Logbuch der Leidenschaft - Marc Bielefeld - E-Book

Logbuch der Leidenschaft E-Book

Marc Bielefeld

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Beschreibung

Von Fernweh und Meersucht: Segelgeschichten zum Träumen und Staunen Herbe Abenteurer, harte Regatta- und Einhandsegler, einfache Hobbyskipper mit dem ersten eigenen Boot – kaum ein Sport bringt so viele unterschiedliche Charaktere, Altersklassen und Biografien zusammen wie das Segeln. In seinem neuen Buch versammelt Marc Bielefeld die Geschichten der unterschiedlichsten Segelpersönlichkeiten. Eine exzentrische Baronin aus dem 19. Jahrhundert steht hier neben dem jungen Matthias Sierck, der statt des Traumjobs nach dem Studium lieber das Ruder in die Hand nimmt. Berühmte Segler wie Bernard Moitessier sind ebenso Teil der Sammlung wie die windverrückte Suzanne van der Veeken, die mit »Hitchsailing« um die Welt trampt. Was all diese Erfahrungsberichte eint, ist ihre tiefe Leidenschaft für Wind, Wellen und flatterndes Segeltuch. • Ein inspirierendes Buch über wahre Begebenheiten und die einzigartige Liebe zum Segeln • Porträts außergewöhnlicher Segler und Seglerinnen über verschiedene Epochen und Biografien hinweg • Bekannte Regattasegler und einfache Abenteurer erzählen, was sie mit dem Segelsport verbinden • Ein besonderes Geschenk für alle Segler und Weltenbummler, die es aufs Meer zieht Geschichten, die das Segeln schreibt: Die bunten Facetten der Segelwelt Ein altes Segelboot und ein Sommer auf dem Wasser: So fing für Marc Bielefeld alles an. Der Autor kennt die Leidenschaft für das Segeln nur allzu gut. Er tauscht regelmäßig seinen festen Wohnsitz gegen das Schaukeln auf den Wellen. Überall begegnet er Menschen, die seine Faszination für das Segeln teilen. In diesem einzigartigen Segelbuch versammelt er Geschichten von spektakulären Törns und Reiseberichte von Weltumsegelungen, die die Lust wecken, selbst die Segel zu setzen. Lassen auch Sie sich von der Leidenschaft für Wind und Meer anstecken!

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MARC BIELEFELD

Logbuchder Leidenschaft

GESCHICHTEN, DIE NUR DAS SEGELN SCHREIBEN KANN

»ES GEHT SCHNELL, DAS LEBEN!«GUY DE MAUPASSANT

»IM HAFEN IST EIN SCHIFF SICHER, DOCH DAFÜR WURDE ES NICHT GEBAUT.«JOHN AUGUSTUS SHEDD

INHALT

DER BUDDHA DER MEERE / BERNARD MOITESSIER

Auf den weiten Ozeanen ist er am glücklichsten, allein mit Wind und Wellen: Bernard Moitessier, segelnder Philosoph und Hippie der Extraklasse. Bei der ersten Soloregatta um die Welt dreht der Freigeist ab, verschenkt seinen Sieg und segelt 1969 einsam nach Polynesien, um dort ein gewaltiges Buch zu schreiben.

GEDANKENWENDE / MATTHES SIERK

Nach dem Studium landet er einen Traumjob bei einem Weltunternehmen. Doch statt Karriere zu machen, legt Matthes Sierk hart Ruder. Er kündigt, kauft sich im Winter 2021 eine Yacht und kreuzt in ein neues Leben. Seine Segelerfahrung: null. Sein Ziel: ein Kurs, der den Zeiten gerecht wird.

EIN PAAR TAGE LEBEN / GUY DE MAUPASSANT

Vor über 130 Jahren besegelt Guy de Maupassant die Côte d’Azur mit zwei zauberhaften alten Yawls. Der große französische Romancier nutzt seine Yachten nicht nur als schwimmende Schreibstuben, sondern auch, um auf dem Wasser der Welt zu entfliehen. Das Segeln kleidet er dabei in ganz eigene Worte.

AUF DER WALZ / EIN BOOTSBAUER OHNE NAMEN

Seinen echten Namen hat er für mehrere Jahre abgelegt. Sein Werkzeug trägt er im Bündel, seinen ganzen Besitz am Leib. So bricht der frei reisende Geselle 2009 auf und zieht durch Europa, von Werft zu Werft, von Segelschiff zu Segelschiff. Unterwegs mit einem der letzten Wanderbootsbauer unserer Zeit.

ENDSTATION CONAKRY / HANS ROGGE

Mitte der 1960er-Jahre wandert der deutsche Lehrer Hans Rogge nach Namibia aus, baut sich in der Wüste eine Yacht und besegelt später 20 Jahre lang den Südatlantik. Nach einem Leben voller Seemeilen will er noch einmal ein Schiff überführen, von Lüderitz nach Rostock. Die Fahrt endet in der Hölle Westafrikas.

DAS SEGELNDE GOTTESHAUS / ADELINE VON SCHIMMELMANN

Die kühne Adeline Gräfin von Schimmelmann ist eine der schillerndsten und doch unbekanntesten Figuren der deutschen Segelhistorie. Im späten 19. Jahrhundert ersteht sie eine Yacht, um armen Fischern auf Rügen zu helfen. Mit ihrem Schoner segelt sie bald über die Ostsee und später nach Amerika – im Namen des Herrn.

AUF ZWEI KUFEN DURCH DEN MONSUN / YVAN BOURGNON

Im Jahr 2013 legt der Franko-Schweizer Yvan Bourgnon ab, um die Welt in einem offenen Sportkatamaran zu umrunden. 20 Monate und 36.000 Seemeilen mit bloßen Händen: Auf seinem Trip kreuzt der Hasardeur der Meere durch brutale Stürme, strandet im indischen Monsun und schafft es dennoch zurück nach Frankreich.

WIE EIN GEIST IN DER NACHT / RUDOLF UDE

Schon als Säugling kommt er an Bord und ist vom Segeln bald nicht mehr loszubekommen. Mit seinem alten Spitzgatter fährt Rudolf Ude in den 1930er-Jahren bis nach Schottland und ins Mittelmeer. Er ist ein früher Held des deutschen Fahrtensegelns, der schon bald tragisch in die Vergessenheit segelt.

DER FLUCH DES PAZIFIKS / JACK LONDON

Er ist gerade 40, als er stirbt. Doch in seinem Kielwasser hinterlässt der Abenteurer und trinkfeste Literat nicht nur Dutzende Bücher und Geschichten, sondern auch Tausende Seemeilen. Mit seiner Ketsch namens SNARK quert Jack London 1907 den Stillen Ozean – auf einer unheilvollen Reise in die Südsee.

SUZANNE UND DIE LIEBEN SEGELSCHIFFE / SUZANNE VAN DER VEEKEN

Sie selbst nennt sich eine Entdeckerin, eine Nomadin der Meere. Beim »Hitchsailing« trampt die Holländerin Suzanne van der Veeken seit über zehn Jahren um die Welt. Nebenbei schützt sie die Ozeane, engagiert sich für eine Welt ohne Plastikmüll, schreibt Bücher übers Segeln – und weiß, was sie nicht will.

DER VIERTE MANN / ADO NOLTE

Nach dem Zweiten Weltkrieg erbt der Hamburger Ado Nolte ein stattliches Haus in Winterhude. Doch Nolte träumt lieber vom Meer und vom Wind. Und von Brasilien. Er lässt sich eine Yacht bauen und heuert für den Atlantiktörn einen seltsam wortkargen Skipper an. Was Nolte noch nicht weiß: Der Mann ist ein berühmter U-Boot-Kommandant.

KEINE KLEINIGKEIT / FRANK DYE

Unglaubliche Reisen tritt der Engländer Frank Dye seit den späten 1950er-Jahren an. Mit seiner winzigen Wayfarer-Jolle fährt er quer über die Nordsee, durchwettert böse Stürme und segelt bis nach Island. Heute hängt seine WANDERER im Museum in Falmouth und erzählt uns davon, wie man mit ganz Kleinem ganz Großes anstellt.

DIE RAKETE / FRANÇOIS GABART

Diese Zahlen sollen Segelhistorie schreiben: 42 Tage, 16 Stunden, 40 Minuten. In nicht einmal anderthalb Monaten segelt der Franzose François Gabart 2017 mit seinem Hightech-Trimaran um die gesamte Erde. Es reicht, um sämtliche Rekorde zu pulverisieren und das moderne Hochseesegeln auf ein neues Niveau zu heben.

DER UM SEIN LEBEN SEGELT / SIR FRANCIS CHICHESTER

Ein dünner Engländer, Sohn eines Pfarrers, schlägt sich als Kohlearbeiter durch und wird später Pilot. 1953 entdeckt er das Segeln, gewinnt die erste Atlantikregatta, segelt nonstop nach Australien – und als Sir Francis Chichester in die Geschichtsbücher. Über einen Mann, der länger lebte, als viele gedacht hatten.

VOM GLÜCK DES SCHWEIGENS / THEODOR FONTANE

Vor fast 150 Jahren geht der Schriftsteller Theodor Fontane an Bord einer frühen Yacht und gleitet drei Tage lang durch die verwunschenen Wasserwelten des damaligen Brandenburgs. Es entsteht daraus ein bemerkenswertes Stück Literatur, das zugleich ein Ausflug in die Geburtsstunden des Segelsports ist.

VORWORT

Da sage einer: Geht nicht. Zu weit, zu teuer, zu gefährlich, zu ungewiss, zu verwegen, zu kalt, zu nass, zu stürmisch, zu verrückt. Dann antworte: Doch, das geht. Und füge hinzu: Du brauchst nur eines, davon jedoch am besten ein ganzes Fass voll. Nein, nein, kein Geld. Gefragt ist auch kein Todesmut, keine besondere Zauberformel, nicht einmal großes technisches Geschick oder dergleichen. Nur über eines solltest du verfügen: Leidenschaft – das kostenlose und unschätzbare Talent, für eine Sache zu brennen.

Dann geht so ziemlich alles. Dann kommst du los und irgendwann auch wieder an. Dann kannst du dir das schönste Schiff bauen, von dem du geträumt hast. Dann kannst du dir den ganzen Pazifik schnappen. Kannst den Albatrossen beim Fliegen über dem Südmeer zuschauen, es in einer Jolle bis nach Island schaffen oder deinem Chef Lebewohl sagen, die Segel setzen und in ein neues Leben kreuzen. Das alles geht. Wenn nur die Triebfeder stimmt.

Tatsächlich ist kaum zu glauben, was Menschen schon alles gemacht und auch geschafft haben – war die Lunte erst entzündet und das Abenteuer nicht mehr aus ihren Köpfen zu bekommen. Da ist zum Beispiel einer wie Frank Dye, der mit seiner winzigen Wayfarer-Jolle mehrmals über den Nordatlantik segelte, nach Schottland, nach Norwegen und sogar bis nach Island. Die Zeitungen in England erklärten ihn für verrückt. Er nannte das: »nette Sommerurlaube«.

Geht nicht? Doch, geht.

Da ist eine wie die Baronin Adeline von Schimmelmann, die sich vor über 100 Jahren einen Seekutter zulegte und mit ihrem stolzen Schiff über die Ostsee kreuzte, um fortan im Namen Gottes die Seelen verarmter Fischer zu retten – und dies zu einer Zeit, als kaum jemand das Wort »Emanzipation« überhaupt nur buchstabieren konnte.

Dann ist da einer wie der bodenständige Lehrer Hans Rogge. Der Deutsche wanderte in den 1960er-Jahren nach Namibia aus, baute sich in der Wüste seine eigene Yacht und besegelte damit 20 Jahre lang den Südatlantik. Von Windhuk bis nach Brasilien fuhr er, von Sankt Helena bis zu den einsamen Inseln im Golf von Guinea und dann wieder nach Südamerika, bis hinein in die Flussmündung des Essequibo. Er tat es einfach.

Wahnsinn? Weltflucht? Eine unverhoffte Erbschaft? Nein, nichts dergleichen. Leidenschaft feuerte ihn an. Rogge hatte sich ins Segeln verguckt. Ins Meer, in den Wind.

Das funktioniert übrigens auch heute noch. Denn da gibt es wirklich einen wie Matthes Sierk, der noch vor ein paar Jahren, gerade mal 25 Jahre jung, vom Segeln mehr oder weniger keine Ahnung hatte. Sein Abitur und sein Studium hatte er mit Bestnoten absolviert, nun erwartete ihn eine Traumkarriere in einem Weltunternehmen. Doch er entschied sich dafür, den Schreibtisch gegen eine Navigationsecke einzutauschen. Er kündigte. Kaufte sich inmitten der Coronapandemie eine gebrauchte Yacht und brach in ein neues Leben auf. Nun lebt er oben in den schwedischen Schären auf seinem Schiff, den Kopf voller Pläne und Ideen.

Matthes Sierk brannte fürs Segeln, noch bevor er segeln konnte. Dafür braucht man schon das entsprechende Organ: ein entflammbares Herz.

Wie schön, wie poetisch. Wie entschieden kraftvoll. Vom Rest aller Motivationskategorien, die den Menschen treiben, haben wir schließlich schon genug auf der Welt: Effizienz, Performance, Gewinnsteigerung. Zahlen, Prozente, börsennotierte Kurse. Gier, Macht.

Wie steril. Wie tödlich langweilig.

Der Publizist und Vordenker Roger Willemsen dachte in seinem 2016 erschienenen Buch Wer wir waren über unsere Zeiten nach. Er drückte es so aus: »Nichts weist darauf hin, dass wir in unserer Zukunft sicherer, gesünder, freier, friedlicher leben werden – bequemer, das ja, effizienter, unsentimentaler, all das, aber wessen Himmel bevölkern schon die Sachverwalter des Pragmatismus?«

Wie wahr. Pragmatismus in allen Ehren. Doch damit bewegt man nicht die guten und die schönen Dinge. Und schon gar keine Segelschiffe. Dafür braucht es mehr. Dafür braucht es das genaue Gegenteil von allem Pragmatismus: Herzblut. Lust. Begierde. Sehnsucht. Von mir aus auch dies: Mut, vielleicht einen Schuss Wahnsinn, dazu immer gern einen Sinn für das Schöne, das Unerklärliche jenseits der Worte. All das, was unter dem Rubrum der Leidenschaft pocht. Der ganze Rest – er kommt lange danach.

Der Pilot und Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry sagte es auf seine Weise. Wir alle kennen seine Worte. Und weil sie so schön wahr sind, hier sind sie noch mal: »Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.«

Die in diesem Buch versammelten Porträts und Reportagen zeigen, was sich mit einer guten Portion Hingabe und Verve am Ende alles anstellen lässt. Manchmal ist das verwegen und wirklich mutig. Manchmal schier unglaublich. Dann wieder auch still, im Ergebnis eher leise und lyrisch, dabei nicht weniger mitreißend. Niemand Geringeres als Fontane lockte es schon auf eine Segelyacht. Von den Farben des Wassers und den Schattierungen des Windes ließ er sich auf seine Weise inspirieren. Zu Kunst – zu Literatur.

Natürlich geht es auch anders. Wenn heute zum Beispiel einer wie der Franzose François Gabart in einem gewaltigen Trimaran solo um die Welt segelt und das moderne Hochseesegeln auf eine andere Ebene hebt. Oder wenn einer wie Rudolf Ude in den 1930er-Jahren aufbricht und zu einem der ersten deutschen Fahrtensegler wird. Ohne Geld, ohne Sponsoren. Sein erstes Segel schnitt er sich als Junge aus der Küchenschürze seiner Oma. Bald aber segelte er los. Kurs Nordsee, Kurs Mittelmeer. Und natürlich kommen wir um ihn nicht herum: den sagenhaften Bernard Moitessier, der auf der ersten Einhandregatta um die Erde kurz vor dem Ziel seinen Sieg verschenkte und lieber nach Tahiti abdrehte. Was für ein Statement – Leidenschaft im ozeanischen Format.

Dann ist da der zeitgenössische Haudegen zur See Yvan Bourgnon, der in einem offenen Strandkatamaran um die Erde segelte. Da ist eine wie Suzanne van der Veeken. Die junge Holländerin trampt auf Segelschiffen durch die Weltgeschichte und begreift Leistungssteigerung eher als eine Form der Schmälerung. Seit Jahren kauft sie kein Plastik mehr, befreit das Meer, wo sie nur kann, von Müll und ermutigt Menschen auf ihre Weise, Leidenschaft zu entwickeln. Fürs Segeln, fürs Wasser.

Das alles geht. Sicher, Foils aus Carbon sind eine schöne Sache, die Physik des Vortriebs zu optimieren und die Kunst des Kreuzens zu perfektionieren, eine hehre Angelegenheit. Doch das alles ist nichts, wenn das Feuer nicht brennt. Der erste und wichtigste Treibstoff besteht darum noch immer aus dieser sonderbaren inneren Wucht namens Passion. Wie sagte Einstein? »Ich habe keine besondere Begabung, ich bin nur leidenschaftlich neugierig.« Heinrich Heine wurde deutlicher: »Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme.«

Es sind Sätze, die zu hören in unseren glatten, digitalen, bequemen, aber auch auf neue Weise bedrohlichen Zeiten manchmal ganz guttut. Weil sie uns dazu animieren, die Temperatur hier und da wieder ein wenig hochzufahren. Weil sie anspornen, für Gutes zu glühen, statt im Pragmatischen zu versanden und immer nur auf dem schnellsten und kürzesten Weg zum nächsten Erfolg zu marschieren.

Und was wäre für diese kleine Leibesübung besser geeignet als das Segeln? In den meisten Fällen kommt es ohne große Maschinerie aus. Ohne Lärm, ohne Gestank, ohne Protz. Neben Leidenschaft und Entschlossenheit ist vor allem er die treibende Kraft: der Wind. Das Wunder strömender Luft. Auch und gerade wegen dieses Phänomens sind die vorliegenden Geschichten solche, die nur das Segeln schreiben kann. Kein Asphalt, kein Stadion, kein lautes Publikum. Da sind nur Wind und Meer. Die größte, älteste und göttlichste Bühne, die wir kennen. Sie derart zu befahren und zu bereisen, das ist elegant im erhabensten Sinne dieses Wortes. Für ihre Unterfangen – welcher Natur sie auch waren und sind – nutzten die beschriebenen Damen und Herren das wundersamste aller Antriebsmittel. Das Unsichtbare.

Und wenn nun auch Leidenschaft eine Form von Antrieb bedeutet: Gibt es eine schönere Entsprechung? Eine feinere Symbiose? Wenn die Motoren verstummen und der Wind übernimmt?

Die in diesem Buch beschriebenen Persönlichkeiten stammen aus den verschiedensten Epochen, sie besitzen die unterschiedlichsten Biografien, Berühmtheiten sind darunter, aber auch gänzlich unbekannte Namen – und doch verbindet sie alle diese eine Qualität. Sie alle sind dem Wasser auf besondere Weise verbunden. Sie alle haben ihre ganz eigenen Affären mit Wind und Wellen. Denn sie alle brennen für diese eine Sache, die wir gemeinhin Segeln nennen.

Natürlich ließen sich die Leben, Reisen und Abenteuer noch vieler anderer Seegehender hier aufnehmen: ob Magellan, Joshua Slocum, Éric Tabarly, Sir Peter Blake, Wilfried Erdmann, Ellen MacArthur, Laura Dekker oder Boris Herrmann. Was ist mit einem wie Reid Stowe? Jenem Mann, der das Sein auf dem Wasser zu einem Dauerzustand erhob, länger als jeder andere segelnde Mensch auf Erden.

Im April 2007 verließ der US-Amerikaner mit seinem gaffelgetakelten Schoner den Hafen von Hoboken in New Jersey und segelte hinaus auf die sieben Meere. Nicht, um irgendwo anzukommen, sondern um nicht anzukommen. Über drei Jahre verbrachte er mit seiner über 20 Meter langen ANNE auf den offenen Ozeanen. Genauer: 1.152 Tage. Dabei segelte er nicht nur und kreuzte hin und her – über Monate ließ er sich mit den großen Strömungen treiben. Im Zuge seiner Drift über die Ozeane »malte« er Bilder in die weite See. Motive, die seine Kurslinien am Ende ergaben. Skizzen aus sich fügenden Koordinaten. Ein Herz segelte er auf diese Weise in den Südatlantik, 3.000 Seemeilen groß, einen Wal in den Pazifik, im Umfang und in seinen angedeuteten Linien über 4.500 Seemeilen messend. Stowe nannte dies seine Art von Kunst, und niemand weiß, wie weit es mit ihm schon gewesen sein muss da draußen. Er sah in diesen drei Jahren nur einmal Land und legte kein einziges Mal an. An Bord seiner Yacht malte er, hörte Musik, tanzte. Er schrieb, züchtete Salat, zwei Kilo Parmesankäse hatte er gebunkert. Wild sah seine ANNE am Ende aus, als sie wieder in New York festmachte.

So weit kann es also kommen mit der lieben Leidenschaft. Weit, sehr weit. Und was ist mit all den Unbekannten? Ich erinnere mich an den Bootsmakler Peter Gregson aus dem südenglischen Dartmouth. Er, der wohl jede nennenswerte Segelgeschichte und jede klassische Yacht in europäischen Gewässern seit über sieben Jahrzehnten kannte, erzählte mir einmal von einem Segler, den er eines Tages in einem Hafen an der Kanalküste getroffen hatte. Ein stiller Herr, eher wortkarg, gut gekleidet. So saß er auf seiner Yacht, einer gerade mal acht Meter langen Vertue, designt von Laurent Giles. Peter Gregson hatte diesen Mann noch nie gesehen. Er fragte ihn, wo er denn segeln würde, woher er mit seinem schönen alten Boot gerade komme. Der Mann sagte: »Ach, ich bin in den letzten drei Jahren mit meinem Schiff einmal um die Welt gesegelt. Vor gerade einer Woche bin ich wieder hier zu Hause angelandet. Ich muss sagen, es war eine herrliche Reise.«

Peter Gregson raucht nicht. Hätte er geraucht, wäre ihm wohl die Zigarre aus dem Mund gefallen. Denn die Reise des besagten Herrn zeichnete sich durch eine heutzutage außerordentliche Qualität aus. Kein Artikel, keine Meldung. Kein Foto, kein Post. Da waren nur das Meer, der Mensch und die Reise.

Nicht die gleichen, aber doch ähnliche Geschichten erzählen die Protagonisten dieses Buches. Weil sie tun, was sie nicht lassen können, nicht lassen wollen und auch nicht lassen sollten. Ihre Lebensläufe und ihre Lebensentwürfe geben uns eine Vorstellung davon, was Leidenschaft bedeutet und was sie bewegen kann. Um Pokale und Preisgelder ging und geht es dabei wohl keinem dieser so herrlich Windverrückten. Dafür ist das Segeln dann doch wieder: zu nass, zu windig, zu wackelig, zu verrückt und, sowieso, viel zu schön.

Marc Bielefeld

Sardinien, im April 2022

DER BUDDHA DER MEEREBERNARD MOITESSIER

Der Franzose Bernard Moitessier, braun gebrannt und hager, sitzt an diesem Morgen in seinem Stammbistro in Toulon, er beißt in ein Croissant, nippt an seinem Milchkaffee und hat noch keine Ahnung, dass dieser Tag ein besonderer werden soll. Ein Tag, der ihn zu einem der sagenumwobensten Segler aller Zeiten machen wird.

Moitessier blickt durch das Fenster auf die blaue Côte d’Azur. Es ist noch früh, der Mistral hat noch nicht eingesetzt. Vor der Hafenmole liegen die Yachten an den Muringbojen, darunter seine JOSHUA. Das Boot, auf dem er lebt. Das Boot, das ihm alles bedeutet. Eine 14 Meter lange rote Ketsch mit zwei Masten, gebaut aus Stahl, schlicht und einfach ausgerüstet, aber sehr robust. Moitessier ist damit schon um Kap Hoorn gesegelt, nonstop von Tahiti bis ins spanische Alicante. Ein Törn von über 14.000 Seemeilen, der ihn in diesen Tagen bereits zu einem bekannten Hochseesegler gemacht hat.

Es ist das Jahr 1968, die Zeit des Eisernen Vorhangs, die Epoche des Vietnamkriegs und der Hippiebewegung. Die Amerikaner bereiten sich auf den Flug zum Mond vor, in Europa formieren sich Studenten gegen den Kapitalismus. Es ist eine Welt im Aufbruch, eine Welt in Aufruhr. Einige Herren aber denken in völlig anderen Dimensionen. Denken lieber ans Meer, an die großen Ozeane, darunter Moitessier.

Er und ein Engländer namens Bill King, so munkelt man in der Segelszene, planen ein ganz großes Ding. Sie wollen versuchen, was noch nie ein Mensch zuvor gewagt hat: um die ganze Welt segeln – ohne Stopp, ohne auch nur einmal an Land zu gehen. Sie wollen auf diesem Trip um die Erde ganz allein segeln auf ihren kleinen Yachten, die im Innern kaum mehr Platz bieten als ein VW-Bus.

Ein irrwitziger Gedanke und bisher nur ein Gerücht. Zu vermessen klingt das Ganze. Zu unmöglich, zu groß. Die Männer wären auf so einer Reise monatelang unterwegs, vielleicht würden sie ein ganzes Jahr lang nichts als Meer und Himmel sehen. Sie könnten keinerlei Hilfe beanspruchen, hätten keine Möglichkeiten für eine Proviantaufnahme. Sie müssten Regen auffangen und trinken. Im Polarmeer würden brutale Stürme wüten, auf den offenen Ozeanen zehn, 20 Meter hohe Wellen über die Schiffe hereinbrechen.

Könnte ein Mensch so etwas überhaupt aushalten? Physisch, aber auch psychisch? Schon nach vier, fünf Monaten der völligen Isolation würden selbst gestandene Abenteurer den Verstand verlieren, befürchteten Psychologen damals. Eine solche Reise in die Einsamkeit hatte zuvor noch nie ein Mensch unternommen. Kein Bergsteiger, kein Astronaut, kein noch so asketischer Mönch.

Bernard Moitessier arbeitet zu dieser Zeit gelegentlich als Segellehrer an der Côte d’Azur, wohnt seit Jahren auf seinem Schiff und hat zwei Bücher über seine frühen Segelreisen geschrieben. Ein sonderbarer Bursche. Ein Freigeist, ohne Zweifel, aber auch ein Eigenbrötler, der in seiner eigenen Gedankenwelt zu leben scheint. Zu Freunden sagt er manchmal beim Wein, versunken in eine ferne Vergangenheit: »Die Götter meines Asiens, wo ich geboren bin, sind nicht die gleichen wie hier in Frankreich.«

Als er an diesem Februarmorgen in Toulon in seinem Bistro sitzt, kommt plötzlich ein Mann auf ihn zu, bleibt an seinem Tisch stehen und fragt: »Sind Sie Bernard?«

Der Mann ist Redakteur der Londoner Sunday Times und eigens nach Frankreich gereist. Er setzt sich zu Moitessier an den Tisch, druckst ein wenig herum, dann packt er aus. Seine Zeitung hat von dem Unterfangen, um die Welt zu segeln, Wind bekommen.

Nun will das Blatt ein Rennen ausloben, will die erste Nonstop-Umsegelung der Erde zu einer Regatta ausrufen. Zu einem medialen Ereignis. Der Redakteur ist Feuer und Flamme von der Idee, spricht von einem Ereignis, das die Welt noch nicht gesehen habe. Damit nicht genug. Einen Pokal erhalte, wer als Erster zurückkomme, 5.000 Pfund Siegesprämie, wer der Schnellste sei. Zu dieser Zeit ist das eine Menge Geld, in Großbritannien ein gutes Jahreseinkommen.

»Wir wären froh, Sie dabeizuhaben«, sagt der Redakteur nach einer Weile und blickt Moitessier aufgekratzt an. »Viele kommen für ein Abenteuer dieses Ausmaßes schließlich nicht infrage.«

Moitessier, 45 Jahre alt, legt sein Croissant zur Seite und schweigt. Der englische Redakteur hat keine Ahnung, wer da vor ihm sitzt. Er weiß nicht, was für eine Vergangenheit dieser Mann hat.

Moitessier wurde in Indochina geboren – ein Kind, das in Saigon aufwuchs, später in den Fischerdörfern Vietnams lebte und mit den Sagen und Mythenwelten Asiens groß wurde. Ein Kind der Natur, das schon früh eine beinahe mystische Beziehung zum Meer und zum Dschungel aufbaute. Er war der Sohn eines strengen französischen Vaters, der in Indochina Handel betrieb, Plantagen führte und Geschäfte machte. Als Teenager erlebte Moitessier den Krieg gegen Japan mit, bei dem viele seiner Freunde starben. Schon früh entwickelte er eine Abneigung gegen Waffen, gegen Gewalt, gegen die gesamte Raserei der westlichen Welt.

Schon als Knirps saß Moitessier in den Pirogen der Fischer, heuerte später lieber auf chinesischen Dschunken an, als im Geschäft seines tüchtigen Vaters zu helfen. In den 1950er-Jahren segelte er als junger Mann im Golf von Siam, beförderte Fracht nach Kambodscha. Ein Querkopf, in dessen Adern französisches Blut floss, dessen Geist jedoch von einer asiatischen Spiritualität beseelt war.

Der normalen Menschenwelt entfloh er schon früh. Mit dem ersten ersparten Geld kaufte er sich im Alter von 20 Jahren eine eigene Dschunke, bald eine erste Yacht. Damit vagabundierte er jahrelang über die See, besegelte das Südchinesische Meer und wagte sich zu den gottverlassenen Atollen der Korallensee zwischen Java, Papua-Neuguinea und Australien. Er lebte von Büchern, die sich in Frankreich gut verkauften. Ansonsten fing er Fische, holte sich Kokosnüsse und Obst von den Bäumen.

Der Redakteur hat es mit einem Hippie der Sonderklasse zu tun. Mit einem Priester der ganz großen Freiheit, der die Albatrosse des Südmeers vergöttert und sich in der ozeanischen Einsamkeit wohler fühlt als unter Menschen.

Nach einigen Minuten hebt Moitessier zu einer Antwort an. »Ich finde Ihre Idee zum Kotzen«, sagt er. »Sie haben kein Recht, eine so schöne Sache mit gierigen Händen in den Dreck zu ziehen.« Er spricht von der Weltumsegelung als einer Reise an die Grenzen des Ichs, einem Trip jenseits der Zeit. Das Meer sei ein letztes heiliges Refugium. »Und Sie machen daraus einen Zirkus mit Clowns, die sich unter dem Tamtam der Medien um einen Pokal prügeln.« Schimpfend verlässt Moitessier das Bistro, zurück bleibt ein völlig konsternierter Redakteur.

Dennoch erscheint am 17. März 1968 die Ankündigung in der Sunday Times: Das Golden Globe Race soll tatsächlich stattfinden, und jeder kann mitmachen. Es gibt nur wenige Regeln. Start und Ziel müssen ein und derselbe Hafen in England sein, den Starttermin kann bis Ende Oktober 1968 jeder für sich wählen. Danach allerdings ist kein Stopp mehr erlaubt, darf niemand mehr die Hilfe eines anderen Bootes in Anspruch nehmen.

Der vor den Seglern liegende Weg um die Erde würde die sogenannte Klipperroute sein: von England um das südafrikanische Kap der Guten Hoffnung, durch den Indischen Ozean südlich an Australien und Neuseeland vorbei, durch den Pazifik, rund Kap Hoorn und anschließend durch den Atlantik wieder zurück nach England.

Ein Monstertörn, damals ohne GPS, ohne moderne Seekarten. Ein Ritt zwischen Stürmen, rauschhaften Höhenflügen und mentalen Abgründen. Das Risiko: durchaus tödlich. Dies ist die radikalste Regatta, die jemals ausgerufen worden ist. Ein Meilenstein der Sportgeschichte, aber auch ein Drama historischen Ausmaßes. Hier wartet eine der letzten noch nicht bestandenen Pioniertaten. Es ist ein bisschen wie der Flug zum Mond.

Neun Männer melden sich am Ende und brechen auf. Die Ersten, die im Juni 1968 in England in See stechen, sind John Ridgway, 29, und Chay Blyth, 28, zwei Freude und Abenteurer, die schon im Ruderboot über den Atlantik gefahren sind. Nun wirft ein jeder für sich die Leinen los, in einem Segelboot. Als Dritter startet der Engländer Robin Knox-Johnston, ein 29-jähriger Offizier der britischen Handelsmarine und ausgemachter Patriot. Mit seiner selbst gebauten Yacht SUAHELI, einem klobigen Zehn-Meter-Boot, war er bereits von Indien nach England gesegelt.

Ebenfalls auf die Reise wagen sich der Engländer Bill King, mit 57 der älteste der Teilnehmer, und Nigel Tetley, 44, ein Offizier der britischen Marine. Weil er wenig Geld und keinen Sponsor gefunden hat, segelt er mit seinem alten zwölf Meter langen Trimaran los, auf dem er seit fünf Jahren mit seiner Frau wohnt.

In der Sunday Times erscheinen derweil detaillierte Porträts der Segler, die Regatta wird in Berichten angekündigt, die Route beschrieben und die Risiken erklärt. Das Ganze erinnert an eine frühe Form heutiger Realityshows und Liveübertragungen im Internet, wo viele Zuschauer haarsträubende Abenteuer gebannt verfolgen.

Als tragischste Figur des Golden-Globe-Rennens soll sich ein weiterer Brite erweisen. Donald Crowhurst hatte sich als Erster öffentlich für das Rennen gemeldet, fährt jedoch als Letzter los. Er ist ein Mann ohne Hochseeerfahrung, ohne Boot und ohne Geld. Dafür hat Crowhurst einen Berg Schulden am Hals und zudem eine Frau sowie vier kleine Kinder zu versorgen.

Erst später kommt heraus, worauf Crowhurst sich eingelassen hat. Der Inhaber einer kleinen Firma für Schiffselektronik setzt bei diesem Segelrennen alles auf eine Karte. Er muss diesen Trip nicht nur überleben, sondern auch die 5.000 Pfund kassieren, um seine Existenz zu retten. Ansonsten wartet der Ruin. Crowhurst findet Sponsoren, nimmt eine Hypothek auf, plant einen PR-Coup und lässt sich einen Zwölf-Meter-Trimaran bauen. Doch bleibt ihm kaum Zeit für die Vorbereitung, vieles läuft schief, und schon die erste Probefahrt endet im Desaster. Seiner Frau gesteht er eines Nachts seine Zweifel. »Es geht nicht«, sagt er und beginnt zu weinen.

Crowhurst, damals 36 Jahre alt, hat sich schon vor dem Rennen in eine Lage manövriert, aus der er nicht mehr herauskommt. Er muss starten. Sonst würde er, neben seinen Schulden, auch noch das gesamte geliehene Geld zurückzahlen müssen. Am 31. Oktober 1968 schleppen Helfer und Freunde letzten Proviant an Bord seiner TEIGNMOUTH ELECTRON, einen Wust an Ausrüstung und Seekarten, dann verschwindet Crowhurst in den grauen Wellen vor dem Hafen von Teignmouth. Am selben Tag verlässt schließlich auch noch Alex Carozzo England, ein versierter, ebenfalls 36 Jahre alter italienischer Solosegler.

Zuvor – wenn auch leiser, unbemerkter – sind am 22. August 1968 noch zwei weitere Segler zu ihrer Reise um den Planeten aufgebrochen. Der Franzose Loïck Fougeron – und sein bester Freund: Bernard Moitessier. Nach seinem Wutausbruch im Bistro von Toulon hatte er Tage und Nächte mit sich gerungen, sich in seiner Koje hin und her gedreht und sich selbst ins Gebet genommen, um sich nach einer Woche doch für die Regatta zu entscheiden. Ein jäher Sinneswandel. Aber war es das wirklich?

Eine stillschweigende Testfahrt mit seiner JOSHUA zum möglichen Start nach Plymouth – rund Gibraltar und durch die tückische Biskaya – kommt ihm gerade gelegen. Endlich kann er wieder ein paar Seemeilen machen, allein an Bord, allein mit der See.

Moitessiers Gedanken müssen auf dieser Etappe um sein Boot gekreist sein wie Eissturmvögel. Er muss, während er in die Segel schaute und sein Schiff durch die See rauschte, all seine Weltansichten in die Waagschale geworfen haben. Und es gab wohl keinen besseren Tempel auf der Welt als das Meer selbst, um sich seiner Sache ganz sicher zu werden und einen Entschluss zu fassen. Er würde dieses bigotte Rennen um die Erde also mitmachen. Ja, er würde von England aus aufbrechen, so wie die anderen auch; allerdings würde er die Regatta nach seinen eigenen Maßstäben angehen. Moitessier ist kein Freund von Normen, kein Bejaher von Beschränkungen jedweder Art.

Zu dem Redakteur sagt er, als dieser ihm vor dem Start noch einmal über den Weg läuft: »Gehen wir einmal davon aus, dass die Götter mir hold sind, ich zurückkehre und noch dazu der Erste oder Schnellste bin – dann würde ich den Scheck einstecken, den Pokal versteigern, ohne ein Dankeswort, ohne der Sunday Times einen Blick zuzuwerfen. Damit könnte ich sogar öffentlich zeigen, wie wenig ich von der Initiative Ihrer Zeitung halte.«

Moitessier weiß, dass das Rennen mit einer herkömmlichen Regatta wenig zu tun hat. Er würde monatelang keine Menschenseele sehen, mit niemandem sprechen. Dieser Trip würde vielmehr eine Reise zu sich selbst werden. Ein Flug zu den Göttern.

Im November 1968, über England senkt sich der Winter, sind schließlich alle unterwegs. Neun Männer haben sich auf die Ozeane hinausgewagt und segeln auf dem Atlantik steil gen Süden. Von England nach England, einmal um den gesamten Globus, nur mit dem Wind.

Auf der halben Welt, vor allem in England, verfolgt man das irre Rennen. Einige der Segler geben ihre Positionen gelegentlich per Funk durch, andere nehmen Kontakt zu Frachtern auf. Die Leser an Land fragen sich: Wo sind die Männer wohl gerade? Ist schon einer gesunken? Wer liegt vorn?

Auf den Meeren erleben die Abenteurer derweil brutale Strapazen. Sie durchfahren Stürme und Flauten, müssen die Segel wechseln, reffen, nähen. Sie müssen Wache gehen, steuern, ständig verschlissene Teile reparieren. Einhandsegeln auf hoher See bringt radikalen Schlafentzug mit sich, schlechte Ernährung und, vor allem in den hohen Breiten, erbärmliche Kälte und Nässe.

Hinzu kommen Verletzungen, vom Salzwasser entzündete Haut und oft genug blanke Angst. Einige Solosegler berichteten schon von Halluzinationen, von der ständigen Sorge um das Schiff, die sie fast in den Wahnsinn trieb. Um sie herum nichts als Ozean. Tausende Meter tief, gleichgültig und unerbittlich.

Ende November haben fünf Segler bereits aufgegeben. Bei Bill King ist der Mast gebrochen, der Italiener Carozzo muss wegen eines Magenschwürs Portugal anlaufen, und Ridgways Boot erweist sich schon im Atlantik als seeuntüchtig. Der Franzose Fougeron steuert nach einer Beinahekenterung Land an, und Chay Blyth ist immerhin bereits ums südafrikanische Kap der Guten Hoffnung gekommen, als er wegen eines Ruderschadens nach 9.000 Seemeilen abbrechen muss.

Schon der Atlantik hat bald seinen Tribut gefordert. Nach einem Drittel der Strecke sind nur noch vier Mann im Rennen: Die drei Briten Knox-Johnston, Crowhurst und der Offizier Tetley; dazu der Franzose Moitessier. Oft weiß über Wochen und Monate niemand, wo die vier segeln, ob sie noch am Leben sind. Immer wieder fallen die Funk- und Radiogeräte an Bord aus, und Moitessier zieht es sowieso vor, mit dem Meer allein zu sein. Funk hat er von vornherein kategorisch abgelehnt. Lediglich einige handgeschriebene Nachrichten schießt er mit einer Schleuder auf die Decks vorbeiziehender Frachtschiffe, die seine Position weiterfunken. Zudem: Moitessiers seltene Botschaften von See sind nur an seinen Buchverleger gerichtet. Kein Wort an die Sunday Times, kein Zeichen seiner Absichten im Rennen.

Zu Weihnachten 1968 sehen die Astronauten von Apollo 8 erstmals die Rückseite des Mondes und begeben sich in die Umlaufbahn des Himmelskörpers. Eine halbe Million Kilometer sind sie von der Erde entfernt, und doch weiß die Menschheit mehr über die Mondfahrer als über die vier Segler, die irgendwo auf hoher See um ihr Leben kämpfen. Ohne Kontakt, ohne Liveübertragungen. Und ab jetzt nimmt das Rennen einen so kuriosen wie dramatischen Verlauf.

Knox-Johnston liegt vorn. Er hat den südlichen Pazifischen Ozean durchsegelt, nähert sich bereits Kap Hoorn und stößt zu Weihnachten auf die Queen an. Tetley befindet sich auf halbem Weg zwischen Afrika und Australien, Moitessier steht südwestlich von Neuseeland und steuert durch den südlichen Pazifik. Seine JOSHUA ist enorm schnell, er schafft Etmale von 160 Seemeilen, über 290 Kilometer in 24 Stunden. An Weihnachten trinkt er Champagner an Bord, isst Yorker Schinken.

Crowhurst, der als Letzter losgefahren ist, gibt an, nahe Kapstadt zu stehen, doch in Wahrheit liegt er erst nahe der brasilianischen Küste – noch immer im mittleren Atlantik. Der bankrotte Familienvater ist verzweifelt, sein Boot untauglich und langsam. Um die großen Kaps scheint er sich nicht zu trauen. Und was tut er? Er fälscht sein Logbuch, gibt falsche Positionen an. Niemand ahnt es zu diesem Zeitpunkt, doch Crowhurst plant einen gigantischen Betrug zur See. Er will im Atlantik warten, bis der Erste Kap Hoorn gerundet hat, und sich dann vor ihn setzen, um England als vermeintlicher Sieger zu erreichen.

Auf dem Meer muss er mit sich ins Gericht gehen. Was tun, um sich aus seiner finanziellen Lage zu Hause zu befreien? Was tun, um den Preis zu gewinnen – ohne ums Leben zu kommen, ohne sein Gesicht zu verlieren und als Gauner entlarvt zu werden? Einmal geht er in Südamerika angeblich sogar an Land, um Proviant zu bunkern. Eine fürchterliche Schmach.

Nach Monaten auf See können die Segler die Positionen der anderen nur noch schätzen. Knox-Johnston hat inzwischen Kap Hoorn gerundet und segelt in Richtung England. Moitessier allerdings ist ihm auf den Fersen, er segelt schnell und beständig und überholt den in seiner Heimat bereits als Volkshelden gefeierten Knox-Johnston. Moitessier und seine JOSHUA liegen nun vorn, vergrößern den Abstand. Alle Welt rechnet inzwischen mit dem Sieg des Franzosen, die europäische Presse stimmt sich auf eine große Siegesfeier ein. Auf See aber geschieht nun etwas Unerwartetes. Das Unglaubliche. Moitessier segelt plötzlich offenbar auf einem völlig anderen Kurs weiter. Er scheint abgedreht zu sein. Frachter melden, er ziehe gen Süden.

An Land kursieren Gerüchte. Was ist da los? Was reitet den Franzosen? Diesen Priester des Windes, der in einem seiner Bücher geschrieben hatte: »Ich bin Bürger des schönsten Landes der Erde« – womit er nichts anderes meinte als den Ozean.

Am 22. April 1969 erreicht Knox-Johnston den Hafen von Falmouth in England. Nach 312 Tagen, nach über zehn Monaten auf See, hat er 30.123 Seemeilen im Kielwasser und gewinnt den Pokal für den Ersten, der es tatsächlich geschafft hat, die Welt mit dem Wind zu umrunden. Die Siegprämie für die schnellste Weltumsegelung allerdings steht noch aus. Darum kämpfen die verbleibenden Tetley und Crowhurst – das zumindest glauben die Segelfans zu Hause und die Leser der Sunday Times. Als der Offizier Tetley über das Radio erfährt, dass er nach acht Monaten auf See noch im Rennen ist, gibt er alles. Er prügelt seinen Trimaran zum Schluss dermaßen über den Atlantik, dass das eh schon geschundene Schiff langsam in seine Bestandteile zerfällt. Nur 1.000 Seemeilen vor dem Ziel sinkt Tetleys Yacht; er selbst kann gerettet werden.

Was aber ist mit Donald Crowhurst geschehen? Nach elf Wochen Funkstille morst er am 9. April 1969 eine wirre Nachricht nach England. Demnach scheint er sogar vor Tetley zu liegen und segelt erstaunlich schnell nach Norden in Richtung England.

Doch die Wahrheit sieht anders aus. Crowhursts Trimaran ist arg angegriffen, als er von Brasilien gen Norden segelt. Das Boot nimmt Wasser, die Segel sind gerissen. Er und sein Schiff sind nicht einmal dem Atlantik gewachsen; weiter als Argentinien ist er in Wahrheit nie gekommen.

Crowhurst müssen auf See entsetzliche Selbstzweifel heimgesucht haben. Ein Mann, der mit sich und dem Schicksal einen einsamen Kampf austrägt. Er ahnt, dass er mit seinen gefälschten Logbüchern nicht durchkommen, dass bei seiner Rückkehr nur noch mehr Schande über ihn kommen würde. Seine Logbucheinträge, die man später bergen konnte, waren immer wirrer geworden. Sein letzter Eintrag lautet: »1. Juli 1969. Es ist zu Ende. Es ist die Gnade.« Zuvor hatte Crowhurst fast 100 Seiten vollgekritzelt. Kaum lesbare Zeilen, Gedanken über kosmische Intelligenz, Notizen zu Tod und Auferstehung.

Am 10. Juli 1969 sichtet ein englisches Postschiff sein Boot fast 2.000 Seemeilen südwestlich von England. Crowhurst, den Bekannte später als einen charismatischen Mann voller Ideen und Tatendrang beschreiben, weilt nicht mehr an Bord. Er ist in die See gesprungen Und Moitessier? Der Franzose segelt immer noch..

Am 10. Juli 1969 sichtet ein englisches Postschiff sein Boot fast 2.000 Seemeilen südwestlich von England. Crowhurst, den Bekannte später als einen charismatischen Mann voller Ideen und Tatendrang beschreiben, weilt nicht mehr an Bord.

Er ist in die See gesprungen.

Und Moitessier? Der Franzose segelt immer noch. Segelt weiter und weiter, als habe er da draußen einen seltsamen Frieden gefunden. Allerdings auf seinem eigenen Kurs. Auf einer Route fernab aller Siege, auf einer Reise jenseits aller Trophäen und Konventionen. Nach der Rundung von Kap Hoorn, aus dem Südpazifik kommend, hat er bereits 204 Tage auf See verbracht. Nunmehr im Atlantik, nähert er sich einem Fischerboot, ruft den Männern an Bord kurz etwas zu und wirft ihnen einen Kanister hinüber. In diesem wasserdichten Behältnis steckt eine handgeschriebene Nachricht an die Sunday Times. Auf dem feuchten, spakigen Papier steht zu lesen: »Von Plymouth nach Plymouth zu segeln bedeutet, von Nirgendwo nach Nirgendwo zu fahren. Ich habe mich für die See und mein Schiff entschieden, gegen den Rummel und die falschen Götter des Westens. Auf See bin ich glücklich. Und vielleicht tue ich dies auch, um meine Seele zu retten.«

Moitessiers Liebesgrüße vom Meer.

Es ist eine unfassbare seglerische Geste. Ein Wink der Demütigung an die Sunday Times, die aus dem Segeln einen Wettkampf um Leben und Tod gemacht hatte. Moitessier rauscht indes weiter durch die Wasserwüsten. Er flickt seine Segel, steckt in seinem alten Ölzeug, angelt, fängt Regen auf, betakelt mit rissigen Händen seine Stropps und Schoten, er kauert unten neben seinem selbst gebastelten Kocher und der torkelnden Petroleumlampe, geht durch einen nächsten Sturm, fliegt über die Dünungen, ist eins mit sich, dem Boot, dem nassen Universum. Seine Kurslinie zieht sich erneut an Südafrika vorbei, führt weiter gen Osten, abermals nach Australien, abermals auf den Stillen Ozean. Er äußert kein weiteres Wort, beschreibt kein weiteres Stück Papier. Da ist nur Schweigen.

Erst im Juni 1969, nach 303 Seetagen und 37.000 Seemeilen, lässt Moitessier in einer Lagune vor Tahiti den Anker fallen – er ist am Ende nicht nur einmal, sondern mehr als anderthalbmal um die Welt gesegelt. Ohne Pokal, ohne Geld, ohne schnellen Ruhm einzufahren.

Viele Monate bleibt Moitessier allein in der Südsee. Er lebt weiter an Bord seiner JOSHUA, holt sich Kokosnüsse von den Palmen, harpuniert Fische in den Lagunen. Unten in seinem spartanischen Salon, im Licht einer ebenfalls selbst gebauten Paraffinlampe, beugt er sich in dieser Zeit über Stapel leerer Blätter und schreibt sein berühmtestes Buch La longue route, zu Deutsch: Der verschenkte Sieg.