Logos und Sophia. Das Königsportal und die Schule von Chartres - Tilman Evers - E-Book

Logos und Sophia. Das Königsportal und die Schule von Chartres E-Book

Tilman Evers

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Beschreibung

Die Kathedrale von Chartres ist ein Symbolbau, in dem sich das Wissen, die Kunst und die Spiritualität des hohen Mittelalters verdichten. Er bewegt auch uns heutige Menschen – in unserem religiösen Empfinden, unseren künstlerischen Sinnen und unserem Wissen um die Wurzeln der abendländischen Kultur. Die 'Renaissance des 12. Jahrhunderts' ist die eigentliche Geburtsstunde des modernen Europas, ihre Sakralbauten deren sichtbare Zeugen. Zu den eindringlichsten Bildwerken der Epoche gehört das berühmte Königsportal von Chartres. Es entstand um 1150 im Übergang der Spätromanik zur Frühgotik als Ausdruck eines neuen Gottes- und Menschenbildes. Über 200 Skulpturen veranschaulichen dies in Form eines reichen Figurenschmucks. Der vorliegende Band ist der bislang ausführlichste Versuch, die verbliebenen Fragen an das Bildwerk zu klären. Die Antworten finden sich in jenem kühnen Brückenschlag von religio und ratio, der die Gedankenwelt der Zeit und besonders der Kathedralschule von Chartres prägte.

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Tilman Evers

Logos und Sophia

Das Königsportal und die Schule von Chartres

geist und wissen band 10

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

© 2012 by Verlag Ludwig

Holtenauer Straße 141

24118 Kiel

Tel.: +49-(0)431-85464

Fax: +49-(0)431-8058305

[email protected]

www.verlag-ludwig.de

Umschlagbild: Königsportal Detail, sog. Erythräische Sibylle, Foto T. Evers

ISBN 978-3-86935-161-2

Vorwort

Zu den eindringlichsten geistigen Zeugnissen des hohen Mittelalters gehört ein Werk, das nicht auf Pergament, sondern in Stein geschrieben ist: Das Königsportal von Chartres. So fern uns manche Texte aus jener Zeit anmuten, so unmittelbar vermag dieses Bildwerk uns anzusprechen. Die vibrierende Spannung zwischen Glaubensbindung und Verstandesmacht, die das 12. Jahrhundert durchzog – hier teilt sie sich sofort und fühlbar mit. Nicht wenige Besucher, darunter ich, empfingen durch dieses Bildwerk den ersten Anstoß, sich mit der Kathedrale von Chartres und der Gedankenwelt ihrer Entstehungszeit zu befassen.

Ausgehend von den Kathedralschulen in den aufstrebenden Städten Westeuropas vollzog sich im 11. und 12. Jahrhundert eine Revolution des Wissens, Denkens und Fühlens, wie sie in der abendländischen Geistesgeschichte nur mit dem Anbruch der erklärenden Vernunft im klassischen Athen verglichen werden kann. Und dort, im griechisch-römischen Altertum, setzt die mittelalterliche Bildung nach den Stürmen der Völkerwanderung wieder an. Sie schürft bei Platon, Aristoteles und anderen vorchristliche Philosophen, baut Brücken auf den Werken der christlichen Spätantike und importiert Wissensschätzen aus dem byzantinischen und arabischen Raum. Die »Renaissance des 12. Jahrhunderts« ist die eigentliche Geburtsstunde des modernen Europa, ihre Sakralbauten deren sichtbare Zeugen.

Zu diesem Aufbruch des Denkens hat insbesondere die Schule von Chartres beigetragen. Unter diesem Namen ist sie eingegangen in die europäische Kulturgeschichte als Strahlungskern einer Bildungsbewegung, die das Hohe Mittelalter prägte. In ihr verdichtet sich der Geist einer Epoche; wir finden den Widerhall ihres Denkens auch an anderen Kathedralschulen des Frankenreich und darüber hinaus in allen damaligen Ländern der lateinischen Christenheit.

Den Anstoß gab eine Umwälzung im Menschen- und Gottesbild, dem Kern der abendländischen Geistigkeit: Die einsetzende Prosperität des hohen Mittelalters macht es den Menschen möglich, sich wieder ergreifen lassen vom adelnden Gedanken der Gottesebenbildlichkeit. Das Christus-Bild hellt sich auf: Der strenge Weltenrichters weicht zurück, der liebende, leidende Bruder tritt hervor. Mit dieser Menschwerdung Jesu wächst in der Wahrnehmung der Zeit auch die Gestalt seiner Mutter: Noch fühlbarer, noch einsichtiger als im Sohn verdichten sich in Maria die Hoffnungen der Zeit.

Cur Deus homo? Warum wollte Gott Mensch werden?so fragt Anselm von Canterbury zum Auftakt der Epoche; die Antwort wird wiederentdeckt bei Augustinus: Gott wird Mensch, damit der Mensch göttlich werde. Diese erschütternde, erlösende Zusage übersetzt die Gotik in die Formsprache der himmelstrebenden Gewölbe, der Spitzbögen und Glasfenster. Chartres ist nicht die erste gotische Kathedrale. Aber sie ist diejenige, die das geistige Streben nach Einheit zwischen Diesseits und Jenseits, Mensch und Gott am vollkommensten zum Ausdruck bringt. Nicht zufällig entsteht sie an jenem Ort, an dem sich in den vorausgehenden zwei Jahrhunderten der geistige Aufbruch vollzog.

Es ist vor allem ein Bauteil, das die Klammer zwischen dem geistigen und dem materiellen Bau bildet: Das berühmte Königsportal. Es entstand um 1150 im Übergang zwischen Spätromanik und Frühgotik als Teil eines neuen Westwerks. Einen dichteren Ausdruck hat die geistige universitas des 12. Jahrhunderts nirgends gefunden. Das Portal benennt gleichsam das geistige Programm für den 50 Jahre später beginnenden Hauptbau und bietet so im doppelten Sinne den Zugang zur Kathedrale.

Was will der reiche Figurenschmuck von über 200 Skulpturen zum Ausdruck bringen? Auf ersten Blick so klar und einsichtig, ergeben sich bei tieferer Betrachtung scheinbare Unstimmigkeiten und Rätsel, die in hintergründige Bedeutungen führen. Die Schlüssel dazu müssen im geistigen Kosmos der Schule von Chartres gesucht werden; nicht zufällig entstand das Königsportal unter den Augen ihres letzten großen Kanzlers Thierry von Chartres.

Die Forschung ist sich einig, dass gültige Antworten nur im fächerübergreifenden Dialog zwischen Kunst-, Theologie- und Philosophiegeschichte zu finden sind. Generationen namhafter Wissenschaftler haben sich darum bemüht und verdient gemacht. Dennoch bleiben bis heute Lücken in den vorliegenden Versuchen, für alle Teile der Ikonographie einen stimmigen Bedeutungszusammenhang im Rahmen eines überwölbenden Sinnganzen zu benennen. Insbesondere zum sogenannten Himmelfahrts-Tympanon gehen die Deutungen noch auseinander.

Dieser Herausforderung stellt sich der vorliegende Band. Als Fachfremder auf den Schultern der Fachwissenschaften stehend, kann ich vielleicht unbefangener über Fächergrenzen hinüberblicken. Ich folge dabei der Intuition: Wenn die Marien-Gestalt im rechten Seitentympanon nach einhelliger Auffassung letztlich »Sophia«, die Weisheit, verkörpert, dann muss die Himmelfahrts-Darstellung im linken Tympanon als ihr Gegenüber auf den menschgewordenen »Logos« verweisen. Links der uranfängliche Schöpfergeist Gottes, der in Christus als Heilsbotschaft zu den Menschen hinabsteigt, und rechts die menschliche Einsicht, die als Philo-Sophia zur Gotterkenntnis emporstrebt – nur sie können die erhabene Majestas im Mitteltympanon würdig einrahmen. Die Begegnung zwischen Gott und Mensch – sie durchzieht wie ein Leitmotiv die anbrechende Gotik. Ihren höchsten bildhaften Ausdruck findet sie im Gegenüber von Jesus und Maria, der diese Kathedrale an so vielen Stellen – so auch hier – durchzieht.

Die nachfolgenden drei Aufsätze sowie das Nachwort sind zu unterschiedlichen Zeiten zwischen 2006 und 2011 entstanden. Sie folgen deshalb einem je etwas anderen Ansatz und lassen sich daher auch je gesondert lesen. Zugleich bauen sie – mit geringen Wiederholungen – so eng aufeinander auf, dass sie hier als Kapitel eines Buches zusammengefügt sind. Das erste Kapitel über die Schule von Chartres hat darin einen überwiegend einführenden und grundlegenden Charakter. Was dieser Band an Neuem zu sagen hat, findet sich überwiegend im zweiten und vor allem im dritten Kapitel.

Entstanden sind die Texte im Gefolge von alljährlichen Studienwochen in Chartres, an denen ich zunächst als Teilnehmer, dann als Ko-Leiter teilnahm. Ich danke meiner geliebten Frau Stefanie Spes­sart-Evers dafür, dass sie mich 2002 zur ersten dieser Studienwochen motivierte, und für die zahllosen tiefen Gespräche, die wir seitdem über Chartres und – ja: über Gott und die Welt führten. Ein großer Dank geht an den ortsansässigen deutschsprachigen Führer Wolfgang Larcher, »unseren verehrungswürdigen Sokrates«, für seine inspirierenden Vorträge; dann an den Musiker Helge Burggrabe, der diese Studienwochen in Chartres regelmäßig anbietet und maßgeblich gestaltet; gemeinsam haben sie mir diese Besuche zu geistig-geistlichen Erlebnissen gemacht. Ich danke Heike Radeck, die als Studienleiterin der Evangelischen Akademie Hofgeismar mehrere dieser Reisen organisierte und durch ihre Beiträge aus den Bereichen der Theologie und des Bibliologs bereicherte.1 Sie hat mich auch fachlich bei den nachfolgenden Texten beraten; ebenso der Philosoph Alexander Fidora, die Theologiehistorikerin Elisabeth Reinhardt und der Kunstwissenschaftler Jochen Staebel; ihnen allen meinen herzlichen Dank.

Und ich danke meinem Vater, dem verstorbenen Kunsthistoriker Hans Gerhard Evers, mit dem ich als 14-Jähriger erstmals in Chartres war, und der mir die Liebe zur Welt der Kultur vermittelte.

1Als unmittelbare Frucht dieser gemeinsamen Reisen erscheint zeitgleich im Kösel-Verlag München ein gemeinsamer Bildband: »Chartres – Lauschen mit der Seele. Eine spirituelle Entdeckungsreise« mit Beiträgen von Helge Burggrabe, Tilman Evers, Stefanie Spessart-Evers, Heike Radeck und Ingrid Riedel. In ge­raff­ter Form finden sich Grundgedanken aus dem vorliegenden Band in meinen dortigen Beiträgen wieder.

Universitas Mundi. Die Schule von Chartres

1. Quaestio.2 Warum Chartres?

Wenn heute von Chartres die Rede ist, dann verbinden wir mit dieser Stadt vor allem das Bild ihrer Kathedrale, also das in Stein und Glas auf uns überkommene Bauwerk aus dem hohen Mittelalter. Weniger bekannt ist, dass dem Werk der Baumeister und Bildhauer ein geistiges Werk von Theologen und Philosophen vorausging, das den neuen Kunststil der Gotik erst ermöglichte. In den zwei Jahrhunderten vor dem Bau der jetzigen Kathedrale bestand am selben Ort als Lehreinrichtung des Bischofssitzes eine damals weitberühmte Kathedralschule: Die Schule von Chartres. Unter diesem Namen ist sie eingegangen in die europäische Kulturgeschichte als ein, wenn nicht der Strahlungskern einer Bildungsbewegung, die das 11. und 12. Jahrhundert des christlichen Westens prägte.

Unter kühnem Rückgriff auf das geistige Erbe der Antike einschließlich seiner nicht-christlichen römischen und insbesondere griechischen Wurzeln entwickelten sich dort Formen des forschenden Denkens, der methodischen Theologie und Philosophie, ja überhaupt der wissen-schaffenden Sprache, die bis heute das westliche Denken prägen. Es ist die Zeit der frühen Scholastik; sie hat nach Schulen wie der von Chartres ihren Namen. In heutigen Ohren klingt »Scholastik« als überholt und abgestanden. Doch die Geschichte der modernen Wissenschaft kann nicht erzählt werden ohne den geistigen Aufbruch, der sich damals auf dem Stadthügel von Chartres im Lehrgespräch zwischen wenigen gebildeten Geistlichen und einer Handvoll Studenten vollzog.

Zu diesem Aufbruch trugen damals Kathedralschulen auch an anderen wichtigen Bischofssitzen Franciens wie Reims, Laon und Paris bei. Unter ihnen ragte jedoch die von Chartres aufgrund der Qualität ihrer Lehrer und Werke hervor. »Ihr kommt in ganz Gallien an Gelehrsamkeit und Anzahl der Kleriker keine andere gleich«, so schrieb damals ein englischer Mönch.3 In ihr verdichtete sich der Geist einer Epoche; wir finden den Widerhall ihres Denkens weit über Frankreich hinaus in allen damaligen Ländern der lateinischen Christenheit.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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