Lore-Roman 55 - Helga Winter - E-Book

Lore-Roman 55 E-Book

Helga Winter

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Beschreibung

Vom Leben unbesiegt
Eine tapfere Frau meistert ihr Schicksal
Von Helga Winter

Judy Gudani ist die Tochter eines ungarischen Großgrundbesitzers, in Luxus geboren und in Luxus erzogen, doch hier in den trostlosen Flüchtlingsbaracken, da ist sie nur ein einfaches Pusztamädchen, armselig gekleidet, nervlich zermürbt und schrecklich einsam. Es sind Menschen überall, dicht an dicht, sitzen, liegen und schlafen sie, es gibt kein Entrinnen und kein Alleinsein. Wie viele andere hat Judy ihr Land überstürzt verlassen, um irgendwo neu zu beginnen. Sie hat an die Freiheit geglaubt - und ein Lager gefunden. Alles hat sie zurückgelassen, einzig ihre geliebte Spieldose konnte sie mitnehmen.
Ortwin hat sie ihr geschenkt, damals in jenem Sommer in Ungarn. Geküsst hat er sie und ihr die Liebe versprochen, der gut aussehende österreichische Student. Sie hat ihn nie vergessen. Und eines Tages steht er tatsächlich vor ihr. Er befreit sie aus dem Lagerelend, er glaubt, sie sei für ihn eine kleine Schwester, für die er sorgen muss. Judy liebt ihn, mit jeder Faser ihres Herzens, aber der Weg zu Ortwin ist nicht frei. Der angesehene Attaché ist verlobt ...

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Inhalt

Cover

Impressum

Vom Leben unbesiegt

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabeder beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Deman / shutterstock

eBook-Produktion:3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 9-783-7325-8137-5

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Vom Leben unbesiegt

Eine tapfere Frau meistert ihr Schicksal

Von Helga Winter

Judy Gudani ist die Tochter eines ungarischen Großgrundbesitzers, in Luxus geboren und in Luxus erzogen, doch hier in den trostlosen Flüchtlingsbaracken, da ist sie nur ein einfaches Pusztamädchen, armselig gekleidet, nervlich zermürbt und schrecklich einsam. Es sind Menschen überall, dicht an dicht, sitzen, liegen und schlafen sie, es gibt kein Entrinnen und kein Alleinsein. Wie viele andere hat Judy ihr Land überstürzt verlassen, um irgendwo neu zu beginnen. Sie hat an die Freiheit geglaubt – und ein Lager gefunden. Alles hat sie zurückgelassen, einzig ihre geliebte Spieldose konnte sie mitnehmen.

Ortwin hat sie ihr geschenkt, damals in jenem Sommer in Ungarn. Geküsst hat er sie und ihr die Liebe versprochen, der gut aussehende österreichische Student. Sie hat ihn nie vergessen. Und eines Tages steht er tatsächlich vor ihr. Er befreit sie aus dem Lagerelend, er glaubt, sie sei für ihn eine kleine Schwester, für die er sorgen muss. Judy liebt ihn, mit jeder Faser ihres Herzens, aber der Weg zu Ortwin ist nicht frei. Der angesehene Attaché ist verlobt …

„Hast du Ausgang?“, fragte die schwarzhaarige Ilona das neben ihr sitzende Mädchen, das einen Schein in der Hand hielt.

Judy Gudani nickte. „Aber ich habe keine Lust zu gehen“, erwiderte sie müde, und ihr Blick ging an Ilona vorbei gegen die Bretterwand der Baracke.

Ihre Nerven waren durch das Eingesperrtsein in diesem Lager zermürbt. Menschen überall, dicht an dicht, saßen, lagen und schliefen sie, es gab kein Entrinnen und kein Alleinsein.

Ilona verstand sie nicht, denn sie gehörte zu den unproblematischen Naturen, die es verstehen, aus jeder noch so schlechten Situation das Beste herauszuholen.

„Zeig mal.“ Ilona nahm ihr den Passierschein, vom ungarischen Lagerführer unterschrieben und abgestempelt, einfach aus der Hand. „Ausgang bis zweiundzwanzig Uhr“, las sie ehrfürchtig ab. „Menschenskind, ich wünschte, ich dürfte auch einmal so lange draußen bleiben. Was könnte man da alles anfangen!“

„Ja, was könnte man anfangen?“, wiederholte Judy müde.

Spazierengehen, die Auslagen der Schaufenster bewundern, die Flüchtlingen wie ihr unerreichbar waren; man konnte die gut gekleideten und gut gelaunten Menschen anstarren und sich fragen, ob die nichts von dem Lagerelend wussten, das unmittelbar vor Salzburg herrschte.

Sie waren Almosenempfänger geworden, diese Menschen, die ihr Land überstürzt verlassen hatten, um irgendwo neu zu beginnen. Sie hatten an die Freiheit geglaubt – und ein Lager gefunden.

Ordnung muss sein, Judy wusste es genau, aber sie litt unter dieser erzwungenen Ordnung, die ihr die Individualität nahm und sie zu einem Stück Masse degradierte. Sie ertrug es manchmal kaum, ständig in Tuchfühlung mit anderen zu leben, mit fremden Menschen, die sie gar nichts angingen, die neben ihr aßen, rauchten, spuckten und liebten.

„Um zwanzig Uhr wird es schon dunkel“, sagte Ilona an ihrer Seite, und als Judy den Blick wandte, sah sie, dass ein verwegener Ausdruck in ihrem hübschen Gesicht stand. „Und zwei Stunden hätte man Zeit …“ Sie brach ab, faltete das kostbare Papier zusammen und reichte es Judy zögernd zurück. „Aber solche Scheine gibt es nur für bessere Menschen.“

Diese Anspielung auf ihre Herkunft ließ Judy kalt – sie hatte sie in den letzten Wochen und Monaten viel zu oft gehört, um noch darauf zu reagieren. Sie gehörte nicht zu denen, mit denen sie hier zusammenleben musste, sie war etwas Besseres und konnte es nicht verleugnen, obwohl sie die gleichen schäbigen Sachen trug wie alle anderen.

Sie war die Tochter eines Großgrundbesitzers, in Luxus geboren und in Luxus erzogen, sie beherrschte mehrere Sprachen, konnte Klavierspielen und über Bücher sprechen, deren Autoren den anderen unbekannt waren.

Wer gefallen ist, der muss getreten werden, und hier im Lager war Judy bekannt. Man wusste, wer sie war und rief ihr höhnische Worte nach, wenn sie durch die breite Lagerstraße ging, an der auf beiden Seiten die verwitterten, farblosen Baracken standen.

Der Lagerführer bevorzugte Judy Gudani keinesfalls, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit, aber das Mädchen spürte manchmal doch seine Anteilnahme, wenn er auch versuchte, sich hinter barscher Rauheit zu verbergen.

„Da, nimm den Wisch“, hatte er heute Vormittag gesagt und ihr den Passierschein über den Schreibtisch geworfen. „Vielleicht kannst du dir draußen einen anlachen.“

Das, was er ihr riet, war der Wunschtraum der unzähligen Frauen und Mädchen, die hier zum Warten verdammt waren. Viele, die meisten von ihnen, wollten arbeiten, aber gerade das durften sie nicht. Österreich hatte genug Arbeitslose, man legte keinen Wert darauf, ihre Zahl durch unerwünschte Fremde noch zu erhöhen.

„Ja, ich weiß.“ Judy stand langsam auf, als bereite jede Bewegung ihr unerträgliche Mühe. Sie war einerseits froh, dieser Enge ein paar Stunden lang entgehen zu können, fürchtete aber andererseits den Blick in die frohe, unbeschwerte Welt, die jenseits des Zaunes begann.

„Ich wollte, ich könnte mit“, äußerte Ilona sehnsüchtig. „Du, du hast doch Beziehungen, könntest du Radecki nicht beschwatzen, mir auch solch ein Ding zu geben? Ich … wäre auch bereit, mich zu revanchieren“, verhieß sie augenzwinkernd.

Judy wusste, was sie damit meinte. Die Frauen und Mädchen hier hatten nicht viel, womit sie bezahlen konnten. Nur sich selbst.

Es war eine gängige Münze, die die Lagerpolizei gern annahm. Unwillkürlich verzog Judy den Mund, und Ilona lachte amüsiert, als sie es bemerkte.

„Es sind nicht alle so wie du, mein Schatz“, meinte sie leichthin. „Hier muss man sehen, dass man nicht gefressen wird, und ich, das sage ich dir, ich bleibe nicht mehr lange in diesem Käfig. Hier erstickt man ja!“

Judy nickte ihr nur zu und ging jetzt schnell davon, weil ihr die Nähe dieser kaltschnäuzigen Person lästig fiel. Seit ihrer Flucht vom elterlichen Gut hatte sie einen Einblick in die Wirklichkeit bekommen, vor der es sie nur schauderte.

Sie hatte kein Geld, Geld brauchten sie nicht, man gab ihnen ja alles, was ein Mensch zum Leben nötig hat. Nur ein Heim, Arbeit, eine Aufgabe, das gab man ihnen nicht. Sie ging allein, denn nur wenige bekamen Passierscheine. Kurz vor den ersten Häusern der Stadt wurde sie angerufen.

Judy blieb verwirrt stehen und wandte erschreckt den Kopf.

„Ich bin es nur, Ilona!“, rief das Mädchen, das mit klettenhafter Zähigkeit an ihr hing. In ihrem gebräunten Gesicht blitzten die Augen unternehmungslustig.

„Hast du auch einen Schein bekommen?“

Ilona schnippte Daumen und Mittelfinger vor ihrem Gesicht zusammen.

„Es geht auch so, mein Kind“, sagte sie und zwinkerte ihr zu. „Die Posten sind auch nur Menschen, sogar schwache, denn es sind Männer.“ Sie hatte Grund, die Männer für schwach zu halten, für schwach und für dumm.

„Das wirst du auch noch lernen“, meinte sie gutmütig. „Warte ab, es ist nur am Anfang schwer, später macht es dir nichts mehr aus.“

Vor einem halben Jahr war sie im Herrenhaus gewesen, und Judy dachte an die riesige Halle mit den vielen Geweihen, und sie sehnte sich unsagbar nach all dem, was sich mit der Heimat für sie verband, vor allem aber nach der unbedingten Sauberkeit, die sich nicht nur auf das tägliche Waschen bezog, sondern vor allem auf den Charakter.

„Ich möchte nur einmal wissen, wie es in dir aussieht“, meinte Ilona an ihrer Seite nachdenklich. „Sag mal, hast du noch niemals was mit einem Mann gehabt? Du siehst doch ganz hübsch aus, wenn du auch ein wenig dünn bist.“ Sie wiegte sich selbstbewusst in den Hüften hin und her.

Allmählich begriff Judy, weshalb sie Seidenstrümpfe trug und sogar Geld hatte. Ilona lud sie in ein Café ein und knisterte herausfordernd mit ein paar Geldscheinen.

„Danke, ich … ich möchte mich hier ein wenig umsehen … ich wollte schon immer gern einmal nach Salzburg.“

„Diese alten Gemäuer, die kannst du immer noch sehen, und was gibt es da auch schon zusehen? So’n paar Steine, die sind überall gleich. Weißt du, im Café, da kann man vielleicht irgendeinen netten Mann kennenlernen.“

„Danke, ich … möchte nicht …“

Judy riss sich los und lief davon und blieb in einer schmalen Seitengasse keuchend stehen. Die Häuser standen eng zusammen, altmodische Häuser mit schmalen, vielfach unterteilten Fenstern, Häuser mit Verzierungen an der Fassade, mit ausgetretenen Treppenstufen und altmodischen Türen.

Von einer Kirche ertönte ein Glockenspiel, eine Mozartweise. Mit anderen zusammen blieb Judy Gudani stehen und lauschte, und als sie die Augen schloss, war sie nicht mehr hier, sondern zu Hause.

Die Spieldose. Ortwin hatte sie ihr geschenkt, eine kleine, reizende Spieldose, die die gleiche Melodie spielte. Ortwin, wie lange war das schon her …

Damals war sie noch ein Kind gewesen, ein Mädchen an der Schwelle eines neuen Lebens. Und Ortwin war Student, ein braungebrannter, fröhlicher Mann, der mit ihr herumtollte, die wildesten Pferde ritt, ein junger Mann, der mit ihr zusammen badete, zusammen tanzte, zusammen trank und …

… und geküsst hatten sie sich auch. Eine leichte Röte überflutete ihr verträumtes Gesicht, als sie an diesen ersten Kuss ihres Lebens dachte. Sie saß mit Ortwin zusammen in der Scheune, ganz oben unter dem Dach, auf einem hohen Balken. Das Heu duftete, es reizte zum Niesen, und der Mann legte den Arm um sie.

„Lass das“, hatte sie gesagt.

„Nein“, hatte er geantwortet. „Ich kann dich so besser küssen, kleine Judy.“ Auf einem hohen Balken unter dem Dach einer Scheune hatte Ortwin von Engen sie zuerst geküsst.

„Ich liebe dich.“ Das hatte Ortwin von Engen gesagt, und es war eine Ewigkeit her.

Sie hatten sich geschrieben, und dann war die Post immer seltener geworden und dann ganz ausgeblieben.

Ortwin hatte sie vergessen, er lebte in einem anderen Land und war ein Mann geworden, und sie war für ihn wahrscheinlich nur die Erinnerung an einen schönen Sommer in Ungarn.

Geblieben waren ihr nur seine Briefe. Sie stand vor einer Kirche, deren Namen sie nicht kannte, einer großen, reichgeschmückten Kirche. Und sie sehnte sich nach der kleinen Holzkapelle des Dorfes zurück, zu dem auch der Besitz ihrer Eltern gehört hatte. Sie waren mit ihr zusammen aufgebrochen, und dann – hatte sie sie verloren.

Vielleicht lebten sie, vielleicht waren sie tot, sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie ganz allein war.

***

Die Dunkelheit war hereingebrochen, der blaue Himmel über der Stadt schwarz geworden, und die Sterne flimmerten kalt und sehr fern. Judy, die noch immer staunend durch die Straßen ging, begann zu frösteln. Zwei Stunden Zeit hatte sie noch, und eine halbe davon musste sie für den Weg zurück rechnen.

Judy schlug den Mantelkragen fröstelnd höher, steckte die Hände in die Taschen und ging sehr schnell weiter. Und dabei lief sie nur vor etwas davon, aber sie hatte kein Ziel, keine Richtung, und erst als sie wieder auf dem Platz vor der Kirche stand, den sie im hellen Sonnenschein kannte, blieb sie stehen.

Die Uhr schlug die volle Stunde, das Glockenspiel begann: „Reich mir die Hand, mein Leben …“

Es hatte nichts zu bedeuten, für Ortwin war sie ein kleines Ferienerlebnis gewesen, ein kleines Pusztamädchen, eine fröhliche Kameradin für vier Wochen.

Nur für sie selbst hatte es mehr bedeutet, aber dafür konnte schließlich Ortwin nichts. Sie brauchte lange, bis ihr Herz wieder ruhig und vernünftig schlug. Die letzten Häuser der Stadt lagen hinter ihr, und das Land um sie herum wirkte in der Finsternis tot und verlassen. Nur wenige Häuser standen hier, und in der Ferne sah sie die Lichter des Lagers, und sie fürchtete sich, dorthin zurückzukehren.

Judy kam kurz vor zweiundzwanzig Uhr, und der Mann prüfte ihren Passierschein sehr lange und sehr umständlich.

„In Ordnung“, sagte er dann, als gefiele es ihm überhaupt nicht. „Können rein.“

In der Baracke brannte eine einzige, trübe Birne an der Decke. Vielfältige Schnarchtöne empfingen Judy, als sie die Tür behutsam öffnete.

„Tür zu!“, schrie eine gereizte Männerstimme.

Das Mädchen gehorchte hastig, und in ihrer Eile klappte die Tür zu laut.

„Ruhe!“, schrie eine andere Stimme, und im Nu herrschte ein wüster Tumult. Männer, Frauen und Kinder schrien und sprachen durcheinander, und ihr Zorn richtete sich in seltener Einmütigkeit gegen Judy.

„Was treibt sie sich immer draußen herum?“, kreischte eine unangenehm hohe Frauenstimme. Eine untersetzte, kleine Gestalt schob sich näher an Judy heran, die Frau eines ehemaligen Hirten, die Herrenmenschen hasste.

„Die will was Besseres sein als wir, die denkt, sie ist noch zu Hause und kann’s mit uns machen“, hetzte sie. „Aber die Zeiten sind vorbei, hier sind wir alle gleich, und wenn du es noch einmal wagst, unsere Ruhe zu stören, dann setzt es etwas!“

Sie holte mit der Rechten drohend aus – und jemand hielt ihre Hand rückwärts fest. Ilona, schon im Unterzeug, drehte ihr Gelenk ein wenig herum, und die Frau ging buchstäblich in die Knie.

„Judy steht unter meinem Schutz“, erklärte Ilona Grabosch mit freundlicher Gelassenheit, die aber niemanden zu täuschen vermochte. „Ich hoffe, ihr habt mich verstanden?“

Sie ließ ihren Blick von Gesicht zu Gesicht wandern, und die Menschen, die sie anschauten, senkten die Augen. Man hatte sie verstanden und respektierte ihren Befehl. Ilona verfügte über einige Beziehungen zur Lageraufsicht, und es hatte keinen Zweck, sie unnötig zu reizen.

„Haut euch in die Falle und haltet den Mund.“ Ilona ließ das Handgelenk der Frau los und gab ihr einen gelinden Stoß in Richtung auf den schmalen Gang, zwischen den Pritschen. Sie lächelte Judy zufrieden entgegen.

Die Kleine weinte. Lautlos und schwer rollten ihr Tränen über die schmalen Wangen. Die Luft im Raum war verbraucht, legte sich Judy wie Blei auf die Lungen, und sie wusste schon vorher, dass sie kein Fenster öffnen durfte, denn man liebte keine frische Luft, sondern behauptete, sie sei kalt und fördere Krankheiten.

„Leg dich hin und träum von deinem Schatz.“ Ilona ließ sich zurückgleiten und zog ihre schmutzige Wolldecke über sich. „Und mach dann das Licht aus, ich bin hundemüde.“ Sie gähnte und war fast übergangslos eingeschlafen.

Die anderen schnarchten zum Teil schon wieder, Menschen, die wie Vieh in einem Raum zusammengedrängt waren. Und mitten unter ihnen Judy Gudani, die Tochter eines Großgrundbesitzers, ein feinnerviges Mädchen, das einen Mann liebte, der es vor Jahren einmal geküsst hatte.

Vier Wochen war er einmal als Student Gast ihres Elternhauses gewesen – und das war keine Verpflichtung, die ihn bewegen würde, sich um sie zu kümmern, wenn er von ihrem Schicksal wüsste. Judy?, würde er wahrscheinlich fragen und den Kopf schütteln. Wer ist das?

„Ich“, flüsterte das Mädchen leise in die Finsternis.

Sie war vernünftig genug, um sich keine Illusionen zu machen, auch keine über Ortwin, den Mann, den sie schwärmerisch liebte.

***

„Hübsch“, meinte Ortwin von Engen, als seine Mutter ihm die Spieldose gab, die sie heute Nachmittag gekauft hatte. „So etwas Ähnliches gab es früher schon, ich erinnere mich, als ich damals in Ungarn war …“

„Aber jetzt ist alles teurer geworden. Was meinst du, was das kleine Spielzeug gekostet hat?“

Der junge Mann zog das Uhrwerk auf.

„Fünfzig Mark?“, schlug er gleichgültig vor. Er ließ das Werk ablaufen, und eine Melodie erklang, die ihm ein verhaltenes Lächeln entlockte. „Reich mir die Hand, mein Leben …“

Er legte den Kopf hin und her. „Seltsamer Zufall, die gleiche Melodie wie damals … Ich habe diesem kleinen Mädchen, dieser …, ich komme im Moment nicht auf den Namen, der Tochter der Gudanis jedenfalls, damals zum Abschied eine Spieluhr geschenkt. Die Kleine war ganz außer sich vor Freude.“

„Vielleicht, weil sie ein wenig verliebt in dich war“, äußerte Frau Eugenia mit dem ganzen Stolz einer Mutter, deren Sohn sich prächtig entwickelt hat.

Sie fand es ganz natürlich, dass die Mädchen ihren gut aussehenden Ortwin umschwärmten.

„Verliebt?“ Ortwins Lächeln wurde breiter. „Das mag sein. Na ja, wir waren ja halbe Kinder damals …“

Die alte Dame hob scherzhaft drohend den Zeigefinger.

„Du warst immerhin schon ein junger Mann, und die Kleine – wie alt war sie damals übrigens?“

Ortwin stellte die Spieluhr auf den Tisch zurück.

„Ich weiß es nicht mehr“, wehrte er ihre Frage leichthin ab. „Und es ist ja schließlich nicht so wichtig. Es war eine schöne Zeit, damals in Ungarn. Ich glaube, es hat keinen einzigen Tag geregnet, ein besonders heißer und trockener Sommer.“

„Was mag aus den Leuten geworden sein?“

Ortwin hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

„Wer weiß?“, fragte er. „Es ist im Augenblick unmöglich, sichere Informationen zu bekommen. Ich müsste mich mal gelegentlich erkundigen. Vielleicht hat einer der Flüchtlinge etwas von den Gudanis gehört. Sie sind immerhin recht einflussreiche Leute, so kleine Könige in ihrem Reich, weißt du, und sie haben auch wie Könige gelebt. Ach ja, damals war ich so jung, herrlich jung und unbekümmert. Manchmal beneide ich den jungen Studenten, der einen Teil seiner Semesterferien damals dort verbracht hat.“

„Du sprichst genau, als hättest du Grund, mit dem Manne unzufrieden zu sein, der aus dem Studenten geworden ist“, äußerte seine Mutter verständnislos. „Du hast doch alles geschafft, was du nur schaffen konntest, bist Dr. jur., Gesandtschaftsattaché und …“

„… mit dem bezauberndsten Mädchen der Welt verlobt“, schloss Ortwin ihre Aufzählung, und wie immer, wenn er von Miranda, kurz Mira genannt, sprach, bekam seine Stimme einen leicht gereizten Unterton.

Frau Eugenia zog es vor, seinen Unwillen zu übersehen. Miranda von Pawlik war das bezauberndste Mädchen der Welt, außerdem gehörte ihr Vater zu den einflussreichsten Leuten des Staates und würde Ortwin eine glänzende Karriere ermöglichen. Geld hatten die Pawliks noch dazu.