Ethischer Welthandel - Christian Felber - E-Book

Ethischer Welthandel E-Book

Christian Felber

0,0

Beschreibung

Der Gründer der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung Christian Felber widmet sich möglichen Alternativen zu TTIP, WTO & Co, deren Zustandekommen immer unwahrscheinlicher wird. Er plädiert konsequent dafür, der Ideologie von Freihandel, Standortwettbewerb und noch mehr Globalisierung endgültig abzuschwören. Weniger Hürden soll es für jene Staaten und Unternehmen geben, die einen Beitrag leisten, um die eigentlichen Ziele der Wirtschaft zu erreichen: nachhaltige Entwicklung, Verteilungsgerechtigkeit, kulturelle Vielfalt oder sinnvolle Arbeitsplätze. Und Barrieren im Handel für jene, die Menschenrechte missachten, für Klimasünder und Ausbeuter.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 282

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Felber widmet sich in seinem aktuellen Buch einer möglichen Alternative zu WTO & Co und nennt sie »Ethischer Welthandel«. Der Gründer der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung entzaubert in seinem neuen Buch die »Freihandelsreligion« und schlägt eine vollständige Alternative zu dieser wie zum anderen Extrem, dem Protektionismus, vor. Handel wird konsequent als Mittel betrachtet, das den eigentlichen Zielen der Politik dient. Weniger Hürden soll es für jene Staaten und Unternehmen geben, die einen Beitrag zu Menschenrechten, nachhaltiger Entwicklung, Verteilungsgerechtigkeit, kultureller Vielfalt oder sinnvollen Arbeitsplätzen leisten. Und Handelsbarrieren für jene, die Menschenrechte missachten, für Klimasünder und Ausbeuter.

Deuticke E-Book

Christian Felber

Ethischer Welthandel

Alternativen zu TTIP, WTO & Co

Deuticke

Inhalt

I. Einleitung

II. Entstehung und Kritik der Freihandelsreligion

III. Die inhaltliche Alternative: Ethischer Welthandel

1. Stellenwert des Handels.

1 a) Handel ist kein Ziel, sondern Mittel

1 b) Abstimmung globaler Handelsregeln auf die Ziele der Vereinten Nationen

1 c) Die UNO als Sitz des Wirtschaftsvölkerrechts

2. Für ein ethisches Handelssystems in der UNO

2 a) Schutz der Werte und Ziele der Völkergemeinschaft

2 b) Infant Industry Policy/Nichtreziprozität zwischen Ungleichen

2 c) Demokratischen Handlungsspielraum erhöhen

2 d) Ökonomische Subsidiarität, Autarkie, Regionalisierung, Subsistenz

3. Pragmatische Alternative: Gemeinwohl-Bilanz

IV. Die prozessuale Alternative: Souveräne Demokratie

1. Gretchenfrage Demokratie

2. Demokratische Genese des (Wirtschafts-)Völkerrechts

3. Ermutigende Beispiele

4. Fragen an den Handelskonvent

Dank

Anmerkungen

Literatur

I. Einleitung

Freihandel und Protektionismus sind gleich überschießend. Freihandel macht Handel zum Selbstzweck und Protektionismus die Protektion: zwei gleichermaßen sinnleere Positionen. Handel kann wertvoll sein und Protektion sinnvoll. Aber Handel ist genauso wenig ein Ziel an sich wie das Verschließen der Grenzen. Maximale internationale Arbeitsteilung ist genauso blind und verbohrt wie das Anstreben nationaler Autarkie. Niemand kann eine dieser Optionen wirklich wollen. Und doch sind derzeit alle entweder für Freihandel oder bezeichnen diejenigen, die es nicht sind, als »Protektionisten«. Die Ausgangslage für eine differenzierte Sachdebatte – und für das umsichtige Entwickeln von Alternativen – könnte besser sein.

Die Mainstream-Ökonomie wartet leider auch nicht mit Vielfalt zum Thema auf: »Ökonomen streiten die ganze Zeit, nur beim Freihandel scheinen sich alle einig zu sein«, meinte der Träger des Anerkennungspreises für die Wirtschaftswissenschaften (vulgo »Wirtschaftsnobelpreis«) Paul Samuelson.1 Kollege Paul Krugman schrieb 1987: »Wenn es so etwas wie ein Glaubensbekenntnis der Ökonomie gäbe, würde es mit Sicherheit die Sätze ›Ich verstehe das Prinzip der komparativen Kostenvorteile‹ und ›Ich unterstütze Freihandel‹ beinhalten.«2 Jagdish Bhagwati, der »prime warrior of free trade«, bekennt, dass er »nicht müde wird, seine Studenten zu lehren, dass die Aufgabe der unaufhörlichen Verteidigung unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse zugunsten von Freihandel (…) eine Pflicht ist«. Er habe zwar Verbündete in diesem Kampf, »aber das ist noch nicht die Armee (…), die ich befehlen kann und die wir benötigen«.3 Glaubenskrieger Bhagwati bedauert gleichzeitig »die Tatsache, dass die Theorie nur selten in der breiten Bevölkerung auf Glaubwürdigkeit gestoßen ist«.4

Nach TTIP und CETA: Von der Traufe in den Platzregen?

Damit hat er ziemlich recht: Während dieses Buch geschrieben wurde, standen die bislang ehrgeizigsten Freihandelsprojekte CETA und TTIP ebenso auf der Kippe wie das transpazifische TTP. In Europa unterschrieben 3,2 Millionen EU-BürgerInnen eine Petition gegen das transatlantische Handelsabkommen TTIP. In Deutschland gingen 300.000 BürgerInnen gegen TTIP und CETA auf die Straße. Anfang 2016 befürworteten 15 Prozent der Menschen in den USA und 17 Prozent in Deutschland TTIP.5 In Österreich sprachen sich im September 2016 in einer repräsentativen Umfrage vier Prozent für TTIP und sechs Prozent für CETA aus.6 Eine Woche später stimmte der österreichische Bundeskanzler im EU-Rat für CETA. Doch auch wenn Hunderttausende gegen »Freihandel« auf die Straße gehen, sie sind deswegen keine Protektionisten. Sie wollen eine andere Handelspolitik, alternative Spielregeln, jenseits der Extreme und Ideologien. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Auch wenn TTP, TTIP und CETA quasi besiegt sind, sind wir unverändert in der nur unwesentlich weniger schlechten Welthandelsorganisation WTO gefangen. Ebenso bestehen rund 3400 bilaterale Investitionsschutzabkommen weiter. Neben dem WTO-Tribunal, das sich auf Gesetze zum Schutz der Gesundheit oder Umwelt eingeschossen hat, gibt es Investitionsschiedsgerichte, welche Direktklagen von multinationalen Konzernen gegen Staaten entgegennehmen. Die Klage von Vattenfall gegen die Bundesrepublik Deutschland im Ausmaß von 5,6 Milliarden Euro wurde vor TTIP und CETA eingereicht, und die Klage von Fraport gegen die Philippinen, die der Konzern Ende 2016 gewann, geht auf ein bilaterales Abkommen zwischen Deutschland und den Philippinen zurück. Deutschland ist auch hier Weltmeister und hat 140 solcher Abkommen ratifiziert, die EU insgesamt 1400. Parallel zu CETA und TTIP verhandelt die EU mehr als zwei Dutzend weitere Freihandelsabkommen. Wir haben es also nur von der TTIP-Traufe in den Dauerplatzregen eines bestehenden vielschichtigen Freihandelsregimes geschafft.

Die Proteste gegen die Welthandelsorganisation WTO hatten schon früher begonnen. Sie waren 1999 in Seattle so heftig geworden, dass sie zum ergebnislosen Abbruch der Konferenz beitrugen. Dieselben, die gebetsmühlenhaft das Argument bemühen, dass Freihandel Demokratie bringe, verlegten die Folge-Konferenz nach Doha: eine Wüstendiktatur mit Demonstrationsverbot. Die angeschlagene WTO ist seither nicht genesen. Die »Doha-Entwicklungs-Runde« ist am Ende, der Glaube an den Freihandel schwindet weltweit. »Das multilaterale System löst sich allmählich auf«, schreibt Joseph Stiglitz.7 Donald Trump, der konservative Milliardär, der eigentlich Reserveoffizier in Bhagwatis Armee sein müsste, tönte: »Die Welthandelsorganisation ist ein Desaster.«8 Sigmar Gabriel kämpft für Freihandel, Donald Trump wettert dagegen, unter Beifall von Hillary Clinton, deren Mann den »Fehlschlag NAFTA«9 verantwortet – da ist die Meinungslandschaft in kurzer Zeit ziemlich durcheinandergeraten. Anders als die Interessenlage.

»Fundamentalismus«10

Das Kuriose an der politischen Diskussion über Handel ist, dass sich nicht, wie vielerorts sonst, das goldene Maß, ein Kompromiss zwischen zwei Extrempositionen durchgesetzt hat, sondern eine der Extrempositionen: »Freihandel« ist am treffendsten damit zu definieren, dass Handel Selbstzweck ist. Und das ist bereits der Grundfehler. Denn das bedeutet, dass ein Mittel zum Zweck wird und die eigentlichen Ziele und Werte darunter leiden. Die Selbstzweckwerdung des Handels spiegelt im Kleinen die Selbstzweckwerdung des Kapitals im Großen wider: Im Kapitalismus ist das Kapital vom Mittel zum Zweck geworden. Alle anderen Ziele und Werte leiden darunter, am Ende das Gemeinwohl.

Absurdistan

Wie absurd die Position »je mehr Handel, desto besser« ist, zeigt sich spätestens, wenn man diesen Gedanken zu Ende denkt. Die WTO jubelt, dass das Volumen des Welthandels seit 1870 von 5,5 Prozent der damaligen Wirtschaftsleistung auf 17,7 Prozent Mitte der 1990er Jahre und seither noch schneller auf 30 Prozent 2015 angewachsen sei.11 Der größte Jubel müsste dann logischerweise bei 100 Prozent stattfinden, wenn die internationale Arbeitsteilung und Spezialisierung so weit getrieben wird, dass alles, was weltweit produziert, exportiert und alles, was weltweit konsumiert, importiert wird. Das wäre der Zustand der vollständigen internationalen Arbeitsteilung und des freiestmöglichen Handels: eine neurotische Zwangsvorstellung. Wenn aber das Maximum nicht das Beste ist, dann muss das Nachdenken mit der Frage beginnen, warum 17,7 Prozent besser sein sollen als 5,5 Prozent. Und die In-Aussicht-Stellung, dass der transatlantische Handel durch TTIP um 80 Prozent12 und dank CETA um über 55 Prozent13 zunehmen könnte, wäre unter diesem Blickwinkel mehr ein Multi-Stress-Szenario für alle Betroffenen denn ein wünschenswertes Ziel.

Konzernmacht

Der Grund für die Selbstzweckwerdung des Handels könnte recht einfach darin liegen, dass mehr Handel schlicht mehr Geschäft für die Händler bedeutet. Und die maßgeblichen »Händler« sind heute transnationale Konzerne. Ein Drittel des Welthandels ist »Intrakonzernhandel«, ein weiteres Drittel Handel zwischen den Konzernen und das verbleibende Drittel Handel zwischen dem Rest der Akteure. Die Macht der Konzerne und ihrer Lobbys ist inzwischen so groß, dass im Völkerrecht tendenziell das Handelsrecht (inklusive dem Schutz von Investitionen und Patenten) über die Menschenrechte, Umwelt- und Klimaschutz, kulturelle Vielfalt oder Verteilungsziele gestellt wird und diese Rechte sogar außer Kraft zu setzen droht.

Freihandel wird zum allumfassenden Grundrecht von juristischen Personen – bei denen es einst fraglich war, ob sie überhaupt Rechte haben sollten. Und wie ein Grundrecht darf er auch nicht mehr eingeschränkt werden. Versuche der Regulierung, Steuerung, Dosierung oder Beschränkung von Handel werden zunehmend völkerrechtlich illegalisiert und kriminalisiert. Der lokalen, regionalen und nationalen Demokratie werden Handschellen angelegt, zum Beispiel durch:

– das Verbot der Bevorzugung lokaler Unternehmen im öffentlichen Einkauf und anderer regional-, arbeitsmarkt- und strukturpolitischer Maßnahmen;

– die Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen, mit Druck und sogar mit Zwang, wenn sie in Ausnahmelisten vergessen wurden;

– das Verbot, Anforderungen an Investoren zu stellen, vorgesehen zum Beispiel im 1998 gescheiterten Multilateralen Abkommen über Investitionen (MAI);

– Investitionsschutzabkommen, die Konzernen ausschließlich Rechte verleihen und Gaststaaten (Demokratien) ausschließlich Pflichten auferlegen;

– den strengeren Schutz von geistigem Eigentum als von Menschenrechten;

– direkte Klagerechte für Konzerne (ISDS) und die Einrichtung von Ad-hoc-Gerichten, welche diese Klagen entgegennehmen und verhandeln;

– neue suprastaatliche Institutionen, die verhindern sollen, dass neue Gesetze und Regulierungen den Handel stören; und diese entsprechend zurichten, bevor sie in die Parlamente kommen (»regulatorische Kooperation«);

– das Verbot, dass Gesetze zum Schutz der Gesundheit oder der Umwelt den Handel mehr einschränken »als nötig« – im Zweifelsfall entscheidet das WTO-Gericht.

Zwang statt Freiheit

Offene Grenzen für Waren und Dienstleistungen sind ein Kernelement des Washington Consensus, besser bekannt als »Neoliberalismus«. Ich verwende lieber »Pseudoliberalismus«, weil er mehr von der Freiheit spricht, als sie zu erfüllen: Es geht ihm einseitig um Wirtschaftsfreiheiten für juristische Personen (transnationale Konzerne). Und einseitig um den Schutz des Privateigentums auf Kosten aller anderen Freiheiten, Eigentumsformen und der kulturellen Vielfalt.

Der Washington Consensus startete in den 1980er Jahren rund um Weltbank, Währungsfonds und das US-Finanzministerium; politisch mit Ronald Reagan (Reaganomics) und Margaret Thatcher (Thatcherism) und ideologisch mit der österreichischen Schule der Nationalökonomie (Friedrich von Hayek, Chefberater von Margaret Thatcher) und den von ihr inspirierten Chicago Boys rund um Milton Friedman (Chefökonom von Ronald Reagan).

Der New-York-Times-Kolumnist Thomas Friedman, ein Befürworter des Washington Consensus, hat für die Kombination aus Freihandel, Standortwettbewerb und Austeritätspolitik den Begriff »Goldene Zwangsjacke« geprägt. Das ist verblüffend ehrlich: Es geht um Zwang, nicht um Freiheit. »Um in die Goldene Zwangsjacke zu passen, muss ein Land die folgenden goldenen Regeln entweder anwenden oder sich ihnen sichtlich annähern: den privaten Sektor zum primären Motor des Wirtschaftswachstums machen, die Inflation niedrig halten, die staatliche Bürokratie verringern, den Staatshaushalt so ausgeglichen wie möglich halten oder sogar im Überschuss, Importzölle eliminieren, Beschränkungen für ausländische Investitionen aufheben …«14

Friedman benennt als Schneiderin der Goldenen Zwangsjacke Margaret Thatcher, die ehemalige britische Premierministerin, »die als eine der großen Revolutionärinnen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird«. Gleich wie die Eiserne Lady bezeichnet auch er die Zwangsjackenpolitik nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus als alternativlos: »Der freie Markt ist die einzige Ideologie, die übrig geblieben ist.«15 Diesen Gedanken hat Francis Fukuyama als »Ende der Geschichte« verbreitet. Die Goldene Zwangsjacke sei zwar »nicht immer schön oder nett oder bequem – aber sie ist da, und es ist das einzige Kleidungsstück im Regal in dieser historischen Saison«. Das Versprechen, dass die Zwangsjacke »umso mehr Gold produziert, je enger man sie anzieht«,16 mag vielleicht für König Midas – die mythische Figur, die auf eigenen Wunsch alles zu Gold machte, was sie berührte, und dabei beinahe verhungerte – attraktiv klingen, doch für freiheitsliebende Menschen – und auch für Demokratien – bleibt auch ein goldener Käfig ein Gefängnis und eine Zwangsjacke eine Horrorvorstellung.

Zweck des Handels

Dieses Buch versucht konsequent den Zweck des Handels in den Blick zu nehmen. Der Zweck ist die umfassende Umsetzung der Menschenrechte, nachhaltige Entwicklung – die Entwicklungs- und Nachhaltigkeitsziele der UNO –, ein gutes Leben für alle oder eben das Gemeinwohl. Handel soll den Menschenrechten und den Grundwerten eines demokratischen Gemeinwesens dienen, dann ist er am richtigen Platz, dann erfüllt er seine Aufgabe und hat seine Berechtigung. In diesem Buch werde ich das Freihandelsparadigma argumentativ entkleiden – und ein anderes Paradigma vorschlagen: das Paradigma des ethischen Handels. Bei den Recherchen zum Thema fielen mir zwei Dinge auf: Zum einen gibt es eine überraschende Fülle an Alternativansätzen. Doch diese werden öffentlich kaum diskutiert und von der Freihandelsfangemeinde ignoriert. »Freihandel« ist offenbar hegemonial geworden: Menschen haben Angst, eine abweichende Position zu vertreten. Die folgende Übersicht zeigt, wie dogmatisch und orthodox die handelspolitische Diskussion geführt wird und wie vielfältig der Schatz der Alternativen ist.

Aktuelles Paradigma

Autor/Autorin

Vorschlag/Idee

Adam Smith

Absolute Vorteile

David Ricardo

Komparative Vorteile

Heckscher-Ohlin-Theorem

Faktorproportionen-Modell mit Konvergenz-Annahme

Paul Samuelson

»Brauchen keine neue Theorie für den internationalen Handel«17

Jagdish Baghwati

Armee für Freihandelsidee

GATT

Meistbegünstigung + Inländerbehandlung

WTO

»Nichtdiskriminierung«

Thomas Friedman

Die Welt ist flach – Goldene Zwangsjacke

Francis Fukuyama

Ende der Geschichte

CETA

»Regulatorische Kooperation«

TTIP

»Goldstandard für den Welthandel«

BITs und ICSID

Klagerechte für Konzerne (ISDS)

Zölle als Mittel

Vielleicht nicht das wichtigste, aber auch kein prinzipiell zu verschmähendes Mittel der Handelspolitik sind Zölle, die heute unverändert eine Rolle spielen. Die von der EU im Durchschnitt erhobenen Zölle betragen zwar nur 1,3 Prozent, doch die 2014 daraus erzielten Einnahmen von 21,9 Milliarden Euro (minus 25 Prozent, die an die Mitgliedsstaaten gingen) trugen stolze 12,4 Prozent zum Gesamthaushalt der Europäischen Union bei – das war sogar eine Steigerung gegenüber 2013, wo es nur elf Prozent waren.18 In Deutschland arbeiten 35.000 Menschen für den Zoll. In Russland gibt es 55.000 und in den USA und in China je 60.000 Zöllner.19 Im Durchschnitt belegen die Industrieländer heute ihre Importe mit fünf Prozent Zoll.20 In den nichtindustrialisierten Ländern fiel der durchschnittliche Zoll von 25 Prozent Ende der 1980er Jahre auf elf Prozent 2005.21

Alternatives Paradigma

Autor/Autorin

Vorschlag/Idee

Friedrich List

Erziehungszölle

John Maynard Keynes

Clearing Union

Prebisch-Singer-These

Ungleicher Tausch und Importsubstitution

Vandana Shiva

Freihandel ist der Protektionismus der Mächtigen

Ha-Joon Chang

Eigenständige Technologie- und Industriepolitik

Helena Norberg-Hodge

Localisation

George Monbiot

Organisation für fairen Handel

UNCTAD

Handel als Mittel für nachhaltige Entwicklung

Dani Rodrik

Trilemma der Globalisierung

Corporate Europe Observatory und NGOs

Alternative Trade Mandate

Manfred Nowak, Julia Kozma, Martin Scheinin

World Court for Human Rights

Gemeinwohl-Ökonomie

Ethischer Welthandel

In den meisten Weltregionen machen Zölle immer noch ein Viertel der Steuereinnahmen aus, in Südostasien sind es 33 Prozent, in Süd- und Ostafrika 35 und in West- und Zentralafrika 42 Prozent.22 In Mexiko haben sich die Zolleinnahmen nach dem NAFTA-Beitritt annähernd halbiert.23 Das Wirtschaftswachstum pro Kopf ging in Mexiko in den ersten zehn Jahren nach NAFTA auf 1,8 Prozent zurück. Zwischen 1948 und 1973 lag es bei 3,2 Prozent.24 Zölle sind ganz sicher kein Selbstzweck (im Sinne von: je höher die Zölle, desto besser). Sie sind aber auch nicht das Gegenteil von Freihandel (das wäre ein generelles, alle Warengruppen betreffendes Ein- und Ausfuhrverbot). Zölle sind ein wirksamer Hebel, um verschiedene Politikziele feinzusteuern. Auf einem Mittelweg zwischen Freihandel und Abschottung werden Zölle auch in Zukunft eine Rolle spielen – als Mittel der ethischen Handelspolitik und als nicht zu vernachlässigende Ressourcen im Staatshaushalt.

Qualitative statt quantitative Freiheit

Ein Hemmnis gegen eine erkenntnisorientierte Diskussion in den letzten Jahrzehnten war auch die Praxis, dass die neoliberale Ideologie Sonderinteressen einfach mit dem Wörtchen »frei« verknüpft hat und diese allein dadurch von vielen Menschen unterstützt wurden: Wer ist schon gegen »Freihandel«, »freie Marktwirtschaft«, »freien Kapitalverkehr« oder »free enterprise«? Doch Freiheiten liegen miteinander im Dauerkonflikt, genauso wie es die Interessen tun. Und die Freiheit des einen ist nicht automatisch die Freiheit des anderen – weshalb wir uns dem Freihandel und der freien Marktwirtschaft gerade aus einer Freiheitsperspektive sehr vorsichtig annähern müssen. Es bedarf sauberer Definitionen und am Ende einer demokratischen Entscheidung, welcher Freiheit wir Vorrang vor welcher anderen geben wollen.

Der Direktor des Weltethos-Instituts Claus Dierksmeier hat 2016 ein Werk vorgelegt, das uns hilft, Freiheiten qualitativ gegeneinander abzuwägen, anstatt dem quantitativen Kurzschluss aufzusitzen, dass jedes Mehr jeder Freiheit immer besser sei.25 Für die Diskussion der Für und Wider des Freihandels ist dieses Instrumentarium äußerst hilfreich. Manche Abwägungen sind klar und einfach, zum Beispiel: Ist die Wirtschaftsfreiheit des Sklavenhalters höher einzustufen als die Menschenwürde und das Recht der betroffenen Menschen auf Freiheit, einen legalen Arbeitsvertrag, ein menschenwürdiges Einkommen und humane Arbeitsbedingungen?

In zahllosen anderen Zielkonflikten liegt es nicht sofort auf der Hand, es gilt aber ebenso differenziert qualitativ abzuwägen, anstatt einfach Freihandel zu propagieren – mit der Unterstellung, dass dadurch alles für alle besser würde. Zum Beispiel:

Ist uns die zusätzliche Freiheit, neben solarer Energie, Wind-, Biomasse- und hydraulischer Energie auch noch Atomenergie wählen zu können, mehr wert als die Freiheit, ohne Angst vor Verstrahlung und einem GAU zu leben?

Zählt die Freiheit der Bayer-Eigentümer, Monsanto kaufen zu dürfen, mehr als die Freiheit von Zulieferern, KonsumentInnen und PolitikerInnen und der Gesellschaft, nicht von einem noch mächtigeren Großkonzern abhängig zu sein?

Ist die Freiheit Deutschlands, einen Rekord-Leistungsbilanz-Überschuss zu erzielen, höher einzustufen als die Freiheit, sich in einem multilateralen Handelssystem zu wissen, in dem alle teilnehmenden Staaten tendenziell ausgeglichene Leistungsbilanzen aufweisen?

Ist die Freiheit, Produkte und Dienstleistungen mit hohem ökologischen Fußabdruck zu konsumieren, höher einzustufen als die gleichen Lebensrechte und -chancen zukünftiger Generationen?

Ist die Investitionsfreiheit wichtiger als die Freiheit, ausländische Investitionen demokratisch zu regulieren?

Wenn nein, warum ist das alles dann legal und im Einklang mit den WTO-Spielregeln? Wieso haben so wenige Ökonomen ein Problem damit, dass Freihandel ohne Rücksicht auf Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung durchgesetzt wird?

Die EU-Kommission schreibt in ihrer aktuellen handelspolitischen Strategie ganz pauschal und undifferenziert: »Europa darf nicht in Protektionismus verfallen. Protektionismus erhöht die Preise für Unternehmen und Verbraucher und verringert die Auswahl.«26 Punkt und Ende der Durchsage. Das ist zu einfach. Wie konnte Freihandel zur »Religion unserer Zeit«27 werden?

II. Entstehung und Kritik der Freihandelsreligion

Adam Smith: Absolute Vorteile

Der erste prominente Fürsprecher des Freihandels war Adam Smith. Mit seinem zweiten Hauptwerk, dem »Wohlstand der Nationen«, legte der schottische Moralphilosoph 1776 den Grundstein für die klassische Wirtschaftswissenschaft. Darin schrieb er gegen den damals vorherrschenden Merkantilismus an, dessen Strategie lautete: möglichst viel exportieren, möglichst wenig importieren. Smith verwies zwar wiederholt auf die Tatsache, dass »der Binnenhandel wohl die wichtigste Handelssparte überhaupt [ist], in der sich mit gleich viel Kapital der Wohlstand des Landes am stärksten erhöhen und die größte Wirkung auf die Beschäftigung erzielen lässt«.1 Gleichzeitig beklagte er die Allgegenwart von Zöllen: »Wer sich nicht gut in den Zollgesetzen auskennt, kann überhaupt nicht ermessen, wie hoch die Zahl der Waren ist, deren Einfuhr nach Großbritannien entweder völlig oder unter bestimmten Umständen verboten ist.«2 Smith entwickelte vor diesem Hintergrund die Theorie der »absoluten Kostenvorteile«: Wenn ein Land A aufgrund seiner geografischen, klimatischen oder kulturellen Gegebenheiten bestimmte Güter kostengünstiger oder in besserer Qualität herstellen konnte als ein anderes Land, und Land B andere bestimmte Güter, läge es im Interesse beider Länder, diese »Spezialitäten« im freien Handel ohne Zollhürden auszutauschen. Smith leitete seine Theorie aus dem Prinzip der Arbeitsteilung ab und startete den Gedankengang in der Familie: »Ein Familienvater, der weitsichtig handelt, folgt dem Grundsatz, niemals etwas selbst herzustellen versuchen, was er sonst wo billiger kaufen kann.« Man merke: niemals. »So sucht der Schneider, seine Schuhe nicht selbst zu machen, er kauft sie vielmehr vom Schuhmacher. Dieser wiederum wird nicht eigenhändig seine Kleider nähen, sondern lässt sie vom Schneider anfertigen. Auch der Bauer versucht sich weder an dem einen noch an dem anderen, er kauft beides jeweils vom Handwerker«, so Smith, der nicht Familientherapeut war, sondern Moralphilosoph: »Alle finden, dass es im eigenen Interesse liegt, ihren Erwerb uneingeschränkt auf das Gebiet zu verlegen, auf dem sie ihren Nachbarn überlegen sind, und den übrigen Bedarf mit einem Teil ihres Erzeugnisses oder, was dasselbe ist, mit dem Erlös daraus zu kaufen.«3 »Uneingeschränkt« ist eine ebenso unvorsichtige Wortwahl wie »niemals«. Im nächsten Gedankenschritt überträgt Smith die Idee einer lokalen arbeitsteiligen Ökonomie auf ganze Nationen: »Was aber vernünftig im Verhalten einer einzelnen Familie ist, kann für ein mächtiges Königreich kaum töricht sein. Kann uns also ein anderes Land eine Ware liefern, die wir selbst nicht billiger herzustellen imstande sind, dann ist es für uns einfach vorteilhafter, sie mit einem Teil unserer Erzeugnisse zu kaufen, die wir wiederum günstiger als das Ausland herstellen können.«4 Diese Zeilen sind die Geburt der Freihandelsideologie.

Rasch wird bei dieser Ausgangsüberlegung jedoch klar, dass nicht alle Länder gleich viele und gleich häufig gebrauchte Güter am günstigsten herstellen können, weshalb es in einem globalen Handelssystem, das auf absoluten Kostenvorteilen beruht, GewinnerInnen und VerliererInnen geben würde: Ohne Ausgleichsmaßnahmen würde das System rasch aus dem Gleichgewicht geraten.

David Ricardo: Komparative Kostenvorteile

40 Jahre später, 1817, entwickelte deshalb David Ricardo den Grundgedanken von Adam Smith weiter. Er fand eine mathematische Lösung, wie ein Handelssystem allen beteiligten Ländern Vorteile verschaffen könnte, selbst wenn nicht alle Länder über absolute Vorteile bei bestimmten Gütern oder Dienstleistungen verfügten. Der Herr, dem Ricardo bei der Entwicklung seines Theorems diente, war das Gemeinwohl: »Bei einem System des vollkommen freien Handels wendet natürlich jedes Land sein Kapital und seine Arbeit solchen Zweigen zu, die für jedes am vorteilhaftesten sind. Dieses Verfolgen des individuellen Vorteils ist bewundernswert mit dem allgemeinen Wohle des Ganzen verbunden.«5 Ricardo führt seine Überlegungen anhand der Weinproduktion in Portugal und der Tuchproduktion in Großbritannien aus. Bei verteilten absoluten Vorteilen ist es verständlich, dass sich jedes Land auf das spezialisiert, was es besser kann als das andere. Doch selbst wenn Portugal sowohl Wein als auch Tuch billiger herstellen könnte als Großbritannien, würde es sich für beide lohnen, dass Portugal sein gesamtes Kapital in den Weinbau investiert und Großbritannien nur Tücher herstellt, weil Portugal in der Herstellung von Wein relativ besser ist: gemessen an dafür benötigten Arbeitsstunden (das wird später noch relevant). Lesen wir das Original: »England kann in einer solchen Lage sein, dass die Erzeugung des Tuches die Arbeit eines Jahres von 100 Leuten erfordert, und wenn es versucht, den Wein herzustellen, so wird vielleicht die Arbeit gleicher Zeitdauer von 120 Leuten benötigt werden. England wird daher finden, dass es seinen Interessen entspricht, Wein zu importieren und ihn mit Hilfe der Ausfuhr von Tuch zu kaufen. Um den Wein in Portugal herzustellen, ist vielleicht nur die Arbeit von 80 Leuten während eines Jahres erforderlich, und um das Tuch in diesem Lande zu produzieren, braucht es vielleicht die Arbeit von 90 Leuten während der gleichen Zeit. Es ist daher für Portugal von Vorteil, Wein im Austausch für Tuch zu exportieren.« Und jetzt kommt es: »Dieser Austausch kann sogar stattfinden, obwohl die von Portugal importierte Ware dort mit weniger Arbeit als in England produziert werden kann. Wenngleich es das Tuch durch die Arbeit von 90 Leuten erzeugen kann, wird Portugal dieses doch aus einem Land einführen, wo man zu seiner Herstellung die Arbeit von 100 Leuten benötigt, da es für Portugal von größerem Vorteil ist, sein Kapital in der Produktion von Wein anzulegen, wofür es von England mehr Tuch bekommt, als es durch Übertragung eines Teiles seines Kapitals vom Weinbau zur Tuchfabrikation produzieren könnte.«6

Möglicherweise ahnend, dass er seinen Gedanken noch nicht für alle verständlich auf den Punkt gebracht hatte, wird er in einer darauf folgenden Fußnote – der einzigen im Kapitel »Über den auswärtigen Handel« – unmissverständlich: »Zwei Menschen können beide Schuhe und Hüte erzeugen, und einer ist dem anderen in beiden Tätigkeiten überlegen. Aber in der Herstellung von Hüten kann er seinen Konkurrenten nur um ein Fünftel oder 20 Prozent überflügeln, und in der Schuherzeugung übertrifft er ihn um ein Drittel oder 33 Prozent. Wird es nicht in beider Interesse liegen, dass der Überlegene sich ausschließlich mit der Schuherzeugung und der Unterlegene mit der Hutmacherei beschäftigt?«7 Das Kronjuwel der Außenhandelstheorie steckt in einer Fußnote.

Wäre das Dasein eine mathematische Matrix; würden alle Menschen kalkulieren wie Maschinen; und ginge es im Leben vor allem ums Geld, dann hätte so eine – korrekte – mathematische Rechnung auch Praxisrelevanz. Doch im Leben geht es nicht primär ums Geld, und Ricardos Rechnung lässt so gut wie alles außen vor, was das Leben lebenswert und überhaupt ausmacht: Werte, Sinn, Gefühle, Beziehungen, Gemeinschaft, Demokratie, Traditionen, Umwelt, kulturelle Vielfalt … Der einleuchtende Vorteil von Ricardos Rechnung ist mehr Finanz-Effizienz. Doch geht es im Leben, geht es in der »Ökonomie« primär um Finanz-Effizienz?

Das Effizienzverständnis, das wir hier antreffen – Wie erreiche ich eine höhere Profitrate? Wie erziele ich die niedrigsten Preise? Wie erhöhe ich meine quantitativen Konsummöglichkeiten? –, ist bei genauer Betrachtung gar kein »ökonomisches«, sondern ein chrematistisches. In der Ökonomie geht es um das gute Leben; Geld und Finanz-Effizienz sind nur Mittel – anders als in der Chrematistik, dort geht es um Geld und Profit. Die Unterscheidung von »oikonomia« (die Ordnung des Hauses) und »chrematistike« (die Kunst des Gelderwerbs) verdanken wir Aristoteles.8 In der »oikonomia« gilt Geld nur als Mittel und dient dem »guten Leben« aller Haushaltsmitglieder und einer gerechten »Gesellschaft«. In der Chrematistik wird es zum Ziel und Selbstzweck, auch wenn es den Haushaltsmitgliedern oder dem Haus selbst (»oikos«) schlechter geht. Wenn Gelderwerb zum Ziel mutiert, ist mehr Geld, eine höhere Rendite, ein höherer Profit und ein höheres BIP prinzipiell immer besser – ganz egal, wie sich alles andere entwickelt, von der Gesundheit bis zur Demokratie. Das gute Leben, das Gemeinwohl, zieht in der Chrematistik den Kürzeren.

In der als »Ökonomie« verkleideten chrematistischen Wissenschaft, die sich auch noch als Leitwissenschaft versteht9, hat sich Ricardos Rechnung jedenfalls auf breiter Front durchgesetzt. Das Theorem der komparativen Kostenvorteile wird von Historikern als »Kronjuwel der Außenhandelstheorie«10 angesehen und von der WTO sogar als »mächtigste Einzelerkenntnis der ökonomischen Wissenschaft«11. Eine der höchsten Autoritäten der Wirtschaftswissenschaft, Lehrbuchautor und »Nobelpreis«-Träger Paul Samuelson, meinte in einem Gespräch mit dem Mathematiker Stanisław Ulam, dass es sich wahrscheinlich um die einzige Hypothese in der wissenschaftlichen Ökonomie handle, die zugleich wahr und nicht-trivial sei: »Dass sie logisch wahr ist, braucht man einem Mathematiker gegenüber nicht zu begründen; dass sie nicht trivial ist, dafür zeugen die vielen Tausend bedeutenden und intelligenten Menschen, die es niemals geschafft haben, diesen Lehrsatz zu erfassen oder sich von ihm zu überzeugen, nachdem er ihnen erklärt worden ist.«12 Ähnlich wie bei Bhagwati schwingt hier Bedauern über die Unbelehrbarkeit der Ungläubigen mit.

Ricardos Idee hat sich nicht nur gegen die Zweifel der NichtökonomInnen, sondern auch im Wirtschaftsvölkerrecht durchgesetzt. Die Welthandelsorganisation WTO ist das Herz des globalen Freihandelsregimes und beruht auf über 60 völkerrechtlichen Abkommen. Sie ging 1995 aus dem GATT (Allgemeines Zoll- und Handelsabkommen) hervor, das zwischen 1947 und 1994 in acht Verhandlungsrunden schrittweise ausgebaut und vertieft wurde. Die letzte, längst andauernde und umfangreichste Verhandlungsrunde mit neuen Themen wie Landwirtschaft, Textilien, Dienstleistungen (GATS) und geistigen Eigentumsrechten (TRIPS) war die Uruguay-Runde (1986 bis 1994), die in die Gründung der WTO mündete. Der ursprüngliche Plan war allerdings ein anderer: Schon 1948 hätte eine Internationale Handelsorganisation ITO entstehen sollen, als dritte Schwester von Weltbank und Internationalem Währungsfonds. Aus den Bretton-Woods-Drillingen wurden jedoch nur Zwillinge. Denn die ITO wäre einer UN-Organisation würdig gewesen. Sie hätte Arbeitsrechte durchsetzen, Zahlungsbilanzen stabilisieren und Rohstoffpreise regulieren können.13 Dagegen liefen die Wirtschaftslobbys Sturm, bis der US-Kongress einknickte und die ITO abschoss.14 Aus dem Gründungsstatut der ITO, der »Havanna-Charta«, wurde lediglich der Abschnitt über Freihandel herausgelöst und daraus das GATT gezimmert. Anstelle einer ethischen Handelsorganisation kam ein Freihandelsabkommen in die Welt, mit dem Ziel des eindimensionalen Abbaus von Zöllen und »nichttarifären Handelshindernissen«. Letztere sind alle politischen Maßnahmen neben (tarifären) Zöllen, die den reibungslosen Handel in irgendeiner Form beeinträchtigen: technische Normen, Zulassungsprüfungen, Zertifizierungen, Ursprungsregeln, Hygiene-Anforderungen, aber auch Menschenrechte, Arbeitsstandards, Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit, der VerbraucherInnen, der Umwelt, des Klimas oder der Verteilungspolitik. Nur mit der Brille des Freihandels (Handel ist Selbstzweck) kann mensch auf die Idee kommen, dass solche Maßnahmen etwas Negatives sein könnten. Doch in der WTO geht es nicht um das gute Leben, sondern um den freien Handel. Und sie beruft sich dabei auf Ricardo.

»The case for open trade« der WTO

Auf der Website der WTO finden wir die aktuelle Begründung für Freihandel: »Nehmen wir an, das Land A ist besser als Land B in der Herstellung von Autos und Land B ist besser als Land A beim Backen von Brot. Es liegt auf der Hand (Akademiker würden sagen ›trivial‹), dass beide davon profitierten, wenn sich A auf Autos spezialisieren würde und B auf das Backen von Brot, und sie ihre Erzeugnisse danach handelten. Das ist ein Fall von absoluten Vorteilen.

Aber was, wenn ein Land in allem schlechter ist? Würde freier Handel alle Produzenten aus dem Markt drängen? Die Antwort, nach Ricardo, lautet nein. Der Grund liegt im Prinzip der komparativen Vorteile. Es besagt, dass Land A und B immer noch vom Handel miteinander profitieren, selbst wenn A in allem besser ist als B. Wenn A beim Autobauen sehr viel besser ist und beim Brotbacken nur wenig besser, dann sollte A seine Ressourcen in das investieren, was es am besten kann – Autos produzieren – und diese nach B exportieren. Auch B sollte das tun, was es noch am besten kann – Brot backen – und dieses nach A exportieren, auch wenn es darin nicht so effizient ist wie A. Beide würden immer noch vom wechselseitigen Handel profitieren. Ein Land muss nirgendwo am besten sein, um vom Handel zu profitieren. Das ist das Geheimnis des komparativen Vorteils.«15 So die Beschreibung des Kronjuwels 2016 auf höchster Politik-Ebene.

Ich frage meine StudentInnen an der Wirtschaftsuniversität Wien regelmäßig, ob sie dieses Beispiel überzeuge und ob sie es für klug hielten, es bei zwei Ländern, zum Beispiel China und Indien, in die Praxis umzusetzen. Die meisten kennen längst Ricardos Theorem und dessen Säulenheiligen-Status. Dennoch breitet sich regelmäßig betretenes Schweigen aus. Nach längerer Stille murmelt manchmal eine StudentIn etwas von »Effizienzgewinnen«. Korrekt, diese ließen sich bei der praktischen Umsetzung des Beispiels erzielen, zum Beispiel zwischen Indien und China, selbst wenn eines der beiden Länder der bessere Autobauer und Brotbäcker wäre. Doch ist das bereits ein ausreichendes und überzeugendes Argument für Freihandel?

»Die Theorie geht auf den klassischen Ökonomen David Ricardo zurück«, informiert die WTO weiter. »Sie ist eine der am breitesten akzeptierten unter Ökonomen. Sie ist aber auch eine der am häufigsten missverstandenen unter Nicht-Ökonomen, weil sie mit dem Prinzip der absoluten Vorteile verwechselt wird.« Aha. Die Unterscheidung in Gläubige, pardon: Verstehende und Nichtverstehende, gleichgesetzt mit »Ökonomen« und »Nicht-Ökonomen«, kennen wir schon.

Offenbar liegt hier mehr als nur ein Wissensgefälle zwischen ExpertInnen und Nicht-ExpertInnen vor. Offenbar huldigt der Mainstream der ökonomischen bzw. chrematistischen Wissenschaft einer Weltsicht, die von »normalen« Menschen nicht häufig geteilt wird – was Erstere offen beklagen. Das vorliegende Buch wurde von einem (akademischen) Nicht-Ökonomen verfasst, der die Sorgen und Zweifel der Nicht-ÖkonomInnen über weite Strecken teilt. Nach jahrelangem Nachdenken über die ökonomisch-chrematistische Wissenschaft betrachte ich sie zunehmend als Gefahr. Im Folgenden werde ich versuchen, das Kronjuwel Facette um Facette zu »zerlegen« – im Sinne wissenschaftlicher oder wenigstens logischer Dekonstruktion.

Kritikpunkt 1: Globale Planwirtschaft

Nach dem Kronjuwel der Außenhandelstheorie müssten diejenigen Länder, die alles besser können als andere, die Produktion und den Export jener Güter anderen Ländern überlassen, bei denen sie weniger überlegen und die anderen weniger unterlegen sind. Die Besseren müssten den Schlechteren diese Industriezweige in irgendeiner Form abtreten und die daraus resultierenden Gewinne schenken. Dass ein Land so einen generösen Zug getätigt hätte – im Namen einer berühmten Rechnung –, hat jedoch die Welt erstens bis heute nicht gesehen. Und zweitens führt die WTO dafür auch kein praktisches Beispiel an: Das Auto-Brot-Beispiel ist fiktiv. Das allein ist schon mehr als merkwürdig. Stehen wissenschaftliche Kronjuwelen über der Notwendigkeit, sich an der Praxis messen zu lassen?

Wäre so ein Zug überhaupt denkbar? Es müsste ja der eine »Mensch«, diesfalls die VertreterIn einer ganzen Volkswirtschaft, also die Handels- und WirtschaftsministerIn, die UnternehmerInnen der weniger überlegenen Branchen überreden, ihr Handwerk oder ihren industriellen Fleiß bleibenzulassen und freiwillig an ein Land – oder mehrere Länder – mit komparativen Vorteilen abzutreten. Realistisch? Ricardos Denkfehler Nummer eins besteht in der Gleichsetzung von Volkswirtschaften mit »Menschen« – diesen Lapsus teilt er, wie wir sahen, mit Familientherapeut Adam Smith, der eine sehr präzise Vorstellung davon hatte, wie ein Vater zu ticken hat. Smiths Gebot: Übe »niemals« zwei Handwerke gleichzeitig aus! – Selbst dann nicht, wenn du in beiden meisterhaft bist und großen Spaß an der Sache hast! Denn es würde dem Gott der Chrematistik nicht gefallen …

Zu meiner Erleichterung fand ich zwei Ökonomen, die denselben Logikfehler aufdeckten. Herman Daly und John Cobb, Jr. schreiben: »Nehmen wir an, Japan hat sowohl in der Autoproduktion als auch bei Elektrogeräten einen absoluten Vorteil und die USA nur einen relativen in der Autoproduktion. Würde das Japan irgendeinen Anreiz geben, nur noch Elektrogeräte zu erzeugen und Autos aus den USA zu importieren? Offensichtlich funktioniert das so nicht.«16 Es ist noch verquerer: Die USA produzieren Autos und exportieren sie nach Japan; und Japan produziert Autos und exportiert sie in die USA. Die Realität verweigert sich der Theorie. Dieser zufolge müsste sich ein Land auf die Autoproduktion spezialisieren, damit alle die komparativen Vorteile realisieren können. Das wäre zumindest mathematisch am effizientesten.

Im Beispiel der WTO müsste der Handelsminister von Land A (zum Beispiel China) alle Bäcker auffordern, das Brotbacken einzustellen und ihr (in den meisten Fällen wohl bescheidenes) Vermögen in die Autoindustrie zu investieren, auf dass forthin Land B (zum Beispiel Indien) ganz China mit Brot versorge. Eine solch massive Regierungsintervention müsste im Rahmen der WTO auf globaler Ebene stattfinden, alle Handels- und Wirtschaftsminister müssten sich abstimmen und auf dem Reißbrett die Produktion aller Exportgüter »verteilen«. Die konsequente Umsetzung von Ricardos Idee würde eine globale Planwirtschaft erfordern. Doch diese war ganz sicher nicht seine Absicht, und schon gar nicht ist das heute die Politik der WTO. Ein Zentralkomitee für globale Produktionsplanung gibt es nicht. Der von Ricardo hochgelobte Adam Smith warnte sogar ausdrücklich vor einer solchen Anmaßung: »Der Einzelne vermag ganz offensichtlich aus seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse weit besser zu beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun kann, welcher Erwerbszweig im Lande für den Einsatz seines Kapitals geeignet ist und welcher einen Ertrag abwirft, der den höchsten Wertzuwachs erwarten lässt. Ein Staatsmann, der versuchen sollte, Privatleuten vorzuschreiben, auf welche Weise sie ihr Kapital investieren sollten, würde sich damit nicht nur, höchst unnötig, eine Last aufbürden, sondern sich auch gleichzeitig eine Autorität anmaßen, die man nicht einmal einem Staatsrat oder Senat, geschweige denn einer einzelnen Person getrost anvertrauen könnte, eine Autorität, die nirgendwo so gefährlich wäre wie in der Hand eines einzigen Mannes, der, dumm und dünkelhaft genug, sich auch noch für fähig hielte, sie ausüben zu können.«17