Lorenz - Ilona Jerger - E-Book

Lorenz E-Book

Ilona Jerger

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Beschreibung

Die einfühlsam erzählte Geschichte eines spannungsreichen Lebens: Konrad Lorenz begründete die Tierpsychologie, wurde als Verhaltensforscher berühmt und erhielt 1973 den Nobelpreis. Die Kontinuität seiner biologistischen Auffassungen trug ihm heftige Kritik ein. Ilona Jerger erfindet eine Erzählerin, die mit seinen Büchern aufgewachsen ist und Biologin wurde. Sie vertieft sich in sein Leben und Werk. Je mehr sie erfährt, desto größer wird ihre Faszination – und desto zahlreicher werden die Fragen. Sie erzählt ein Leben, in dem es um die Liebe zu den Tieren geht, von der Graugans Martina bis zu den Bibern. Um die Frage, wie der Krieg in die Welt kam und was ihn begründet. Und um Familie und Karriere und das Überleben, sowohl der Arten als auch der Menschheit. Ein großer Zeitroman, in dem die Errungenschaften und Abgründe des 20. Jahrhunderts aufscheinen. Spannungsvoll, anrührend und lehrreich – ein fesselnder Roman! »Ilona Jerger bewältigt nicht nur viel Ideengeschichte der beiden großen Denker des 19. Jahrhunderts, ihr Roman ist nebenbei auch kühn und souverän geschrieben – und gut zu lesen.« NDR Kultur über den Bestseller »Und Marx stand still in Darwins Garten«

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Das Myom

Kein Brutofen!

Ein strammer Junge

Ein Sommer mit Martina

Knallmauser

Die Braungans

Unterwegs

Adolfowitsch

Irrgäste

Was wir sehen können

Das Böse

Wenn Biber reisen

Felis Erwachen

König Salomon

Danke

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Das Myom

In einem Schuppen am Rand von Milwaukee stinkt es nach verdampftem Metall. Rohre, Eisenscheiben, Schraubenschlüssel und Schweißgerät liegen verstreut am Boden. Bevor Mr. Davidson am späten Nachmittag wie angekündigt eintreffen wird, muss der Arbeiter noch aufräumen. Er flucht, weil die Batterie baumelt. Mit ölverschmierten Fingern zieht er die Lederriemen straffer, für die Jungfernfahrt muss es reichen. In den nächsten Tagen wird er eine stabilere Halterung an die Querstange bauen, die Mr. Harley schon vor einigen Wochen auf Millimeterpapier gezeichnet hat. Aus einem schwarzen Kästchen ragt ein Teil des Zylinders. Man ahnt das Geknatter. Leitungen und Kabel verlaufen dahin und dorthin, der Laie erkennt nicht, wozu. Doch es wird fahren. Hustend. Stotternd. Man kann bremsen. Kuppeln kann man nicht. Was da rollen wird, ist ein aufgeplustertes Fahrrad, das etwas grobmotorisch andeutet, bald mehr zu können, als es schon kann.

Ein paar Jahre später wird sich Konrad nicht nur in Vögel verlieben, sondern in Maschinen, die auch ihm Flügel verleihen. Zumindest wenn er über eine Schanze oder einen Hügel fährt und abhebt. Doch im heißen Frühsommer 1903 ist der Kumpan der Gänse und Dohlen noch im Bauch der Mutter, die ihn bis zu diesem Tag für ein Myom gehalten hat.

Nicht nur in Milwaukee sind Ingenieure, technische Zeichner und Firmengründer dabei, Zweiräder mit Zylindern und Ventilen zu konstruieren und deren Vorfahr, das Fahrrad, zu übertrumpfen. Auch Motorräder haben ihre Stammesgeschichte und entwickeln sich zu höheren Wesen. Bald werden ganze Kompanien auf staubigen Straßen durch feindliches Land knattern, werden in Schlammlöchern stecken bleiben oder im russischen Schnee. Zwei Weltkriege lang. Mit so einem Kraftrad wird sich Konrad in die Kurven legen und den Kiefer brechen. Doch zunächst ist ein österreichischer Embryo dabei, zu einem Lorenz zu werden. Und ein Tretrad zu einer Harley-Davidson.

Von beiden weiß Professor Adolf Lorenz in diesem Moment nichts. Er schraubt in einer Villa in Chicago Ledergurte an einer Gipsschale fest, deren Sitz um die Hüften von Baby Joan er gerade korrigiert hat. Auch die Medizin eilt ihrer technisierten Zukunft entgegen.

Von einer höheren Warte aus betrachtet ist es dem k. u. k. Hofrat ein Dorn im Auge, diesen »Krüppeln« zu helfen. Denn krumm und hinkend würden Menschen wie Joan, die mit sogenannter Hüftluxation zur Welt gekommen sind, im Erwachsenenalter keinen Sexualpartner finden. Nach seinem beherzten Eingriff jedoch schon – und so werden Behinderte dank seiner revolutionären Methode ihre mangelhaften Gene weitergeben. Lorenz, dem alten Darwinisten, schlägt das auf den Magen.

Jahrelang hat er sein Verfahren eingeübt, korrigiert und verfeinert. Vor allem nachts und laut fluchend. Mit Knochen, die er der Leiche eines Kindes entnommen hatte, das mit ebendiesen schiefen Hüften zur Welt gekommen war. Nie hat er vergessen, wie er Oberschenkel- und Beckenknochen samt Hüftgelenkspfannen durch die Schwingtüren der Pathologie in der Wiener Universitätsklinik bugsiert hatte, um sie nach Hause zu tragen. Die mit Formalin geschwängerte Luft biss ihm noch auf dem Heimweg in den Augen.

Adolf Lorenz wusste, dass dieses angeborene Hüftleiden seine große Chance sein würde. Es musste sich eine unblutige Technik finden lassen – und er wollte der Erste sein, der diese Kranken heilen kann. Ohne das Gelenk zu öffnen, vor allem um die Gefahren einer Sepsis zu umgehen.

Nach dem Tod eines von ihm operierten Mädchens probierte er wie besessen und mit Schweißperlen auf der Stirn Verrenkungen des Hüftkopfes in der Pfanne. Er suchte nach Lösungen, die gespreizten Oberschenkelknochen mit Gipskorsagen festzuhalten. Gut Ding will Weile haben, sagte seine Frau Emma Nacht für Nacht und wartete auf ihn.

Es hat funktioniert. Seit Ende der 1890er-Jahre fährt Lorenz von Kongress zu Kongress, einen Tross geheilter Kinder im Schlepptau, die vor staunenden Ärzten auf und ab gehen und die funktionierenden Kugelgelenke in ihren Hüften präsentieren. Auffallend viele hübsche Mädchen sind darunter. Auch Baby Joan aus Chicago hat dieses engelsgleiche Gesichtchen. Was denkt sich die Natur dabei, Anmut mit Hüftverrenkung zu kombinieren?, fragt der Fleischfabrikant, als er der Eingipsung im Wohnzimmer seiner Villa beiwohnt und dem Töchterchen die Hand hält. Lorenz zuckt mit den Schultern, die Natur denke nicht, alles sei Zufall. Alles Darwin.

Adolf Lorenz fixiert nicht nur Hüften, sondern behandelt auch andere Fehler am menschlichen Gestell. Er lässt immer neue Apparaturen bauen, um alles gerade zu biegen, was krumm ist. Wirbelsäulen, Schiefhälse, O-Beine, Klumpfüße, alles Verdrehte wird eingespannt und mit Lederriemen und Schrauben samt Gewichten gedehnt.

In den Jahren, als die geheilten Lorenz-Kinder in den Lehrsälen großer Universitäten auf und ab gingen, war die DNS noch nicht entdeckt. Heute wissen wir, dass sie zwei Meter lang ist und in jeden winzigen Zellkern passt. Doch verstehen wir nun besser, wie die natürliche Selektion funktioniert? Ein Begriff, der uns leicht über die Lippen kommt. Unentwegt findet eine Auswahl statt, ohne dass da jemand wäre, der wählt. Schon der Blick auf ein Graugansküken offenbart das Dilemma: Wie bricht das Vögelchen im Ei die Schale auf? Darwin meinte, mit einem »diesem Zweck angepassten Schnabel«. Beißt sich da nicht die Katze in den Schwanz? Kann das Ergebnis der Entwicklung durch seinen Zweck hervorgebracht werden? Und das durch Millionen von Zufällen? Da kann einem schon mal schwindelig werden. Vor allem, wenn wir uns die gesamte Wegstrecke vorstellen, bis sich ein Bakterium aus der Ursuppe über Jahrmillionen zur Graugans gemausert hat. Von Kopierfehler zu Kopierfehler zu Anser anser, diesem herrlichen Vogel mit den silbergrauen Schwingen, auf dem Nils Holgersson reist und der zum Wappentier von Konrad Lorenz werden wird.

Die Entwicklung von Anser anser oder Homo sapiens verlief keineswegs geradlinig. Der Stammbaum des Lebens ist eher ein verwirrend riesiger Busch mit Millionen von dürren Ästen und Zweigen, die längst wieder abgebrochen sind.

Ich schweife kurz ab und möchte auf ein Projekt hinweisen, das mich selbst immer wieder von der Arbeit abhält. Ich bin süchtig danach, im Netz den Baum des Lebens anzuklicken. Dann zoome ich hinein ins Geäst, suche die Graugans oder die Dohle oder den Donau-Kammmolch und verliere mich in deren Verwandtschaftsverhältnissen. Es ist eine Art Google Earth der Biologie. Die Adresse lautet: onezoom.org.

Doch zurück zur Familie Lorenz.

Es ist das Jahr 1903, und im niederösterreichischen Altenberg geht Emma Lorenz’ Vater, ein kauziger Alter, mit einer Hyäne an der Donau spazieren, während der Hausmeister den Schraubenzieher aus der Hand legt und mal mit dem einen, mal mit dem anderen Auge prüft, ob das prächtige Messingschild mit dem Namen Professor Doktor Adolf Lorenz, das er gerade neben dem Eingangsportal festgeschraubt hat, auch wirklich im Lot ist. Es scheint ihm etwas rechtslastig, was an der Maserung des teuren Steins liegen könnte. Er will erst einmal abwarten, wie die verehrte Frau Hofrat darauf reagiert. Vorhin würdigte sie das Schild keines Blickes, als sie den Kiesweg heraufeilte, die zwei Stufen nahm, und sich dabei den Seidenschal vom Hals riss.

Emma Lorenz hat sich am frühen Morgen die zwanzig Kilometer nach Wien hinunterfahren lassen, um den berühmtesten Frauenarzt von ganz Österreich zu konsultieren, der bereits Kindern des Kaisers auf die Welt geholfen hatte. Nun liegt sie auf dem Bett in ihrem Zimmer, die Hände auf dem Bauch. Von der Landstraße durchgerüttelt und der Nachricht überrumpelt, dass sie in anderen Umständen ist, findet sie keine Ruhe. Ob die Schwangerschaft gut gehen wird? Achtzehn Jahre sind seit der Geburt des ersten Kindes vergangen. Schon sehr lange hatten Adolf und sie die Hoffnung aufgegeben, noch ein zweites zu bekommen. Der Erstgeborene leistet gerade seinen Militärdienst ab.

Die Fenster zum Park stehen offen, und ein leichter Wind streicht Emma übers Gesicht. Ihr Vater wird sagen, dass diese warme Luft den Österreichern Grüße aus Venedig und Triest überbringt. Immerhin seien sie einmal österreichisch gewesen. Um dann anzufügen: »Sünd und schad um unsere Städte.« Diese Sätze gehören zu dem alten Mann wie die Spaziergänge mit seiner Hyäne und die Angewohnheit, Opernarien und Walzer so laut zu hören, dass der Kakadu, der normalerweise jede Musik genießt und euphorisch dazu tanzt, das Zimmer verlässt. Unlängst flog der Vogel über das lärmende Grammofon und entleerte seinen Darm.

Hoch oben über den Donau-Auen lassen sich Vogelschwärme von der warmen Strömung tragen. Einzelne Vögel schmiegen sich in ein Luftkissen, als wollten sie ein Nickerchen machen. Und vielleicht fällt dem einen oder anderen in diesem Moment kurz ein Auge zu. Die Vogelschlafforschung, die das bestätigen wird, steckt noch in den Kinderschuhen.

Der Südwind treibt, seit er über dem schäumenden Wasser der Adria entstanden ist, zarte Wolkenfetzen vor sich her Richtung Böhmen und Mähren, bis ihm in Schlesien die Kraft ausgeht. Unten an den Altwässern der Donau, nur wenige hundert Meter vom Lorenz-Haus entfernt, bewegt er Gräser, Birkenblätter und die Daunen der Entenküken, die ihren Eltern hinterherkugeln. In den frisch bezogenen Räumen der umgebauten Villa trocknet der Wind Emmas feuchte Augen, die klammen Wände und die frischen Farben. Erst vor ein paar Tagen sind die Deckengemälde im Treppenhaus fertig geworden. Emma lächelt, als ihr klar wird, warum sie den Farbgeruch in den vergangenen Wochen so schlecht vertragen hat.

Emma Lorenz, Tochter aus großbürgerlichem Haus, in dem Walzerkönige ein- und ausgingen, steht der neuen Villa verhalten gegenüber, denn ihr Gemahl kann den Geschmack des Emporkömmlings nicht verbergen. Als er noch das Adölfla war, hatten seine schlesischen Eltern nicht einmal Geld für Socken. In strengen Wintern saß er mit Frostbeulen an den Füßen im Klassenzimmer. Heute ist er erpicht darauf, dass die astronomischen Honorare, die er vor allem in Amerika kassiert, weithin sichtbare Gestalt annehmen. Allein von der gegenwärtigen Reise wird er Hunderttausende Dollar nach Hause bringen. Nicht nur Baby Joans Vater wird ihn fürstlich entlohnen.

Der Architekt der Altenberger Villa, ein Mann mit operettenhafter Fantasie, ist dazu verdammt, alle Ideen des Bauherrn in seine Entwürfe einfließen zu lassen. Auch wenn sie wenig durchdacht per Telegramm aus Amerika eintreffen. So wurde die Villa von Bauabschnitt zu Bauabschnitt, von Anstrich zu Anstrich immer mehr zu einem Märchenschloss mit Säulen, Gemälden und einer pompös verzierten Eingangshalle, die acht Meter hoch ist. Es schmeichelt Professor Lorenz, wenn sich Spaziergänger an ein kleines Schönbrunn oder an eine Renaissance-Kirche mit Jugendstilelementen oder an alles zusammen erinnert fühlen, während Emma die Augen rollt.

Konrad wird in diesem Märchenschloss die Kindheit eines vom Hauspersonal verwöhnten Prinzen verbringen und schon bald einen Zoo mit Hunderten von Tieren einrichten. Schade, dass der Architekt nicht mehr sehen kann, wie Konrads Enten durch die groß angelegte Küche watscheln und Graugänse sich auf dem Perserteppich in der Eingangshalle versammeln. Oder die Dohlen, die, durch Konrads Rufe angelockt, die Flügel einziehen und vom Himmel herabstürzen, um auf seiner Schulter zu landen, während er freihändig auf dem Dach steht. In einem Zimmer des obersten Stockwerks, das dreizehn Ecken hat und eine herrliche Aussicht bis zur Donau, wird das Gänsekind Martina nachts sein ängstliches Wi-wi-wi fragen, und Konrad wird im Halbschlaf mit einem beruhigenden Gang-gang-gang antworten.

Noch ist es nicht so weit. Zunächst kommt der Architekt, kurz nachdem das vieleckige Zimmer fertiggestellt ist, in die Irrenanstalt. Emma hat gerade davon erfahren, doch kreisen ihre Gedanken um die Schwangerschaft. Sie fragt sich, ob die sieben Worte: »Liebster, wir bekommen ein Kind. Deine Emma« schon in Amerika angekommen sind. Vielleicht liest Adolf sie in diesem Moment. Noch in Wien ließ Emma beim Postamt anhalten und gab das Telegramm auf.

Bilder ziehen an ihr vorbei. Von der Hochzeit. Immer wieder von Adolf, wie er strahlt, als er bald danach von der ersten Schwangerschaft erfuhr. Und von seinem Glück, als er ein Jahr nach der Hochzeit den Stammhalter im Arm hielt. Ob er sich auch dieses Mal so freuen kann?

Während im Altenberger Park um die neue Villa die Vögel singen, Emma sich Mühe gibt, geduldig auf Adolfs Antwort zu warten, ihr Vater vom Spaziergang an der Donau zurückkommt, der Hausmeister nun doch das Schild neu festschraubt und ein Mann am Rand von Milwaukee ein seltsames Rad aus dem Schuppen schiebt, betritt ein Hotelboy die Villa des Fleischfabrikanten in Chicago und überbringt Professor Lorenz Emmas Telegramm. Der gibt das Kuvert, ohne hineinzuschauen, seiner Assistentin und korrigiert fast zärtlich den Sitz der Gipsschale um einige Millimeter, während Baby Joan schreit wie am Spieß.

Kein Brutofen!

Rockschöße wippen. Rücken beugen sich. Köpfe nicken anderen Köpfen zu. Hände überprüfen den Sitz der Frisur. Und über allem baumelt der schwere Kronleuchter von der hohen Decke. Von dort oben hätte man eine herrliche Aussicht über den Saal. Es ist wie ein Ballett in Schwarz und Weiß, dessen Choreografie das immer gleiche Muster zeigt: Man kreiselt in der Nähe des Präsidenten. Die Gäste des Weißen Hauses, rund einhundert Männer und ein Dutzend Frauen, versuchen seine Aufmerksamkeit zu erheischen, ihm die Hand zu schütteln. Womöglich nimmt man im Überschwang, wenn man endlich an der Reihe ist, die zweite Hand zu Hilfe, umfasst die Präsidentenhand mit beiden Händen vor lauter Glück. Währenddessen schwirren die Stimmen, klappern die Tellerchen, knallen die Champagnerkorken.

Soeben ist Adolf Lorenz an der Reihe. Meisterlich hat er sich bei seinem Gang aus der Garderobe in den Saal hinein in eine Schlange verwandelt, die sich zunächst leise raschelnd windet, dann lauert, um im richtigen Moment zuzuschnappen. Nun erläutert er Theodore Roosevelt in recht gutem Englisch – und doch ist jeder Satz in Wiener Flaum gehüllt – den Zwiespalt des Arztberufs. Ein Thema, über das er mit Vorliebe auf Empfängen, in Vorlesungen oder bei Diners referiert. Durchaus mehrfach hintereinander. Wenn er das Einerseits und das Andererseits, die sein Berufsleben spalten, zum Besten gibt, neigt er den Kopf zuerst zur rechten und dann zur linken Schulter, soweit der steife Kragen es erlaubt. Auf der einen Seite: der Auftrag und die Freude zu heilen. Auf der anderen: die gesellschaftspolitische Verantwortung, die Volksgesundheit zu schützen, also nicht bei der »Vermehrung minderwertigen Erbguts« zu assistieren.

Sein elegantes Nicken dahin und dorthin, sein Lippen- und Stirnkräuseln, wenn er Wichtiges mitzuteilen hat, seine Schlauheit, der Ehrgeiz und sein stattliches Aussehen hatten Adolf Lorenz immer vorangebracht. Schon als er sich als Hauslehrer bewarb, um sein schmales Stipendium für das Medizinstudium aufzubessern, indem er Töchter aus gutem Hause in Latein und Geschichte unterrichtete. Eine von ihnen heiratete er.

Gerade gelingt es dem Star der Medizin, dessen Konterfei tags zuvor die Titelseite der Washington Post zierte, den Präsidenten der USA aus seiner Höflichkeitslethargie des Händeschüttelns und Small Talks zu wecken. Roosevelt hört Lorenz zu. Roosevelt nickt und berichtet dem Österreicher vom ersten gesetzlichen Heiratsverbot für »Epileptiker, Schwachsinnige und Geistesschwache« in Connecticut. Seit Neuestem arbeite ein Eugenik-Komitee mit Hochdruck an Erhebungen, wie groß die Zahl derer überhaupt sei, die man an der Fortpflanzung hindern müsse. Roosevelt lacht und entblößt ein beachtliches Gebiss.

John D. Rockefeller zieht schon zum zweiten Mal seine Taschenuhr heraus, offensichtlich hat er dem Präsidenten Wichtiges mitzuteilen, aber wenig Zeit. Das hindert Roosevelt nicht, Lorenz seelenruhig zu erklären, dass nur Zwangssterilisationen dafür sorgen werden, die Vitalität des amerikanischen Volkes zu erhalten. Hier nickt auch Rockefeller, der etwas näher gerückt ist, und wirft ein, »nicht nur Schwachsinnige und Krüppel sind das Problem, auch die Reinheit der Rasse muss verteidigt werden«. Mischehen mit Schwarzen, Hispanics oder Asiaten führten geradewegs in den Selbstmord der weißen Rasse.

Plötzlich sieht Teddy Roosevelt Herrn Pulitzer einige Meter links vor sich stehen, und bevor ihn der geschäftstüchtige Rockefeller in Beschlag nehmen kann, geht er mit raschen, elastischen Schritten und schwingender Uhrkette in Richtung Zeitungsverleger, mit dem er ein Hühnchen zu rupfen hat. Er fand sich in einem seiner Blätter tags zuvor missverstanden. Vollkommen falsch dargestellt. Der blinde Pulitzer hört sich das Klagen an – sein tägliches Business –, spricht ein paar Worte zur Aufgabe des unabhängigen Journalismus in einer Demokratie und kündigt an, in nächster Zeit viel Geld eben dafür ausgeben zu wollen. Diese Investition wird sich schon bald lohnen, und Pulitzer lässt eine brisante Enthüllung veröffentlichen: 40 Millionen Dollar Bestechungsgelder seien beim Bau des Panamakanals geflossen. Der Präsident wehrt sich vor Gericht – und verliert. Ein Markstein auf dem Weg des freien Journalismus. Aber das ist eine andere Geschichte.

Gedankenverloren schaut Adolf Lorenz auf die Herren Roosevelt, Rockefeller und Pulitzer. Bislang hatte er nur die biologisch-medizinische Seite der Eugenik betrachtet, die Steuerlast, über die sich Rockefeller gerade beschwert, hat er nicht bedacht. Der sieht sich und andere Unternehmer durch die Alimentierung vulgo Durchfütterung von Armen, Kranken und Zurückgebliebenen als akut vom Bankrott bedroht. Ebenso wenig hatte Lorenz bislang aktive Maßnahmen wie Zwangssterilisationen oder gar Euthanasie in Erwägung gezogen. Ihm wird klar, dass die Österreicher von den Amerikanern noch einiges lernen können.

Hitler liest in diesen Tagen Karl May. Seine Zeit als Postkartenmaler im Männerheim hat er noch vor sich. Erst zwanzig Jahre später wird er die amerikanische Bibel der Eugenik lesen, wird sie zitieren und dem Autor Madison Grant nacheifern. Manche Stellen aus dessen Buch Der Untergang der großen Rasse wird er in Mein Kampf verwursten.

Als Adolf, der Orthopäde, und der Präsident der Vereinigten Staaten auf die medizinische Forschung anstoßen und besprochen ist, dass das Knie von Roosevelts Sohn seit Langem schmerzt und was dagegen zu tun sei, stellen sie fest, dass sie neben ihrer Zuneigung zu Darwins Selektionsprinzip auch die Begeisterung in technischen Dingen teilen. Roosevelt ist der erste amerikanische Präsident, der Auto fährt. Lorenz der erste Österreicher, der eines besitzt. Roosevelt berichtet, dass vor einigen Wochen die Ford Motor Company gegründet wurde. Ein Meilenstein! Im Übrigen sei auch Henry Ford Anhänger der Rassenreinheit. Außerdem habe ein gewisser Harley ihn wissen lassen, dass er Großes plane, und habe angekündigt, beim Weißen Haus vorzufahren, sobald die Konstruktion seines vielversprechenden Zweirads noch etwas weiter gediehen sei. Mit einem lausbübischen Lächeln fügt Roosevelt an, dass er sich schon darauf freue, eine Runde mit dem Kraftrad ums Weiße Haus zu drehen.

Lorenz zieht nach seiner Audienz in Feierlaune zum Buffet weiter. Er fühlt sich gebauchpinselt, freut sich über die Honorare, die er in den vergangenen Tagen bekommen hat, und beschließt, dieses Kraftrad, von dem ihm der Präsident berichtet hat, zu kaufen, sobald es lieferbar ist. Er stellt sich Emma vor, wie sie schaut, wenn er in Altenberg damit um die Kurve braust. Er pickt vom Büffet hier ein bisschen und da ein bisschen, taucht den Löffel in ein Schälchen mit wässriger Suppe, die ihm als Delikatesse empfohlen wird. Sie offenbart einen fragwürdigen Geschmack und verrät ihren Ursprung nicht. »Sie mögen keine Schildkrötensuppe?« Eine adrette Dame bietet ihm zum Trost ein Tellerchen mit apple pie an. Er nimmt eine Gabel voll, diagnostiziert einen primitiven Vorläufer des Wiener Apfelstrudels, und hinterrücks greift ihm das Heimweh ans Herz.

Da fällt ihm das Telegramm in seiner Westentasche ein. Er geht etwas zur Seite, reißt das Kuvert auf und liest. »Emma«, entfährt es ihm laut, und ihm wird heiß und kalt. Hastig nimmt er eine Havanna, die ihm ein Ober auf einem fein ziselierten Silbertablett anträgt. Lorenz hantiert unkonzentriert mit dem Feuer, produziert Rauch und verschluckt sich. Dann endlich saugt er den schweren Duft der Zigarre ein, und schon verglüht die zunächst empfundene Freude über die Schwangerschaft, als ihm bewusst wird, dass Emma mit zweiundvierzig Jahren nicht mehr die Jüngste ist. Beinahe hat er vergessen, dass auch er, Adolf, neunundvierzig Jahre alt, seine Jugend trotz dieser Zeugungskraft hinter sich hat. Er schüttet zwei Gläser Champagner in sich hinein, verabschiedet sich mit rotem Kopf von Herrn Pulitzer, der sich gerade zu ihm hatte führen lassen, um sich in seiner Praxis anzukündigen. Pulitzer kam über das Wort Hüfte nicht hinaus.

Wieder im Hotel, lässt Lorenz seine Emma telegrafisch wissen, dass er sich zwar freue, aber die Schwangerschaft ihn mit Sorge erfülle. Er kündigt ihr für die nächsten Tage einen Brief an. Und einen Rosenstrauß, wenn er in ungefähr sieben Wochen wieder zu Hause sein wird.

Drei Tage später schreibt Adolf seine Gedanken nieder. »Liebste Emma, es will mir nicht in den Kopf gehen, dass wir in unserem Alter noch ein Kind erwarten. Wir hatten die Hoffnung doch schon vor zehn Jahren begraben. Aus ärztlicher Sicht muss ich feststellen, dass Frauen ihre Kinder eher lange vor, als nach dem dreißigsten Lebensjahr bekommen sollten. Aber da die Sache nun einmal ist wie sie ist, steht mein Entschluss fest: Man sorge für das neugeborene Kind in gleicher Weise wie für jedes andere normale Kind; auch wenn wir die besten Ärzte kennen: kein Brutofen, keine sonstigen außerordentlichen Maßregeln! Das Neugeborene muss imstande sein, das extrauterine Leben zu ertragen, oder es stirbt besser. Außerdem ziehe ich einen Abortus einer Frühgeburt vor. Denn Siebenmonatskinder sind für die Eltern ein fragwürdiges Geschenk, sie leiden häufig an spastischer Paralyse und sind mangelhaft intelligent, nicht wenige bleiben ihr Leben lang Idioten. Ohne genügend Lebenskraft sollten Frühchen das Leben lieber nicht versuchen. Liebe Emma, ich hoffe, du teilst meine Bedenken. Mein Entschluss zu verfahren wie oben beschrieben, steht allerdings fest.

Ich hab’ dich lieb, mein Mausezahnderl, und ich hoffe, du kannst trotz der anderen Umstände, in denen du ja nun bist, die Arbeiten an unserem neuen Haus beaufsichtigen. Ich bin gespannt, was mich erwartet, wenn ich wieder zu Hause bin. In Liebe, Dein Adolf.«[1]

Beinahe hätte er Emma noch von den alten Spartanern berichtet, nur der Bildung halber. Er hatte gelesen, dass diese antike Kriegernation ihre Kraft, ihre Schönheit und ihre geistige Potenz dem Brauch verdankte, schwache, kranke oder gar missgebildete Säuglinge direkt nach der Geburt in eine Schlucht zu werfen.

Noch als alter Mann wird Konrad Lorenz, der in unserer Geschichte erst noch geboren werden muss, stolz darauf hinweisen, dass er seine Begeisterung für hochwertige Gen-Ausstattungen bei Menschen und Tieren vom Vater geerbt habe. Und die Tierliebe vom Großvater, der mit der Hyäne spazieren ging.

Ein strammer Junge

»Adolf, fang auf!« Schon fliegt das Kinderbettchen samt Inhalt aus dem zweiten Stock der Altenberger Villa. Lorenz, der gerade mit dem Gärtner plaudert, schaut nach oben, springt einen Meter vor und einen verzweifelten halben zurück. Er schafft es in letzter Sekunde, das kleine Bett aufzufangen. Allerdings vertritt er sich dabei den Fuß, knickt um und fällt hin, wobei Kissen samt Kind herausfallen und eines der vier geschnitzten Holzbeine gegen seine Stirn kracht. Der Gärtner macht einen Satz zu dem merkwürdigen Bündel, das sich im Rosenbusch verfangen hat, und erkennt erleichtert, dass da kein Konrad liegt.

Emma hat das Bettchen mit einer lebensgroßen Babypuppe, die sie noch aus Kindertagen hatte, drapiert. Adolf hinkt zum Haus und massiert sich die Stirn, der Gärtner trägt das Bettchen hinterher. Den Jähzornsanfall, den ihr geliebter Adolf in der Eingangshalle bekommt, wird Emma nicht so schnell vergessen. Dabei war sie doch nur zu einem Scherz aufgelegt. Mal wieder. Makabre Scherze sind ihre Spezialität, das müsste er doch allmählich wissen. Noch Tage später verzeiht sie ihm seine Wut nicht, da kann er noch so oft »mein Mausezahnderl« flüstern. Oder »mein Farbkastl«, wenn sich ihre Wangen bei einer Aufregung dunkelrot färben.

 

Konrad! Endlich hat also das bange Warten ein Ende gefunden. Am 7. November 1903 ist er mit 3500 Gramm in Wien in der besten k. u. k.-Geburtsklinik zur Welt gekommen, und jede sofort eingeleitete Untersuchung hat ergeben, dass der Junge kerngesund ist. Einer Weltkarriere steht nichts im Weg.

Auf einer Karte, die der Vater dem Erstgeborenen in die Kaserne schreibt, steht: »Lieber Albert. Du hast jetzt einen Bruder. Er wird auf Konrad Zacharias getauft. Deine Mutter überstand dank ihrer gesunden Konstitution die Krise! Dein Vater.«[2]

Krise? Kurz vor der Geburt schienen Adolfs Befürchtungen, dass irgendeine medizinische Katastrophe eintritt, doch noch wahr zu werden. Emma erlitt eine Embolie, die jedoch glimpflich verlief.

Bei der Taufe hält das Oberhaupt der Familie seinen rosigen Spätgeborenen in einem mit Stickereien überzogenen und rundherum mit ausladenden Rüschen verzierten Steckkissen und sagt gerührt: »Du armes Kind! Wenn du einmal ins Gymnasium eintrittst, deckt mich längst das grüne Gras.«

Auch diese Prognose: weitgefehlt. Zweiundvierzig weitere Geburtstage des um ein Haar »spastischen Trottels« und »idiotischen Sohnes« wird der Vater noch erleben dürfen.

Zur Taufe lässt der Großvater eine Platane hinter dem Haus pflanzen. Er steht dabei, als der Gärtner das Loch gräbt, und nickt in einem fort. Er freut sich, dass er so spät in seinem Leben noch einmal Großvater werden durfte.

 

Als kleines Myom gestartet, wird Konrad sein Leben lang etwas Außergewöhnliches sein, wird Aufsehen erregen und selten das tun, was man von ihm erwartet. Und die Platane, ein Baum, der sich häutet, wird sein irdisches Sternzeichen.

*

Schnell sind dreißig Jahre vergangen und Konrad ist ein stattlicher Mann. Groß, gut gebaut und sehr gut aussehend. Er ist mittlerweile zur Schule gegangen, wollte fliegen lernen und scheiterte, wollte eine Wildgans werden und scheiterte, und porträtierte schon als Kind in einem fort jede Gans und jede Ente, die ihm in den Donau-Auen begegnet ist. Als Fünfjähriger hat er sich mit der drei Jahre älteren Gretl verlobt, ein Weltkrieg hat gewütet, das Reich der Österreichisch-Ungarischen Monarchie ist zu Ende gegangen, ein kleines Restösterreich in Form einer Republik an seine Stelle getreten, Adolf Hitler hat Mein Kampf verfasst, Konrad hat Medizin studiert, geheiratet und zwei Kinder bekommen. Damit ist das erste Drittel seines Lebens ausführlicher erzählt, als Heidegger das Leben von Aristoteles in einer Vorlesung zusammengefasst hat: Er wurde geboren, arbeitete und starb.

Erst jetzt lohnt es sich genauer hinzuschauen, denn mit Anfang dreißig nimmt Konrads Leben Fahrt auf. In die Richtung, die er selbst wählt, denn er traut sich, das vom Vater aufgezwungene Medizinerleben hinter sich zu lassen.

Ein Sommer mit Martina

Heute ist Führers Geburtstag. Eine dicke Truthenne sitzt auf zehn cremeweißen Eiern und schaut gelangweilt. In einer Hundehütte, ein paar Meter entfernt mit ein wenig Gebüsch dazwischen, sitzt eine ebenso dicke Hausgans auf weiteren zehn Eiern. Auch sie, wie Konrad Lorenz diagnostiziert, gelangweilt. Wobei das Übertragen menschlicher Gefühle auf Tiere keinen guten Ruf hat. Lange Zeit wurden Tiere eher zerlegt, entbeint und vermessen. Pfoten mussten Knöpfe drücken, Hirnhälften wurden auseinandergeschnitten und Elektroden an rasierte Schädel geschraubt. Was zuckt denn da? war eine gängige Frage, und um sie zu beantworten war es besser, Angst und Schmerzen bei Tieren erst gar nicht zu erwägen. Zwar hatten manche Naturforscher durchaus Mitgefühl gezeigt. Darwin, der auch an Skeletten sägte und Knochen kochte, wusste um die Schreckhaftigkeit seiner Regenwürmer und was er zu tun hatte, wenn sein Hund ängstlich war. Dass auch Vögel fühlen, daran gab es für ihn keinen Zweifel. Deshalb ließ er eine junge Taube, die auf seinem Schreibtisch stand und vor Angst einen kleinen Durchfall erlitt, Chloroform einatmen, bevor er sie inwendig untersuchte. Kaum hatte das Küken am Gas geschnuppert, fiel es der Länge nach hin. Auch Brehm wusste, dass Tiere Menschen sind und Menschen Tiere. Vielleicht hat er es hie und da etwas übertrieben. Vielleicht auch nicht.

 

Unlängst habe ich mitten in Konstanz eine Füchsin gesehen, die am Straßenrand anhielt, zunächst nach rechts, dann nach links schaute, und erst dann mit ihren Kindern die breite Straße überquerte. Ich war unterwegs zur Universität, um mit einem Kollegen über die Besenderung verschiedener Vögel zu sprechen, deren Zugrouten wir als Nächstes untersuchen. Wir arbeiten beide beim ICARUS-Projekt mit, das die weltweiten Tierwanderungen erforscht. Ich am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Möggingen, er bei den Zoologen der Uni Konstanz. Für mich ist meine Arbeit als Ornithologin die Erfüllung eines Kindheitstraums. Ich war zehn Jahre alt, als ich meinen ersten Vogel beringte und inständig hoffte, dass er von seiner bevorstehenden Reise nach Afrika zurückkommen würde. Ich kann heute noch den dünnen, zerbrechlich wirkenden Vogelfuß zwischen meinen Fingern spüren. Ein Mitarbeiter der Vogelwarte hatte mir die kleine Gartengrasmücke überreicht. Das war auf der Obstwiese meines Großvaters nahe dem kleinen Wäldchen, einen Steinwurf vom Max-Planck-Institut entfernt, zu der die Vogelwarte gehört. Er zeigte mir, wie man richtig beringt. Das Grasmückenherz pochte unter dem Federkleid in meinen Händen.

Kurzzeitig wollte ich Oologin werden, Eiforscherin, als derselbe freundliche Herr, er hieß Abendschein, mir die Brutschränke des Instituts mit den verschiedenen Eiern zeigte. Das war ein Jahr später, als ich mich schon mit ihm angefreundet hatte. Diese Kunstwerke aus den Schalendrüsen im Vogelhintern hatten es ihm und dann auch mir angetan. Ich durfte ab und zu ein Ei anfassen und strich mit den Fingern über die porige Kalkschale. Ich erfuhr, wie die Embryonen darin Luft bekommen, und war hin und weg von den verschiedenen Größen und Farben. Noch ein wenig später wollte ich Kaliologin werden, also Nestforscherin. Doch letztendlich besann ich mich und wurde, was ich als Zehnjährige der Gartengrasmücke auf der Wiese meines Großvaters versprochen hatte: Vogelzugforscherin.

Bis heute wurden weit mehr als 200 Millionen Vögel beringt. Doch längst haben wir neue Techniken entwickelt, um den Reisen der Vögel auf die Spur zu kommen. Wir befestigen winzige Sender auf Vogelrücken, benutzen Satelliten, um die Daten dieser Minisensoren zu erfassen, und lassen diese Informationen vom Weltraum an unsere Computer auf der Erde übertragen. Wir messen Botenstoffe im Blut der ziehenden Vögel und sequenzieren ihr Genom. Und doch wissen wir eines genauso wenig wie es Konrad Lorenz wusste: wie es sich anfühlt, ein Vogel zu sein.

 

Nun sind wir im Jahr 1935, und Konrad Lorenz kontrolliert an diesem 20. April mehrfach, ob mit seinen Grauganseiern alles in Ordnung ist. Er hat als Kind Brehms Tierleben verschlungen und weiß seither, dass ein Fuchs durchaus in der Lage ist, eine brütende Gans zu erwürgen, und danach mit vollem Bauch, Federresten und Eigelb am Maul, sehr laut schnarchen kann.

Lorenz hofft, dass aus allen zwanzig Eiern Küken schlüpfen werden, aufgeteilt auf die beiden Mütter, die er zum Brüten ausgewählt hat. Er hat sich die Eier in Ungarn besorgt und freut sich auf seine erste Gänsekolonie, die er in Altenberg erforschen will. Als Erstes wundert er sich, dass die Truthenne keine Brutpausen macht und nie die Eier wendet. Er redet mit ihr, erinnert sie an ihre Mutterpflichten, fragt sie freundlich, wie es ihr geht, stupst sie an, droht. Doch die Henne lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, sie glotzt ihn an und versteht ihn nicht. Oder will es nicht. Lorenz macht sich Gedanken und Notizen, warum diese Truthenne ein solches Sitzfleisch hat, und vermutet, dass auch bei ihr der Brutinstinkt verhunzt ist. Er glaubt schon länger zu beobachten, dass Tiere, die ihre Nahrung nicht selbst suchen oder jagen müssen, also Vieh, das im Stall gemästet wird oder auf der eingezäunten Wiese herumsteht, durch den Vorgang der »Verhaustierung« verblödet und verweichlicht. Oft gehe dieser Prozess auch noch mit sexueller Verwahrlosung einher. Zu dieser »Verlotterung« des Erbmaterials wird er sich später ausführlich zu Wort melden. Ein Hochgenuss für die deutschen Reichsbiologen.

Was Lorenz nicht in Betracht zieht, ist, dass die Henne den Betrug ahnen könnte. Immerhin sitzt sie seit vielen Tagen auf Stiefeiern, die er ihr aus wissenschaftlichen Gründen untergeschoben hat.

Solange die Henne wenigstens auf den Eiern sitzen bleibt, ist er zufrieden und wirft, was bleibt ihm anderes übrig, das brave Tier täglich mehrmals aus dem Nest, um an seiner statt die Eier zu wenden. Sonst kann es passieren, dass die Kleinen einseitig an ihrer Eihaut festkleben. Nacheinander nimmt Lorenz die Eier zwischen Daumen und Zeigefinger und hält sie ans Ohr, bevor er sie andersherum zurücklegt. Er kann hören und fühlen, dass die Gänsekinder leben. Manche Eier vibrieren so stark, dass sie seine Fingerkuppen kitzeln.

Am 27. Bruttag nimmt Lorenz der Truthenne die zehn Eier unterm Hintern weg und legt sie in seinen Brutapparat. Er will das Schlüpfen der Küken überwachen und dokumentieren. Die Hausgans in der Hundehütte mit den anderen zehn Eiern lässt er in Frieden weiterbrüten. Auf diese Weise hat er eine Kontrollgruppe.

Der 28. Tag beginnt. An diesem Morgen sieht der Himmel nach Schnee aus. Die Wolken hängen tief über den Donau-Auen, sodass Lorenz bei seinem morgendlichen Spaziergang mit zwei Chow-Schäferhund-Mischlingen den Kragen hochschlägt und, als die dunkelgrauen Wolken die ersten Graupelkörner fallen lassen, mit eingezogenem Kopf in eine schnellere Gangart wechselt. Seit Mitternacht ist das Thermometer um 15 Grad gefallen. Er ruft seine Hunde zur Ordnung, weil sie zwei Enten anbellen, und denkt darüber danach, was er an diesem Tag erledigen möchte. Vor allem will er an seinen Notizen über die Ausfallsmutationen bei Haustieren im Vergleich zu den Wildtieren weiterarbeiten. Nach ein paar hundert Metern dreht Lorenz abrupt um, was eine kleine Diskussion mit den Hunden auslöst, die gerne noch weiterspaziert wären. Just während die drei den Weg von der Donau zurück zur Villa gehen, öffnet in Frankfurt die Welthundeausstellung ihre Pforten. Ein Schäferhund wird die von Hitler persönlich gestiftete Auszeichnung »Bester Deutscher Hund« erringen. Noch haben die Deutschen keine Ahnung, dass in Niederösterreich ein Mann namens Lorenz begonnen hat, leidenschaftlich und in großer Zahl Hunde zu züchten, und später einen Weltbestseller über Hunde schreiben wird, den ich als vierzehn Jahre altes Mädchen in seiner 39. Auflage verschlungen habe.

 

So launisch wie das Aprilwetter ist an diesem Morgen auch Konrads Vater Adolf. Ihm ist etwas auf den Magen geschlagen, und Konrad bezieht es wie so oft auf sich und überlegt, was er falsch gemacht hat. Beim Frühstück gibt es zudem einen kleinen Zwist mit Ehefrau Gretl, weil Konrads gezähmte Ratte, die im Haus frei herumlaufen darf, feine, seidene Betttücher in kleine runde Fetzen zernagt hat, um ihr Nest auszupolstern. Das Hausmädchen hat das sehr hübsch gewordene Nest beim Abstauben in Konrads Arbeitszimmer zwischen zwei Briefordnern entdeckt. Lieblos, wie er findet, hat Gretl das kleine Bauwerk entsorgt, dabei müsste sie als Frauenärztin doch Verständnis für Mütter und deren angeborenen Nestbauinstinkt haben. Nun bricht Gretl verspätet und verärgert ins Krankenhaus auf. Als Erstes muss sie heute eine Gebärmutter mit Myomen entfernen.

Lorenz geht in den Keller und nimmt an diesem 28. Bruttag immer öfter ein Ei aus dem Ofen, mal das eine, mal das andere und hält es ans Ohr. Alle knistern. Er will den Moment nicht verpassen, wenn es mit dem Schlüpfen losgeht.

Mittlerweile hat sich herausgestellt, warum der Vater an einer besonders garstigen Magenreizung leidet. Er hatte seinen zweitgeborenen Sohn am Brutofen – einer technischen Errungenschaft, die er ohnehin nicht leiden kann – beobachtet und sich immer mehr in seinen Zorn hineingesteigert. Anstatt eine Karriere als Arzt zu machen und endlich Professor der Medizin zu werden, starrt der hübsche Kerl, das muss er zugeben, mit seinen zweiunddreißig Jahren auf Vogeleier! Beim besten Willen kann er nicht erkennen, wozu das gut sein soll, und betont bei jeder Gelegenheit, dass sein eigenes ornithologisches Interesse sich darauf beschränke, Vögel in der Bratpfanne schmoren zu sehen. Eiern beim Rascheln zuzuhören, hält er für eine brotlose Kunst.

Auf seine eigene temporäre Brotlosigkeit angesprochen, reagiert Adolf unwirsch und ebenfalls mit Magenreizungen. Die ungeheuren Summen, die er in Amerika verdient hatte, versenkte er in Kriegsanleihen, und mehrfach verlor er beim Spekulieren viel Geld. Die Hyperinflation in den Zwanzigern mitsamt den Börsenkrächen gaben seinem Vermögen den Rest. Dabei hatte er sogar Steuern gespart, denn sobald die angekündigten Motorräder von Harley Davidson zu kaufen waren, führte er gleich mehrfach Exemplare per Schiff nach Europa ein und benutzte deren Tanks, um sie mit Geldbündeln vollzustopfen. Da er immer die neuesten Modelle und bald auch andere Marken erwarb, zunächst nur für sich, später auch für die Söhne, konnte er auf diese Weise ansehnliche Mengen Dollar nach Österreich schmuggeln. Als er begann, auch hie und da ein Auto einzuführen, wenn ihm amerikanische Modelle besser gefielen als ein Mercedes Benz oder ein Fiat, taten sich in den Straßenkreuzern weitere Verstecke auf. Kleinere Summen versteuerte er ordentlich. Es soll auch nicht verschwiegen werden, dass er Bedürftige oft gratis behandelte.

Emma konnte es nicht lassen, in den Jahren der plötzlich über sie hereingebrochenen Armut gegen ihren Mann zu sticheln, auch weil sich ihre zwiespältigen Gefühle dem neureichen Gatten gegenüber nie ganz gelegt hatten. Gern bedauerte sie in Anwesenheit einer vornehmen Tischgesellschaft, dass man von einer Eingangshalle nicht abbeißen könne, und sei sie noch so hoch und farbig bemalt. Der alte Lorenz zuckte dann mit den Schultern, nannte sie »mein Mausezahnderl« und verwies auf die vielen neuen, reichen Patienten auf der ganzen Welt, bei denen etwas geradezubiegen sei. So geschah es, dass Adolf Lorenz mehrmals finanziell ganz unten und wieder ganz oben landete, das Geld in Altenberg hereinströmte und wieder hinaus. Die Praxis in der Wiener Rathausstraße und seine Ordinationen in verschiedenen Städten der USA wird er noch bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs weiterbetreiben. Dann wird er fünfundachtzig Jahre alt sein.

Der Orthopäde, auf dessen Grund und Boden nun die ersten zwanzig Gänseeier bebrütet werden, hat gehofft, die Schwiegertochter Gretl auf seiner Seite zu haben, und ist überrascht, wie leicht sie es hinnimmt, dass Konrad seine Stelle als Assistenzarzt am Anatomischen Institut der Universität Wien gekündigt hat und für seine Vögel und Hunde ins berufliche Nichts gesprungen ist.

Dabei hatte er sich wegen dieser Entscheidung über Monate geplagt. Nach einer schlaflosen Nacht hatte er seiner Frau gesagt, er wisse nun, dass es mit ihm sei wie mit einer Trottellumme. Gretl lachte, denn sie hörte den Trottel im Namen. Doch Konrad ging es um die Lumme. Wenn er, sagte Konrad zu Gretl, als Arzt in der Anatomie bleibe, sei das so, als ob eine walisische Lumme versuchen wollte, ein österreichischer Specht zu sein. Stell dir vor, sagte Konrad, ein Vogel, der in den steilen Felsklippen am Atlantik brütet und es liebt zu tauchen und zu fischen, bearbeitet unbeholfen einen Baum. Sagen wir, im Wiener Wald. Wahrscheinlich mit Kopfweh, weil artfremdes Verhalten! Das kann nicht gut gehen. Ich kündige.

Und so geschah es.

Was hätte Gretl sagen sollen? Sie lagen noch ein wenig nebeneinander in der gemeinsamen Stille, die Gesichter einander zugewandt. Unter ihren Daunendecken war den Eheleuten bewusst, welch große Veränderungen dieser Entschluss mit sich bringen würde.

Eigentlich kam Konrads Kündigung wenig überraschend. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er niemals Medizin studiert. Doch das hatte er gegen den starken Vater nicht durchsetzen können. Nach seinem Doktor in Medizin hatte Konrad unverzüglich, neben der Tätigkeit als Assistenzarzt, das ersehnte Zoologie-Studium angehängt und promovierte zügig mit einer Arbeit über den Vogelflug. Er gab ihr den Titel: Beobachtetes über das Fliegen der Vögel und über die Beziehungen der Flügel- und Steuerform zur Art des Fluges. Ein großartiges Thema! Bis heute steckt es voller Geheimnisse und fesselt nicht nur Ornithologen, die Windkanäle bauen, um es zu erforschen. Auch Physiker und Ingenieure übersetzen die Intelligenz der Evolution in mathematische Formeln, wenn sie Flugzeugflügel konstruieren.

Vögel sind nicht nur höchst effizient im Energieverbrauch, wenn sie Tausende von Kilometern zurücklegen, sie müssen vor allem geschickt navigieren. Wie schaffen es die Störche, wenn sie aus Afrika oder Spanien zurückkehren, wieder auf demselben Dach zu landen, zum Beispiel hier bei uns in Möggingen, wo sie geboren wurden?

 

Schwalben finden derart zuverlässig nach Hause, dass schon römische Soldaten geheime Nachrichten an ihren Füßen festbanden. Auch Konrad Lorenz wird als Soldat erleben, dass seine Kompanie in Russland den Heimatinstinkt dieser Vögel zur Nachrichtenüberbringung nützt. Ich selbst untersuche die Zugrouten von Graugänsen und bewundere Kraniche, die im Herbst nach Texas fliegen, um zu überwintern, und im Frühling nach Sibirien, um in der Taiga zu tanzen und sich nach der Paarung voreinander zu verbeugen. Ich mache immer wieder darauf aufmerksam, dass die Erdkugel erst durch wandernde Tiere lebendig wird. Auch der Homo sapiens war schon immer unterwegs. Rastlos, nomadisch, reise- oder angriffslustig, oft in großer Not zog der Mensch weiter und mischte sich mit Fremden. Es gab noch keinen Zustand, keinen Moment der Erdgeschichte, an dem alles richtig verteilt war und deshalb erhalten geblieben ist. Leben ist Veränderung. Leben heißt wandern. Auch Pflanzen verteilen sich unentwegt neu, indem Samen zum Beispiel im Darm reisender Tiere unterwegs sind und irgendwo ausgeschieden werden. Oder Körnchen, die sich in Gefiedern oder Pelzen verfangen hatten, fallen auf den Boden. Beim nächsten Regen schlagen die Samen an einem neuen Ort Wurzeln. Es ist kein Fünkchen übertrieben, wenn ich sage: Erst das Wandern verwandelt unseren Planeten in einen unermesslich pulsierenden Organismus. Von der Sonne beschienen und vom Mond umkreist.

 

In der Villa in Altenberg stellt am 22. April 1935 der Vater den Sohn beim Mittagessen zur Rede. Ob er es in Ordnung finde, dass seine Frau ihn und die zwei Kinder ernähren muss? Und den ganzen Zoo dazu? Nicht nur das Futter. Auch Bau- und Reinigungskosten für Aquarien, Käfige, Kisten. Dieser neue Brutofen, der den Strom in sich hineinfresse. Den Tierarzt nicht zu vergessen, weil immer mindestens eins der Tiere malad sei. Um einen Überblick zu bekommen, habe er gemeinsam mit den Enkeln und zwei Hausangestellten eine Zählung vorgenommen. Und wenn zählen nicht möglich gewesen sei, habe man geschätzt. Der Alte zieht einen Zettel aus der Jackentasche und trägt vor: 15 Seidenreiher, 32 Nachtreiher, 3 Rallenreiher, 6 Weiße Störche, 3 Schwarze Störche, sehr viele Stockenten, viele Hochbrutenten, Türkenenten, 2 Brautenten, 3 Truthennen, 4 Hausgänse, bislang 2 erwachsene Graugänse, deren Bestand gerade um 20 ergänzt wird, 2 Mäusebussarde, 1 Wespenbussard, 1 Kaiseradler, 7 Kormorane, 9 Turmfalken, ungefähr ein Dutzend Goldfasane, 1 Mantelmöwe, 2 Flussseeschwalben, 2 große Gelbhaubenkakadus, 1 Amazonaspapagei, 7 Mönchssittiche, 20 Kolkraben, 4 Nebelkrähen, 1 Rabenkrähe, 7 Elstern, weit über 100 Dohlen – das habe er seinem Aufsatz entnommen – 2 Eichelhäher, 2 Alpendohlen, 2 graue Kardinäle, 3 Gimpel. Von den Hunden, dem Makaken und der zahmen Ratte ganz zu schweigen. Ebenso von den Kosten für die Neubepflanzung der Beete im Park, die die Enten regelmäßig zerstören.

Konrad murmelt, dass er Anträge gestellt habe, als zoologische Forschungsstation anerkannt zu werden, und dass er sicher bald eine Stelle als Professor bekomme. Übergänge seien nun mal Übergänge, als solche vulnerabel, und der Altenberger Park sei wie geschaffen für all diese Tiere.

Doch dem Alten reicht’s, sein Magen brennt. Ausgerechnet an diesem Nachmittag beißt ihm der Kakadu während des Mittagsschlafs drei Knöpfe vom Hemd. Offenbar hat er so tief geschlafen, dass er nichts bemerkte. Während er flucht, merkt er, dass er den Kakadu auf der Liste vergessen hat, was seine üble Laune steigert. Wobei er, das muss Adolf zugeben, über den munteren Vogel auch manchmal lachen muss. Vor allem wenn er sich im Nacken seiner Emma festkrallt und ihr Haare ausreißt. Nicht etwa in Büscheln. Der Kakadu gibt sich Mühe, Haar um Haar einzeln auszuzupfen, er betrachtet jedes eingehend, lässt es nach einer Weile fallen und schaut versonnen hinterher, bis es irgendwo gelandet ist. Manchmal pickt er es wieder auf und hält es seinem Opfer hin.

Ansonsten verstreicht dieser 28. Bruttag still. Nur in den Eiern knistert es immer aufgeregter bei 37,5 Grad, die Konrad regelmäßig nachmisst, denn den Embryonen darf es weder zu heiß noch zu kalt sein.

Am 29. Tag steigt die Spannung. Der Schlupftermin steht unmittelbar bevor, die Gänsebrutzeit beträgt im Durchschnitt dreißig Tage. Meistens geht es am 29. los, selten wartet man am 30. noch vergebens. Wieder und wieder nimmt Konrad einzelne Eier heraus und lauscht. Es knackt, es knistert, es raschelt. Plötzlich hört er das erste Piep. Ein Gänslein flötet im Ei. Wenn er genauer hinhört, ist es ein hohes Wi.

Nach und nach kann er hören, wie auch die anderen Gössel in ihren Eiern ihr erstes Wi ertönen lassen. Dann hebt aus zehn faustgroßen Eiern ein kleiner Gänsechor zu singen an. Immer lauter. Fast ist es ein Kanon, denn wenn links ein Ei anfängt, antworten etwas verzögert die rechten. Und wenn rechts eins anfängt, antworten die linken. Konrad ruft nach seinen beiden Kindern. Kommt runter in den Keller, hört mal, was ich hier habe! Nicht anfassen, nur hören. Und schnell macht er die Glastür des Brutofens wieder zu.

Lorenz ist so gut wie sicher, dass die Gössel mit ihren Gänseeltern kommunizieren, um ihnen ihr Befinden mitzuteilen und sich anzukündigen. Außerdem sprechen sie miteinander. Von Ei zu Ei. Ich bereite mich gerade vor, sagt ein Küken zum anderen. Oder: Ich bleibe noch ein bisschen drin. Wie geht’s dir? Kommst du bald raus? So ungefähr übersetzt Konrad das Gepiepe.

Seine These, und dieser Ansicht sind wir im Institut noch heute, lautet, dass die Embryonen ihr Schlüpfen miteinander abstimmen. Es wäre fatal, wenn alle auf einmal ihr Ei verlassen würden. Besprechen die Kleinen jedoch ihre Reihenfolge, kann die Gänsemutter ein Kind nach dem anderen begrüßen, beschnäbeln, schützen und versorgen.

Bester Laune macht Konrad Notizen, hält sein Mikrofon an die Eier und spricht vor Begeisterung laut vor sich hin. Bis er merkt, dass er das Flöten auslösen kann. Er versucht es mit gang. Aus dem Ei kommt: wi! Lorenz sagt: gang-gang! Wi-wi! Gang-gang-gang! Wi-wi-wi! Es funktioniert! Je lauter er lockt, desto aufgeregter antworten die Stimmchen hinter den Schalen.

Um ja nichts zu verpassen, lässt er das Ei, das als Erstes gepiept hat, längere Zeit am Ohr. Es raschelt. Plötzlich hört er einen jämmerlichen Laut. Es pfeift. Pfühp. Pfühp. Pfühp. Lorenz braucht nicht viel Fantasie, um zu verstehen, dass das Küken in Bedrängnis ist. Rasch legt er das Ei in den Ofen zurück. Nach einer Weile nimmt er es wieder heraus: Stille. Hält er es länger ans Ohr, geht das Pfeifen wieder los. Das Küken klagt, weil das Ei abkühlt. Es ruft, um die Mutter, die vielleicht gerade aufgestanden ist, aufzuschrecken: Setz dich wieder hin, wärme mich, ich friere. Sonst sterbe ich.

Eine Stunde später hat das erste Ei ein Loch. Lorenz kann eine Schnabelspitze sehen. Sie bewegt sich, obenauf sitzt der Eizahn. Geschäftig drückt das Küken ihn von innen gegen die Schale. Picken kann es nicht. Um für einen Stoß auszuholen, bräuchte es Platz, den es im engen Ei nicht gibt. Millimeter für Millimeter dreht sich das ganze Tier langsam im Kreis und drückt und drückt. Dann kommt der große Moment: Die Beinchen stemmen sich gegen die Schale, und das Küken versucht mit seiner ersten Streckbewegung die Schalenkappe abzuheben. Pfühp. Pfühp. Die winzige Gans jammert. Mal weil sie festklebt, mal weil das Schieben so anstrengend ist.

Lorenz spricht leise zur kleinen Gans, gespannt, was weiter passiert. Langsam versucht sich der schlanke Hals aus seiner krummen, embryonalen Stellung zu strecken. Das ganze Tier ist noch in Eiform und liegt einfach da. Nass und verklebt. Doch unverkennbar mit Federfrisur. Dann plötzlich will es den Kopf heben und versucht, den Nacken durchzustrecken, so wie es Gänse ihr Leben lang tun, wenn sie grüßen. Lorenz streckt seinerseits den Kopf nach vorn, ganz nah heran, er kann den feinen Atem spüren. Er schnuppert. Er murmelt. Er ist verliebt und sieht, wie sich die noch zu schwache Halsmuskulatur ein weiteres Mal müht, das Grüßen auszuführen. Noch sind es zitternde Versuche, noch gelingt es nicht.

Lorenz rennt die Treppe hinauf in sein Arbeitszimmer und holt die Kamera. Wieder unten, etwas außer Atem, fotografiert er, bis der Film voll ist. Beleuchtet von einer schaukelnden Taschenlampe, die er mit einer Schnur notdürftig am Brutofen festgebunden hat.

»Du bist ziemlich hässlich«, sagt er zu seiner ersten Graugans. Die Daunen sind noch in Hüllen zusammengefaltet, nicht dicker als Haare und durch die eiweißreiche Flüssigkeit zu Strähnen zusammengeklebt. Nur so hat das Federkleid ins Ei gepasst.