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Unsere Grundrechte sind ein wichtiger Anker unserer Demokratie und schützen die Bürgerinnen und Bürger vor Übergriffen des Staates. Sie wurden im Laufe der letzten 250 Jahre Schritt für Schritt proklamiert und in nationales und internationales Recht integriert. Ihre Einschränkung wurde zunehmend erschwert. Doch spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar, dass sich unsere Grundrechte leichter außer Kraft setzen lassen, als man es lange Zeit für möglich gehalten hätte. Doch wie genau konnte dies geschehen? Christian Felber analysiert die Geschehnisse während der Corona-Zeit, um einen Ansatz zu entwickeln, mit dem zukünftige Grundrechtseinschränkungen in Krisensituationen vermieden werden können.
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Seitenzahl: 353
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ebook Edition
Christian Felber
Lob der Grundrechte
Wie wir in kommenden Krisen das Gemeinwohl schützen
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www.westendverlag.de
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Die Anmerkungen zu diesem Buch finden Sie online unter www.westendverlag.de/felber_grundrechte
ISBN: 978-3-98791-090-6
1. Auflage 2025
© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt
Cover
Ein soziales »Jahrhundertereignis« und seine kollektive Verdrängung
Vorwort des Autors
WARUM GRUNDRECHTE?
Lob der Grundrechte
Stabilitätsanker der Demokratie
Gesellschaftsvertrag
Unterschied zur Diktatur, zur linken wie zur rechten
Entwicklung der Menschen- und Grundrechte
Kristallisationspunkt Menschenwürde
Vorläufer-Verfassungen
Internationale Menschenrechtsabkommen als Grundrechtsquellen
Vereinte Nationen
Europarat und EU
Deutschland
Österreich
Aktuelle Entwicklungen
World Court of Human Rights
Rechte der Natur
Eingriffe in Grundrechte
Nicht einschränkbare Grundrechte
Zulässige Grundrechtseingriffe
Herzstillstand der Demokratie
Liste der eingeschränkten Grundrechte
Liste der Kollateralschäden
Gesundheitsschäden
Angst, Beziehungsverlust und Einsamkeit
Zurückfahren von Gesundheitsversorgung
Aufschub von Behandlungen
Rückgang an Fitness und Zunahme von Fettleibigkeit
Schwächung des Immunsystems
Langfristige Zunahme von Krankenständen
Psychische Schäden
Angststörungen und Depressionen
Suchtverhalten
Suizidalität
Soziale Schäden
Zerbrechen von Freundschaften, Beziehungen, Ehen und Familien
Verrohung der Sprache
Zunahme von Aggression
Zunahme häuslicher Gewalt
Genitalverstümmelung, ungewollte Schwangerschaften und Zwangsheiraten
Weitung des Gender-Gaps
Sozialer Zusammenhalt
Zunahme von Ungleichheit und Armut
Zunahme von Hunger
Ökonomische Schäden
Wirtschaftseinbruch
Arbeitslosigkeit
Wirtschaftshilfen
Insolvenzen
Demokratieschäden
Demokratieabbau
Millionenfache Strafen
Verlust von Ansehen, Ämtern und Berufen
Vertrauensverlust in öffentliche Institutionen
WIE KONNTE DAS PASSIEREN?
»Phobokratie« – die Rolle der Politik
Gezielte Angstmache
Modelle und Prognosen
»Bilder aus Italien«
Vorübungen: die Rolle der Militärs und Philanthropen
Verschwörer und Influencer
Gain-of-function-Forschung (GoF-Forschung)
Bioterrorismus und Planspiele
Event 201
Diskursverengung I: die Rolle der Medien
Fluten: das offizielle Narrativ
Das Dashboard der JHU
Verlust der Ganzheitlichkeit
Gesundheitsziele in Österreich
Diskursverengung II: die Rolle der Faktenchecker
Glaube statt Evidenz – die Rolle der Wissenschaft
Alternativlosigkeit?
Wissenschaftsglaube?
Infection Fatality Rate
Übersterblichkeit
Das offizielle Narrativ und seine Evidenzprobleme
DIE GROSSE SPALTUNG
Polarisierung
Profiteure der Polarisierung
Aus links wird rechts
Von der Inklusion zur Exklusion
Aufbau eines neuen Feindbildes
Autoritäre Solidarität
Impfschäden im Dunkeln
Grundrechte und Gemeinwohl
Pocken-Impfpflicht
Definition von Gemeinwohl
BLICK IN DIE ZUKUNFT
Polykrise
Der WHO-Pandemievertrag
Der EU Digital Services Act
Bill Gates in Brüssel
Klimakrise
Ökologische Menschenrechte
Erste Schritte zur Umsetzung
BESSER VORBEREITET SEIN
Die Grundrechte fester vertäuen
Erweiterung der nicht-einschränkbaren Grundrechte
Aufwertung des Rechts auf Unversehrtheit
Ausweitung des Zensurverbots
Ausweitung des Diskriminierungsbegriffs
Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention
Keine Wiedereinführung des Notstandsrechts
Nachschärfung der Eingriffsprüfung
Geeignet?
Vorsichts- statt Vorsorgeprinzip
Erforderlich?
Angemessen?
Befristung
Sachliche Begründung
Stärkung der Demokratie
Mehr Demokratie wagen
Keine Selbstentmachtung der Legislative – »Stunde der Demokratie«
Demokratischer Krisenrat
Stärkere Einbindung der Bevölkerung
Plurale Diskussionen an Hochschulen
Einhaltung bestehender Pläne, Strategien, Ziele, Definitionen
Diskursethik
Polarisierungsprävention – Pluralität fördern
Ende der Punzenschlacht – Bann von »D-Waffen«
Aufzeigen von Frames und Narrativen
Pandemieverharmloser
Maßnahmengegner
Maskengegner
Impfgegner
Querdenker
Für eine neue Diskurs-Ethik
Ein neues Wissenschaftsverständnis
Wissenschaftskompetenz statt Wissenschaftsglaube
Es gibt immer Alternativen
Wissenschaftlicher Konsens
Diskursverbreiterung statt -verengung
Unabhängige Wissenschaft gegen »Wissenschaftsskepsis«
Offenlegung von Interessenskonflikten
Wissenschaftsethik
Nachhaltige Wissenschaftspolitik
Den sozialen Zusammenhalt stärken
Verringerung der Ungleichheit
Grundein- und -auskommen
Ausweitung des Angebots öffentlicher Güter und Dienstleistungen
Aufwertung der Fürsorge- und Pflegearbeit
Verpflichtende Gemeinwohl-Bilanz für Gesundheitsanbieter
Danksagung
Bibliographie-Auswahl
Anmerkungen
Cover
Inhaltsverzeichnis
Vorwort von Martin Sprenger:
Drei Jahre lang bestimmte die Corona-Pandemie unsere Gesellschaft, die Politik und die mediale Berichterstattung. Nicht nur Angela Merkel bezeichnete sie als ein »Jahrhundertereignis« und die »größten Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg«. Wir erlebten beispiellose, zum Teil absurde, als »alternativlos« bezeichnete invasive gesellschaftliche Eingriffe, wie sie kaum jemand für möglich gehalten hatte. Was ist in den Jahren 2020 bis 2022 eigentlich passiert? Genau wissen wir es bis heute nicht. Statt einer Aufarbeitung folgte, beinahe über Nacht, die kollektive Verdrängung. Ob aus Angst, Scham, fehlenden Daten, Erschöpfung, Desinteresse oder politischem Kalkül, wir wissen es nicht. Wahrscheinlich trifft alles zu.
Christian Felber ist nicht der Erste und sicher auch nicht der Letzte, der eine Aufarbeitung des »Jahrhundertereignisses« versucht. Dass er kein studierter Ökonom ist, war für ihn bei der Entwicklung der Gemeinwohl-Ökonomie ein großer Vorteil. Auch dass sein Blick auf das Pandemie-Geschehen nicht beim medizinischen Tellerrand endet, ist für eine ganzheitliche Aufarbeitung eine gute Voraussetzung. Zwar genießt er nicht den Zugang zum großen Datenpool, zu allen relevanten Protokollen und Dokumenten, allen rechtlichen und wissenschaftlichen Begründungen, zu den detaillierten Statistiken und Registern. Doch jene Institutionen, die diesen Zugang hätten, schweigen bzw. erhalten keinen politischen Auftrag zur Freilegung. Ob diese Einrichtungen überhaupt zu einer objektiven, unabhängigen, transparenten und umfassenden Aufarbeitung imstande wären, ist ohnehin zu bezweifeln. Zu sehr waren sie in die viel zu oft unwissenschaftlichen und unverhältnismäßigen gesellschaftlichen Eingriffe involviert. Zu groß sind ihr Interessenskonflikt und ihre politische wie finanzielle Abhängigkeit. Die kollektive Verdrängung kommt ihnen damit sehr gelegen.
So sind es zumeist Einzelpersonen wie Christian Felber, die in Buchform versuchen aufzuarbeiten, was in den Jahren 2020 bis 2022 passiert ist. Mit deutlich weniger Ressourcen, aber dafür ausgestattet mit wissenschaftlicher Neugier und dem Wunsch, etwas aus dieser Zeit zu lernen.
Christian und ich haben uns in den letzten Jahren mehrmals getroffen, in langen Gesprächen unsere Sichtweisen diskutiert und diese wissenschaftlich begründet. So wie wir es beide seit Jahrzehnten gewohnt sind. Umso fassungsloser beobachteten wir, wie ab dem Frühjahr 2020 nicht nur wissenschaftliche Standards ignoriert, sondern auch der wissenschaftliche Diskurs eingeengt, politisiert und moralisch aufgeladen wurde. Aus der wissenschaftlichen Debatte wurde ein Glaubenskrieg, mit Virologen in der Funktion der letztinstanzlichen Welterklärer. Im Gegensatz zu diesem eindimensionalen Tunnelblick war für mich als Gesundheitswissenschaftler das »Jahrhundertereignis« von Anfang an ein soziales und gesamtgesellschaftliches Geschehen, das alle Menschen betrifft.
Weil ich mich ganz zu Beginn, damals noch als Mitglied der Corona-Taskforce im Gesundheitsministerium, öffentlich gegen die Bewegungseinschränkungen im Freien ausgesprochen habe, bezeichnete mich der damalige Kanzler in den Abendnachrichten als »falschen Experten« und zwei Wochen später wurde ich aufgrund meines Eintretens für Schulöffnungen in der auflagenstärksten Zeitung Österreichs zum »Chefdolm« und »gefährlichen Experten«. So wie mir ging es vielen anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, wie dem Stanford-Professor und Epidemiologen John PA Ioannidis, den Mitgliedern der Thesenpapiergruppe rund um den Infektiologen Matthias Schrappe oder Franz Allerberger, bis Mitte 2021 Leiter des Geschäftsfeldes Öffentliche Gesundheit in der österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (AGES). Alles Wissenschaftler, die sich nicht einer eindimensionalen Betrachtung unterordnen wollten, sondern sich einen umfassenderen, interdisziplinären Blick bewahrten, in dem ethische, rechtliche und wissenschaftliche Standards eine Rolle spielten. Leider wurden diese Stimmen frühzeitig und nachhaltig diffamiert und das »Jahrhundertereignis« politisch missbraucht, medial emotionalisiert, die Gesellschaft polarisiert, Sichtweisen in gut und böse, falsch und richtig eingeteilt. Dadurch wurde der soziale Zusammenhalt geschwächt und das Vertrauen in Politik, Medien und Wissenschaft nachhaltig beschädigt.
Inzwischen zeigt sich, dass viele als »Maßnahmenkritiker« und »Corona-Verharmloser« diffamierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Bezug auf die wesentlichen Aspekte des »Jahrhundertereignisses« über den gesamten Zeitraum ein deutlich korrekteres Bild zeichneten als manche Regierungsberater und Gesundheitsminister. Egal, ob es um das Infektionsrisiko im Freien, Schulschließungen, Maßnahmen für Kinder und Jugendliche, die Isolation alter Menschen oder um soziale Fragen, die Einhaltung diagnostischer, medizinischer, ethischer und rechtlicher Standards, Fragen der Verhältnismäßigkeit oder die erwünschten und unerwünschten Effekte von Maßnahmen ging. Auch diese Entgleisung des wissenschaftlichen Diskurses muss transparent aufgearbeitet werden, Unrecht benannt und wiedergutgemacht werden.
Exakt definierte und erhobene Parameter sind die Grundvoraussetzung für eine präzise Risikobewertung, eine korrekte Risikokommunikation und ein professionelles Risikomanagement. Ungeachtet dessen fehlten in den Jahren 2020 bis 2022 wichtige Daten, blieben entscheidende Parameter unpräzise und gab es kaum repräsentative Studien. Insbesondere die unscharfe Definition wichtiger Parameter führte zu einer Verzerrung der öffentlichen Kommunikation von Risiken auf Pressekonferenzen, in den Medien, aber auch auf den Dashboards und in der Wissenschaft. Mit diesen unpräzisen Zahlen wurden Modelle gefüttert, deren hochgerechnete Ergebnisse wiederum die Grundlage für politische Entscheidungen und Maßnahmen wurden. Diese verzerrte und selektive Kommunikation sorgt bis heute für ein unvollständiges und falsches Bild des »Jahrhundertereignisses« in der Öffentlichkeit.
Unzählige nicht-medikamentöse Maßnahmen wurden über gesetzliche Verordnungen geregelt, zum Teil empfohlen oder gar verpflichtend vorgeschrieben. Zum Beispiel: Abstand halten, »Gehen Sie nicht zum Arzt!«, »Lockdowns«, Masken im öffentlichen Bereich (sogar im Freien, oder im Turnunterricht), Visiere, Trennwände, Massentests, Testen in verschiedenen Bereichen mit unterschiedlichen Testverfahren, Contact Tracing, Händedesinfektion, »Grüner Pass«, »Ninja Pass«, 1G, 2G, 2G+, 3G, Betriebs- und Schulschließungen, Verbot von Großveranstaltungen, Quarantäne, Isolation von Risikogruppen, Zutrittsverbote, Distance Learning, Homeoffice, Einschränkung von Freizeit- und Bewegungsangeboten, Lüftungsanlagen, Grenzkontrollen, regionale Absperrungen, Temperaturmessungen etc.
Zu keiner dieser unzähligen, während der Corona-Pandemie verordneten nicht-medikamentösen Maßnahmen gibt es methodisch hochwertige wissenschaftliche Nachweise, dass die erwünschten Effekte größer waren als die unerwünschten. Die meisten dieser Maßnahmen waren politisch begründet, Aktionismus zur Beruhigung der Bevölkerung. Das zeigen auch die inzwischen ungeschwärzt veröffentlichten Protokolle des Robert-Koch-Instituts. So absurd die Schließung von Wandergebieten oder FFP-2-Masken im Freien und im Turnunterricht oder die Besuchsregelungen an den Feiertagen und vieles andere waren, mit den Impfzertifikaten, dem »Grünen Pass«, wurde die Absurdität zum bitteren Ernst. Plötzlich gab es ohne gültigen QR-Code keine Teilnahme am sozialen Leben mehr. Oft auch keinen Zutritt zum Arbeitsplatz respektive in die Universität oder keinen Besuch des Kindes im Krankenhaus. Als Grundlage für diese massive soziale Intervention wurde die Verminderung des Übertragungsrisikos bzw. der Fremdschutz durch die Corona-Impfung angegeben. Passend dazu wurde in den Medien das vollkommen unwissenschaftliche Narrativ der »Pandemie der Ungeimpften« verbreitet. Dabei wurde bei keinem einzigen Corona-Impfstoff in der Zulassungsstudie auf eine Reduktion des Übertragungsrisikos getestet und keine einzige Zulassungsbehörde auf der ganzen Welt hat den Corona-Impfstoffen eine Reduktion des Übertragungsrisikos bzw. einen Fremdschutz bescheinigt. Die erwünschten Effekte der Impfzertifikate wurden in keiner einzigen methodisch hochwertigen Studie bestätigt, die unerwünschten waren dafür enorm. Auch das muss aufgearbeitet werden.
Ähnliches gilt für die Impfpflicht, die schon frühzeitig von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten in Deutschland und Österreich gefordert wurde. Ein Argument war die Impfung gegen die Pocken. Ein Virus, das nur Menschen als Wirt kennt, kaum mutiert, für alle Altersgruppen gefährlich ist und bei dem die Impfung eine sterile Immunität erzeugt. Alles Eigenschaften, die SARS-CoV-2 und die Corona-Impfstoffe nicht teilen. Aus diesem Grund war eine allgemeine Impfpflicht ein schwerer politischer Fehler, der viel Vertrauen in Gesundheitsbehörden und Impfungen zerstört hat.
Wie könnte es weitergehen? Im Moment sind die Wohlstandsgesellschaften Mitteleuropas zunehmend geprägt von einem demografischen Übergang mit einer stark steigenden Zahl an hochbetagten, betreuungs- und pflegebedürftigen Menschen mit hohem und komplexem Versorgungsbedarf. Dieser gesellschaftliche Wandel passiert in einem sich immer schneller verändernden Kontext globaler Krisen, wirtschaftlicher und politischer Neuordnungen, immenser Macht- und Vermögensverschiebungen, der Digitalisierung aller Lebensbereiche, Informationsüberflutung, zunehmenden sozialen Ungleichheit, Migrationsbewegungen und vieler weiterer neuartiger noch nie dagewesener gesellschaftlicher Herausforderungen.
Angesichts dessen bräuchten wir kompetente politische Eliten, die sachpolitisch agieren und denen die Gesellschaft zutraut, diese Herausforderungen zu bewältigen; Medien, die nicht moralisieren und Meinungsjournalismus betreiben, sondern Informationen so aufarbeiten, dass sich interessierte Leserinnen und Leser selbst eine Meinung bilden können. Wir brauchen aber auch wieder einen lebendigen wissenschaftlichen Diskurs, der Gegenargumente zulässt, das kreative Potential der Skepsis erkennt, die Interdisziplinarität und Perspektivenvielfalt fördert, die Welt mit allen Zwischentönen und nicht nur in Schwarz und Weiß darstellt.
Vor allem aber brauchen wir mehr Bürgerinnen und Bürger, die sich aktiv beteiligen. Die mithelfen, Menschen zusammenzubringen, um den Dialog, den sozialen Zusammenhalt und das Gemeinwohl zu fördern. So wie es Christian Felber seit vielen Jahren in seinen Büchern und Vorträgen vermittelt. Mit der gleichen Motivation, die auch die Grundlage für dieses Buch war. Einen Beitrag zu leisten, für eine buntere, eine lebendigere, eine humanere Gesellschaft.
Graz, 1. September 2024
Würden Sie der These zustimmen, dass die Menschenrechte in Krisen eingeschränkt werden dürfen? Oder sollten sie in besonderem Maße gelten und halten? War Ihnen bewusst, dass Grundrechte und Menschenrechte dasselbe sind? Grund- oder Menschenrechte sind die Anker der Demokratie. Sie sorgen für Freiheit, Gleichheit, sozialen Zusammenhalt und Sicherheit. Sie sind ein wichtiger Kitt, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Und das nicht nur in politischen Schönwetterphasen, sondern gerade wenn die See stürmisch wird und Krisen hereinbrechen. Mit der Covid-19-Pandemie 2020 fand eine Zäsur statt, die für die meisten überraschend kam. In Deutschland und anderen Ländern »herrschte ein gesellschaftlicher Ausnahmezustand, wie es ihn seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland nicht mehr gegeben hatte«.1 Und das, obwohl es in diesem Land mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes formal keinen Notstand in expliziter Form mehr gibt. Nach Recherchen des Autors wurden international insgesamt 25 Grund- und Menschenrechte eingeschränkt. Angesehene Rechtsexpert*innen sprachen von Maßnahmen »maximaler Invasivität«2, einer »verfassungswidrigen Entgrenzung staatlicher Machtentfaltung«3 und dem »Totalversagen des liberal-demokratischen Rechtsstaates«4. Viele Bürger*innen empfanden einen »Heimatverlust« und lebten wie im Exil im eigenen Land.5 So viel steht fest: Das Sicherheitsnetz der Grundrechte hat den ersten umfassenden Stresstest nach dem Zweiten Weltkrieg nicht bestanden.
Dass das Virus weltweit Millionen Opfer forderte, ist die eine tragische Seite der Pandemie. Jedes Leid ist zu bedauern. Gleichzeitig ist auch das Ergebnis des politischen Pandemie-Managements katastrophal, es hat nicht nur die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt geschwächt, die Ungleichheit erhöht und den Gender-Gap geweitet, sondern wahrscheinlich selbst der Gesundheit, um die es im Kern zu gehen schien, unterm Strich mehr geschadet als genützt.
Die Grundthesen des Buches lauten:
Ohne die Grundrechtseinschränkungen wären wir besser durch die Krise gekommen.Wir hätten uns die gesellschaftliche Spaltung erspart.Dass es Alternativen gab, zeigt der Blick auf andere Länder. In Schweden und Japan wurden das Virus und die Pandemie anders erzählt und anders gemanagt: ohne gravierende Grundrechtseinschränkungen, ohne das Schüren unnötiger Angst. Schweden steht heute in Bezug auf die epidemiologischen wie demokratischen Kennzahlen besser da als die Lockdown-Länder: Die Übersterblichkeit über den gesamten Pandemiezeitraum ist geringer, das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen gestärkt. Allein deshalb sollte dringend eine Aufarbeitung stattfinden: um die unterschiedlichen Strategien vergleichend zu evaluieren und das gesamte Ausmaß der Kollateralschäden harter Maßnahmen sichtbar zu machen. Vor allem aber, um eine Gewöhnung an autoritäres Krisen-Managements zu verhindern.
Ich habe mich seit März 2020 zum Pandemie-Geschehen öffentlich zu Wort gemeldet und engagiert (Vlog und Blog, Autor*innen-Kollektiv »Coronaaussöhnung«, Verein »Zukunft JETZT« in Österreich). Dieses Buch ist mein persönlicher Beitrag, das maximale Lernpotenzial aus der Covid-19-Pandemie sowie ihrem Management in Deutschland und Österreich zu ziehen. Der Fokus geht über Grundrechte und Demokratie hinaus. Es geht um die Sensibilisierung für ökonomische Machtverhältnisse, die Verantwortung der Medien, eine neue Diskursethik, eine ganzheitliche Gesundheitsdefinition und ein Wissenschaftsverständnis, das uns hilft, zukünftige Krisen ohne neue Spaltungen zu meistern.
Als Sprachwissenschaftler werde ich die Begriffe »Verschwörungstheorie«, »Wissenschaftsglaube«, »Maßnahmengegner«, »Faktencheck«, »Gesundheitsschutz«, »Solidarität« und »Gemeinwohl« detailliert prüfen. Am Ende steht ein breites Spektrum von Empfehlungen, die mich auf die Grundfesten meiner Gemeinwohl-Theorie zurückführen und diese erweitern. Nur wenn wir noch einmal genau hinschauen und offen sind, aus Fehlern zu lernen – so wie Slowenien, das nach einem Urteil des Verfassungsgerichtshofs alle Corona-Strafen der Jahre 2020 bis 2022 zurückgezahlt und das geschehene Unrecht benannt hat –, erhalten wir eine Chance, uns auf die nächste Pandemie besser vorzubereiten, das Vertrauen in den Staat wiederherzustellen und das Fundament der Demokratie zu festigen.
P.S.: Noch eine technische Anmerkung: Weil die Aufarbeitung einer strittigen Materie einer gründlichen und nachvollziehbaren Quellenarbeit bedarf, sind die circa 690 Anmerkungen online unter www.westendverlag.de/felber_grundrechte zugänglich – so lassen sich alle Links anklicken und die Quellen direkt aufsuchen. Unter den Referenzen befinden sich rund 300 wissenschaftliche Quellen, einschließlich Bücher von und Interviews mit Lehrstuhl-Inhaber*innen, Robert Koch-Institut, Paul-Ehrlich-Institut und UN-Organisationen wie die WHO.
Wien, 1. November 2024
Kapitel 1
Grundrechte sind der Stabilitätsanker der Demokratie. Sie sind das Herz des Gesellschaftsvertrags und das Kernstück moderner Verfassungen. Die Grund- und Menschenrechte sorgen für Gleichheit und Freiheit, für Vielfalt, sozialen Zusammenhalt und Sicherheit. Im Grundgesetz stehen sie ganz vorne und fließen direkt aus der Menschenwürde in Artikel 1. Freiheitsrechte, Gleichheitsrechte, politische Rechte, Rechte des Wirtschaftslebens, kollektive Rechte: Sie sind Teil des Kitts, der die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Wichtig: nicht nur in Schönwetterphasen und stabilen Zeiten. Gerade in Krisen und Notzeiten sollten sie garantieren, dass die Humanität und die Menschenwürde nicht (als Erste) über Bord gehen. Sie sind ein Schutzschild für die Menschlichkeit.
Wir haben Grundrechte kraft unserer Würde, unseres angeborenen und intrinsischen Wertes, den uns niemand nehmen kann. Grundwerte bringen den gleichen Wert aller Menschen zum Ausdruck, indem sie für alle gleich gelten. Das allein verleiht ein unersetzliches Gefühl von Augenhöhe, Zusammengehörigkeit und Sicherheit. Sie schützen davor, dass der Staat seine Macht missbraucht und die Freiheit der Bürger*innen über Gebühr beschneidet. Nach den Verfassungsexperten Hengstschläger und Leeb »zielen die Grundrechte darauf ab, dem Menschen ein Leben in Freiheit, Würde, Gleichheit und Solidarität zu garantieren«.6 Neben dem Schutz vor staatlichen Übergriffen garantieren sie auch Teilhabe auf allen Ebenen: dass das gute Leben für jede/n möglich wird. Grundrechte sorgen in dieser doppelten Funktion – Sicherheit und Freiheit – für ein Gefühl der Grundgeborgenheit in einem politischen Gemeinwesen, wenn man so möchte, für ein Heimatgefühl. Sie nähren das Urvertrauen in die staatlichen Institutionen, in die Medien und den öffentlichen Diskurs. Wenn die Gewaltentrennung funktioniert. Wenn Gerichte die Grundrechte schützen. Wenn die Meinungsfreiheit gilt und durchgesetzt wird. Wenn der ÖRR unabhängig agiert. Wenn die Bürger*innen das Informationsfreiheitsgesetz anwenden können, um den Staat zu Transparenz zu zwingen. Wenn der Staat die Konzerne an die Kandare nimmt. Dann zeigen Grundrechte Wirkung und machen Lust auf Staat und Demokratie.
Grundrechte sind auch der Lohn für die rechtliche Vergesellschaftung und die Prämisse des Gesellschaftsvertrags: die Bedingung dafür, dass Individuen ihre »Souveränität« an eine Gesellschaftsorganisation, an einen Staat delegieren. Dies werden und können sie nur tun, wenn sie im Gegenzug die Sicherheit erhalten, dass der Staat nicht willkürlich oder gewaltsam ihre Freiheit beschneidet oder ihre Würde verletzt. Der Schutz des Individuums gilt dabei nicht absolut, im Regelfall hat das Wohl des Ganzen Vorrang vor dem der/des Einzelnen. Jedes Gesetz beschneidet Freiheiten, um jedoch in Summe die Freiheit aller zu mehren oder: das Gemeinwohl zu schützen. Umso präziser sind Grenzen des Vorrangs der Gemeinschaftsinteressen in Gestalt eines Katalogs von Grundrechten zu regeln und zu wahren. Und an höchster Stelle – auf Verfassungsebene – zu verankern. Grundrechte sind die Ausnahme von der Regel, dass der Staat regeln und steuern kann, was und wie er will. Er muss sich dabei an eine Reihe rechtlicher Schranken halten, die wichtigste von ihnen sind die Grundrechte. Hier werden der Regelungsgewalt des Staates Grenzen gesetzt, hier endet seine Macht – zum Schutz der Personen, die ihn gegründet haben und zu jedem Zeitpunkt ausmachen. »Alle knapp 200 Staaten haben die Menschenrechte in ihren Verfassungen und/oder durch die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge als höchste inhaltliche Normen, an denen alles staatliche Handeln zu orientieren ist, in rechtlich verbindlicher Weise anerkannt.«7
Grundrechte bilden nicht nur das begrenzende Ende der staatlichen Handlungsfreiheit, sondern vielmehr seine Voraussetzung. Der Völkerrechtsexperte Manfred Nowak schreibt: »Staaten wurden primär zum Schutz der Menschenrechte eingerichtet und leiten aus dieser Funktion ihre Legitimität und Souveränität ab.«8 In der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 steht in Artikel 2: »Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte.«9 Heute werden die Grundrechte als »Visitenkarte eines Staates« betrachtet.10 Die liberalsten Demokratien erhalten fünf Sterne bei der Grundrechtsbewertung. Diese Kopplung ist historisch jedoch nicht zwingend. Wenn man Demokratie einfach nur als Herrschaft der Mehrheit verstünde, dann wären Grundrechte obsolet. Das Alleinstellungsmerkmal liberaler Demokratien besteht gerade darin, dass die Mehrheit nur unter der Bedingung des Bestands der Grund- und Minderheitenrechte regiert. Das ist ein epochaler Kompromiss zwischen der Menschenwürde und dem Gemeinwohl. In der Geschichte hat sich die Kopplung Demokratie plus Grundrechte durchgesetzt. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt: »Nicht zuletzt sahen die frühen demokratischen Verfassungen ihre Rechtfertigung ja gerade in der Garantie von Grundrechten als Naturrecht des Menschen.«11
Wenn man heute nach Unterscheidungsmerkmalen zwischen Demokratien und Autokratien sucht, beginnt und endet man bei Grundrechten: Seien es freie und allgemeine Wahlen, die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, das Zensurverbot, die Presse- und Meinungsfreiheit, die persönliche Freiheit und Freizügigkeit, das Verbot von Folter und Todesstrafe, das Recht auf Leben und Unversehrtheit – sie alle sind in Autokratien nicht sicher, so wenig wie die Minderheitenrechte, das Recht auf Gleichbehandlung und das Verbot der Diskriminierung. Zwar gibt es Grundrechtskataloge auch in Verfassungen nicht-demokratischer Staaten. Aber nur in demokratischen Ordnungen gibt es unabhängige Gerichte und einen wirksamen Schutz der Grundrechte.12
Autokratien und Diktaturen gelten heute eher als »rechts«, während Demokratie, Deliberation, Pluralität und Partizipation zu den linken Werten zählen. Das bedeutet nicht, dass es keine linken Diktaturen gibt, von Stalins Russland über China bis Kuba waren es immer wieder auch linke Regime, die totalitäre Züge angenommen und Grundrechte beschränkt haben. Doch ganz gleich, ob linke oder rechte Diktaturen Minderheiten diskriminiert oder Grundrechte beschnitten haben: Es war gleich schlecht. Gut waren und sind der Schutz von Minderheiten und der Grundrechte.
Die in den letzten Jahrzehnten wieder akut gewordene Angst vor den Rechten – wie oft hören wir von einem »Rechtsruck« und wie selten von einem »Linksruck«? – gilt primär dieser Furcht: der Einschränkung von Grundrechten, der Diskriminierung von Minderheiten, dem Demokratieabbau. Tatsächlich gehen die meisten Rückschritte jüngeren Datums auf rechte Regierungen zurück: der Patriot Act in den USA und die Public Order Bill in UK; die Durchgriffe der Orban-Regierung in Ungarn (neues »Grundgesetz«, neues Medienrecht, Wahlrechtsreform, unbefristeten Regieren per Dekret in einer »nationalen Gefahrenlage«13) oder die Pläne Erdogans zur Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei. In Brasilien waren Menschenrechte und Demokratie unter Bolsonaro »so bedroht wie seit dem Ende der brasilianischen Militärdiktatur nicht mehr«.14 In Australien verhinderten die Konservativen ein verfassungsmäßiges parlamentarisches Mitspracherecht für die Ureinwohner*innen.15
Diese Beispiele sind nicht anekdotischen Charakters. Schon einige Zeit vor der Covid-19-Pandemie hat eine signifikante globale Rückentwicklung der Demokratie eingesetzt. Nach dem V-Dem-Berichten des gleichnamigen Instituts an der Universität Göteborg werden Staaten in vier Klassen geordnet (s. Tabelle 1). 2009, bei Ausbruch der »Global Financial Crisis« (GFC), hatte die Zahl der liberalen Demokratien mit 44 einen historischen Höchststand erreicht. 2022 waren es nur noch 32.16 Im globalen Durchschnitt ist die Welt auf das Demokratie-Niveau von 1986 zurückgefallen.
Tabelle 1: Kategorien von Staaten nach V-Dem und Civicus17
V-Dem Institute
Civicus
1 Liberale Demokratie
1 Offen
2 Wahldemokratie
2 Beeinträchtigt
3 Wahlautokratie
3 Beschränkt
4 Geschlossene Autokratie
4 Unterdrückt
5 Geschlossen
Der Civicus Monitor, der Grundrechte und die Freiheit der Zivilgesellschaft in 197 Staaten und Territorien beobachtet, unterscheidet fünf Klassen. In dieser Betrachtung ist die Zahl der offenen Staaten zuletzt von 45 (2018) auf 38 (2022) zurückgegangen.18 Nach V-Dem ist der Anteil der Weltbevölkerung, der in Autokratien lebt, von 46 Prozent (2012) auf 72 Prozent (2022) gestiegen; 42 Staaten befanden sich auf dem Pfad der Autokratisierung, nur 14 waren unterwegs in Richtung Demokratie.192002 war es genau umgekehrt: 43 Staaten Richtung Demokratie, 13 Richtung Autokratie. Mit anderen Worten, es geht schon länger bergab mit den Grund- und Menschenrechten und ihrem Schutzschirm namens Demokratie.
In der Pandemie hat sich dieser Trend noch verstärkt. Während die Meinungsfreiheit 2012 nach V-Dem nur in sieben Staaten abnahm, waren es 2022 deren 35. Zensur durch die Regierung verschlimmert sich aktuell in 47 Staaten.20 Es sieht im Moment nicht allzu gut aus für die Grundrechte. Wie dramatisch diese Entwicklung ist, lässt sich vielleicht besser einstufen, wenn wir zuerst die historische Genese der Grundrechte nachzeichnen.
Grundrechte sind laut dem Menschen- und Völkerrechtsexperten Manfred Nowak »das einzige Wertesystem, das mit Recht den Anspruch auf universelle Gültigkeit stellen kann«.21 Dessen Wurzeln finden sich in unterschiedlichen Kulturen und Konfessionen, wie zum Beispiel der Goldenen Regel, derzufolge alle Menschen gleich und gut behandelt werden sollen. »Das große Verdienst der europäischen Aufklärung und rationalistischen Naturrechtslehre bestand jedoch darin«, schreibt Nowak, »den individuellen Menschen als Subjekt von Rechten gegenüber der Gemeinschaft zu begreifen und ihn in den Mittelpunkt der Rechts- und Sozialordnung zu stellen.«22 Wichtigstes Resultat dieses geistig-ethischen Transformationsprozesses im Abendland vom Mittelalter zur Neuzeit ist die Anerkennung der Menschenwürde, in der die theologische Tradition (Menschen sind Geschöpfe Gottes und von daher wertvoll) und die der Aufklärung (Menschen sind freie Subjekte, mit Würde und Rechten ausgestattet) konvergieren. Die Menschenwürde integriert den Freiheitswert (liberté), welcher der ersten Dimension oder Generation der Menschenrechte, den politischen und bürgerlichen Rechten, zugrunde liegt; mit dem Gleichheitswert (egalité) im Sinne des »gleichen Wertes« aller Menschen, unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Weltanschauung, sexueller Orientierung, Gesundheitsstatus oder anderen unterscheidenden Merkmalen. Der Gleichheitsgedanke führt zu einer »egalitären« Gesellschaft: zur Gleichheit vor dem Gesetz und zur gleichen Ausstattung mit Rechten und damit zur Aufhebung von Hierarchien und Diskriminierung. In Europa waren es Philosophen wie John Locke, Thomas Paine und Jean-Jacques Rousseau, die das geistige Fundament für diese Neuausrichtung des Denkens legten, aus der die ersten Menschenrechtsdokumente des 17. und 18. Jahrhunderts entstanden sowie die Französische und Amerikanische Revolution.
In England kam es nach der frühen Magna Charta (1215) im 17. Jahrhunderts zu ersten Grundrechtskatalogen, konkret in der Petition of Rights (1628), der Habeas Corpus Akte (1679) und der Bill of Rights (1689). Darin wurden den britischen Bürgern primär Freiheitsrechte und die Garantie eines gerechten Verfahrens verbrieft.23
Die USA folgten im 18. Jahrhundert mit der Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, die als »Krönung« der Entwicklung früher Grundrechtsdokumente betrachtet wird, die aber selbst keinen umfassenden Grundrechtskatalog beinhaltet – im Unterschied zur wenige Tage älteren Bill of Rights des Staates Virginia, mit der »der erste moderne Grundrechtskatalog geschaffen wurde«.24 Darin heißt es, dass alle Menschen »von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig sind und gewisse ihnen innewohnende Rechte besitzen«.25 In der Unabhängigkeitserklärung von 1776 steht: »Alle Menschen sind gleich geboren (…) sie sind von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet.« »Alle Menschen« bezog sich jedoch nur auf Männer und weder auf Frauen noch auf Sklaven. Es würde noch eine Zeit dauern, bis wirklich »alle Menschen« gemeint sind. 1789 entstand die legendäre Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich. Auch in ihrer Präambel werden die »natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Rechte des Menschen« angerufen. Sie ist bis heute Bestandteil der französischen Verfassung und hatte auch in anderen europäischen Ländern maßgeblichen Einfluss auf Grundrechtskodifikationen in Verfassungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach und nach verankert wurden.
Das große Movens hinter der internationalen Entwicklung der Menschenrechte nach dem Zweiten Weltkrieg war die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus. Die Lehren aus Holocaust und Krieg beschleunigten den Beschluss und die Verankerung von Menschenrechtskonventionen. Was im internationalen Kontext als Menschenrechte bezeichnet wird, niedergelegt in völkerrechtlichen Konventionen, wird im nationalstaatlichen Kontext als »Grundrechte« verankert, üblicher Weise in der Verfassung oder bezogenen Rechtsquellen. Seit dem Zweiten Weltkrieg beziehen sich die meisten Verfassungen auf die UN-Abkommen, die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK, und die EU-Mitgliedsstaaten zusätzlich auf die Grundrechte-Charta der EU.
Im Unterschied zur Vorläuferorganisation Völkerbund war die UNO von Beginn an die Zentralstelle der Proklamation, Kodifizierung und zunehmend auch Durchsetzung der Menschenrechte. »Die Vereinten Nationen wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um weitere Kriege zu verhindern und die Würde der menschlichen Person auf Grundlage der Menschenrechte wiederherzustellen.«26 Der UNO gehören heute 193 Staaten an, und sie verfolgt vier übergeordnete Ziele: Friede und Sicherheit, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung – Grundsäulen, die einander bedingen. Kristallisationskern des internationalen Menschenrechts ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948. Obwohl selbst nicht unmittelbar bindend, bildet sie die zentrale völkerrechtliche Grundlage für die zahlreichen späteren verbindlichen Konventionen. Drei davon gelten als herausragend und begründend für die drei »Generationen« oder auch »Dimensionen« von Menschenrechten:
Tabelle 2: UN-Menschenrechtsgenerationen (eigene Darstellung)
Drei Generationen/Dimensionen der Menschenrechte
bürgerliche und politische Rechte
Zivilpakt 1966
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Sozialpakt 1966
kollektive Rechte
Art. 28 AEMR, Afrikanische Charta der Rechte der Menschen und Völker 1981
Während die bürgerlichen und politischen Rechte (Zivilpakt) dem Westen zugeschrieben werden, stammen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (Sozialpakt) aus den sozialistischen Ländern, die erste Verfassung mit einem umfassenden Katalog von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten war die der Sowjetunion von 1936. Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, sind die Universalität und Unteilbarkeit der Menschenrechte Common Sense, und die allermeisten Staaten haben beide Pakte ratifiziert. Ausnahmen gibt es aber noch: Die USA haben bis heute nicht den Sozialpakt und China nicht den Zivilpakt ratifiziert. Auch in Europa gibt es weiterhin Vorbehalte gegen die »Versorgungsrechte«, ein Teil der Intellektuellen will die Menschenrechte strikt auf die »negativen« bzw. Abwehrrechte (gegen staatliche Übergriffe) beschränkt wissen. Dem entgegnet Manfred Nowak, dass eine solche »Reduzierung (…) heute dogmatisch nicht länger aufrechtzuerhalten« sei. »Denn im Prinzip sind alle Menschenrechte justiziabel und verpflichten den Staat gleichermaßen zur Achtung (Abwehranspruch), zur Gewährleistung (Leistungsanspruch) und zum Schutz gegen Dritte.«27 Als dritte Generation gelten die Kollektivrechte der ehemaligen Kolonien des Globalen Südens auf eigenständige Entwicklung und Selbstbestimmung gegenüber den Staaten des Nordens, die in der Afrikanischen Charta der Rechte der Menschen und Völker von 1981 zum Ausdruck kommen, welche wiederum auf Artikel 28 der AEMR basiert. Die Konvergenz der drei Generationen gelang formell auf der Wiener Weltkonferenz über die Menschenrechte 1993. Umringt von 1500 teilnehmende NGOs aus Süd und Nord hielten die 171 Teilnehmerstaaten in der Wiener Erklärung fest: »Alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang.«28
Die Kontrolle der Einhaltung Menschenrechte erfolgt heute im Wege eines universellen Berichtsprüfungsverfahrens (»Universal Periodic Review«).29 Bei besonders schweren Menschenrechtsverletzungen, die den Weltfrieden und die internationale Sicherheit gefährden, kann der UN-Sicherheitsrat intervenieren und bindende Maßnahmen gemäß Kapitel VII der UN-Satzung ergreifen. Eine verstärkende »Responsibility to Protect« (Verantwortung zum Schutz) der Bevölkerung vor Genozid, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischen Säuberungen wurde am UN World Summit 2005 einstimmig beschlossen. Die Beispiele für Interventionen reichen von Südafrika und den Irak über das ehemalige Jugoslawien bis Somalia und Osttimor. Heute haben alle Hauptorgane der Vereinten Nationen einschließlich des Sicherheitsrates Teilaufgaben des Menschenrechtsschutzes übernommen. Laut Manfred Nowak kommt »damit den Menschenrechten allmählich jene Bedeutung zu, die ihnen von den Autor*innen der UNO-Satzung und AEMR unter dem Eindruck des Nazi-Holocaust ursprünglich zugedacht worden war«.30
Dem 1949 gegründete Europarat gehören aktuell 46 Mitglieder mit 670 Millionen Einwohner*innen an (Russland wurde Anfang 2023 als 47. Mitglied ausgeschlossen). Der Rat beruht auf den Säulen Rechtsstaat, pluralistische Demokratie und Menschenrechte, er wurde als Gegengewicht zu Faschismus und Kommunismus eingerichtet.31 Leitende Organe sind das Ministerkomitee und die Parlamentarische Versammlung, in die Abgeordnete aus den Mitgliedsstaaten entsendet werden. Herzstück ist die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950, Hauptorgan der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Anfangs sollte dieser primär Staatenbeschwerden verhandeln, doch am Ende setzte sich das System der Individualbeschwerde durch. Seit 1998 arbeitet der EGMR hauptamtlich und kann nun von den Bürger*innen der Mitgliedsstaaten direkt angerufen werden, wenn diese die Verletzung eines Konventionsrechtes wahrnehmen.
Die EU gründet sich seit dem Vertrag von Amsterdam 1998 als supranationale Institution auf den Prinzipien Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und Freiheit, die Beachtung dieser zentralen Werte ist eine notwendige Voraussetzung für den Beitritt neuer Mitgliedsstaaten, ihre systematische Verletzung kann zu Sanktionen gegenüber Mitgliedsstaaten führen. Am Gipfel von Nizza im Dezember 2000 einigte sich die EU auf eine – vorläufig unverbindliche – Grundrechtscharta.
In Österreich und Deutschland waren die Grundrechte anfangs gewährte Rechte des monarchischen Souveräns, weshalb weder er noch die Gesetzgebung an sie gebunden waren und fortdauernde Verletzungen von Zensur bis hin zu massiver Verfolgung möglich blieben. In Deutschland änderte sich das mit der Revolution von 1848. Die Paulskirchenverfassung, erarbeitet von der Frankfurter Nationalversammlung, ging von der Souveränität des Volkes aus und beinhaltete einen sehr weitgehenden Grundrechtskatalog, der als Rechtfertigung des Staates galt und Freiheitsrechte wie die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit, die gleiche Ämterzugänglichkeit, die Auflösung des Adelsstandes sowie einen Anspruch auf Schulunterricht umfasste. An solche Rechte sollte auch der Gesetzgeber gebunden sein, sie sollten vor Gericht durchgesetzt werden können, bis hin zur Grundrechtsklage beim Reichsgericht. Die Paulskirchenverfassung wurde 1851 nach Niederschlagung der Revolution wieder aufgehoben und damit nie wirksam.32
Die erste republikanische und demokratische Verfassung, die Weimarer Reichsverfassung von 1919, nahm die Grundrechte der Paulskirchenverfassung auf und entwickelte sie weiter. Neben die klassischen bürgerlichen Freiheitsrechte traten soziale Garantien hinzu wie die Sozialversicherung, die Arbeitslosenunterstützung und der kostenlose Schulunterricht, außerdem die Sozialbindung des Eigentums und die bis heute gültige und im Grundgesetz in Artikel 14 niedergelegte Vorstellung, dass »Eigentum verpflichtet«. Allerdings erlaubte Artikel 48 der Weimarer Verfassung mit der Ausrufung des Notstands eine ganze Reihe von Grundrechten nicht nur einzuschränken, sondern gänzlich auszusetzen. Davon machte Reichspräsident Friedrich Ebert regelmäßig Gebrauch, ebenso sein Nachfolger Paul von Hindenburg, der Hitler zum Reichskanzler ernannte. Die Nationalsozialisten schalteten innerhalb kürzester Zeit das Parlament aus und hoben die Geltung der Grundrechte auf – durch eine weitere Notverordnung des Reichspräsidenten. 1933 beseitigten sie de facto die Weimarer Reichsverfassung.
In Anbetracht dieser historischen Erfahrungen wurde das Grundgesetz zur ersten Verfassung, welche die Grundrechte an die erste Stelle setzte, ganz voran die Würde des Menschen. Um einer Wiederholung der Geschichte vorzubeugen, sahen die Mütter und Väter des Grundgesetzes keinen Notstand mehr vor. Zudem bauten sie in Artikel 79 (3) eine so genannte »Ewigkeitsgarantie« ein. Diese bedeutet, dass eine substanzielle Abänderung der Artikel 1 und 20 unzulässig ist, also eine Einschränkung der Menschenwürde, des Demokratieprinzips, des Prinzips der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltentrennung, des Bundesstaatsprinzips, des Sozialstaatsprinzips oder der Volkssouveränität. Auch eine qualifizierte Mehrheit des Parlaments kann diese nicht ändern. Auf Basis einer Ergänzung 1968 berechtigt das Grundgesetz sogar ausdrücklich zum Widerstand »gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen« (Artikel 20 (4)). Im gleichen Jahr verabschiedete der Bundestag jedoch, teils unter dem Vorwand der Studentenproteste, die so genannten Notstandsgesetze, gemäß der Zeit »die umstrittenste Gesetzesvorlage seit der Wehrverfassung«, 100 Abgeordnete stimmten dagegen, konnten jedoch eine Zweidrittelmehrheit nicht verhindern. Bis heute wurden die Notstandsgesetze zum Glück nicht angewandt, auch in der Corona-Pandemie nicht.33
In Österreich wurde nach mehreren fehlgeschlagenen Vorläufern im Staatsgrundgesetz (StGG) als Teil der Dezemberverfassung 1867 ein »vollwertiger Grundrechtskatalog für Österreich geschaffen«.34 Mit dem im gleichen Jahr erlassenen Staatsgrundgesetz über die Einrichtung eines Reichsgerichtes »war dem Bürger die Möglichkeit eröffnet, gegen Grundrechtseingriffe bei einem unabhängigen Gericht Beschwerde zu erheben«. Allerdings war die Gesetzgebung nicht an diese Grundrechte gebunden, und Artikel 20 ermächtigte zur Suspension derselben. Erst mit dem Beginn der 1. Republik 1918/19 kam die Grundrechtsbindung der Gesetzgebung. Anders als in der Weimarer Verfassung (ab Artikel 109) und im Grundgesetz (ab Artikel 1) gelang es aber nicht, einen eigenen Grundrechtekatalog in das neue Bundesverfassungsgesetz aufzunehmen, dieses verweist auf verschiedene Quellen, mit dem StGG an der Spitze.35 Später kamen als weitere Quellen die internationalen Menschenrechtsabkommen wie insbesondere die EMRK hinzu, die Teil der Verfassung wurde und die im StGG angeführten Grundrechte tendenziell überlagert.36 Dank EMRK und EU-GRC gelten die verschiedenen Menschenrechtsquellen additiv, das heißt, vor Gericht gilt im Falle unterschiedlicher Formulierungen oder Reichweiten das »Günstigkeitsprinzip«: der jeweils wirksamste Grundrechtsschutz für die Betroffenen.37
Im Zusammenspiel der innerstaatlichen und internationalen menschen- und grundrechtlichen Verpflichtungen gilt auch der Grundsatz der Subsidiarität: Zuerst soll der innerstaatliche Grundrechtsschutz in Anspruch genommen werden, danach können internationale Organe angerufen werden, sofern Ersterer dem Schutz der Menschenrechte nicht nachkommt.38 Die Übernahme internationaler Konventionen in nationalstaatliche Verfassung berührt zwangsläufig die nationale Eigenständigkeit. Laut Nowak war die Entwicklung des internationalen Menschenrechtsschutzes »ein permanenter Kampf gegen die staatliche Souveränität«.39 Die Erfahrungen des Nationalsozialismus brachten jedoch auch hier ein Umdenken, das staatliche Souveränitätsdogma wurde nach dem Zweiten Weltkrieg »schrittweise zurückgedrängt«.40 Um diesen Gedanken konsequent zu Ende zu denken: Im äußersten Extremfall würde das bedeuten, dass die UNO in einem Land, das einen »Gesundheitsnotstand« dazu missbraucht, die Grund- und Menschenrechte massiv zu verletzen, zum Schutz derselben einschreiten könnte.
Seit der Wiener Konferenz 1993 gibt es laufend weitere Fortschritte in der Entwicklung des internationalen Menschenrechts. Zum Beispiel trat die UN-Kinderrechtskonvention erst 1990 in Kraft – allerdings konnte sie nicht bewirken, dass in der Pandemie Kinder und Jugendliche in Maßnahmen-Entscheidungen eingebunden und effektiv geschützt wurden.
Der nächste Entwicklungsschritt könnte die stärkere Verankerung und Kodifizierung sozialer Rechte und die damit einhergehende Begrenzung der ökonomischen Ungleichheit sein. Manfred Nowak schreibt: »Die Kausalität zwischen wachsender ökonomischer Ungleichheit und der Verletzung der unterschiedlichen Menschenrechte wie der Rechte auf Gleichheit, Gesundheit, soziale und persönliche Sicherheit ist empirisch gut belegt. (…) Unterlassen die Staaten Maßnahmen zur Verringerung der Ungleichheit, dann verletzen sie ihre positiven Schutz- und Gewährleistungspflichten, die sich aus dem Recht auf soziale Sicherheit und aus anderen wirtschaftlichen, kulturellen und Menschenrechten ergeben.«41 Die Stärkung des sozialen Zusammenhalts ist jedenfalls eine der wichtigsten Herausforderungen der Gegenwart. Eine Verringerung der Ungleichheit führt nicht nur zur Verbesserung vieler sozialer und ökonomischer Indikatoren, sie beugt vor allem auch der Gefahr vor, dass zukünftige Krisen die Ungleichheit noch weiter erhöhen – so wie es das Management der Covid-19-Pandemie getan hat.
Institutionell gibt es bis heute keinen Globalen Gerichtshof für die Menschenrechte. Anlässlich des 60. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte arbeiteten die Menschenrechtsexpert*innen Julia Kozma, Manfred Nowak und Martin Scheinin deshalb ein Statut für einen Weltgerichtshof für Menschenrechte (World Court of Human Rights, WCHR) aus.42 Der vorgeschlagene Weltgerichtshof soll die »enorme Lücke« zwischen den bestehenden Verpflichtungen und dem Mangel an wirksamer Durchsetzung der Menschenrechte schließen. Die rechtliche Grundlage dafür bildete eine Liste von einundzwanzig internationalen Abkommen zum Schutz der Menschenrechte: vom Sklaverei-Abkommen 1926 bis hin zum Internationalen Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwinden-Lassen von 2006. Jede Person, Nichtregierungsorganisation oder Personengruppe, die aussagt, Opfer einer Rechtsverletzung zu sein, soll vor dem Gericht Beschwerde einlegen können, sofern sie die ihr zur Verfügung stehenden nationalen Wege ausgeschöpft hat. Dessen Entscheidungen wären »endgültig und bindend« in Bezug auf Menschenrechtsverletzungen durch staatliche und nichtstaatliche Akteure (zum Beispiel Unternehmen) und würden eine angemessene Entschädigung für die Opfer vorsehen. Ein solcher Gerichtshof für die Menschenrechte könnte an einem UNO-Sitz oder direkt beim Internationalen Gerichtshof in den Haag angesiedelt werden.
Schließlich führten die zunehmende Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen und die wachsende Einsicht, dass die Natur intrinsischen Wert genießt43, zur Forderung, dass nicht nur Menschen, sondern auch die Natur mit Rechten ausgestattet werden müsste (»Rights of Nature«). Gleichzeitig ist eine intakte Natur eine Überlebensbedingung für alle Menschen, wenn man so will, ein »ökologisches Menschenrecht«. Im Juli 2022 wurde das Menschenrecht auf eine »saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt« von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen.44 Diese Entscheidung birgt das Potenzial, dass eines Tages auch ökologische Gerechtigkeit international kodifiziert wird. Die stark wachsende Anzahl von »Klimaklagen« ist Vorbote dieser Weiterentwicklung des Völkerrechts. Im April 2024 gab der EGMR den Schweizer Klima-Senior*innen Recht und bestätigte damit erstmals, dass Klimaschutz auch ein Menschenrecht ist, das von den Mitgliedsstaaten der EMRK gewährleistet werden muss.
Dieser kurze Abriss der Entwicklung der Grund- und Menschenrechte zeigt: Die Geschichte der Grundrechte erscheint als eine konsequente Erfolgsgeschichte und eine kontinuierliche Entwicklung, die nicht abgeschlossen ist. Eine massive Einschränkung von Grund- und Menschenrechten war angesichts dieser konsequenten historischen Entwicklung weder zu erwarten, noch erscheint sie rechtens. Sie stellt vielmehr einen überraschenden Bruch dar und muss allein deshalb grundlegend hinterfragt und sauber aufgearbeitet werden.
An dem kurzen Abriss der historischen Entwicklung hat man gesehen, dass die Prominenz und Gültigkeit der Grundrechte langfristig signifikant zugenommen haben. Vor ihrer Einführung waren Untertanen der Willkür von Autokraten und Monarchen schutzlos ausgeliefert, diese konnten »schrankenlos« herrschen. In Monarchien wurden zwar erste Grundrechtskataloge ausgerufen, konnten jedoch vom Herrscher noch suspendiert werden. Eine erste historische Schranke war der formale Eingriffsvorbehalt oder »Gesetzesvorbehalt«, der besagt, dass Grundrechtseingriffe nur auf Basis eines Gesetzes vorgenommen werden dürfen – um Willkür von Regierung und Verwaltung zu verhindern. Diese Schranke, die zum Beispiel noch für das StGG in Österreich Ende des 19. Jahrhunderts galt, wurde mit der ersten demokratischen Verfassung 1920, mit der die Verfassungsbindung aller Gesetze und die Grundrechtsbindung von Legislative, Exekutive und Judikative eingeführt wurden, weiter verstärkt.45 Mit der Rechtsbindung aller Staatsgewalten haben es die Grundrechte von der historischen Nichtexistenz an die Spitze der Verfassungen moderner Demokratien geschafft.
Zwar sind die Grundrechte in der Regel nicht »unantastbar« wie die Menschenwürde, aber sie sind auch prinzipiell nicht aufhebbar. Sie sind nur einschränkbar, und selbst das nur befristet und bedingt. Eingriffe in Grundrechte sind restriktiv geregelt, und – bis vor Kurzem – immer restriktiver. Einige »absolute« Grundrechte wie das Sklaverei- oder das Folterverbot dürfen gar nicht eingeschränkt werden. Darüber hinaus dürfen »notstandsfeste« Grundrechte auch im Ausnahmezustand oder Kriegsfall nicht stärker als zu Normal- und Friedenszeiten eingeschränkt werden. Zu Letzteren zählen zusätzlich das Recht auf Leben, die persönliche Freiheit, das Verbot der Leibeigenschaft, das Verbot der Todesstrafe und das der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung, das Prinzip »nulla poena sin lege« (keine Strafe ohne Gesetz) und das Verbot der Vorzensur.46 Auch die Gleichheitsrechte zählen zu
den nicht einschränkbaren Grundrechten: »In den Gleichheits(grund)satz eingreifende Normen sind stets verfassungswidrig.«47 Konkret darf der Staat also nie diskriminieren, Menschen sind immer und unter allen Umständen gleichwertig und gleichberechtigt. Auch darf in keiner Situation gefoltert werden, selbst dann nicht, wenn damit Informationen erpresst werden könnten, die Menschenleben retten (»Rettungsfolter«). In diesem Absolutum kommt der Wert der Menschenwürde zum Ausdruck, aus dem alle Grundrechte fließen.
Tabelle 3: Hierarchie der Rechtsnormen (eigene Darstellung)
Element des demokratischen Rechtsstaates
Aktuelle Regelung
Kommentar
Menschenwürde
unantastbar
Höchster Verfassungswert, unterliegt der Ewigkeitsgarantie
Grundrechte ohne Eingriffsmöglichkeit
können nicht eingeschränkt werden
Ausweitung auf weitere Grundrechte andenken
Grundrechte mit Eingriffsvorbehalt
können nicht außer Kraft gesetzt werdenbei Bestehen einer VerhältnismäßigkeitsprüfungEinschränkungen nur befristettrotz mehrerer Bedingungen immer noch weiter Ermessensspielraum für den GesetzgeberGrundrechtsprüfung ist noch zu schwachGesetze
An Verfassung und Grundrechte gebunden
Die Grundrechte stehen über den Gesetzen
Verordnungen
An Gesetze gebunden
»Vorbehalt des Gesetzes« (DE)»Legalitätsprinzip« (Ö)Rechtsstaatsprinzip (beide)Dort, wo Eingriffe in Grundrechte zulässig sind, wird diesen eine Reihe von Grenzen gesetzt. Diese Restriktionen sind historisch gewachsen und befinden sich weiter in dynamischer Entwicklung. Man nennt sie auch »Schranken-Schranken
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