typische Abfolge einzelner Handlungsmuster aufzufassen sind (Becker-Mrotzek/Meier 1999, Spiegel/Spranz-Fogasy 2003). Die Kenntnis institutioneller Gesprächsmuster ermöglicht es den Interagierenden, anste­hende Geschäfte (im Sinne der Institution) korrekt und effizient abzuwickeln, wobei zu berücksichtigen ist, dass in der Regel nur die Agenten die Muster vollständig beherr­schen, während die Klienten oft nur vage Vorstellungen von einem Gerichtsprozess oder einem Bewerbungsgespräch haben.

In der folgenden Tabelle ist als Beispiel das Muster des Gesprächstyps „Konto­spezifische Auskunft erteilen“ abgebildet, wie es bei der Analyse von Telefonge­sprächen im Callcenter einer Bank herausgearbeitet wurde (Bendel 2007). Gerade gesetzt sind die obligatorischen Aufgaben, kursiv die fakultativen. Links sind die Gesprächszüge des Kunden aufgeführt, rechts jene des Agenten, in der Mitte Handlungsmuster, die von beiden Seiten initiiert werden können.

 

Kunde

 

Agent

Eröffnung

Anruf

 

Anrufannahme

Vorstellung

 

Vorstellung

Rückfragen bezüglich Name

Begrüßung

 

Begrüßung

Hauptteil

Klärung der Zuständigkeit

Anliegen präsentieren

 

Anliegen ratifizieren

Anliegen klären

Kontonummer angeben

 

Konto aufrufen

Angaben zur Identifikation liefern

 

Kunden identifizieren

 

 

gewünschte Auskunft erteilen

akustische Verständigungsprobleme beheben

(fremd)sprachliche Verständigungsprobleme beheben

inhaltliche Verständigungsprobleme beheben

Zusatzfragen stellen

 

gewünschte Auskunft erteilen

 

 

Rücksprache mit anderer Abteilung

Ratifikation der Auskünfte

 

 

Abschluss

Beendigungssignal

 

Beendigungssignal

Dank

 

Dank

Wünsche

 

Wünsche

Abschied

 

Abschied

Tabelle 1:

Aufgabenschema „Kontospezifische Auskunft“ (Bendel 2007: 70)

Zu betonen ist, dass in der funktionalen Pragmatik solche Gesprächsmuster grundsätz­lich an authentischen, auf Tonband oder Video aufgezeichneten und minutiös transkri­bierten Gesprächen gewonnen wurden und somit empirisch validiert sind. Vertreter der funktionalen Pragmatik haben in den vergangenen 40 Jahren eine Fülle verschie­dener institutioneller Gesprächstypen untersucht und die eingesetzten Aufgaben­schemata und Gesprächsmuster herausgearbeitet. Das sind Gespräche in der Schule (Unterrichts-, Prüfungs-, Elterngespräche), auf Ämtern (Ausländeramt, Arbeitslosen­kasse), im Krankenhaus (Gespräche in der Notaufnahme, zur Anamnese oder Opera­tionsvorbereitung, Arztvisite), in der Wirtschaft (innerbetriebliche Besprechungen, Service-, Verkaufs-, Reklamationsgespräche, Verhandlungen im intra- und inter­kulturellen Kontext), in der Politik (Bundestagsdebatten, TV-Duelle) und viele mehr (dazu ausführlich Redder 2008).

Der Nutzen dieser Untersuchungen liegt darin, dass Regularitäten, aber auch Probleme der institutionellen Kommunikation sichtbar werden, die den Handelnden selber verborgen bleiben. So hat die Untersuchung von Arzt-Patienten-Gesprächen ans Licht gebracht, dass viele Ärzte ihre Anamnesegespräche in einer Art führen, die das Erzählen einer kohärenten Krankheitsgeschichte aus der Sicht der Patientinnen systematisch verhindert. Die Ursachen dafür sind nicht (nur) persönliche Defizite in der Gesprächsführung, sondern auch in der Ausbildung überlieferte, dysfunktionale Routinen wie das stereotype Abfragen der Kinderkrankheiten gleich zu Beginn des Gesprächs, ein schulmedizinisches Weltbild sowie enormer Zeitdruck, der die Ärztinnen nach Schlüsselwörtern wie „stechender Schmerz“ suchen lässt, anstatt dass sie versuchen würden, die Gesamtsituation des Patienten zu erfassen.