Lore-Roman 45 - Ina Ritter - E-Book

Lore-Roman 45 E-Book

Ina Ritter

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Beschreibung

Ohne Elternhaus
Roman um den Schicksalsweg eines Mädchens

Nina Suchow ist ein armes Waisenmädchen, das in einem abgeschiedenen Dorf aufwächst. Wileijka heißt das Dorf, es liegt in der Nähe von Riga, aber Nina ist in all den Jahren niemals in der Stadt gewesen. Vor ihr liegt ein Leben voller Arbeit und Mühe, sie wird einen plumpen Mann heiraten und ihm viele Kinder gebären.
Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Auf dem Weg zu einem Ärztekongress in Riga hat Professor Volker Wittling eine Autopanne. Das Erscheinen des eleganten Mannes in Pelzmütze und Stiefeln ist ein Ereignis im Dorf. Auch Ninas Blicke fliegen immer wieder zu diesem Mann aus einer fremden Welt, von der sie nichts weiß und zu der es sie doch heimlich zieht, will sie doch so gerne dem grauen Alltag Wileijkas entfliehen. Und während Volker Wittling auf die Weiterreise wartet, fasst Nina Vertrauen zu ihm. Ja, sie weiß, dass er ein Mensch ist, dem sie ihr Schicksal beruhigt in die Hände legen darf. Sie weiß jedoch nichts von dem Mädchen, das auf seine Rückkehr wartet. Und so folgt sie ihm an diesem bitterkalten Wintertag in die große Stadt ...

Nina muss kämpfen und leiden, bevor es ihr endlich gelingt, eine Heimat zu finden und nach Hause zu kommen.
Selten gelingt es einer Autorin einen derart lebenswahren Stoff so packend und ergreifend darzustellen, wie es hier Ina Ritter tut. Verfolgen Sie den Schicksalsweg der weltfremden, naiven Nina, bangen und hoffen Sie mit ihr.

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Seitenzahl: 144

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Inhalt

Cover

Impressum

Ohne Elternhaus

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Boiko Olha / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-7596-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Ohne Elternhaus

Roman um den Schicksalsweg eines Mädchens

Von Ina Ritter

Nina Suchow ist ein armes Waisenmädchen, das in einem abgeschiedenen Dorf aufwächst. Wileijka heißt das Dorf, es liegt in der Nähe von Riga, aber Nina ist in all den Jahren niemals in der Stadt gewesen. Vor ihr liegt ein Leben voller Arbeit und Mühe, sie wird einen plumpen Mann heiraten und ihm viele Kinder gebären.

Doch dann geschieht etwas Unvorhergesehenes: Auf dem Weg zu einem Ärztekongress in Riga hat Professor Volker Wittling eine Autopanne. Das Erscheinen des eleganten Mannes in Pelzmütze und Stiefeln ist ein Ereignis im Dorf. Auch Ninas Blicke fliegen immer wieder zu diesem Mann aus einer fremden Welt, von der sie nichts weiß und zu der es sie doch heimlich zieht, will sie doch so gerne dem grauen Alltag Wileijkas entfliehen. Und während Volker Wittling auf die Weiterreise wartet, fasst Nina Vertrauen zu ihm. Ja, sie weiß, dass er ein Mensch ist, dem sie ihr Schicksal beruhigt in die Hände legen darf. Sie weiß jedoch nichts von dem Mädchen, das auf seine Rückkehr wartet. Und so folgt sie ihm an diesem bitterkalten Wintertag in die große Stadt …

Die große Scheune stand etwas vom Dorf entfernt.

Es hatte zu schneien begonnen, und das Mädchen Nina, das jetzt vom Dorf auf die Scheune zuging, stemmte sich mit dem Oberkörper gegen den Wind, hatte den Kopf tief in dem hochgeschlagenen Jackenkragen verborgen und die Hände in die Taschen hineingesteckt.

Es war bitterkalt. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, und jeden Abend machte sie sich zur gleichen Stunde auf. Sie hätte diesen Weg im Schlaf gehen können, so gut kannte sie ihn, den Weg zur Freude ihres armen Lebens.

In dieser Scheune stand ein riesiger Konzertflügel, dessen polierte Oberfläche zerkratzt war, dessen rechtes Bein fehlte und durch einen Balken ersetzt worden war. Aber es war ein Flügel, ein herrliches Musikinstrument, aus dem Schloss hierher geschafft, und eigentlich sollte es verheizt werden, denn wer brauchte heutzutage noch einen Konzertflügel?

Nina lächelte, und der alte Mann, der im Dunkel des Raumes saß und sie schon seit ihrem Eintritt beobachtet hatte, fühlte es in seinem Inneren warm werden. Ein junges offenes Mädchengesicht, strahlende Augen, schmale, aber raue und rissige Hände, die jetzt langsam den Deckel des Flügels öffneten. Eine Kerze flackerte im Zugwind.

Ninas Augen glitten zärtlich über den Flügel hinweg. Fast zwanzig Jahre alt war sie; er liebte sie wie ein Kind, aber er verstand sie nicht.

„Ich habe ein paar neue Noten für dich“, sagte er mit seiner heiseren, müden Stimme.

Das Mädchen wandte langsam den Kopf, es erschrak nicht, als es so plötzlich aus der Finsternis heraus angesprochen wurde. Als Erstes erkannte sie das weiße Haar des alten Mannes, dann unterschied sie allmählich die helle Fläche des Gesichtes, die vertrauten und lieb gewordenen Züge.

„Hier sind sie.“ Grischa nahm ein Bündel Papier von der Erde hoch und kam auf sie zu. „Beethovensonaten“, sagte er leise, und es klang eine unendliche Liebe in seiner Stimme mit. „Die Appassionata ist dabei.“

Nina hatte sich erhoben und war auf ihn zugegangen. Die Freude über dieses unverhoffte Geschenk verwandelte ihr Gesicht, das verbitterte Gesicht eines jungen Menschen.

„Deine Mutter hat sie gern gespielt“, erzählte der alte Mann, als Nina die Noten entgegengenommen hatte. „Das Publikum hat gerast, wenn sie die Appassionata spielte. Keiner konnte es so gut wie sie. Keiner …“

Der alte Mann hielt seine gefrorenen alten Hände über den Kanonenofen. Hier war es wenigstens einigermaßen warm, und seine Kleider waren nicht dicht genug, um ihn vor der beißenden Kälte zu schützen.

„Mutter …“, wiederholte Nina gedankenverloren. Mit ihrer Mutter verband sie nur noch eine Erinnerung, die sich ihr aber unauslöschlich eingeprägt hatte.

Ein schönes großes Haus, ein Flügel, der in einem riesigen Zimmer stand, auf einem Teppich, Bilder an den Wänden, schöne Möbel. Und Musik, immer wieder Musik.

„Sie war die größte Pianistin“, sagte Grischa leise. Er war ein alter Mann und hatte das Recht, subjektive Urteile zu fällen, und – er hatte Ninas Mutter geliebt.

Noch immer stand Grischa neben dem Ofen und rieb sich seine kalten Hände. Sie waren immer kalt, und sie würden auch nicht mehr warm werden, bald schon würde er nichts mehr spüren. Er war jetzt über siebzig Jahre alt, ein nutzloser Mann, der allen nur eine Last war. Nur Nina nicht. Sie war die Einzige, die an ihm hing, die für ihn sorgte.

„Sie war damals so alt wie du, Nina, und sie sah fast genauso aus wie du. Sie hatte auch dieses helle, silbern schimmernde Haar, und sie trug damals ein schwarzes Kleid. Sehr schlank war sie, und wenn sie ging, dann meinte man, sie schwebe.“

Der Greis hatte den Kopf einen Moment zur Seite gewandt, schaute aber schnell wieder auf die rötlich schimmernde Fläche des Kanonenofens. Nur Ninas Gesicht ähnelte dem der Mutter, sonst gar nichts an ihr.

Eine pelzgefütterte, farblose Jacke trug sie, einen dicken langen Rock, der bis über ihre Stiefel hinunterfiel, und die Filzstiefel waren plump und unförmig. Man wusste nicht, ob sie schlank oder dick war, wenn man sie anschaute, man konnte es nur an ihrem schmalen, rassigen, verträumten Gesicht ahnen.

Olga Paulowa, ein unvergessener Name in der Musikwelt, eine unvergessene Frau. Grischa hatte damals geholfen, den Wagen zu ziehen, ein junger, begeisterter Mann, der zu ihr aufgeschaut hatte wie zu einer Göttin. Jeden Tag schickte er ihr Blumen und Konfekt, er hatte Geld genug, es kam gar nicht darauf an. Aber sie hatte ihn nicht erhört, für sie war er nur einer von vielen. Sie war stets umgeben von eleganten Offizieren, von Wissenschaftlern, von Diplomaten, von Fürsten.

„Aber – Mutter war nicht glücklich“, sagte Nina. „Du weißt es sicherlich nicht so wie ich, Grischa, wie oft sie geweint hat. Sie war verzweifelt, sie war unglücklich, und sie hatte nur noch ihre Musik.“

„Und dich – und die Erinnerung an ihn“, ergänzte Grischa, als er an den Mann dachte, den die Paulowa erhört hatte.

Ein Mann aus einem fremden Land, blond, blauäugig, selbstbewusst. Seinetwegen hatte Olga alles vergessen, seinetwegen hatte sie die glänzendsten Partien ausgeschlagen, seinetwegen sogar eine Zeit lang auf ihr Künstlertum verzichtet. Sie hatte Stephan geliebt, es war eine verzehrende, überwältigende Leidenschaft gewesen, die sie zu diesem blonden Deutschen getrieben hatte.

Nina hatte sich gesetzt. Vor ihr stand der Sonatenband aufgeschlagen, und ihre Hände glitten über die Tasten. Die sehnsüchtigen Klänge der Appassionata erfüllten die riesige Scheune.

Nach dem ersten Satz der Sonate ließ Nina ihre Hände in den Schoß sinken. Sie erinnerte sich gut an diese Musik, die sie selbst noch niemals gespielt hatte. Die Appassionata war das Lieblingsstück ihrer Mutter gewesen, und oft hatte diese geweint, wenn sie die Sonate spielte. Sie dachte dann an den geliebten Mann, der sie einfach verlassen hatte.

Stephan Dahlke, leitender Ingenieur eines großen Stahlwerkes. Er war nach Petersburg gekommen, um dort eine Brücke zu errichten, hatte Olga Paulowa kennengelernt, und dann war er in seine Heimat zurückgekehrt. Sie hatten nie wieder etwas von ihm gehört.

„Ich hasse ihn“, stieß Nina schwer hervor. Sie drehte sich langsam um; der alte Mann stand in unveränderter Haltung neben dem Ofen. „Schon als Kind, als ich kaum sprechen konnte, habe ich ihn hassen gelernt, Grischa. Du weißt noch – wie Mutter war. Ich erinnere mich auch gut an sie, ich habe sie so geliebt, und – ich habe sie so oft weinen sehen. Sie ist an gebrochenem Herzen gestorben. Damals schon habe ich mir gewünscht, ihm heimzahlen zu können, was er Mutter angetan hat.“

Ihre Hände bebten vor Erregung, sie hatte die Augen geschlossen, und der alte Mann erschrak, als er sah, welches Gefühl ihr junges Gesicht prägte.

Es war Hass auf den Mann, den dieses Mädchen niemals bewusst kennengelernt hatte. Sie war knapp ein Jahr alt gewesen, als Stephan Dahlke ihre Mutter verließ. Sie kannte ihn nur von dem Bild und von den Erzählungen ihrer Mutter her, aber sie hatte sich zusammenreimen können, wie er gewesen war.

„Ich muss morgen wieder Holz besorgen“, wechselte Grischa das Thema. Er stieß mit dem Fuß gegen die wenigen Kloben, die neben dem Ofen trockneten. „Du sollst doch immer spielen können, wenn du Lust dazu hast, Kind.“

Der Wind war stärker geworden, im Ofen prasselten die Flammen.

Wileijka hieß das Dorf, es lag in der Nähe von Riga, aber Nina war in all den langen Jahren niemals in der Stadt gewesen. Und sie hatte auch keine Sehnsucht, dort hinzukommen. Sie war mit ihrem Leben, so seltsam es klingen mag, vollauf zufrieden.

Vor ihr lag ein Leben voller Arbeit und Mühe, sie würde einen plumpen Mann heiraten und Kinder gebären.

„Spiel weiter“, bat Grischa.

Ihm waren nur noch die Träume geblieben und das Warten auf den Tod. Aber das Mädchen Nina hatte nicht einmal die Träume und die Sehnsucht nach einem besseren Leben.

„Ich habe die Noten im Keller des Schlosses gefunden“, erzählte Grischa später, als Nina den Deckel des Flügels sorgfältig schloss und sich erhob. Sie blies die Kerze aus, denn Kerzen waren knapp, man musste sparen, und sprechen konnte man auch im Dunkeln.

„Du bist doch der Beste, Grischa, wenn ich dich nicht hätte …“ Das Mädchen legte die Arme um seinen Hals.

„Du …“, murmelte der Greis, und als er sie an sich zog, da wir es nicht Nina, die so dicht bei ihm war, sondern die Paulowa, die Unvergessene.

„Geh schlafen, du musst morgen früh wieder zeitig aufstehen.“ Gewaltsam riss sich der alte Mann zusammen.

„Bis morgen also, Grischa.“

Noch einmal strich ihre Hand dankbar über seine Wange, dann stellte sie den Kragen hoch, band sich ihr Kopftuch fester über das helle Haar und zog die Fausthandschuhe über.

Es war inzwischen stockfinster geworden, aber die beiden Menschen, die jetzt nebeneinander auf das schlafende Dorf zugingen, stolperten nicht. Ihnen war hier jeder Stein des Bodens vertraut.

„Gute Nacht!“ Nina verabschiedete sich vor einem niedrigen, von einer Seite fast zugewehten Hause.

Hier war sie untergebracht, sie schlief mit sechs anderen Mädchen in einem Raum, alles Waisen wie sie, für die der Staat großherzig gesorgt hatte. Was ihre Eltern gewesen waren, spielte heutzutage keine Rolle.

Nina glaubte, dass sie sich in nichts von den anderen unterschied, höchstens durch ihre Liebe zur Musik, aber das war eben ein Erbteil von ihrer Mutter.

Die anderen schliefen schon. Nina entkleidete sich im Dunkeln, und ihre Zähne klapperten im Frost aufeinander, als sie die Decke über sich zog. Ein paar Minuten später war sie eingeschlafen.

***

Wanda warf einen mürrischen Blick in die vom scharfen Wind geröteten Gesichter der Mädchen, die jetzt nacheinander in die große Küchenbaracke eintraten.

„Macht die Tür zu“, grollte sie.

Jeden Morgen schickte man ihr sechs Mädchen zum Kartoffelschälen; der Küchendienst hier in der warmen Baracke galt als Auszeichnung, man drängte sich danach, hier in der Gemeinschaftsküche helfen zu dürfen. Es gab immer viel zu essen, die Fleischstücke machten satt, und die Suppe war heiß und fett.

„Die beiden Bottiche voll“, brummte sie und stieß mit dem Fuß gegen das hölzerne Gefäß, das zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. „Und beeilt euch!“

Man kannte die alte Wanda schon, nahm sie nicht mehr ernst, und die Mädchen dachten nicht daran, ihr fröhliches Geplauder zu unterbrechen. Sie scharten sich um den warmen Herd, auf dem das Wasser schon kochte, wärmten sich die froststarren Hände, und erst nach vielen Ermahnungen griffen sie nach den Messern, zogen sich ihre Schemel heran und begannen, Kartoffeln zu schälen.

Nina saß in der Nähe des Herdes, die Wärme durchdrang ihre wattierte Jacke, sie fühlte sich so richtig behaglich. Mit flinken Händen schälte sie die Kartoffeln, die für die Dorfbewohner bestimmt waren, und summte dabei unbewusst eine Melodie vor sich hin.

„Tatata tata tataa“, die Anfangstakte der Appassionata, immer die gleiche leidenschaftliche und lebensbejahende Musik.

„Ich möchte nur einmal wissen, weshalb ihr jungen Dinger immer so fröhlich seid“, brummte die alte Frau unwirsch.

„Ein Auto! Hört ihr, ein richtiges Auto hier in Wileijka!“

Die Mädchen warfen die Kartoffeln, die sie in ihre Schürzen gehäuft hatten, auf den Boden, und alle stürzten zur Tür.

Es war ein Ereignis in diesem weltabgeschiedenen Dorf. Und jetzt, genau vor der Küchenbaracke, blieb der Wagen stehen. Ein Herr stieg aus, er trug einen kostbaren Pelz, spiegelblanke Lederstiefel, dicke Handschuhe. Und er kam auf sie zu! Die Mädchen starrten ihm mit großen, erwartungsvollen Augen entgegen. Er war ein Mensch aus einer anderen Welt, ein Herr!

„Guten Tag. Gibt es hier im Dorf einen Mechaniker? Mein Wagen hat eine Panne.“

Der Mann war vor ihnen stehen geblieben und schaute verdrossen in ihre jungen Gesichter.

„Kommen Sie herein“, lud Wanda den Hochgewachsenen freundlich ein. Sie knickste sogar, und Nina, die sich umgeschaut hatte, wollte ihren Augen nicht trauen. Jetzt konnte die mürrische Wanda sogar lächeln.

Er zog die Pelzkappe vom Kopf, schüttelte den Schnee ab und schaute sich kurz und prüfend um.

„Ich bin auf dem Wege nach Riga, ich muss unbedingt morgen dort sein.“

„In Wileijka gibt es keinen Mechaniker, und in den umliegenden Dörfern auch nicht, Herr“, erwiderte Wanda.

Sie war verlegen und zugleich freudig erregt, dass es so etwas noch gab, einen Mann wie ihn, blond, blauäugig, mit scharf geschnittenem Gesicht und festem Kinn.

Er schien Ausländer zu sein, sprach mit einem starken Akzent, der seine Worte verzerrte und sie komisch klingen ließ. Der Mann runzelte die Stirn. Er musste nach Riga, dort war ein Ärztekongress, auf dem er einen Vortrag halten sollte.

„Natürlich haben wir Schlitten“, gab Wanda zögernd Auskunft.

„Ist gut. Ich bezahle selbstverständlich für die Fahrt. Können Sie veranlassen, dass sofort angespannt wird? Wie weit ist es noch bis Riga?“

Wanda gab Auskunft, und bei der Zahl der Kilometer, die sie nannte, runzelte der Mann wieder die Stirn.

„Nina, sag Grischa, er soll anspannen“, befahl Wanda.

„Grischa?“, wiederholte das Mädchen verdutzt.

Auch sie hatte den eleganten Mann neugierig gemustert, und als Wanda sie ansprach, wandte der Fremde den Kopf.

Ihre Augen trafen sich. Nur einen Moment, dann wandte der Mann den Blick gleichgültig ab.

„Nun lauf schon, Nina, steh hier nicht herum, der Herr hat es eilig“, rief Wanda.

Nina schrak zusammen, griff hastig nach ihrer Jacke, zog sie an und knöpfte sie im Davonlaufen zu.

Wanda bot ihm heißen Punsch an, und Volker Witting zögerte nicht, das angebotene Glas zu nehmen.

„Auf Ihr Wohl, meine Damen, und auf Ihres besonders, Frau …?“

„Wanda!“, antwortete die Köchin erregt und knickste, und noch roter konnte ihr Gesicht nicht mehr werden.

„Macht weiter!“, befahl Wanda den Mädchen, die auch gehorsam zu ihren Schemeln zurückgingen, sich hinsetzten und die Kartoffeln nahmen. Aber während sie automatisch schälten, flogen ihre Blicke immer wieder zu diesem Mann aus einer fremden Welt zurück, von der sie nichts wussten.

Der Sturm war etwas abgeflaut, aber noch immer schneite es. Durch das Prasseln des Herdfeuers hindurch klang eine helle silberne Glocke.

„Der Schlitten, Herr.“ Wanda drehte sich dem Fremden zu. „Er ist nicht schön und komfortabel, aber wir hier in Wileijka sind arm, es ist unser bester Schlitten, und Grischa ist ein alter Mann, aber er ist zuverlässig.“

Der Fremde bot ihr dankbar die Rechte, und bevor Wanda sie ergriff, wischte sie ihre Hand noch einmal umständlich an der Schürze ab.

„Noch eine gute Reise wünsche ich Ihnen, Herr.“

Sie starrte ungläubig auf den großen Rubelschein, den Professor Witting ihr jetzt in die Hand drückte.

Grischa saß auf dem Vordersitz des Schlittens, in eine warme Pferdedecke gehüllt, die Zügel fest in seiner alten Hand. Auch ihn begrüßte der Professor mit einem Handschlag.

Neben dem Schlitten stand das kleine Mädchen, das Wanda fortgeschickt hatte, um den Kutscher und das Gefährt zu holen. Ihr schmales Gesichtchen war von der Kälte gerötet, ihre Augen blitzten.

„Sie fahren nach Riga, Herr?“, fragte Nina in einem sehr guten Deutsch.

Volker zog die Augenbrauen in die Höhe. „Sie sprechen deutsch?“, fragte er verwundert.

„Ninas Vater war ein Deutscher, und ihre Mutter sprach zu Hause deutsch.“ Der alte Grischa gab seine Auskunft in einem akzentfreien Französisch, der Umgangssprache der alten russischen Aristokratie.

Volker Witting schaute verblüfft auf die beiden Menschen, von denen der eine Kutscher und der andere Küchenmädchen war und die doch zu einer Welt gehörten, die der seinen verwandt schien.

„Ich freue mich, dass Sie mich nach Riga fahren, Herr …?“

„Sagen Sie Grischa zu mir“, meinte der alte Mann. Er lächelte, aber in seinen Augen saß eine abgrundtiefe Schwermut.

„Nina, wenn du willst, kannst du mitfahren“, schlug Grischa plötzlich vor. „Sie war noch niemals in Riga, Herr“, erklärte er dem Professor, der seinen Fuß in den Schlitten hineingesetzt hatte. „Sie haben doch nichts dagegen?“

Nina schüttelte heftig den Kopf, bevor der Fremde noch antworten konnte.

„Nein, Grischa, mit ihm fahre ich nicht.“

„Du kannst neben mir auf dem Kutschbock sitzen“, schlug der alte Mann vor, ohne auf ihre Worte einzugehen.

Er rückte zur Seite, und Nina hätte kein junges Mädchen sein müssen, wäre nicht auch in ihr der Wunsch gewesen, einmal etwas Neues zu erleben, das sich vom eintönigen und grauen Alltag Wileijkas abhob.