Lore-Roman 112 - Ina Ritter - E-Book

Lore-Roman 112 E-Book

Ina Ritter

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Beschreibung

Rotraut Mayen hat ihre Mutter bis zum Tod gepflegt und bleibt traurig und einsam zurück. Als sie auch noch ihre Stellung als Gutssekretärin verliert, weiß sie weder ein noch aus. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an einen alten Freund ihrer Mutter.
Arnold Kleve nimmt sich ihrem Schicksal an. Er holt sie zu sich nach Gut Wachenau und kümmert sich um sie wie eine Tochter. Doch die Leute dort machen ihr das Leben schwer. Man glaubt, sie wolle den alten Herrn um sein Geld bringen. Vor allem seinem Sohn Thorwald scheint die junge Dame ein Dorn im Auge zu sein. Rotraut ist sich sicher: Man wird sie erneut fortschicken, und dann ist sie ganz allein, keine Mutter wartet auf sie, um sie zu trösten, um ihr zu helfen, um einfach da zu sein ...


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Inhalt

Cover

Ganz allein auf dieser Welt

Vorschau

Impressum

Ganz allein auf dieser Welt

Schicksalsroman um ein Mädchen, das von der Zukunft nichts erwarten konnte

Von Ina Ritter

Rotraut Mayen hat ihre Mutter bis zum Tod gepflegt und bleibt traurig und einsam zurück. Als sie auch noch ihre Stellung als Gutssekretärin verliert, weiß sie weder ein noch aus. In ihrer Verzweiflung wendet sie sich an einen alten Freund ihrer Mutter.

Arnold Kleve nimmt sich ihrem Schicksal an. Er holt sie zu sich nach Gut Wachenau und kümmert sich um sie wie eine Tochter. Doch die Leute dort machen ihr das Leben schwer. Man glaubt, sie wolle den alten Herrn um sein Geld bringen. Vor allem seinem Sohn Thorwald scheint die junge Dame ein Dorn im Auge zu sein. Rotraut ist sich sicher: Man wird sie erneut fortschicken, und dann ist sie ganz allein, keine Mutter wartet auf sie, um sie zu trösten, um ihr zu helfen, um einfach da zu sein ...

»Ihr Vater will verreisen?« Else hielt Thorwald Kleve in der Halle auf. »Wohin will er eigentlich?«

»Sie müssen sich irren. Vater hat mir nichts davon gesagt. Und gerade jetzt, wo wir das Heu hereinholen wollen ...«

Die Mamsell schüttelte den Kopf.

»Er will verreisen, er hat doch gesagt, ich solle mich um seine Koffer kümmern. Und dann hat er das Bild ganz obendrauf gelegt, das Bild dieser Frau, meine ich. Ob er die vielleicht besuchen will?«

»Sie reden zu viel, Else!« Thorwald ließ die verdatterte Mamsell einfach stehen. So hatte er bisher noch nie zu ihr gesprochen.

Aber ihr Verdacht war einfach ungeheuerlich. Kein Wunder, dass Thorwald so erregt war und fast die Selbstbeherrschung verlor.

Im Schlafzimmer seines Vaters war Mariechen tatsächlich dabei, den Koffer zu schließen. Sie wurde rot, als Thorwald sie anschaute, und machte einen ungeschickten, dafür aber umso tieferen Knicks.

»Haben Sie mich gesucht?«, fragte sie hoffnungsfreudig. »Ich bin hier gleich fertig, Herr Kleve. Dann habe ich Zeit für Sie. Würden Sie mir mal helfen, den Kofferdeckel runterzudrücken? Ich habe Anzüge einpacken müssen, und er wollte nur einen Koffer mitnehmen, Ihr Herr Vater. Sagen Sie mal, stimmt das, dass er da eine alte Jugendfreundin besuchen will?«

»Fragen Sie nicht so dumm!«, schnauzte Thorwald auch sie an.

Mochte der Teufel wissen, wie solche Gerüchte aufkamen. Anscheinend gab es im ganzen Hause kein anderes Gesprächsthema als diese überraschende Reise seines Vaters.

Ganz plötzlich drehte er sich um und ging eilig hinaus. Er suchte seinen Vater. Arnold Kleve befand sich im Arbeitszimmer, stand dort am Fenster, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt.

Er wandte leicht den Kopf, als Thorwald die schwere Tür hinter sich zuknallte. Sein Lächeln verriet, dass er wusste, warum sein Sohn so aufgeregt hereinstürmte.

»Du willst zu ihr fahren?«, überfiel Thorwald ihn.

»Ja«, antwortete Arnold Kleve. Als er Thorwalds fassungsloses Gesicht sah, sagte er: »Weißt du, Thorwald, manchmal packt es einen. Die Vergangenheit, meine ich. Man sollte denken, Geschehnisse, die fast dreißig Jahre zurückliegen, würden uns nicht mehr bewegen. Es ist ein Irrtum.«

»Ach, du sprichst von deiner Jugendfreundin ...?«

Thorwald runzelte die Stirn. Er verstand seinen Vater nicht. Vor einem Jahr war seine Mutter gestorben, eine wunderbare Frau, die von allen geliebt und verehrt wurde. Die Ehe seiner Eltern war vorbildlich gewesen. Er hatte niemals gehört, dass sie sich stritten.

Es schien, als könne Arnold Kleve die Gedanken seines Sohnes erraten. Die tiefen Falten auf seiner Stirn glätteten sich nicht, im Gegenteil, sie schienen sich zu vervielfachen.

»Ja«, sagte er, und es klang wie ein Seufzer. »Ich habe mit deiner Mutter eine sehr gute Ehe geführt. Mehr noch, wir waren sogar glücklich miteinander. Und doch ...«

»Und doch warst du nicht ganz glücklich«, ergänzte Thorwald fast verstört. »Hat es denn in deinem Leben eine andere gegeben, die ...?«

»Weshalb soll ich es dir eigentlich nicht erzählen?«, sagte Arnold Kleve mehr zu sich selbst als zu seinem Sohn. »Auch wenn du mich wahrscheinlich nicht verstehen wirst. Ich habe deine Mutter geliebt, und ich weiß, dass ich keine bessere Frau hätte finden können. Aber bevor ich sie heiratete, da ... wir wollten uns verloben. Sie hieß Sieglinde.«

»Und?«

»Sie heiratete dann einen anderen. Einen Buchhalter mit kleinem Gehalt, sie zog in eine Zweizimmerwohnung, hatte natürlich kein Mädchen und musste selbst saubermachen, kochen ... Sie hat alles vorher gewusst, und doch ... sie hat ihn geheiratet. Ich war damals schon reich, ich konnte ihr alles bieten, jeden Luxus. Und ... ich konnte ihr mein Herz bieten.«

Thorwald sah erschüttert, wie es in den Zügen seines Vaters arbeitete. Selbst nach solch einer langen Zeit, der Spanne eines Menschenlebens fast, selbst jetzt konnte er nicht von dieser Frau sprechen, ohne die Ruhe zu verlieren.

»Wenn ich Sieglinde sah, wenn ich bei ihr war, dann gab es nur sie für mich. Ich konnte nur an sie denken, alles andere war unwichtig geworden. Weißt du, alles Blut strömt einem zum Herzen, man meint, man müsse vergehen ... ach, mit Worten kann man es nicht schildern, man muss es erlebt haben. Nur die wenigsten Menschen erleben so etwas. Das ist die Liebe, sie lässt für nichts anderes mehr Raum, sie erfüllt einen ganz und gar ...«

»So etwas erlebt man nur einmal.« Arnold Kleve zuckte die Schultern. »Ich habe dann deine Mutter geheiratet, und ich brauchte es nie zu bereuen. Ich habe deine Mutter sehr gern gehabt.«

»Aber du hast sie nicht geliebt!«, knurrte Thorwald.

Sein Vater verzog den Mund zu einem schwermütigen Lächeln.

»Du irrst dich, Junge«, bekannte er mit dunkler Stimme. »Ich habe deine Mutter geliebt, man musste sie einfach lieben. Sie verbreitete Wärme und Behaglichkeit um sich, sie hat mich sehr glücklich gemacht. Aber das andere ... vielleicht ist es wie eine Krankheit, ich weiß es nicht.«

»Und ich habe immer geglaubt, Mutter bedeutete dir alles«, äußerte Thorwald bitter.

»So war es auch. Du verstehst mich nicht, Thorwald. Niemand kann mich verstehen, der nicht selbst so etwas erlebt hat. Ich war deiner Mutter niemals untreu, selbst nicht in Gedanken. Und es ist nicht meine Schuld, dass ich nicht imstande war, das Gleiche für sie zu fühlen wie damals für Sieglinde. Ich habe deiner Mutter alles gegeben, was ich ihr geben konnte. Das andere damals ... das ist etwas, das man nicht erzwingen kann. Es ist wie ... wie eine Gnade. Man wird ein andere Mensch, wenn man so etwas erlebt hat.«

Ein Gedanke drängte sich plötzlich Thorwald auf — ein furchtbarer Gedanke.

Seine Mutter war ein Jahr tot, sein Vater ein Mann in den besten Jahren. Und er betrachtete heimlich das Bild einer Frau, die er über alles in der Welt geliebt hatte.

Sollte es etwa heißen, dass Vater mit dem Gedanken spielte, diese Frau aufzusuchen, und wenn sie frei war, vielleicht ... zu heiraten?

Das verschlossene Gesicht seines Vaters verriet Thorwald nichts von dem Gedanken hinter der breiten, kantigen Stirn.

Eine Nachfolgerin seiner Mutter in diesem Hause ... Nein ... dachte Thorwald, das lasse ich nicht zu. Hier, wo alles an sie erinnerte, wo ihr Geist lebendig ist, wo die Wände von ihr sprechen, da soll eine andere wohnen?

»Hast du die Verbindung mit ihr aufgenommen oder hat sie dich gerufen?«, fragte er unvermittelt und schaute seinen Vater starr an.

Arnold Kleve schüttelte leicht den Kopf. »Nein«, antwortete er leise.

»Sie weiß gar nicht, dass ich komme. Sie ist in Not geraten, Thorwald. Ich will sie nur fragen, ob sie Hilfe braucht.«

»Und weshalb ausgerechnet deine Hilfe? Gibt es nicht genug andere Menschen, die sich um sie kümmern könnten?«

Arnold Kleve lächelte noch immer in der seltsamen Art, die Thorwald so irritierte.

»Gut, ich kann dich nicht zurückhalten. Aber glaube nicht, dass ich bereit wäre, eine Nachfolgerin meiner Mutter anzuerkennen. Niemals würde ich das tun.«

»Es ist nicht meine Absicht, um Sieglinde zu werben«, erwiderte Arnold Kleve. »Dazu ist es jetzt zu spät. Ich möchte ihr nur helfen. Sie hat es verdient. Sie war sich selbst treu, Thorwald. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt.«

»Dann wünsche ich dir viel Vergnügen.«

Thorwald warf den Kopf in den Nacken und stürmte hinaus. Die Tür des Arbeitszimmers warf er wieder hinter sich zu. Sein Gesicht war wie eine Maske, verriet nichts — oder verriet alles.

Thorwald sah seinen Vater eine halbe Stunde später abfahren. Ein Diener trug seinen Koffer in den Wagen, und Arnold Kleve hatte sich nicht von seinem Sohn verabschiedet.

***

Sein Vater hatte allerdings den Abschied nicht vergessen, war nur nicht gewillt, seinem Sohn die Ungezogenheit durchgehen zu lassen. Sieglinde war in Not, sie brauchte Hilfe, und für ihn war es eine selbstverständliche Pflicht, zu ihr zu eilen, so schnell er konnte.

Am frühen Abend erreichte er die Stadt. Arnold Kleve nahm sich nicht die Zeit, erst ein Hotel aufzusuchen, sondern fragte sich nach Sieglinde Mayens Wohnung durch.

Das Herz wurde ihm schwer, als er seinen Wagen durch immer engere Straßen steuern musste. Wie schäbig sahen die Häuser hier aus, wie ärmlich die Bewohner, die zum Teil noch vor den Türen saßen und miteinander sprachen. Dann hielt er dicht vor ihrem Haus. Es war ein schmales, hohes Gebäude, die Gardinen hinter den Fenstern schmutzig, die Haustür hing nur noch in ihren Angeln.

Nein, dachte der Mann, das ist doch nicht möglich. Hier kann die gefeierte Ballschönheit doch nicht leben. Sie, die Luxus und Behaglichkeit gewöhnt war, musste in solch einer Umgebung doch zugrunde gehen.

Er hatte erfahren, dass sie seit einigen Jahren Witwe war und von einer kleinen Rente lebte. Aber so ärmlich hatte er sich ihre Umwelt nicht vorgestellt.

Sein großer, neuer Wagen erregte Aufsehen, als er die Tür hinter sich zuwarf. Er achtete nicht auf die Straßenjungen, die ihn neugierig umdrängten. Er betrat das schmutzige Haus. Sie wohnte ganz oben, unter dem Dach. Hier war die Luft schwül und erstickend heiß.

Er hörte, wie der Schlüssel von innen herumgedreht wurde, dann das Klirren der Kette, die die Tür noch zusätzlich sicherte. Gleich würde er sie wiedersehen, die Frau, die es verstanden hatte, ein tiefes Gefühl in ihm über dreißig Jahre hinweg zu erhalten.

Die schlechtgeölten Angeln quietschten, als die Tür herumschwang. Sieglinde stand vor ihm, und sie war nicht älter geworden. Sie trug ein schlichtes Waschkleid, darüber eine Schürze, aber er hatte ja auch nicht erwartet, sie in einer eleganten Robe anzutreffen.

Wie schön sie war! Einen Augenblick fürchtete Arnold Kleve, einem Traum zum Opfer gefallen zu sein. Er starrte sie an, wortlos, unfähig, etwas zu sagen. Den Hut hielt er in der Hand, und sein Gesicht war vor Erregung verzerrt.

»Sie wünschen?«, fragte sie mit der hellen Stimme, die wie Musik klang.

»Erkennst du mich nicht mehr?«, presste Arnold heiser hervor. Er näherte seinen Kopf ihrem Gesicht. »Sieglinde, ich bin es, Arnold.«

Sie trat einen halben Schritt auf den winzigen Flur zurück. Sie griff nach der Türklinke, als wolle sie ihm die Tür vor der Nase zuwerfen.

»Ich kenne Sie nicht«, erwiderte sie sehr abweisend. »Ich heiße auch nicht Sieglinde. Mein Name ist Rotraut Mayen.«

Kleve fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Natürlich, Sie sind Sieglindes Tochter. Ich hätte es gleich wissen müssen, nur als Sie plötzlich vor mir standen ... genau wie Sieglinde früher ... sogar das gleiche Haar ... dieser silberne Schimmer auf dem Blond ... und die blauen Augen ...«

»Was wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte das Mädchen beklommen.

»Sie halten mich für ein wenig verrückt«, stellte Arnold Kleve fest und nickte. »Ich muss Ihnen ja auch seltsam vorkommen. Mein Name ist Kleve, Arnold Kleve.«

Dem Gesicht der jungen Dame sah er an, dass ihr sein Name nichts sagte. Sieglinde hatte wohl nie von ihm gesprochen. Er brachte ein wehmütiges Lächeln zustande.

»Ich kannte Ihre Mutter früher einmal sehr gut. Bitte, darf ich sie jetzt sprechen? Ich habe eine weite Reise gemacht, um Sieglinde zu sehen. Sie ... wird sich an mich erinnern. Ich hoffe es jedenfalls.«

»Ich werde Mutter fragen.« Rotraut Mayen warf ihm noch einen abschätzenden Blick zu, als wolle sie sich vergewissern, dass er kein Einbrecher war, dann verschwand sie durch eine Tür, die von dem kleinen Flur abging.

Arnold Kleve hörte murmelnde Stimmen. Dass es so etwas gab, solch eine Ähnlichkeit! Ihm war, als wären dreißig Jahre plötzlich ausgelöscht, und er fühlte sich wieder so jung und erregt wie damals, als er die schöne, umworbene Sieglinde besuchte.

»Mutter lässt bitten.« Die junge Dame öffnete ihm die Tür, und ihr Lächeln war jetzt spontan und herzlich. »Ich koche unterdessen Kaffee, wenn es Ihnen recht ist, Herr Kleve.«

Der Gutsbesitzer nickte geistesabwesend. Er begriff dunkel, dass Rotraut taktvoll sein wollte, dass sie nicht die Absicht hatte, dieses Wiedersehen nach fast dreißig Jahren zu stören.

Auf Zehenspitzen ging er über die Schwelle.

Eine alte Frau saß in einem Rollstuhl. Eine dunkle Decke lag über ihren Knien, ihr Haar war schneeweiß, ihr Gesicht faltig und versorgt.

Nur an den Augen konnte er sie wiedererkennen, die Sieglinde, die er so geliebt hatte. Ein paar Tränen rannen über die welken Wangen der alten Frau, als sie ihm beide Hände entgegenstreckte. Ihre Lippen zitterten, aber auch sie brachte wohl kein Wort hervor.

Erschüttert zog Arnold Kleve ihre welken Hände nacheinander an die Lippen.

»Sieglinde«, flüsterte er scheu. »Deine Augen sind jung geblieben. Sie sind genauso schön wie damals.«

»Und du bist noch genau solch ein Schmeichler wie damals, Arnold. Wie jung du noch aussiehst, wie stark. Und ich dagegen ... alt und verbraucht. Ich freu mich so, dich noch einmal wiederzusehen.«

Arnold Kleve strich zärtlich über ihre welken, abgearbeiteten Finger. Er sah nicht, wie ärmlich die Einrichtung dieses Raumes war, schräg die Wände. Er wusste nur, dass sein Herz jetzt Ruhe gefunden hatte.

»Das Zimmer ist zu klein für dich.« Sieglinde lächelte mit welken Lippen. »Man merkt, dass du andere Räume gewohnt bist. Wie geht es dir? Du musst mir alles erzählen.«

»Dann hast du mich nicht vergessen?«, fragte der Mann heiser.

»Nein«, gestand die Frau ehrlich, und ihre Augen lächelten. »Ich habe oft an dich gedacht. Sehr oft. Hast du mir verziehen, Arnold?« Sie schluckte. Das Weitersprechen schien ihr schwerzufallen. »Ich habe dir einmal sehr wehgetan«, stellte sie fest.

Arnold Kleve schüttelte den Kopf.

»Du irrst dich«, widersprach er. »Ich wollte immer nur dein Glück. Und wenn du ... einen anderen mehr liebtest als mich, wie konnte ich da böse sein? Liebe ist Schicksal, man muss sie hinnehmen, aber man kann sie nicht fordern.«

Die alte Frau senkte den Kopf ganz tief auf die Brust.

»Auch in der Liebe weiß man manchmal nicht, was das eigene Herz will. Ich ... ich habe mich damals geirrt. Ich verstehe mich selbst nicht mehr. Als er kam, da war mir ... da war mir, als gäbe es außer ihm keinen anderen. Und dann auf einmal ... aber da war es zu spät. Er war nicht so, wie ich geglaubt hatte. Aber wir wollen nicht von mir sprechen, Arnold, erzähl du von dir. Du führst eine gute Ehe, man sieht es dir an. Du hast eine Frau, die dich liebt — sie muss dich einfach lieben. Du hast sie nie enttäuscht, nicht wahr?«

»Sieglinde.« Arnold hatte sich neben ihren Rollstuhl gesetzt und zog ihre Rechte an seine Wange. Ganz still saß er da, und zum ersten Mal seit langer Zeit war er wieder wunschlos glücklich.

Sicher, die geliebte Frau war alt geworden, sie war keine jugendfrische Schönheit mehr, sie konnte anscheinend nicht mehr gehen — aber das, was er für sie empfunden hatte, das war lebendig geblieben. Ein Blick in ihre Augen genügte, um ihn an früher zu erinnern.

»Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben«, sagte Arnold Kleve schwer. »Es stimmt, ich habe eine gute Ehe geführt, die Leute haben gesagt, es sei eine außergewöhnlich gute Ehe gewesen. Vielleicht haben die Leute recht.«

»Bestimmt. Man darf nicht seine große Liebe heiraten, dann wird man immer nur enttäuscht. Aber das brauche ich dir nicht zu sagen, du bist viel klüger als ich, du weißt es ja selbst.«

Sieglinde Mayen schloss die Augen und drückte den Kopf gegen die Lehne des Rollstuhles.

»Es ist so schön, dich noch einmal wiederzusehen, Arnold«, gestand sie leise.

»Ich bin gekommen, um dir zu helfen. Ich habe ein großes Haus, du kennst es ja, und in dem Haus ist Platz genug für dich und deine Tochter. Du musst nach Wachenau kommen.«

Die Augen noch immer geschlossen, schüttelte Sieglinde Mayen den Kopf. Ein paar Tränen rollten über ihre Wangen.

»Es ist zu spät für uns beide«, sagte sie. »Ich bin ... zu krank. Ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit habe. Es ist auch besser, wenn ich ... nicht mehr bin. Für Rotraut stelle ich nur eine Belastung dar. Sie schuftet sich ab, sie arbeitet wie eine Besessene, nur um mich erhalten zu können. Eine Krankheit ist teuer. Man weiß es nicht, wenn man Geld genug hat, aber wenn man jeden Pfennig umdrehen muss wie wir ... ich habe eine gute Tochter, Arnold. Sie tut alles für mich. Und deshalb ... möchte ich sterben. Für sie ist es besser, wenn ich nicht mehr bin.«

»Du darfst nicht so sprechen. Jetzt bin ich doch da, jetzt kann ich für dich sorgen. Geld spielt für mich keine Rolle. Ich werde die besten Ärzte kommen lassen ...«

»Zu spät«, hauchte Sieglinde Mayen. Ein unendlich wehmütiges Lächeln glitt über ihr Gesicht. »Du meinst es so gut, aber für mich kommt deine Hilfe zu spät. Rotraut weiß es nicht, der Arzt mochte ihr nicht die Wahrheit sagen. Ich kenne sie. Noch einige Wochen vielleicht ...«

»Nein! Das darf nicht sein, Sieglinde. Gerade jetzt, wo wir uns wiedergefunden haben ...«

Ein verklärter Schein legte sich über das Gesicht der alten Frau.

»Das ist der richtige Zeitpunkt, um Abschied zu nehmen.« Sie überließ Arnold ihre Rechte, und sie nur allein wusste, was für eine Wohltat es war, seine warmen Finger um ihre kalte Hand zu spüren.

»Der Kaffee.« Rotraut Mayen kam mit einem Tablett herein, ein reizendes Lächeln in ihrem frischen Gesicht. Es war kein Wunder, dass Arnold Kleves Blick vergleichend zwischen Mutter und Tochter hin und her flog.

Sie hätte meine Tochter sein können, dachte er. Sein Herz flog diesem schönen Mädchen zu. Es war ein anderes Gefühl als das, was er einstmals für Sieglinde empfunden hatte, aber es war genauso stark, und es würde genauso lange anhalten.

Arnold Kleve hatte zwar ein Hotelzimmer gemietet, hielt sich aber praktisch den ganzen Tag in der winzig kleinen Wohnung der geliebten Frau auf.

Sie hatten sich so viel zu erzählen, Sieglinde und er, und je mehr er aus ihrem Leben hörte, desto stärker begriff er, dass sie ihre damalige Entscheidung sehr schnell bereut hatte.

Auch sie liebte ihn, hatte damals Hals über Kopf gehandelt. Ein hartes Leben lag hinter ihr, ein Leben voller Sorgen und Entbehrungen, dessen einziger Lichtblick Rotraut war.

Ihre Tochter störte die beiden Menschen selten. Sie schützte immer irgendwelche anderen Arbeiten vor, verließ sogar häufig die Wohnung, und doch freute Arnold sich immer, wenn er sie sehen und mit ihr sprechen konnte.