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Der für den heutigen Wertekanon zentrale Begriff der Menschenwürde wird zwar kontrovers diskutiert, bleibt aber unscharf. Die Literatur als Medium, das in der Uneindeutigkeit und in der Doppelbödigkeit erst seine vollen Sinnpotentiale entfaltet pflegt spätestens seit der Frühaufklärung einen eigenen Menschenwürdediskurs, der nicht bloß außerliterarische Argumentationen reproduziert, sondern die Frage nach der Menschenwürde auf eigene Weise, mit genuin literarischen Mitteln, beantwortet. Die Studie zeichnet die bislang vernachlässigten literarischen Dimensionen der Menschenwürde nach, anhand eines breiten Textcorpus, das von der Frühaufklärung bis in die Gegenwart reicht und unter anderem Texte von Gottsched, Schiller, Kotzebue, Büchner, Benn, P. Weiss, Schlink, Jelinek und von Schirach beinhaltet.
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Seitenzahl: 1302
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Max Graff
Literarische Dimensionen der Menschenwürde
Exemplarische Analysen zur Bedeutung des Menschenwürdebegriffs in der deutschsprachigen Literatur seit der Frühaufklärung
Narr Francke Attempto Verlag Tübingen
© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]
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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen
ePub-ISBN 978-3-7720-0054-6
Die vorliegende Studie wurde im Wintersemester 2016/2017 von der Neuphilologischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Für den Druck wurde das Manuskript geringfügig überarbeitet und um einen Exkurs erweitert. Mein Dissertationsprojekt wurde großzügig von einem AFR-Stipendium des Fonds National de Recherche Luxembourg gefördert.
Zur Entstehung und zum Abschluss dieser Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Ein besonderer Dank gebührt zunächst meinen Betreuern und Gutachtern, Prof. Karin Tebben und Prof. Helmuth Kiesel, die mir die Beschäftigung mit der Menschenwürde in ihrer literarischen Verhandlung bereits für meine Magisterarbeit vorgeschlagen und mir so ermöglicht haben, mich über mehrere Jahre mit einem attraktiven, ergiebigen und begeisternden Thema auseinanderzusetzen. Prof. Tebben hat mich auf stets hilfreiche und beruhigende Weise betreut und mit Kritik, Anregungen, Hinweisen und Ratschlägen unterstützt.
Herzlich danken möchte ich auch Prof. Thomas Wilhelmi, der mich auf Kotzebue hingewiesen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge beigesteuert hat. Anregende Gespräche durfte ich zudem mit Dr. Matthias Attig sowie den Organisatoren und Teilnehmern des Maurice Halbwachs Summer Institute in Göttingen 2015 und des Workshops „Collecting Cases“ an der Universität Gent 2016 führen.
Von unschätzbarem Wert für die Genese der Dissertation war zudem der regelmäßige Austausch mit Gleichgesinnten. Für intensive und herausfordernde Diskussionen, Kritik und Bestätigung danke ich meinen wunderbaren Freunden und Kommilitonen Friederike Mayer-Lindenberg, die zu meinem großen Glück auch die Aufgabe der letzten Korrektur übernahm, Bastian Blakowski, Samuel Hamen und Moritz Barske.
Schließlich will ich jenen danken, die mir während der letzten Jahre, auch in komplizierten und unangenehmen Situationen, immer ein geduldiger und liebevoller Rückhalt waren: meiner Lebensgefährtin Nadja und meiner Familie. Meinen Eltern Eugenie und Gilbert ist diese Studie in tiefster Dankbarkeit gewidmet.
Max GraffHeidelberg, im Oktober 2017
Im Oktober 2015 wurde in Frankfurt am Main und in Berlin das Stück Terror des Schriftstellers und Juristen Ferdinand von SchirachSchirach, Ferdinand von uraufgeführt.1 Die dramatische Situation wirkt zunächst wie ein exemplarisches Szenario aus der juristischen Fachliteratur zum Begriff der Menschenwürde: Ein Major der Luftwaffe hat eigenmächtig und in bewusster Missachtung eines Befehls ein von Terroristen entführtes Flugzeug abgeschossen. Um Tausende Menschen in einem Fußballstadion – dem Ziel der Terroristen – zu retten, hat er den Tod aller Passagiere der Maschine in Kauf genommen.2 Die Bühne wird zum Gerichtssaal; das Stück ist die Fiktionalisierung eines Gedankenexperiments, eine imaginierte Verhandlung des Falles, der sich, mit den Worten des Verteidigers, um die Frage dreht: „Ist es richtig, das Prinzip der Menschenwürde über die Rettung von Menschenleben zu stellen?“3 Das Stück – im wahrsten Sinne des Wortes ein Schauprozess – behandelt eines der virulentesten verfassungsrechtlichen Themen, nämlich die Frage nach der (Un-)Abwägbarkeit der Menschenwürde.4 Gilt das Verfassungsprinzip der Menschenwürde absolut, wie die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer darlegt, ist der Major zu bestrafen, denn er hat Menschenleben gegeneinander abgewogen und somit juristisch falsch gehandelt. Aus der Perspektive der Verteidigung hat sich der Angeklagte ethisch richtig verhalten; da der Verteidiger das Dogma der absoluten Unantastbarkeit der Menschenwürde hinterfragt, fordert er auch aus juristischer Sicht einen Freispruch.
Das entscheidende Moment des Stücks, das bis hierhin konventionell konstruiert ist, ist nun keineswegs, dass im Medium Literatur rechtsphilosophische oder verfassungsrechtliche Probleme durchgespielt werden; die Literatur leistet mehr als die bloße Veranschaulichung oder Illustration theoretischer Konstellationen. Tatsächlich weisen an zwei Stellen Dramenfiguren indirekt auf eine Art ‚Medienwechsel‘ hin. Zu Beginn des ersten Aktes tritt der Vorsitzende vor den Vorhang und wendet sich ans Publikum; zunächst weist er auf die strukturelle Ähnlichkeit von Bühne und Gerichtssaal hin, nur um dann zu verkünden: „Natürlich führen wir kein Theaterstück auf, wir sind ja schließlich keine Schauspieler. Wir spielen die Tat durch Sprache nach, das ist unsere Art, sie zu erfassen.“5 Gegen Ende seines Schlussplädoyers wiederum erklärt der Verteidiger: „Die Welt ist nun einmal kein Seminar für Rechtsstudenten.“6 Diese Sätze muten provokativ sentenzhaft an, sind aber zentral: Natürlich wird gerade ein Theaterstück aufgeführt, und natürlich ist auch die Bühne kein Seminar für Rechtsstudenten. Überdeutlich weist der Text auf seine eigene Literarizität hin7 – und stellt damit die Frage in den Raum: Wie fragt die Literatur nach der Menschenwürde? Kann die Literatur, kann die KunstKunst, Künstler anders, mit ihren ureigenen Mitteln, nach der Menschenwürde fragen und womöglich ganz eigene Perspektiven liefern?
Anders als die juristische Realität, in der das Szenario des gekaperten Flugzeugs bereits auf höchster verfassungsrechtlicher Ebene entschieden wurde,8 bietet das Stück Alternativen für den Schluss – und genau hier etabliert sich die Literatur als eigenständiges Reflexionsmedium. Das Telos eines jeden Gerichtsprozesses – das Urteil – ist vom Text nicht zwingend vorgegeben, sondern richtet sich nach dem ad hoc-Votum des Publikums; das Stück enthält dementsprechend zwei Schlussvarianten, Schuldspruch und Freispruch. Das Publikum wird an einer Stelle vom Richter gar direkt als „[m]eine Damen und Herren Schöffen“ angesprochen.9 Die vermeintlich klar definierte dramatische Kommunikationssituation wird dadurch auf spektakuläre Weise unterminiert, die Ebenen (Aufführung – Rezeption; Fiktion – Realität; innerfiktionale Figuren – außerfiktionales Publikum) verschwimmen. Mit der demonstrativen Illusionsdurchbrechung bei gleichzeitiger expliziter Integration des Publikums in den Fortgang und die Struktur des Textes rückt das ästhetische Moment in den Fokus, wird sogar innerhalb des wohldefinierten Kontexts – Theater, Aufführung, Dramentext usw. – zum entscheidenden Kriterium erklärt. Nicht mehr rationalRationalität-formalistische, rechtsphilosophische oder rein ethische Faktoren allein sind für die Frage nach der Menschenwürde entscheidend, sondern eben auch emotional-sinnlicheSinnlichkeit, mit denen der literarische Text bewusst operiert. Bestimmte dramaturgische Mittel – Kontrasteffekte,10 Details mit hoher affektiver Potenz,11 die Integration von Gegenpositionen, die den Zuschauer schockhaft-emotional ansprechen sollen,12 illusionsdurchbrechende Elemente – sorgen für jene Konkurrenz, Überlagerung und Vermengung unterschiedlicher Argumentationsebenen, die im literarischen Diskurs möglich, im juristischen hingegen ausgeschlossen sind.
Die Antwort auf die Frage nach der Menschenwürde ist in Terror keine philosophische, keine juristische, sondern eine genuin literarische: Die Literatur, in diesem Fall das Theater, eröffnet einen Raum, in dem ein hochkomplexes Thema mit eigenen Mitteln betrachtet wird – und in dem eine eigene, von anderen gesellschaftlichen Diskursen essentiell zu unterscheidende Antwort gegeben wird. Die Menschenwürde wird zu einem genuin ästhetischen Problem – und zu einem Gegenstand der Literaturwissenschaft.
Die Menschenwürde ist ein „Begriff der Irritation“.1 Wie bei kaum einem anderen Begriff trifft die Versuchung, ihm uneingeschränkte Allgemeingültigkeit zuzusprechen und ihn zur Maxime allen Handelns zu erklären, auf den Verdacht, dass er letztlich nichtssagend und allzu leicht zu instrumentalisieren ist, eine Leerformel,2 die bloß von ihrer Aura lebt. Die fast 2000 Jahre währende Auseinandersetzung mit der Menschenwürde – zunächst in Philosophie und Theologie, dann in der Rechtsphilosophie und dem (Verfassungs-)Recht, in den politischen und sozialen Wissenschaften, aktuell vor allem in der Angewandten Ethik, der Medizin- und Bioethik – hat (man möchte fast sagen: zwangsläufig) nicht zu einer abschließenden Klärung geführt. Nachdem man von der antiken Lehre der Stoa bis zur Aufklärung glaubte, die Quellen der Menschenwürde benennen und folglich sowohl ihre Erscheinungsformen als auch Verstöße gegen sie definieren zu können, lässt sich spätestens in den Schriften NietzschesNietzsche, Friedrich eine tiefgreifende Verunsicherung bis hin zur radikalen Negierung beobachten. Heute ist der Begriff geradezu notorisch unklar und umkämpft.
Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Menschenwürde, ganz gleich, in welcher Disziplin, kommt um einige grundlegende Vorbemerkungen kaum herum. Diese Topoi des Menschenwürdediskurses3 bedürfen einer kurzen, grundsätzlichen Einordnung.
1. Die eminente Bedeutung der Menschenwürde als „Bezugspunkt in der Normbegründung“ (Burkhard), als „Schlagwort der Gegenwart“ (Wetz) und „moderne Inklusionsformel“ (Lembcke), als „Sehnsuchtsbegriff“ (SchlinkSchlink, Bernhard) oder gar als Teil des kulturellen Gedächtnisses (Weitin)4 ist kaum zu leugnen und oft herausgestellt worden. Auf der tiefen Verankerung der Menschenwürde im Wertekanon besonders der deutschsprachigen Öffentlichkeit,5 aber auch auf ihrer Kodifizierung in grundlegenden Konventionen der internationalen Gemeinschaft, gründen ihre ungemeine Leuchtkraft, ihr charismatischer, expressiver, ja appellativer Charakter. Bisweilen wird ihr gar eine „universelle normative Geltungskraft“ attestiert.6 Als zutiefst normativ besetztes Ideal prägt sie auch aktuelle gesellschaftliche Debatten über Sterbehilfe, Pflege, Flüchtlingskrisen, humanitäre Katastrophen, Gleichberechtigung usw.
2. Dabei ist der „genuin philosophische[]“7 Begriff der Menschenwürde in mancherlei Hinsicht überdeterminiert. Es gibt nicht den einen Menschenwürdebegriff. Vielmehr ist das Lexem Menschenwürde extrem vieldeutig, da es sich auf ganz unterschiedliche historische wie zeitgenössische Menschenwürdebegriffe oder -konzepte beziehen kann. Die Begriffsgeschichte ist lang und gut erforscht; angesichts der Vielzahl von Publikationen unterschiedlicher Fachrichtungen wäre es vollkommen redundant, sie nachzeichnen zu wollen.8 Gleichwohl sollte man sich zumindest die immer wieder genannten ‚Protagonisten‘ des Menschenwürdediskurses vor Augen führen: Der Beginn der Begriffsgeschichte wird gemeinhin bei der antiken Stoa und CicerosCicero, Marcus Tulliusdignitas-Begriff9 gesetzt. Genannt werden anschließend meist Kirchenväter (besonders Augustin),10 die mittelalterliche Scholastik (Thomas von Aquin),11 die italienische Renaissance (Manetti, Ficino, PicoPico della Mirandola, Giovanni della Mirandola),12 die frühneuzeitlichen Naturrechtler (z.B. Pufendorf),13 die Aufklärer (allen voran KantKant, Immanuel),14der deutsche Idealismus (SchillerSchiller, Friedrich, Fichte, Hegel),15 kritische Stimmen im 19. Jahrhundert (SchopenhauerSchopenhauer, Arthur, NietzscheNietzsche, Friedrich),16 schließlich moderne und zeitgenössische Positionen (Bloch, ArendtArendt, Hannah, Margalit, Spaemann, Nussbaum).17 Spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts tritt die Menschenwürde dann zunehmend in den Fokus anderer Disziplinen: Recht, Politik, Ethik.
3. Der Verdacht, Menschenwürde sei eine bloße Leerformel, findet sich in polemischer Form und mit einer Spitze gegen KantKant, Immanuel bereits bei Arthur SchopenhauerSchopenhauer, Arthur. Dieser mokierte sich über den feierlich-prätentiösen Klang des Ausdrucks, der vom eigentlichen (und vermeintlich nebulösen) Inhalt ablenke.18 Ist die Menschenwürde tatsächlich eine Worthülse, die von ihrem Pathos und ihrer diffusen Vieldeutigkeit zehrt und somit „bloßer Sprachfetisch“ ist (Wetz),19 ergeben sich zwei weitere Risiken: die Gefahr einer Instrumentalisierung der Menschenwürde als „rhetorische Keule“ und „ideologische Waffe“ (Hoerster), die als „conversation stopper“ (Birnbacher) und „Totschlagargument“ (Schmidt-Jortzig) missbraucht werden, sowie, damit zusammenhängend, das Risiko, dass der Begriff der Menschenwürde in die Nähe des Tabus rückt und so Diskussion und kritische Reflexion eher verhindert als fördert.20
4. In Bezug auf Status und Funktionszusammenhang der Menschenwürde konkurrieren differierende Perspektiven, die jeweils eigene Akzentuierungen implizieren.
a) Ihren Stellenwert verdankt die Menschenwürde nicht zuletzt ihrem spektakulären Aufstieg zum juristischen, verfassungsrechtlichen Begriff im Laufe des 20. Jahrhunderts. Nachdem sie in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 erstmals in einem konstitutionellen Kontext erschien, freilich mit einer dezidiert sozialpolitischen Färbung,21 fand die Menschenwürde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eingang in erste europäische Verfassungen.22 Doch erst in Folge der entsetzlichen Verbrechen des Nationalsozialismus wurde sie zum „oberste[n] Konstitutionsprinzip allen objektiven Rechts“,23 exponiert kodifiziert in Verfassungen der deutschen Nachkriegs-Bundesländer, in den Präambeln der UN-Charta (1945) und der Allgemeinen Erklärung der MenschenrechteMenschenrechte (1948), schließlich 1949 in Art. 1 Abs. 1 des bundesrepublikanischen Grundgesetzes.24 Theodor Heuss, einer der Väter des Grundgesetzes, bestimmte die Menschenwürde als „nicht interpretierte These“, als Begriff mit „quasi-axiomatische[m] Charakter“ ohne weitere „Vorbestimmung“ (so O.W. Lembcke).25 Nicht nur die inhaltliche Präzisierung, sondern auch der genaue Status bleibt jedoch unter Juristen umstritten: Handelt es sich um einen Grundsatz, ein Grundrecht, ein Prinzip, eine Fundamentalnorm? Oder muss der „Doppelcharakter“ der Menschenwürde als Rechtsbegriff und Rechtsidee (Teifke), als „Konstitutionsprinzip und Verfassungsprinzip“ (Lembcke) betont werden?26 Ist die Menschenwürde „[p]ositiviertes überpositives Recht“, der „Grund der Grundrechte“, eine „ratio iuris“ (Isensee)?27 Zudem steht – wie in Ferdinand von SchirachsSchirach, Ferdinand vonTerror – die Frage nach der Absolutheit bzw. der Abwägbarkeit der Menschenwürde im Fokus der Debatte.28 Ist die Menschenwürde tatsächlich „unantastbar“, wie es Art. 1 Abs. 1GG postuliert? Und was genau heißt eigentlich „unantastbar“?
b) Eng mit der juristischen verwoben ist die politische Dimension der Menschenwürde. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts wird Menschenwürde zu einem Schlüsselbegriff sozialistischer Politik.29 Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stehen Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte in einem engen Begründungszusammenhang.30 Beide dienen zumindest in der Theorie als programmatische Leit- und Orientierungsnormen des innen- wie außenpolitischen Handelns.31 Fungiert die Menschenwürde in diesem Sinne als „politische Referenz“, dann öffnet sie sich den „Mechanismen der Macht“, muss mithin nicht mehr klar definiert sein, sondern vertraut auf ihren „appellativen“ Charakter und ihr Potential zur „Skandalisierung“.32 Das Risiko einer Instrumentalisierung – und somit einer unweigerlichen Relativierung – liegt auf der Hand.
c) Immanuel KantKant, Immanuel bestimmte die Menschenwürde als essentiell ethischen Begriff.33 Von dieser normativ-ethischen Dimension können sich weder juristische noch politische Sichtweisen lösen. Rasante naturwissenschaftliche und medizinische Entwicklungen der letzten Jahrzehnte – Stammzellenforschung, Humangenetik, Palliativmedizin – werfen heikle und komplexe Fragen nach der Trägerschaft und der Reichweite der Menschenwürde auf. Umstritten ist, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt einem Menschen Würde zukommt – und viel grundlegender, ab welchem und bis zu welchem Zeitpunkt ein Mensch ein Mensch ist. Zu klären ist zudem, ob Würde an das IndividuumIndividuum, die Person oder die menschliche Gattung gebunden ist.34 Trotz des Vorwurfs des Speziesismus bleibt Würde in der Regel ein anthropozentrisches Konzept; von einer „Würde der Kreatur“ zu sprechen, wie es die schweizerische Verfassung seit 1992 tut, hat sich weder in der Forschung noch in der internationalen (Rechts-)Praxis durchgesetzt.35
d) Im Begriff der Menschenwürde prallen der Ballast jahrhundertelanger Tradition, moderne Anforderungen an die rechtsstaatliche, pluralistische Demokratie und ein immer stärker naturalisiertes Weltbild aufeinander. Nicht nur können evolutionsgeschichtliche und neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Grundlagen der Menschenwürde36 und somit die Berechtigung des Begriffs an sich in Frage stellen.37 Deutet man Menschenwürde und MenschenrechteMenschenrechte ausschließlich als „Derivate“ der jüdisch-christlichen Tradition38 und somit als notwendig metaphysische Begriffe, die ohne metaphysische Absicherung undenkbar sind,39 wird ihre Aussagekraft in Diskursen säkularer Gesellschaften fraglich. Andererseits scheint der Menschenwürde der eigenartige Status eines zivilreligiösen „Glaubensartikel[s]“ zu eignen, der „transsäkulare[] Bedürfnisse“ anspricht und stillt.40 Demgegenüber steht ein Verständnis der Menschenwürde als primär praktisches oder pragmatisches Problem, das dem konkret-subjektiven Moment den klaren Vorrang vor systematischen theoretischen Bemühungen gibt.41
e) Mehrere Interpreten erklären das Eigentümliche der Menschenwürde, indem sie sie als „absolute Metapher“ im Sinne Hans Blumenbergs beschreiben.42 Diese Charakterisierung ist in zweifacher Hinsicht glücklich: Zum einen konzeptualisiert sie die schwer konkret fassbare begriffliche Polyvalenz der Menschenwürde und den Eindruck, dass sie intuitiv eben doch recht klar begreifbar ist.43 Zum anderen eröffnet der Gebrauch eines ursprünglich rhetorischen Begriffs („Metapher“) eine neue Diskussionsebene: Menschenwürde wäre demnach nicht nur streng positivistisch und logisch-rationalRationalität erfassbar, sondern eben auch ein „empfundener Begriff“ (Schreiber), den man erleben und erfahren kann.44 Zudem scheint gerade ein rhetorischer Gebrauch von Sprache zum Verständnis der Menschenwürde Entscheidendes beitragen zu können. Menschenwürde wäre somit ein ästhetischer Begriff in einem doppelten Sinne: ein Begriff, der eine auch sinnlichSinnlichkeit anschaubare Dimension besitzt, der überdies gerade in seiner künstlerischKunst, Künstler-sprachlichen Verhandlung und der dadurch beim Rezipienten provozierten Reflexion erst vollständig erfasst werden kann.45
f) Huizing beschreibt das Verhältnis zwischen Menschenwürde und KunstKunst, Künstler wie folgt:
[Ich] behaupte, daß ethische und rechtswissenschaftliche Untersuchungen zum Thema ‚Menschenwürde‘ darauf angewiesen sind, ästhetische Darstellungen aufzusuchen, um die eigene Sensibilität für Wahrnehmungen kritischer Situationen zu schulen, damit die ethische oder juristische Urteilsfähigkeit geschmeidig bleibt für die Aufnahme individueller Schicksale.46
Literatura ancilla theologiae, philosophiae et doctrinae juris? Die vorliegende Arbeit wird zeigen, dass Selbstverständnis, Funktion und Potential der Literatur essentiell über jene einer Hilfsdisziplin und eines bloßen Sensibilisierungsmediums hinausreichen, und genuin ästhetisch-literarische Dimensionen der Menschenwürde herausarbeiten.
Menschenwürde ist ein „offener Begriff ohne Randschärfe“; Versuche einer abschließenden inhaltlichen Definition müssen notwendigerweise scheitern.1 Soll sie als analytische Kategorie taugen, muss dennoch der „Sinnhorizont des Würdebegriffs“2 – mit seiner geistesgeschichtlichen Vorbelastung und seiner vermeintlichen Schwammigkeit – möglichst präzise abgesteckt werden. Diese systematische Annäherung erfolgt in drei Schritten, indem 1. konzeptuelle Differenzierungen vorgestellt, 2. grundlegende Begründungsmuster eingeführt und 3. Konkretisierungen der Menschenwürde anhand von Leitbegriffen und -vorstellungen genannt werden. Auf das eingeführte Vokabular wird im Laufe der Argumentation immer wieder Bezug genommen werden.
1. Die Literatur zur Menschenwürde unterscheidet zwei große Linien. Diese beiden übergeordneten Konzeptualisierungen stehen sich dichotomisch gegenüber, sind tendenziell den Kategorien der Realität auf der einen und der Idealität auf der anderen Seite zuzurechnen und erscheinen in unterschiedlichen terminologischen Akzentuierungen. Zu unterscheiden ist demnach zwischen einer Form der Würde, die dem Menschen als Menschen und ohne Vorbedingung eigen ist, und einem Würdeverständnis, das dem antiken dignitas-Begriff3 näher steht. Dies führt zu folgenden Dichotomien:
angeborene vs. erworbene Würde
inhärente / notwendige vs. kontingente Würde4
apriorische vs. aposteriorische Würde5
autonomische vs. heteronomische Würdebegriffe6
deskriptive vs. normative Würdebegriffe
Würde als abstraktes Wesensmerkmal vs. Würde als konkreter Gestaltungsauftrag7
Würde-Haben vs. Würde-Verdienen8
Würde als Moment des Menschseins vs. Würde als Moment der Sozialität des Menschen9
Würde als Eigenschaft oder Anrecht vs. Würde als Lebensform10.
Tendenziell ist Würde im ersten Fall eine unverlierbare, nicht abstufbare, absolute Qualität, im zweiten eine prekäre, graduierbare, die eingebüßt werden kann. Franz Josef Wetz betont, dass – aus begriffs- und kulturgeschichtlicher Perspektive – die beiden Pole nur selten in Reinform auftreten und sich meist verbinden: Würde also als angeborene Qualität, derer sich der Mensch würdig erweisen muss.11
Dietmar von der Pfordten schlägt eine Auffächerung in vier „(Teil-)Begriffe[] der Menschenwürde“ vor und unterscheidet eine große, eine kleine, eine mittlere und eine ökonomische Würde. Die große Menschenwürde bezeichnet eine „nichtkörperliche, innere, im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft des Menschen“, während die kleine Würde die „nichtkörperliche, äußere, veränderliche Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung und Leistung eines Menschen“ meint. Die mittlere Würde hingegen beschreibt die „äußere Eigenschaft der wesentlichen sozialen Stellung der Menschen“ bei gleichzeitiger Betonung der „natürliche[n] und damit im Prinzip unveränderliche[n] Gleichheit dieser sozialen Stellung aller Menschen“. Die ökonomische Würde fokussiert die ökonomischen Bedingungen der Menschenwürde.12
Um die vielfältigen Interpretationen der Menschenwürde zu kategorisieren, hat sich schließlich eine weitere Begriffsreihe etabliert. So unterscheidet man zwischen Leistungstheorien (oder Leistungskonzepten), die Würde an ein bestimmtes Verdienst knüpfen, Mitgift- oder Werttheorien, die Würde als eine dem Menschen verliehene oder inhärente Qualität definieren, Kommunikations- oder Anerkennungstheorien, denen zufolge Würde erst durch soziale Interaktion und Wahrnehmung entsteht, und (seltener) Bedürfnistheorien, die an konkrete Bedürfnisse des Menschen anknüpfen.13
2. Um zu erklären, worauf die Menschenwürde in concreto gründet, werden verschiedene Paradigmata ins Spiel gebracht. Wetz unterscheidet drei „Bilder“ der Menschenwürde: religiös-christliche, vernunftphilosophische und säkular-ethische.14 Ganz ähnlich argumentiert Schaber, der die drei Schlagworte VernunftVernunft, GottebenbildlichkeitGottebenbildlichkeit und FreiheitFreiheit anführt.15 Sorgner konzentriert sich auf vier paradigmatische Grundpositionen, die vier Begründungsstrategien entsprechen: die menschliche Vernunftfähigkeit in Verbindung mit der Zugehörigkeit zur Spezies Mensch (mit dem paradigmatischen Vertreter CiceroCicero, Marcus Tullius), die Gottebenbildlichkeit (Manetti), der freie WilleWille, freier Wille(PicoPico della Mirandola, Giovanni della Mirandola), schließlich die AutonomiefähigkeitAutonomie(KantKant, Immanuel).16 Schüttauf spricht von drei ideengeschichtlichen Hauptlinien, die er mit jeweils einem Adjektiv qualifiziert: Der Mensch besitzt entweder Würde, weil er gut, frei oder brüderlich ist.17
3. Wie auch immer die Menschenwürde letztlich begründet wird, findet sie ihre Konkretisierung in einer Vielzahl von Begriffs- und Erfahrungsfeldern, in „Momente[n] der Würde“,18 deren Bestimmung und Beschreibung selbst wiederum untrennbar zu bestimmten Menschenwürdekonzepten gehören. Diese ‚Leitbegriffe‘19 gilt es im Auge zu behalten, wenn nach Dimensionen der Menschenwürde in einem literarischen Text gefragt wird. Sie konstituieren das semantische Feld der Menschenwürde, dessen einzelne, bisweilen äußerst disparate Elemente im Sinne der Wittgensteinschen Familienähnlichkeit aufeinander bezogen bleiben.20
Der Mensch nimmt als EbenbildGottebenbildlichkeit Gottes und Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung) eine kosmische Sonderstellung ein; er ist durch seinen besonderen Rang dem TierTier, Vertierlichung, Theriomorphisierung wie auch der Natur an sich übergeordnet.
Der Mensch ist aufgrund seines absoluten Werts und seines moralischen Status im Sinne des KantschenKant, Immanuel Kategorischen Imperativs stets als Selbstzweck zu betrachten.
Den vernunftfähigen Menschen zeichnet seine Personalität aus; er ist autonomesAutonomie Subjekt seiner Handlungen.
Menschenwürde impliziert WillensWille, freier Wille- und Entscheidungsfreiheit; der Mensch besitzt ein Recht auf SelbstbestimmungSelbstbestimmung, SelbstverfügungSelbstverfügung und leibseelische Integrität.21
Die Menschenwürde verpflichtet die Menschen zu gegenseitiger AchtungAchtung und Anerkennung; diese manifestieren sich in Kommunikation und Interaktion. Nur so ist auch SelbstachtungSelbstachtung als Voraussetzung von VerantwortungVerantwortung und geistiger Integrität möglich. Achtung und Selbstachtung setzen zudem ein Recht auf Intimität und Privatsphäre voraus.
Menschenwürde ist ein universelles, egalitäres Konzept, das die Gleichheit aller menschlichen Wesen als Rechtssubjekte und Toleranz gegenüber allen menschlichen Wesen postuliert.
Jedes menschliche Leben ist in seiner Würde zu respektieren; jedem Menschen müssen zumindest minimale materielle Existenzgrundlagen zugestanden werden.
Demütigungen, Erniedrigungen und Instrumentalisierungen sind grobe Verstöße gegen die Menschenwürde. Die Bestimmung und Beschreibung von MenschenwürdeverletzungenMenschenwürdeverletzung sind ein hilfreicher Weg, um die Menschenwürde ex negativo zu konkretisieren.22
Diese thesenartigen Formulierungen sind nicht als Versatzstücke einer Definition intendiert; sie machen vielmehr den „Sinnhorizont“ der Menschenwürde sichtbar und sichern ihn als Grundlage für das weitere Vorgehen. Gleichzeitig wird die Gefahr eines inflationären Gebrauchs des Menschenwürdebegriffs offensichtlich; wenn er benutzt wird, müssen sein Gehalt, sein Status und sein Funktionszusammenhang stets präzise umrissen werden.
Die vorliegende Studie fragt nach den literarisch-ästhetischen Dimensionen und Implikationen des so wirkmächtigen wie unscharfen Begriffs der Menschenwürde. Sie stellt dem vielstimmigen Menschenwürdediskurs einen genuin literarischen zur Seite und bestimmt die Relevanz des Menschenwürdebegriffs für die Produktion, Rezeption und Interpretation von Literatur.
Aufgrund ihrer Vieldeutigkeit ist die Menschenwürde als analytische Kategorie für eine literaturwissenschaftliche Analyse prädestiniert; die Literatur hält Doppelbödigkeit, Ambiguität und das Fehlen endgültiger Lösungen nicht nur aus, sondern kalkuliert bewusst damit und entfaltet erst so ihre Sinnpotentiale. Die Literatur ist in dieser Sichtweise ein Medium, das gesellschaftliche und wissenschaftliche Diskurse aufnimmt und spiegelt, aber – und darauf kommt es an – auch eigene Lösungen anbietet.
Eine Untersuchung, die diachron literarische Dimensionen der Menschenwürde nachvollziehen will, steht vor zwei grundsätzlichen Schwierigkeiten: Zum einen ist der Begriff keineswegs scharf umrissen, sondern sowohl umstritten als auch historisch einem ständigen Wandel unterworfen. An das Textkorpus mit einem engen oder einem bestimmten historischen Verständnis der Menschenwürde (etwa PicosPico della Mirandola, Giovanni oder KantsKant, Immanuel) heranzutreten und dessen literarische Rezeption zu rekonstruieren, wäre zweifellos erkenntnisreich, würde aber stets nur eine bestimmte Dimension der Menschenwürde erfassen. Ebenso wenig führt eine positivistische Suche nach bestimmten Lexemen – ‚(Menschen-)Würde‘, ‚würdig‘, ‚unwürdig‘ usw. – an der Textoberfläche zum Ziel,1 auch wenn solche Belegstellen, falls es sie gibt, einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Den Analysen liegt vielmehr ein abstrakter, inhaltsoffener Menschenwürdebegriff zugrunde, der der oben umrissenen Vieldeutigkeit des Konzepts Rechnung trägt. So können unterschiedliche Aktualisierungen, Perspektivierungen und Konzeptualisierungen der Menschenwürde sowie historische Entwicklungen in ihrer literarischen Verhandlung und ästhetischen Vermittlung erfasst werden.2 Intendiert ist ein analytischer Balanceakt: Die Begriffsgeschichte und Problematisierungen durch die Forschung werden zur Kenntnis genommen, gleichzeitig und vor allem aber soll die Literatur ‚unbefangen‘ zu Wort kommen.
Das Korpus der zu untersuchenden Texte ist bewusst breit und heterogen, d.h. gattungs- und epochenübergreifend angelegt. Die literarischen Texte werden in manchen Kapiteln von poetologischen oder anderen theoretischen Schriften flankiert, um die Wechselwirkungen zwischen programmatischen Positionierungen und literarischer Produktion beobachten zu können. Gelegentliche Exkurse und Seitenblicke, etwa auf die Philosophie SchopenhauersSchopenhauer, Arthur und NietzschesNietzsche, Friedrich oder die Flugblätter der Weißen RoseWeiße Rose, Die, sollen den literarischen Diskurs kontextualisieren. Angestrebt wurde eine Mischung aus kanonischen und eher weniger beachteten Texten, und dies mit der doppelten Absicht, sowohl zu neuen Perspektiven auf stark rezipierte Werke zu gelangen als auch zu zeigen, dass die Menschenwürde abseits des Kanons ein zentrales literarisches Thema ist. Ausdrücklich sollen exemplarische Analysen vorgelegt werden; das vollständige Abdecken aller literarischen Epochen und Strömungen seit der Renaissance ist weder intendiert noch im vorliegenden Rahmen realisierbar. Dass der Frühaufklärer GottschedGottsched, Johann Christoph am Anfang steht, ist nicht zuletzt mit dem SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein, mit dem er den Neuanfang eines dezidiert deutschen Theaters proklamiert, zu begründen. Dabei steht außer Frage, dass auch eine Beschäftigung mit der frühneuzeitlichen Literatur – etwa mit rhetorischen Delegitimationsstrategien in Flugblättern und -schriften, mit grobianischer Literatur oder Märtyrerdramen – im Hinblick auf die Menschenwürde überaus fruchtbar wäre.
Die einzelnen Kapitel der Arbeit zeichnen paradigmatische Stationen des literarischen Menschenwürdediskurses bis in die Gegenwart nach. Anhand der ausgewählten Texte lassen sich bestimmte literarische Dimensionen der Menschenwürde mit besonderer Anschaulichkeit exemplifizieren. Die Kapitel sind als in sich abgeschlossene Analysen intendiert. Um die Fruchtbarkeit der Analysekategorie Menschenwürde zu illustrieren, stehen ausführliche Detailanalysen einzelner Werke neben tendenziell summarischen und vergleichend konzipierten Untersuchungen mehrerer Texte. Am Ende der Arbeit bündelt eine Zusammenschau die Ergebnisse thesenhaft. Dass dabei literaturhistorische Lücken entstehen – so fehlen etwa eingehende Analysen zur Literatur der Romantik, des Realismus und der Wiener Moderne, zu GoetheGoethe, Johann Wolfgang, Kleist, Thomas MannMann, Thomas, zur Post-DDR-Literatur –, ist zu beklagen, soll aber auch ein Anknüpfungspunkt für weitergehende Studien sein.
Ausgangspunkt für die Analyse des Korpus sind grundlegende Fragen: Wie verhält sich ein bestimmter Text – sei es ein poetologischer oder ein literarischer – zur Vorstellung einer besonderen Würde des Menschen? Wird diese vorausgesetzt, problematisiert, verworfen oder mit literarischen Mitteln inszeniert bzw. wiederhergestellt? Methodisch orientiert sich die Untersuchung an einem doppelten Leitfaden: Zunächst stützt sie sich auf die genaue und eingehende Arbeit am einzelnen Text, auf die präzise Beschreibung bestimmter literarischer Verfahrensweisen oder Mechanismen, um den genuin literarischen Umgang mit für den Fragehorizont einschlägigen Konzepten zu eruieren und deren sprachlich-rhetorische Verarbeitung aufzuzeigen. Dieser bewusste Verzicht auf komplexe theoretische Voraussetzungen und Zugänge lenkt den Fokus auf den eigentlichen Gegenstand literaturwissenschaftlicher Arbeit: den literarischen Text, der in seiner Konstruiertheit und in seinem Kunstcharakter ernstgenommen wird. Im Vordergrund steht die Frage, was die Literatur zum Menschenwürdediskurs beiträgt, worin genau ihre Leistung liegt. Daneben ermöglicht der Blick auf den geistes- und literaturgeschichtlichen Kontext, die spezifische Qualität eines Textes und damit seinen speziellen Beitrag zum Menschenwürdediskurs genauer zu fassen. Stets gilt jedoch das Hauptinteresse der Menschenwürde als literarisch-ästhetischem Problem und nicht vorrangig als inhaltlichem, stoff- oder geistesgeschichtlichem.
Ultimatives Erkenntnisziel dieser Studie ist keine Sammlung von Textstellen zur Menschenwürde, auch keine Begründung oder Definition der Menschenwürde, sondern eine Zusammenstellung von Thesen zum Verhältnis von Menschenwürde und Literatur, zur Bedeutung der Menschenwürde für die Literatur und vice versa – Umrisse einer Ästhetik der Menschenwürde, d.h. der Mittel und Funktionen ihrer literarischen Inszenierung.
Bevor die eigentliche literaturwissenschaftliche Analyse beginnen kann, sind einige terminologische und begriffliche Reflexionen geboten. Die Lexeme ‚Würde‘ und ‚Menschenwürde‘ wurden bislang synonym gebraucht; in unterschiedlichen Fachdiskursen werden, um das Konzept eines absoluten inneren menschlichen Werts zu bezeichnen, sowohl diese beiden Substantive als auch die Genitivphrase ‚Würde des Menschen‘ verwendet. Die folgenden semantischen Präzisierungen gelten zunächst dem Paar Würde/Menschenwürde, sodann dem Kompositum und der Phrase, schließlich zwei von der Forschung herausgestellten Paradoxa.
Tiedemann deutet das Kompositum ‚Menschenwürde‘ als „metasprachlichen Namen“ für den Satz: „Dem Menschen kommt Würde zu.“1 Dieser impliziert zwei Fragen, und zwar jene, was der Mensch, und jene, was Würde ist. Letztere ist an dieser Stelle von Belang: Würde (ahd. wirda, wirdî, werdî; mhd. wirde, werde) ist das Abstraktum zum Adjektiv ‚wert‘.2 Würde kommt also zunächst und ganz allgemein jemandem zu, der einen Wert besitzt. Der heutige Sprachgebrauch, so Tiedemann, unterscheidet drei Nuancen des Lexems ‚Würde‘: Würde „im Sinne von Rang, Status, Amt, Dienstgrad oder Titel“, Würde „als Wertprädikat“ in Bezug auf ein Verhalten oder eine Handlung, schließlich Würde als innerer Wert, der auf eine Gleichrangigkeit ihrer Träger abzielt.3 In den ersten beiden Fällen ist Würde kontingent, mit hierarchischen Implikationen. Die dritte Facette ist jene, die im Determinativkompositum ‚Menschenwürde‘ zum Tragen kommt: Diese innere Würde wird als eine spezifisch ‚menschliche‘, ‚dem Menschen eigene‘ gekennzeichnet; der Mensch ist also Träger dieser Würde. Ein Blick auf die lexikographische Geschichte des Kompositums bestätigt dies. Zum ersten Mal erscheint es als Lexem 1809 bei Campe: „Menschenwürde“ wird dort definiert als „die Würde des Menschen als eines vernünftigen über alle Erdgeschöpfe erhabenen Wesens; besonders die sittliche Würde des Menschen“.4 Das Grimmsche Wörterbuch erläutert knapp: „sittliche und geistige würde des menschen“.5 Der Duden schließlich verbucht ganz ähnlich: „geistig-sittliche Würde des Menschen“.6 Alle drei genannten Wörterbücher lösen demnach das Kompositum als Genitivphrase mit erklärendem, deutendem Zusatz auf – wohl nicht zuletzt, um deutlich zu machen, dass eben nicht eine kontingente, sozial konnotierte Form der Würde, sondern eine dem Menschsein innewohnende gemeint ist. Gleichwohl ist festzuhalten, dass alle drei Bedeutungen der Würde zur Begriffsgeschichte der Menschenwürde gehören – kaum eine Darstellung verzichtet darauf, kontingente Formen der Würde zu diskutieren, und sei es nur als Mittel der Abgrenzung. In der vorliegenden Untersuchung wird stets klar sein, welche Art der Würde gerade thematisiert wird: Ist es eine kontingente Form, wird dies explizit herausgestellt, dient ‚Würde‘ als Synonym für ‚Menschenwürde‘, wird der Kontext dies zweifelsfrei erkennen lassen.
Die in den Wörterbüchern – wie ja auch in Art. 1GG – benutzte Genitivphrase verweist jedoch auf ein weiteres Problem: Besteht ein semantischer Unterschied zum Kompositum? In wissenschaftlichen Untersuchungen, Verfassungstexten und Urteilen des Bundesverfassungsgerichts werden ‚Menschenwürde‘ und ‚Würde‘ (mit oder ohne Genitivattribut ‚des Menschen‘) gemeinhin als quasi-austauschbare Ausdrücke verwendet.7 Dabei sind die zwei Formulierungen keineswegs identisch – nur kann rein linguistisch und ohne Berücksichtigung des Kontexts nur schwer scharf differenziert werden.8 Dennoch kann man sich versuchsweise annähern: Die Genitivphrase, wenn auch nicht so griffig wie das Kompositum, scheint sich aufgrund ihrer deiktischen Qualität (‚des Menschen‘) durch eine größere Emphase auszuzeichnen. Kritisch könnte man allerdings fragen, ob sie nicht durch ihre Bestimmtheit bereits ein philosophisches Programm impliziert – der Mensch etwa als intelligibles Wesen im Sinne KantsKant, Immanuel – oder normative Konnotationen zulässt. Das Determinativkompositum hat demgegenüber nicht mehr dieselbe semiotische Identität und semantische Klarheit wie die Genitivphrase. Es wirkt wie eine Art Verallgemeinerung der Aussage; nominale Komposita haben eine Tendenz zur Wechselbezüglichkeit und zu perspektivischen Verschiebungen, da die semantische Beziehung zwischen Determinans und Determinatum relativ offen ist.9 So könnte ‚Menschenwürde‘ theoretisch nicht nur die Würde des Menschen, sondern auch eines Menschen, der Menschen oder aller Menschen bedeuten. Der Schritt zu einer Formulierung wie ‚die Würde der Menschheit‘, v.a. im 18. Jahrhundert durchaus geläufig, ist nicht weit. Die Genitivphrase betont demnach eher den einzelnen Menschen als Träger der Würde, möglicherweise mit besonderem Akzent auf dem jeweiligen ideengeschichtlichen Hintergrund und dem damit verbundenen Menschenbild; das Kompositum konzipiert Würde eher als eine dem Menschen an sich eignende, egalitäre Qualität. Kurz: Eine Differenz ist durchaus theoretisch beschreibbar und kontextabhängig relevant; für das weitere Vorgehen dürfte sie allerdings kaum von analytischer Virulenz sein.
Das Nachdenken über die Menschenwürde lässt bisweilen Paradoxa hervortreten. So beschreibt Franz Josef Wetz das Paradox der Unantastbarkeit der Menschenwürde: Das „Dogma der Unantastbarkeit“10 des deutschen Grundgesetzes lässt sich sprachlich auf zweifache Art deuten – deskriptiv (die Würde des Menschen kann nicht angetastet werden) und normativ (die Würde des Menschen soll/darf nicht angetastet werden). Dies lässt sich, so Wetz, auf die doppelte Konzeptualisierung der Menschenwürde als unzerstörbares menschliches Wesensmerkmal sowie als AchtungAchtung und Schutz verlangenden Gestaltungsauftrag zurückführen.11 Ein Blick auf die alltägliche Realität – nicht nur in Krisengebieten, sondern auch in vermeintlich friedlichen Gesellschaften – führt zudem schmerzhaft vor Augen, dass die als unantastbar geltende Menschenwürde laufend ‚angetastet‘ wird. Wetz führt aus:
Wenn auch die Würde des Menschen unzerstörbar ist, so kann sie offenbar doch verletzt werden, und aus diesem Grund heraus bleibt sie auf staatlichen Schutz angewiesen. Vielleicht darf man sagen: Nur weil die Würde verletzlich ist, wurde sie als unverletzlich normiert […].12
Ralf Stoecker weist in seiner Auseinandersetzung mit Avishai Margalit auf das „Paradox der EntwürdigungEntwürdigung“ hin.13 Im spezifischen Kontext des Würdebegriffs Margalits, der eng mit dem Begriff der SelbstachtungSelbstachtung zusammenhängt, meint dieses Paradox folgendes: „[E]s wirkt paradox anzunehmen, dass eine Behandlung durch andere unsere eigene Selbstachtung beschädigen können sollte.“14 Anders formuliert: Es ist fraglich, wie im Hinblick auf einen entwürdigenden Vorgang die objektive von der subjektiven Ebene klar zu trennen ist, ob eine Entwürdigung überhaupt objektiv bestimmt werden kann oder stets eine Beschreibung vom subjektiven Standpunkt des vermeintlich Entwürdigten notwendig ist.
Wilfried Härle veranlassen ähnliche Überlegungen zu sprachlichen Betrachtungen. Er versteht Menschenwürde als „Anrecht auf AchtungAchtung als Mensch“.15 Dieses Anrecht ist tatsächlich unantastbar; insofern ergibt es wenig Sinn, von ‚EntwürdigungEntwürdigung‘, ‚WürdeverlustWürdelosigkeit‘, ‚WürdeverletzungMenschenwürdeverletzung‘, dem ‚Wiedergewinnen‘ von Würde o.Ä. zu sprechen. All dies würde implizieren, dass die Menschenwürde angetastet werden kann. Stattdessen kann laut Härle nur davon gesprochen werden, dass die Würde ‚missachtet‘ oder ‚abgesprochen‘ wird oder dass etwas mit der Menschenwürde ‚unvereinbar‘ ist:
Mit solchen Formulierungen bewegt man sich auf der zutreffenden sprachlichen Ebene, auf der es nicht um das Antasten des Anrechts auf AchtungAchtung des Menschseins geht, sondern ‚nur‘ um die (Miss-)Achtung dieses Anrechts.16
Nun sind solche Überlegungen maßgeblich von ihrem historischen Kontext beeinflusst; im gegenwärtigen Diskurs ist die Menschenwürde kaum noch isoliert von ihrer nationalen wie internationalen verfassungs- und völkerrechtlichen Relevanz und den damit verbundenen Begrifflichkeiten betrachtbar. Der literarische Diskurs ist demgegenüber viel weniger festgelegt; für jeden zu untersuchenden Text wird zu fragen sein, ob er die Menschenwürde als unantastbar, verlierbar, verletzbar oder gänzlich zerstörbar konzeptualisiert und wie er dies dann literarisch inszeniert. Die Analyse kann deshalb nicht darauf verzichten, ggf. von ‚EntwürdigungEntwürdigung‘ – hier und im Folgenden verstanden als Prozess des Angriffs auf oder des Absprechens von Würde – oder von ‚WürdelosigkeitWürdelosigkeit‘ – verstanden als Zustand der Abwesenheit oder des Verlusts von Würde – zu sprechen.
Das ausgeprägte multidisziplinäre Interesse am Begriff der Menschenwürde hat in den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren eine erstaunliche Anzahl an Monographien, Sammelbänden und Aufsätzen hervorgebracht. Literaturwissenschaftliche Perspektiven nehmen hier jedoch nur einen marginalen Platz ein. So erscheint etwa im Wörterbuch der Würde lediglich ein Artikel zu SchillerSchiller, Friedrich1 – ein Indiz für das mangelnde Bewusstsein eines genuin literarischen Menschenwürdediskurses. Eine systematische Untersuchung der literarischen Dimensionen der Menschenwürde liegt noch nicht vor, auch wenn es nicht an Ansätzen fehlt. In der Tat lassen sich unterschiedliche Typen der Auseinandersetzung mit dem Komplex ‚Menschenwürde und Schöne Literatur‘ ausmachen.
1. Hans-Joachim Simm und Franz Josef Wetz haben jeweils eine Anthologie mit Texten zum Thema Menschenwürde herausgegeben. Simm bietet eine Art Florilegium, das zeigen will, „was Theologen, Philosophen, Juristen und Dichter […] zu verschiedenen Zeiten unter Würde verstanden haben“.2 Wetzʼ Textsammlung versteht sich als „Überblick über die religiöse, philosophische, politische und rechtliche Entwicklung der Würdeidee von der Antike bis in die unmittelbare Gegenwart“.3 Dass die Dichter nicht einmal eigens erwähnt werden, obwohl doch Texte von Petrarca, ShakespeareShakespeare, William, SchillerSchiller, Friedrich, Gorki und Thomas MannMann, Thomas zitiert werden, ist bezeichnend: Die Literatur wird eher als Spiegel- und Illustrationsmedium denn als eigener Diskurs mit eigenen Mitteln und Aussagen wahrgenommen.
2. Einige monographische Darstellungen, besonders solche, die sich nicht an ein Fach-, sondern an ein größeres Publikum richten, bedienen sich literarischer Verweise, um ihre Ausführungen zu illustrieren. Peter Bieri etwa entwickelt seine Vorstellung von Würde als einer „Art zu leben“ anhand ausführlich beschriebener literarischer (und filmischer) Szenen.4 Bisweilen werden auch isolierte Zitate aus literarischen Werken als Argumentationshilfe oder als rhetorischer Schmuck funktionalisiert.5 In solchen Fällen steht primär der Inhalt des literarischen Textes, die reine ‚Aussage‘, und nicht die untrennbare Verzahnung von Mitteilung und formaler Gestaltung im Fokus.
3. Eine ganze Reihe von Literaten wurde in unterschiedlichen Kontexten mit dem Prädikat ‚Dichter der Menschenwürde‘ oder ähnlichen Formulierungen belegt. So wurde etwa Friedrich SchillerSchiller, Friedrich „Kämpfer für Menschenwürde und FreiheitFreiheit“ genannt, Friedrich Hebbel als Dichter der „verletzte[n] Menschenwürde“ charakterisiert; ein Ausstellungskatalog zu Leben und Werk Ludwig Börnes trägt den Untertitel „Freiheit, Recht und Menschenwürde“, Joseph Roth wurde attestiert, er schreibe von der „Würde des Unscheinbaren“, Siegfried Lenz von der „Würde der Verlierer“.6 Solche Auszeichnungen, aus inhaltlichen Gründen zweifellos berechtigt, sind auch der Versuch einer besonderen ‚Würdigung‘ eines Autors durch den auratischen Begriff der Würde.
4. Literaturwissenschaftliche Beiträge, die die Menschenwürde thematisieren, tun dies mit unterschiedlicher Intensität und verschiedenartigem Anspruch. Bisweilen wird der Begriff prominent in Interpretationen verwendet, ohne dass er jedoch als zentrale analytische Kategorie dient und ohne dass er auf seine spezifisch literarischen Dimensionen hin befragt wird – sein Stellenwert bleibt so eher punktuell.7 Größere Aufmerksamkeit wurde der Menschenwürde im Zusammenhang mit der Literarisierung des Sterbens und des Todes gewidmet. Walter Jens beschreibt schlaglichtartig „[d]ie Literatur über Würde und WürdelosigkeitWürdelosigkeit des Sterbens“.8 Helmuth Kiesel und Christine Steinhoff untersuchen in überblicksartigen Beiträgen, wie die deutschsprachige Literatur in unterschiedlichen Epochen das würdevolle bzw. würdelose Sterben imaginiert und welche Konsequenzen sich daraus für die literarische Darstellung ergeben.9 Karin Tebben beschreibt den SuizidSuizid als paradigmatisches Motiv des literarischen Menschenwürdediskurses und stellt fest:
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wird in der Literatur kein aktiver Beitrag zum rechten Verständnis menschlicher Würde geliefert, sondern ein implizit-passiver: den literarischen Figuren ist die Würde genommen; sie sind Verzweifelte, die die Last des Weiterlebens nicht mehr ertragen können.10
Die Grundthese, dass die nachklassische bzw. nachromantische Literatur die Vorstellung der Menschenwürde nur noch ex negativo aufruft, wird im Folgenden zu prüfen sein.
Eine genuin ästhetische Dimension der Menschenwürde bestimmt Gilbert D. Chaitin in seinem Beitrag über die innovative, ja revolutionäre Qualität des style indirect libre in Émile Zolas LʼAssommoir (1877). Indem Zola nicht nur aus der Innensicht des Proletariats erzähle, sondern auch dessen Sprache in den discours (Genette) aufnehme, verleihe er gerade den in prekären Verhältnissen lebenden Figuren jene für eine demokratische GesellschaftGesellschaft unerlässliche Menschenwürde.11
Daneben stellen einige Interpreten den Begriff der Menschenwürde durchaus ins Zentrum ihrer Auseinandersetzung mit einem einzelnen oder dem Gesamtwerk eines Dichters. Heinz Müller-Dietz untersucht das Werk Georg BüchnersBüchner, Georg aus der Perspektive der naturrechtlichen Menschenwürdevorstellung.12 Udo Ebert – wie Müller-Dietz bezeichnenderweise Rechtswissenschaftler – hat eine Darstellung der unterschiedlichen Facetten der Menschenwürde bei SchillerSchiller, Friedrich vorgelegt, deren methodische Grundvoraussetzung sich mit jener der vorliegenden Studie deckt: Seinen Ausführungen liegt ein abstrakter, inhaltsoffener Würdebegriff zugrunde, dessen Konkretisierungen und Nuancierungen in verschiedenen Schriften Schillers nachvollzogen werden.13 Als Schlüsselbegriff einer eingehenden Faust-Deutung dient die Menschenwürde Thomas Weitin. Er beschreibt GoethesGoethe, Johann Wolfgang Drama als „Gründungstext[], der für die Selbstbehauptung der Menschenwürde am Beginn der normativen Moderne ausschlaggebend ist“, und zeigt, „wie die Menschenwürde ihre universelle normative Geltungskraft aus der Übertragungsleistung einer absoluten Metapher gewinnt“. Weitin betont auch die darstellungsästhetischen Implikationen der Menschenwürde, die im Faust „als etwas [inszeniert werde], das sich der repräsentativen Verkörperung durch eine dramatische Person entzieht“.14
Weniger auf konkrete literarische Verfahrensweisen als auf Status und Potential der Literatur fokussieren sich zwei Ansätze aus der amerikanischen Literaturwissenschaft. Joseph R. Slaughter konstatiert eine „narratologische Allianz“ zwischen dem Bildungsroman der deutschen Klassik und dem internationalen Menschenrechtsdiskurs:15 „Human rights and the Bildungsroman are mutually enabling fictions: each projects an image of the human personality that ratifies the otherʼs vision of the ideal relations between individual and society.“16 Als ‚demarginalisierende‘ Gattung stelle der Bildungsroman ein „kulturelles Surrogat“ dar, das den Glauben an Menschenwürde, MenschenrechteMenschenrechte und deren Allgemeingültigkeit fördert – jenseits rein juristischer Erwägungen, sondern im Prozess der Rezeption und der Diskussion des literarischen Texts.17 In eine ähnliche Richtung geht Elizabeth S. Anker in ihrer Studie Fictions of Dignity, jedoch unter anderen methodologischen Vorzeichen. Ihre dezidiert postkoloniale Herangehensweise ist der Phänomenologie Merleau-Pontys verpflichtet und hinterfragt den „widersprüchlichen Status des KörpersKörper“ im Menschenrechtsdiskurs.18 Anker beklagt, dass liberale Menschenrechtsvorstellungen auf der doppelten Fiktion menschlicher Würde und körperlicher Integrität beruhen, das IndividuumIndividuum hier also quasi körperlos gedacht und die Vorstellung eines „Embodiment“ menschlichen Bewusstseins und Erlebens vernachlässigt wird.19 Ihre Interpretation vierer postkolonialer Romane20 versteht Anker als „embodied politics of reading“; indem sie zeigt, wie literarische Texte ästhetisch das Bewusstsein der körperlichen Verfasstheit des Menschen wiederherstellen, will Anker die vermeintlich vorherrschende Menschenwürdevorstellung, die untrennbar an die körperliche Integrität des Einzelnen geknüpft ist, korrigieren.21
Im Hinblick auf den Anspruch der vorliegenden Arbeit erscheinen diese beiden Positionen ambivalent: Einerseits gehen sie zu Recht davon aus, dass es einen genuin literarischen Menschenwürde- bzw. Menschenrechtsdiskurs gibt und dass dieser als solcher ernst genommen werden muss. Andererseits betrachten sie die Literatur dann doch vor allen Dingen als Korrektur- oder Sensibilisierungsinstanz und beschreiben ihre Funktion für sowie ihren Einfluss auf außerliterarische Diskurse. Gegenüber der präzisen Beschreibung ästhetischer Verfahrensweisen und literarischer Inszenierungen der Menschenwürde tritt das mentalitäts- und bewusstseinsbildende Potential der Literatur in den Vordergrund.22
Paul Michael Lützeler schließlich hat eine Studie vorgelegt, die anhand deutschsprachiger Gegenwartsromane, die sich mit internationalen Bürgerkriegssituationen auseinandersetzen, das Verhältnis von Literatur und einem „Menschenrechtsethos, das auf dem Schutz der Menschenwürde basiert“, untersucht.23 Bei der Analyse dieser Texte, die „Menschenrechtsverletzungen in den Mittelpunk ihrer Darstellungen [rücken]“, greift Lützeler auf ein „Zusammenspiel von Textlektüre, theoretischer Bemühung und historischer Rekonstruktion“ zurück. Er liest die untersuchten Romane als „Teil eines aktuellen Menschenrechtsdiskurses“, an dem Schriftsteller mit ihren eigenen Mitteln, die sich von jenen anderer Disziplinen wesenhaft unterscheiden, partizipieren. Lützeler betont zudem den „ästhetischen Mehrwert“ des literarischen Texts24 – und wählt somit ein Vorgehen, das dem in der vorliegenden Arbeit vorgeschlagenen nahe kommt.
5. Von rein rechtlicher Relevanz ist die Menschenwürde, wenn die Literatur ins Zentrum juristischer Auseinandersetzungen rückt. Das prominenteste Beispiel der letzten Jahre ist Maxim Billers autobiographisch gefärbter Roman Esra (2003), dessen Verbot 2007 vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde, da es Intimsphäre und Persönlichkeitsrechte der ehemaligen Lebensgefährtin des Autors, die im Roman als titelgebende Figur auftritt, verletzt sah. Konkret konfligierten in diesem Fall die Freiheit der KunstKunst, Künstler (Art. 5 Abs. 3GG), das absolute Menschenwürdepostulat (Art. 1GG) und das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2GG).25
6. Gerade wenn den Textanalysen ein inhaltsoffener Menschenwürdebegriff zugrunde gelegt wird, ist die Nähe zu verwandten Fragestellungen groß, etwa zu Fragen nach den Begriffen der HumanitätHumanität oder des Subjekts, nach dem Status des IndividuumsIndividuum und bestimmter Menschenbilder, nach der Literarisierung und der Legitimität von GewaltGewalt, HässlichkeitHässliche und ObszönitätObszönität, nach dem Verhältnis von Literatur und Recht, nach pornographischen oder grobianischen Motiven, nach dem in der KunstKunst, Künstler Erlaubten.26 Umso nachdrücklicher müssen im Folgenden textuelle Befunde auf den Begriff der Würde fokussiert und auf ihren spezifischen Beitrag zum Menschenwürdediskurs hin befragt werden.
Im deutschsprachigen literarischen Menschenwürdediskurs nimmt der Frühaufklärer und Literaturreformer Johann Christoph GottschedGottsched, Johann Christoph eine Schwellenposition ein. Auf der einen Seite bestimmt er mit einer für den RationalismusRationalismus der Frühaufklärung typischen Systematik die Funktion der Dichtkunst gerade auch im Hinblick auf den Menschen, sein Wesen und seine moralische Disposition. Auf der anderen Seite ist der Begriff der Menschenwürde zwar zentral für sein Verständnis von Literatur und für die Interpretation seiner ‚Mustertragödie‘ Sterbender Cato; die intensive theoretische Fundierung und die explizite programmatische Bedeutung, die die Menschenwürde bei KantKant, Immanuel bzw. bei SchillerSchiller, Friedrich erlangt, ist bei Gottsched jedoch lediglich in Ansätzen nachweisbar. Zudem unterscheidet sich das frühaufklärerische Würdeverständnis noch wesentlich von Kants Begriff einer genuin inhärenten Menschenwürde.
In den drei Leipziger „Akademische[n] Rede[n], zur Vertheidigung GottesGott und des menschlichen Geschlechts“ (1730),1 die zeitlich dem Erscheinen der Critischen Dichtkunst (1730) sowie der Arbeit am Sterbenden Cato (1732) nahe stehen, entfaltet GottschedGottsched, Johann Christoph mit hohem rhetorischen Aufwand und großem rednerischen Pathos seine Sicht auf Status, Wesen und Würde des Menschen – auch wenn er die Vokabel ‚(Menschen-)Würde‘ nicht explizit benutzt.
Der Menschenwürdebegriff dieser Reden ist eklektisch. Den besonderen Status des Menschen macht der Theologe GottschedGottsched, Johann Christoph nicht überraschend zunächst am göttlichen SchöpfungsaktSchöpfung fest (AWIX/2, 454). Doch nicht nur als GottesGott Geschöpf ist der Mensch ausgezeichnet; GottGott hat ihn vielmehr zur ‚Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung)‘ auserkoren. Die Menschen sind „die Meisterstuͤcke der goͤttlichen Weisheit, Macht und Guͤte“ (AWIX/2, 418), die „Gott zum Fuͤrsten aller uͤbrigen [Geschöpfe] bestimmet, und de[nen] zum Besten er alles uͤbrige so wunderwuͤrdig eingerichtet und angeordnet hat“ (AWIX/2, 420–421). Zwar ist der Mensch auch nur eines „unter den uͤbrigen Thieren“ (AWIX/2, 421), er besitzt aber, gleichsam ein zweiter Schöpfer – wohl in Anlehnung an den Renaissance-Philosophen PicoPico della Mirandola, Giovanni della Mirandola –, die Fähigkeit, mit seiner Umwelt schöpferisch, gestaltend und unterwerfend umzugehen.2 Schließlich beruft sich Gottsched auf die klassische biblische Menschenwürdedefinition; der Mensch sei „die kleine Gottheit auf Erden, das EbenbildGottebenbildlichkeit des allerhoͤchsten Wesens“ (AWIX/2, 425).
Neben diesem christlichen Begründungsmuster steht das für den RationalismusRationalismus der frühen Aufklärung typische vernunftphilosophische:
Die VernunftVernunft, meine Herren, bloß die Vernunft ist dasjenige, was den Menschen zum Koͤnige aller andern Thiere gemachet hat. Die Vernunft ist das Werkzeug, wodurch er alle seine erstaunlichen Thaten tut. (AWIX/2, 422)3
Allerdings assoziiert GottschedGottsched, Johann Christoph mit der Vernunftbegabung des Menschen keine unverlierbare, allen Menschen gleichermaßen eignende inhärente Würde. Das belegen drei Sachverhalte. Erstens wird mit Verweis auf die VernunftVernunft gerade auch die kontingente soziale, auf der gesellschaftlichen Hierarchie beruhende Würde legitimiert:
[Die VernunftVernunft] unterwirft die Knechte ihren Herrschaften, zu Befoͤrderung ihres beyderseitigen Wohls […]. Selbst Republiken, Fuͤrstenthuͤmer, Koͤnigreiche und Kaiserthuͤmer sind bloß ihr Werk. (AWIX/2, 422–423)
Zweitens wird die Vernunftbegabung allein keineswegs als Grund für einen bereits a priori eingeräumten Sonderstatus gedeutet. „[W]ilde[] Menschen“, die außerhalb der menschlichen Zivilisation aufwachsen und ihre VernunftVernunft nicht durch den Umgang mit verständigen Menschen schulen, bezeichnet GottschedGottsched, Johann Christoph als „Bestien“ (AWIX/2, 434). Eindeutig ist die Erlangung von Würde also an ein heteronomes Ideal gebunden; sie ist Ergebnis eines Bildungsprozesses. Darin äußert sich der Glaube an die Möglichkeit – aber auch die Forderung nach – einer geistigen und sittlichen VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung des Menschen. Drittens schließlich bezieht sich die moralische Bewertung des Menschen auf das Naturrecht.4 Die Vernunft „unterscheidet Laster und TugendTugend“ (AWIX/2, 422). Maßstab für ein sittliches Urteil ist dabei „das ewige Gesetz der Natur“. Dieses definiert Gottsched als das „Gesetz der Gluͤckseligkeit, welches allen Menschen ins Herz geschrieben ist“ (AWIX/2, 447).5 Das ultimative Ziel der Glückseligkeit ist jedoch bereits bei Christian WolffWolff, Christian nicht auf die subjektive Ebene beschränkt; es ist die naturrechtliche Pflicht des Menschen, für die Glückseligkeit und die Vervollkommnung der gesamtenGesellschaftGesellschaft zu sorgen.6 Die folgende Maxime des 7. Stückes der moralischen Wochenschrift Der Mensch ließe sich demnach auf Gottscheds Ausführungen übertragen: „Je mehr jemand tugendhaft ist, je mehr ist er ein Mensch. Je weniger man tugendhaft ist, je weiter entfernt man sich von der Menschheit und ihrer Wuͤrde.“7
Den dritten „Vorzug“ des Menschen – neben seiner Eigenschaft als ‚Krone der SchöpfungKrone (der Schöpfung)‘ und seiner Vernunftbegabung – findet GottschedGottsched, Johann Christoph schließlich „in seinem schoͤnen, starken und dauerhaften Koͤrper“ (AWIX/2, 428), wobei er den KörperKörper und dessen Bau streng teleologisch deutet. Schönheit und Zweckmäßigkeit des menschlichen Körpers als Zeichen der Würde und des planvollen göttlichen Wirkens – diese Argumentation knüpft unverkennbar an humanistisches Erbe an.8 Den Einwand, dass der Körper des Menschen doch schwach und anfällig sei, sieht Gottsched nicht als Widerspruch, sondern dreht ihn geradezu um: „[D]er Mensch [hat] nothwendig so schwach gebohren werden muͤssen; damit er ein vernuͤnftiges Geschöpf, und ein Herr aller andern Thiere werden koͤnnte“ (AWIX/2, 433). Die Krankheit, mithin das Prekäre und HässlicheHässliche der menschlichen Existenz, ist lediglich der Ausnahmefall, der Schönheit und Vollkommenheit des Menschen und seines Körpers bestätigt (vgl. AWIX/2, 435).
GottschedGottsched, Johann Christoph spricht dem Menschen also Würde zu – wenn auch keine eindeutig inhärente – und begründet dies theologisch, vernunftphilosophisch, naturrechtlich und anthropologisch.9 Die Auseinandersetzung mit Wesen und Würde des Menschen ist für Gottsched nun kein rein philosophisches, sondern auch ein ästhetisch-poetologisches Unterfangen, heißt es doch in seiner Critischen Dichtkunst: „Vor allen Dingen aber ist einem wahren Dichter eine gruͤndliche Erkenntniß des Menschen noͤthig, ja ganz unentbehrlich“ (AWVI/1, 156). Wenn der Mensch nämlich der moralischen VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung fähig ist, so hat in diesem Prozess nicht zuletzt die KunstKunst, Künstler einen wesentlichen Beitrag zu leisten.10
Anders als GottschedsGottsched, Johann Christoph Reden thematisieren die moralischen Wochenschriften der Aufklärung auch explizit die „Würde des Menschen“; die inhaltlichen Überschneidungen sind deutlich.1 Beispielhaft illustriert das 5. Stück des Leipziger Zuschauers (1759) diese Vorstellung von Menschenwürde. Der Grundtenor ähnelt dem der Reden: Der Mensch soll gegenüber jenen verteidigt werden, die „die Wuͤrde des Menschen, und seine erhabne Bestimmung“2 verkennen und seine Schwächen und Laster hervorheben. An die „Sittenlehrer“ ergeht die Aufforderung,
die menschliche Natur in ihrer Wuͤrde zu zeigen, […] ihren Muth anzufeuern, die ebnen Wege der TugendTugend zu gehn, ihnen die Bewegungsgruͤnde zum Guten aus dem Verhaͤltniß, in welchem der Mensch mit seinem Schoͤpfer steht, so dringend vorzustellen, daß das Uebergewicht seiner Neigung auf die Seite der Tugend ausschluͤge.3
Menschenwürde wird jedoch, und hier besteht ein gewichtiger Unterschied zu GottschedGottsched, Johann Christoph, ganz explizit sowohl als „angeborne[]“ Qualität als auch Auftrag an den Einzelnen konzeptualisiert: Der Mensch ist Gottes EbenbildGottebenbildlichkeit, doch wenn er „seine Wuͤrde verkennt“, gereicht ihm dies zur „Schande“.4 Der „tugendhafteTugend“ Mensch nähert sich dem „Engel“ an, der „lasterhafte“ dem „Thier“.5 Ziel des Menschen muss es sein, „GottGott, die Tugend, und den unschaͤtzbaren Werth seiner Seele kennen [zu] lern[en]“.6 Auch hier ist Würde letztlich heteronom definiert; der Mensch ist zwar ein würdevolles Wesen, riskiert aber, diesen Status zu verlieren, wenn er sein Potential nicht ausschöpft und die Tugend verfehlt. Der Leipziger Zuschauer verbindet nun den menschlichen Auftrag zur VervollkommnungPerfektibilität, Vervollkommnung mit den Wirkmöglichkeiten der Literatur; nicht nur die „Sittenlehrer“ sind in der Pflicht, den Menschen an seine Würde zu erinnern, sondern auch die Dichter.7
In seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst stellt GottschedGottsched, Johann Christoph unmissverständlich klar, wie der HeldHeld einer Tragödie (im Gegensatz zur Komödie) gestaltet werden muss. Um seinen moralischen Lehrsatz zu illustrieren, „sucht [der Dichter] in der Historie […] beruͤhmte Leute“, die dafür geeignet scheinen, „und von diesen entlehnet er die Namen, fuͤr die Personen seiner Fabel, um derselben also ein Ansehen zu geben“ (AWVI/2, 317). Es sind die „Großen dieser Welt“ (AWVI/2, 312), an deren Schicksal Gottscheds Wirkintention gekoppelt ist. Der Held der Tragödie muss einen hohen sozialen Status haben und moralisch vorbildlich sein; trotzdem muss er auch ein mittlerer Held sein, d.h. gemäß des hamartia-Modells des Aristoteles einen charakterlichen Fehler haben, der sein Scheitern erklärt, rechtfertigt und somit die erhoffte Reflexion beim Publikum in Gang setzt.1 Im Hinblick auf die Würdeproblematik formuliert: Kontingente Formen der Würde (soziale Würde, Ansehen, Annäherung an ein TugendidealTugend) werden zur wirkästhetischen Voraussetzung der Tragödie. Die Würde (sowohl die soziale als auch die sittliche) des Protagonisten muss bewundert, sein Scheitern betrauert werden, damit der Zuschauer, nachdem er aus dem beklagten Scheitern die richtigen Schlüsse gezogen hat, zur Nachahmung angeregt wird. Doch dies führt zu einem Widerspruch: Kontingente Würde ist auf der einen Seite Bedingung für die Tragödienfähigkeit eines Charakters, was durch Berufung auf tradierte Regeln legitimiert wird; auf der anderen Seite ist das Ziel des Aufklärers die Förderung und Verankerung eines für alle Menschen geltenden Norm- und Tugendsystems.2 Durch diesen Widerspruch entsteht eine logische Spannung, die der Dichter ästhetisch bewältigen muss.3
GottschedsGottsched, Johann Christoph zunächst erfolgreiche und wirkmächtige Tragödie Sterbender Cato wird heute meist mit Skepsis betrachtet. Die Forschung prangert die kühle Regelhaftigkeit des vermeintlich unoriginellen Dramas an und weist auf konzeptionelle Schwächen in der Figurenzeichnung hin.1 Gottscheds in der Vorrede formulierte Wirkabsicht, Bewunderung und zugleich „MitleidenMitleid“, „Schrecken und Erstaunen“ zu wecken,2 gehe vollkommen fehl.
Tatsächlich liegen dieser Wirkabsicht unterschiedliche Aspekte des Gottschedschen Menschenwürdebegriffs zugrunde, die unauflösliche Widersprüche zur Folge haben. Die unterschiedlichen Auslegungen der Menschenwürde spitzen sich in der Bewertung des Freitods Catos zu; die Art der Inszenierung des SuizidsSuizid an sich bringt schließlich eine zusätzliche darstellungs- und rezeptionsästhetische Dimension der Menschenwürde ins Spiel. Die Herausforderung des Sterbenden Cato ist demnach die Explikation der Grundspannung des Dramas, die sich aus folgenden Faktoren ergibt: der vermeintlich vorbildlichen TugendhaftigkeitTugend des Protagonisten, dem eindeutig als Fehlhandlung verstandenen Suizid, der genauen Bestimmung des tragischen Fehlers des HeldenHeld sowie der von der historischen Überlieferung merklich abweichenden Darstellung des Selbstmordes.
Damit Cato außerfiktional zum bewundernswerten und somit letztlich zum „mitleidswürdig[en]Mitleid“ (SC 112) HeldenHeld der Tragödie werden kann, muss sein Handeln innerfiktional so geschildert werden, dass er tugendhaftTugend und würdig erscheint, und zwar nicht nur im Sinne des Stoizismus (bei aller Kritik GottschedsGottsched, Johann Christoph an dieser Doktrin), sondern auch und vor allem im Sinne des bereits umrissenen frühaufklärerischen Menschenbildes.1 Deshalb muss der SuizidSuizid, an dessen Illegitimität für Gottsched keine Zweifel bestehen,2 zumindest als Folge einer nachvollziehbar positiv besetzten Eigenschaft inszeniert werden. Dies soll dadurch gelingen, dass Cato als standhafter, seine Affekte reflektierender und überwindender Charakter gezeichnet wird, der autonomAutonomie entscheidet und handelt. Arsene/Portia dient in dieser Hinsicht als Spiegelfigur, die gleichzeitig als vorsichtiges Korrektiv angelegt ist.
In Szene I,4, in der Cato und sein Diener Phocas die Enthüllung der wahren IdentitätIdentität Arsenes diskutieren, wird das, was Cato als bewundernswerte Figur, die menschenwürdig handelt, auszeichnen soll, besonders augenfällig. Die Nachricht, dass seine totgeglaubte Tochter Portia lebt, jedoch als Königin der Parther seinem republikanischen Ideal zutiefst widerspricht, ruft heftigste Emotionen hervor: „Wie? Soll mein eigen Blut mir Brust und Herz zerreißen?“ (SC 28, V. 209). Vaterliebe und politische Gesinnung konfligieren: „Mein Blut erlaubt es zwar“, Portia zu lieben, „doch Rom“, und das heißt: seine tiefsten politisch-moralischen Überzeugungen, „verbeut es allen!“ (SC 28, V. 218). Dass Cato seinen Überzeugungen den Vorrang vor jeder affektiven Regung gibt, wird noch deutlicher, als er die Versuchung, mit Hilfe der Königin Portia Cäsar zu bekämpfen, ablehnt. „Was recht und billig ist, sonst rührt mich nichts auf Erden!“ (SC 29, V. 246) – der Zweck heiligt also keineswegs die Mittel, denn: „[…] wer die TugendTugend liebt, geht lieber selbst darauf“ (SC 29, V. 248). Cato legt seinem Handeln und seinem Entscheiden eine strenge sittliche Maxime zugrunde, die zu diesem Zeitpunkt durchaus bewundernswert erscheint, gleichzeitig aber proleptisch auf seinen Tod verweist – ein Signal, dass seine standhafte Tugendhaftigkeit später zu problematisieren sein wird. Noch aussagekräftiger ist Catos Reaktion auf Phocasʼ Vorschlag, die Götter durch ein Opfer um Rat zu fragen. „Die Götter fehlen nie“, so Phocas (SC 29, V. 254), doch Cato lehnt es ab, in „toten Opfertieren / Des GottesGott, der mich treibt, Befehl und Willen [zu] spüren“ (SC 30, V. 261–262). Dieser GottGott habe ihm
[…] doch damals schon, eh ich das Licht erblickt,
Den Trieb zur Billigkeit in Herz und Sinn gedrückt.
Der lenkt ohn Unterlaß mein Tichten und mein Trachten
Und treibt mich, lebenslang die TugendTugend hoch zu achten,
Dem Laster feind zu sein, so mächtig es auch ist;
Gesetzt, daß ich dabei zugrunde gehen müßt!
Der lehrt mich, Rom sei nur zur FreiheitFreiheit auserkoren
Und habe die Gewalt der Könige verschworen.
Ja, der beut uns auch itzt der Parther Zepter an,
Zur Prüfung, ob man ihn beherzt verschmähen kann?
Drum laßt uns standhaft sein und solchen Beistand fliehen!
Die Tugend weiß uns schon aus der Gefahr zu ziehen. (SC 30, V. 263–274)
Auffälligerweise spricht Cato an dieser Stelle von einemGottGott,3 und dieser „treibe“ ihn; dass dies aber nicht bedeutet, dass Cato nicht alleiniger Herr seiner Handlungen ist, beweisen zum einen die gehäufte Anzahl von Personal- und Possessivpronomina der ersten Person Singular, zum anderen seine weiteren Ausführungen. Er spricht von seinem ihm in einem SchöpfungsaktSchöpfung von diesem Gott verliehenen Willen, einem Streben nach TugendhaftigkeitTugend – eine bemerkenswerte (anachronistische) Anspielung auf die christliche Vorstellung der menschlichen Gottebenbildlichkeit als Grund von WillensfreiheitWille, freier Wille, Tugendfähigkeit und Menschenwürde. Die stoische Konzeption des vernunftautonom tugendhaft handelnden, nicht affektgebundenen Menschen wird damit nicht aufgehoben, jedoch um eine dezidiert christliche Dimension ergänzt. Indem Cato aber ausdrücklich ablehnt, sich von einer metaphysischen Entität nach dem Schöpfungsakt noch in seinem Handeln bestimmen zu lassen, sich vielmehr einem streng rationalenRationalität – dem ‚göttlichen Trieb‘ korrespondierenden – Moralkodex verpflichtet sieht, entspricht er der Würdevorstellung des frühaufklärerischen Publikums.4 Die absolute, beinahe rücksichtslose FreiheitFreiheit seines Willens bildet auch die Peripetie der Tragödie: „Wenn ich nicht hoffen darf, die Freiheit zu erwerben, / So bin ich alt genung und will ganz freudig sterben“ (SC 55, V. 943–944; m. H.). Kurz darauf noch einmal: „Ich will viel lieber sterben“ (SC 57, V. 1008; m. H.), als auf Cäsars Angebot einzugehen. So wird Catos SuizidSuizid zu einem mehrfach angekündigten „Akt der Freiheit“,5