Lore-Roman 35 - Helga Winter - E-Book

Lore-Roman 35 E-Book

Helga Winter

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Beschreibung

Vor verschlossenen Türen - Ein Herz zwischen Hoffen und Bangen


Frau Juttas Blick bleibt auf dem gerahmten Foto auf der Anrichte hängen. Es zeigt einen jungen Mann in Uniform. Für sie ist es die einzige Erinnerung an den Vater ihres Sohnes, von dem sie nur den Vornamen kennt. Mehr ist nicht nötig gewesen, damals in der Nacht nach dem schrecklichen Luftangriff, als sie das Überleben feierten. Nur diese wenigen Stunden haben sie verbracht, nach dem Krieg hat sie vergeblich nach Olaf gesucht.
Und nun treten siebzehn Jahre danach zwei Menschen auf sie zu und behaupten, Juttas Sohn sei ihr Enkel. Er sei seinem verschollenen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Natürlich wollen sie den Enkel zu sich auf das Familiengut holen, schließlich sei er ein echter Nienburg.

Doch die Mutter darf nicht mehr in Erscheinung treten. Eine Klavierlehrerin aus einfachen Verhältnissen passt für das Grafenpaar nun mal nicht in die höheren Kreise. Um nichts auf der Welt will Jutta auf ihren geliebten Jungen verzichten, doch sie weiß, was man ihm im Schloss alles bieten kann. All das, wovon er immer träumt. Und so bringt sie ein weiteres Opfer, das größte überhaupt: Sie lässt ihren Sohn ziehen, in eine Welt, deren Türen ihr für immer verschlossen bleiben ...

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Seitenzahl: 144

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Inhalt

Cover

Impressum

Vor verschlossenen Türen

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: RetroAtelier/iStockphoto

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6856-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Vor verschlossenen Türen

Ein Herz zwischen Hoffen und Bangen

Von Helga Winter

Frau Juttas Blick bleibt auf dem gerahmten Foto auf der Anrichte hängen. Es zeigt einen jungen Mann in Uniform. Für sie ist es die einzige Erinnerung an den Vater ihres Sohnes, von dem sie nur den Vornamen kennt. Mehr ist nicht nötig gewesen, damals in der Nacht nach dem schrecklichen Luftangriff, als sie das Überleben feierten. Nur diese wenigen Stunden haben sie verbracht, nach dem Krieg hat sie vergeblich nach Olaf gesucht.

Und nun treten siebzehn Jahre danach zwei Menschen auf sie zu und behaupten, Juttas Sohn sei ihr Enkel. Er sei seinem verschollenen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Natürlich wollen sie den Enkel zu sich auf das Familiengut holen, schließlich sei er ein echter Nienburg.

Doch die Mutter darf nicht mehr in Erscheinung treten. Eine Klavierlehrerin aus einfachen Verhältnissen passt für das Grafenpaar nun mal nicht in die höheren Kreise. Um nichts auf der Welt will Jutta auf ihren geliebten Jungen verzichten, doch sie weiß, was man ihm im Schloss alles bieten kann. All das, wovon er immer träumt. Und so bringt sie ein weiteres Opfer, das größte überhaupt: Sie lässt ihren Sohn ziehen, in eine Welt, deren Türen ihr für immer verschlossen bleiben …

„Verwöhnen Sie den Jungen nicht zu sehr?“, fragte Hanna Helfrich mit nachsichtigem Lächeln, als Jutta Reichenbach die teuren Weintrauben kaufte. Sie stand neben ihr beim Gemüsehändler, eine nette, freundliche Frau, mit der sich Jutta sehr gut verstand. Sie wohnten in einem Haus zusammen, Frau Helfrich eine Etage über Jutta Reichenbach.

Frau Jutta lächelte wie um Entschuldigung bittend.

„Eigentlich sind sie zu teuer“, stimmte sie zögernd zu, „aber Olaf mag sie nun einmal so gern.“

„Es ist schwer, ihn nicht zu verwöhnen“, äußerste Frau Helfrich und seufzte, als täte es ihr leid. Dabei war sie diejenige, die dem aufgeweckten, netten Jungen häufig Leckereien und Obst zusteckte.

„Er muss auf so viel verzichten …“ Einen Moment senkte Jutta Reichenbach den Kopf. Aber wirklich nur einen Moment, denn es lag ihr nicht, sich selbst zu bedauern.

„Er hat doch Sie“, erwiderte Frau Hanna schlicht.

Eine zarte Röte ergoss sich über das Gesicht der jungen Frau und ließ es direkt mädchenhaft erscheinen. Wer sie ansah, konnte einfach nicht glauben, dass sie die Mutter eines siebzehnjährigen Sohnes sein konnte.

„Nur mich“, erinnerte Frau Jutta leise.

„In Ihrem Falle ist das mehr als genug“, erklärte Hanna Helfrich resolut. „Was Sie alles für den Jungen getan haben …“

„Er ist ohne Vater aufgewachsen“, erinnerte Jutta.

„Das ist schließlich nicht Ihre Schuld. Der verdammte Krieg.“ Frau Hannas Stimme klang bitterböse. „Hoffentlich erleben wir solche Zeiten niemals wieder. Was kochen Sie heute, Frau Reichenbach?“

„Ich wollte ein Kotelett kaufen …“

„Sie sollten zwei Koteletts kaufen. Es geht mich ja nichts an, aber ein bisschen sollten Sie auch an sich denken. Sie haben es schließlich nicht gerade leicht. Wenn ich höre, was Sie den Tag über auszuhalten haben … Gott sei Dank bin ich nicht besonders musikalisch, aber manchmal tut es mir doch weh, wie Ihre Schüler das arme Klavier misshandeln.“

Jutta Reichenbach war Klavierlehrerin, und was sie verdiente, reichte gerade, um sich und ihren Sohn mühsam durchzubringen.

„Wir sehen uns dann wohl noch“, verabschiedete sich Frau Helfrich, die vor Jutta bedient worden war.

Auf der Straße runzelte Jutta einen Moment die Stirn, bevor sie sich nach rechts wandte, um zum Schlachter zu gehen. Eigentlich reichte das Haushaltsgeld nicht mehr für ein Kotelett, und zu klein sollte es auch nicht sein. Aber Olaf war im Wachsen und brauchte kräftiges Essen. Sie lächelte zufrieden, als sie das Kotelett in die Einkaufstasche legte. Mochte sie selbst für sich auch an allen Ecken und Enden sparen, ihrem Sohn fehlte es an nichts.

Jutta traf ihn vor der Haustür und stutzte.

„Du kommst schon?“, fragte sie verblüfft.

„Es sieht so aus, Juttachen“, gab Olaf schmunzelnd zurück.

„Du sollst mich nicht Juttachen nennen.“

„Die Anrede passt aber so gut zu dir, mein Mädchen.“ Der lange, etwas schlaksige Kerl legte seinen knochigen Arm liebevoll um ihre Schultern. „Ich habe heute Herberts Mutter gesehen. Aus der könnte man drei von deiner Sorte machen.“

„Bring mich nicht in Verlegenheit mit deinen Komplimenten. Wieso bist du schon zu Hause? Ich hatte dich erst um eins erwartet.“

„Unser Mathelehrer ist krank geworden. Gott schenke ihm eine schöne lange Krankheit“, setzte er hinzu. „Und einen Ersatz für ihn haben wir nicht. Der Unterricht fällt aus.“

„Darüber solltest du dich nicht freuen. Denk an dein Abitur.“

„Das mache ich mit der linken Hand“, versicherte Olaf.

Es klang unbescheiden, aber es war die reine Wahrheit. Ihm flog alles nur so zu. Er war stets Klassenprimus gewesen, ohne bei seinen Kameraden als Streber zu gelten.

„In einer halben Stunde können wir essen. Ich werde mich beeilen.“

„Du, altes Haus …“ Im Wohnzimmer warf Olaf seine Büchertasche auf das Sofa und schaute von seiner imponierenden Länge auf seine mehr als einen Kopf kleinere Mutter hinab.

Solche Einleitungen kannte Jutta. Prompt runzelte sie die Stirn.

„Nun?“, forderte sie ihn zum Sprechen auf.

„Sigi hat mich eingeladen, am Sonntag mit ihm segeln zu gehen. Wir können Sonnabend schon losfahren …“

Frau Jutta senkte den Kopf. „Hast du zugesagt?“

Ihr Sohn schob beide Hände tief in die Hosentaschen.

„Noch nicht, ich wollte erst den Segen von allerhöchster Stelle haben. Mensch, was hast du nur dagegen, dass ich Einladungen annehme?“

Seine Mutter seufzte. „Ich habe es dir doch schon oft genug gesagt. Du kannst dich nicht revanchieren.“

„Das sagst du, aber es stimmt nicht.“ Jetzt bildeten sich auf der Stirn des Jungen ein paar Falten, die ihn seiner Mutter ähnlich sehen ließen. „Nie darf ich eine Party geben, dabei kostet sie nicht alle Welt.“

„Wir wohnen in einem Mietshaus, du weißt, dass wir Schwierigkeiten bekommen würden …“ Es war schon schwer genug gewesen, den Hauswirt zu überzeugen, dass ihr Klavierspiel die Nachbarn nicht über Gebühr belästigte.

„Nie darf man etwas, das Spaß macht“, brummte Olaf. „Gut, bleibe ich Sonntag also zu Hause und bohre in der Nase. Ist ja auch eine schöne Beschäftigung. Vielleicht gehen wir zur Feier des Tages in den Park und atmen den Staub ein, den die anderen aufwirbeln.“

„Aber Junge …“ Wie immer, wenn er sich so erregte, schaute Jutta Reichenbach ihn betroffen an. „Ich will doch nur dein Bestes …“

„Ich weiß. Du glaubst nur nicht, wie mir das alles hier manchmal zum Halse heraushängt. Sigi ist achtzehn, und was meinst du, was hat er zum Geburtstag bekommen?“

„Olaf, seine Eltern sind sehr reich.“

„Einen VW hat er bekommen. Einen Karmann, wenn du weißt, was das ist. So gut wie neu, er hatte erst fünfzehntausend runter.“

„Ich habe nun einmal nicht so viel Geld.“

Ihr trauriger Ton ließ Olafs Stimmung jäh umschlagen.

„Entschuldige, ich weiß ja, wie es bei uns zugeht. Es ist nicht deine Schuld, dass Vater gefallen ist. Aber trotzdem … du musst mich auch verstehen! Das Leben kann so schön sein, wenn man sich ein bisschen was erlauben kann.“

„Dass du so unzufrieden bist …“, murmelte seine Mutter.

„Unzufrieden?“, wiederholte ihr Sohn nachdenklich. „Du kommst nicht aus deinem Bau heraus, und wenn du die Häuser der anderen siehst, dann siehst du sie von außen. Und im Sommer noch nicht einmal das, weil Büsche und Bäume sie verdecken. In solchen Häusern kann man leben.“

„Unsere Wohnung ist doch auch hübsch …“

„Es hat keinen Zweck, mit dir darüber zu reden.“ Olaf Reichenbach zuckte die Schultern. „Du bist eine patente Frau, aber in mancher Beziehung ein bisschen von gestern.“

Mag sein, dass er recht hat, dachte seine Mutter. Aber ich kann nicht aus meiner Haus heraus, das muss er auch einsehen.

Olaf konnte auch nicht aus seiner Haut heraus. Sie bemühte sich, das zu verstehen. Es war nur manchmal sehr schwer.

„Soll ich ihm erlauben, mit seinem Schulkameraden segeln zu fahren?“, fragte Jutta Reichenbach am Abend ihre Nachbarin. Frau Hanna war zu einem Plausch heruntergekommen.

„Ich weiß nicht recht. Der Junge kommt in Kreise hinein, in die er nicht gehört. Er wird unzufrieden, wenn er sieht, wie viel manche Leute besitzen. Vielleicht war es ein Fehler …“ Frau Hanna brach ab und biss sich auf die Unterlippe. „Ihr Kaffee schmeckt wieder einmal wunderbar, Frau Reichenbach. Ich freue mich immer auf das kleine Plauderstündchen mit Ihnen.“

Jutta ließ sich nicht ablenken. „Sie halten es für einen Fehler, dass ich ihn aufs Gymnasium geschickt habe?“

„Das habe ich nicht gesagt.“

„Sie wollten es sagen. Der Junge soll im Leben alle Chancen haben, und dazu gehört doch vor allem eine gute Schulbildung.“

„Er kann einmal nicht studieren, wenn er sein Abitur hat. Woher wollen Sie das Geld dafür nehmen?“

Frau Jutta wusste es nicht. „Es gibt Stipendien.“

„Die reichen hinten und vorn nicht: Hätte Ihr Sohn einen vernünftigen Beruf erlernt … Fernsehmechaniker oder so etwas ähnliches. Er könnte nach Feierabend schwarzarbeiten und viel Geld verdienen.“

Aus ihr sprach die Stimme der praktischen Vernunft, und doch weigerte sich Jutta, ihr zu folgen. Natürlich hatte Frau Helfrich in vielem recht, aber ihr widerstrebte es trotzdem, Olaf eine mögliche Chance vorzuenthalten.

„Sie sollten auch ein bisschen an sich denken. Oder glauben Sie etwa, der Junge würde Ihnen einmal danken, was Sie alles für ihn tun?“, fuhr Frau Hanna fort. Sie schüttelte den Kopf. „Kinder sind niemals dankbar“, orakelte sie.

Ein schmerzliches Lächeln umspielte Frau Juttas Lippen.

„Ich will keine Dankbarkeit“, behauptete sie. „Wenn es Olaf nur gut geht … Er möchte so gern Arzt werden.“

„Natürlich, solch ein langes Studium hat er sich ausgesucht. Hoffentlich erleben Sie nicht noch einmal Ihre Überraschungen mit ihm, Frau Reichenbach. Jetzt ist er noch ein feiner Junge … Aber wie er als Mann sein wird … Entschuldigen Sie, ich rede schon wieder einmal Unsinn. Weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Ich habe heute meinen schwarzen Tag, glaube ich. Bestimmt wird Olaf Sie später auf Händen tragen und vergöttern.“

„Möchten Sie noch eine Tasse Kaffee haben?“, fragte Jutta freundlich.

„Oh, ja, sehr gern.“ Frau Hanna zierte sich nicht lange. „Ach, fast hätte ich es vergessen.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, allmählich werde ich alt. Heute Morgen war ein Herr bei mir, der eigentlich Sie sprechen wollte. Er möchte seine Tochter bei Ihnen zur Stunde anmelden. Wie hieß er noch gleich? Ich vergesse die Namen so furchtbar schnell. Er hat mir seine Karte dagelassen. Warten Sie, ich hole sie gleich herunter.“

Bevor Jutta Reichenbach protestieren konnte, war sie aufgesprungen und hinausgelaufen.

„Ein Herr Hagen. Eigentlich leicht zu behalten, nicht? Ein sympathischer Mann.“

„Hagen?“, wiederholte Jutta, und wer genau zuhörte, konnte feststellen, dass ihre Stimme ein wenig schwankte. „Martin Hagen.“ Sie schaute auf die Visitenkarte.

„Kennen Sie ihn vielleicht?“, fragte Hanna Helfrich neugierig.

„Wie kommen Sie darauf?“, wich Jutta aus.

„Nur so …“

„Ja, ich kenne ihn“, bestätigte Olafs Mutter. „Aber das liegt lange zurück. Sehr lange.“

„Ach, eine Jugendbekanntschaft?“

„Nicht direkt … Lassen Sie Ihren Kaffee nicht kalt werden, Frau Helfrich. Ich gieß auch gern noch eine Kanne frisch auf, wenn Sie noch mehr mögen.“

„Um Himmels willen, das kommt überhaupt nicht infrage. Morgen Abend müssen Sie aber zu mir kommen, Frau Reichenbach. Ich werde auch einen Topfkuchen backen. Olaf mag ihn so gern“, setzte sie fast verlegen hinzu.

Jutta hatte nicht zugehört. Martin Hagen … Sie schloss die Augen und sah ihn vor sich, einen Mann mit gebräuntem ernsten Gesicht und guten Augen. Eine Tochter hatte er … natürlich, warum auch nicht? Ein Mann wie er blieb nicht allein. Ob seine Frau wusste, was für einen guten Mann sie an ihm gefunden hatte?

„War seine Tochter mit?“, fragte sie aus ihren Gedanken heraus.

„Wessen Tochter? Ach so, die von diesem Herrn …“

„Hagen“, half Jutta aus.

„Nein, er war allein. Ich soll Sie grüßen. Hat er nicht eine Telefonnummer angegeben?“

„Ja, sie steht auf seiner Karte. Vielleicht rufe ich ihn nachher noch an.“

„Schließlich freuen Sie sich über jeden neuen Schüler“, meinte Frau Hanna. „Aber nun habe ich Sie lange genug aufgehalten.“ Der Kaffee war zu Ende, und sie erhob sich widerstrebend. „Bis morgen dann …“

„Auf Wiedersehn, Frau Helfrich.“ Jutta brachte ihre Nachbarin höflich zur Tür.

Als sie allein war, strich sie sich mit der Linken über die Stirn, als wolle sie etwas fortwischen. Ihr Blick blieb auf dem gerahmten Foto auf der Anrichte hängen. Es zeigte einen jungen Mann in Uniform, der ernst aus dem Rahmen herausschaute.

Damals war keine Zeit für heitere Menschen gewesen.

„Olaf“, flüsterte Jutta, und sie sprach den Namen des toten Mannes wie eine Beschwörung aus. Sie wusste nicht viel von ihm. Nur seinen Vornamen kannte sie. Olaf. Damals hatte es genügt.

Die junge Frau zog die Schultern hoch, als sei ihr plötzlich kalt geworden. Sie wollte nicht zurückdenken, nicht an diese schreckliche Zeit, die längst vorbei war. Nur vergessen konnte sie die Jahre auch nicht.

„Träumst du, Mutti?“, fragte Olaf.

Jutta Reichenbach schreckte zusammen und drehte sich herum.

„Ich habe gar nicht gehört, dass du hereingekommen bist.“

„Das ist mir nicht entgangen. Hast du etwas dagegen, wenn ich zu Sigi gehe und ihm beim Aufsatz helfe? Allein schafft er es doch nicht, etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Er hat es auch nicht nötig; ob er das Abitur schafft oder nicht, auf jeden Fall wird er den Laden seines Vaters später einmal übernehmen.“

„Geh nur, aber komm nicht zu spät zurück.“

„Wie alt war mein Vater eigentlich, als er fiel?“

„Zwanzig, glaube ich.“

„Glaubst du?“, wiederholte der Junge verblüfft. Dann lachte er herzhaft. „Du bist heute wirklich ein bisschen durcheinander, altes Haus. Ich sehe ihm ziemlich ähnlich, nicht?“

„Es könnte ein Bild von dir sein, würdest du dir eine Uniform anziehen.“

„Pech, dass er nicht durchgekommen ist. Vielleicht hätte er es auch geschafft, ein paar Milliönchen auf die hohe Kante zu bringen wie Sigis Vater. Du hast mir eigentlich nie viel von ihm erzählt.“

„Tatsächlich?“ Jutta lächelte verkrampft. Aber das fiel ihrem Sohn nicht auf.

„Ja, wenn ich es mir richtig überlege … Aber ich muss jetzt gehen. Tu nicht mehr so viel, Juttachen.“

„Du sollst nicht immer …“

„Geschenkt, altes Mädchen.“ Es kam sehr selten vor, dass Olaf sich zu einer Zärtlichkeit hinreißen ließ. Im Gegenteil, er gab sich eher ruppig, um seine wahren Gefühle zu verbergen. Auch jetzt legte er seine knochige Hand auf ihre Schulter, beugte sich dann spontan hinab und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Also, bis dann …“

Es sah aus, als stolpere er über seine langen Beine, als er hinaushastete.

Wieder suchte Juttas Blick das gerahmte Foto, die einzige Erinnerung an den Mann, der der Vater ihres Sohnes gewesen war.

Er hatte es nicht mehr erfahren. Und ich weiß nicht einmal, dachte Jutta, ob er lebt. Ich sage zwar, er sei gefallen … Es war am bequemsten, das zu sagen. Sie hatte ihn nach dem Kriege nicht gefunden. Sie kannte ja nur seinen Vornamen.

Ob ich Martin anrufen darf?, fragte sie sich. Die Gegenwart war wichtiger als eine Vergangenheit, die nie mehr lebendig werden würde. Sie wählte zögernd die Nummer, die auf seiner Visitenkarte stand.

Dummerweise begann ihr Herz zu klopfen, als das Rufzeichen ertönte.

„Hagen“, meldete sich eine weibliche Stimme.

Es durchzuckte Jutta. Wie dumm, dachte sie, dass ich gar nicht auf den Gedanken gekommen bin, seine Frau könne am Apparat sein.

„Reichenbach“, gab sie zurück. „Könnte ich Ihren Gatten sprechen, Frau Hagen? Es handelt sich um die Klavierstunden Ihrer Tochter.“

„Um Klavierstunden …?“

Jutta hörte ein Knacken, und dann begriff sie, dass Frau Hagen den Hörer einfach aufgelegt hatte. Warum? Waren sie durch ein technisches Versehen getrennt worden? Oder wusste Frau Hagen etwa …?

Wir haben uns nichts vorzuwerfen, machte Jutta sich klar. Seine Frau hat keinen Grund zur Eifersucht. Was für einen Unsinn bilde ich mir da nur ein. Sicherlich ruft er gleich zurück, wenn sie ihm von meinem Anruf erzählt hat.

Aber sie wartete vergeblich darauf.

***

„Wer war am Apparat?“, fragte Martin Hagen, als seine Frau den Hörer so rasch auflegte. „Wieder jemand, der falsch gewählt hat und sich nicht entschuldigen konnte?“

Gerda Hagen presste ihre Zähne tief in die Unterlippe.

„Wahrscheinlich hat sie falsch gewählt“, stieß sie bitterböse hervor. „Du hast sie also immer noch nicht vergessen!“

„Wen?“, fragte der Mann mit dem braunen Haar, das an den Schläfen einen grauen Schimmer zeigte.

„Stell dich nicht so dumm!“ Gerda Hagen ballte die Rechte unwillkürlich zur Faust. „Wie oft siehst du sie? Los, sag es schon, schließlich interessiert mich so etwas als Ehefrau. Einmal die Woche oder jeden dritten Tag?“

„Gerda!“ Eine ganze Welt von Vorwürfen lag in der Art, wie er Ihren Namen aussprach.

„Leugne nur, ich weiß doch, was gespielt wird. Du betrügst mich. Aber dass du jetzt die Stirn hast, unsere arme, unschuldige Susi zu ihr schicken zu wollen …“ Die Stimme brach ihr vor Erregung. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?“, fuhr sie dann keuchend fort. „Schämst du dich gar nicht vor dem Kind, wenn du es schon nicht vor mir tust?“

„Hätte ich dir doch nur niemals von Jutta erzählt“, seufzte Martin Hagen.