Lovely Planet - Maria Kapeller - E-Book

Lovely Planet E-Book

Maria Kapeller

5,0

Beschreibung

"Das Herz im Gepäck zu haben bedeutet, der Welt und den Menschen in den besuchten Ländern mit Würde zu begegnen und sich dabei selbst wieder näherzukommen. Und zwar ohne das Gefühl zu haben, verzichten zu müssen." Wie Reisen heute aussieht: Konsum, Übertourismus, zugemüllte Strände, Vielfliegerei, Klischee-Erfüllung, Status. Beim Reisen werfen wir alle sozialen und ökologischen Überzeugungen über Bord. Als hätten unser Herz, unser Verstand, unsere Menschlichkeit und unser Umweltbewusstsein im Gepäck schlichtweg keinen Platz. Doch was erreichen wir mit unserer bisherigen Art zu reisen? Was zerstören wir damit? Erfüllt es uns tatsächlich? Und vor allem: Was wollen und können wir in Zukunft besser machen? Maria Kapeller untersucht unseren Reisetrieb anhand der grundsätzlichen Fragen, wie, warum und mit welchen Folgen wir reisen, und spricht dabei u.a. mit Psycholog:innen, Nachhaltigkeitsforscher:innen und Philosoph:innen über Ressourcenverschwendung und soziale Ungleichheit, über inneres Wachstum und Zufriedenheit. Sie ruft dazu auf, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Mit dem Ziel, in die eigene Verantwortung hineinzureisen und uns dadurch selbst eine neue, verträglichere und wohltuendere Reise-Realität zu schaffen, von der wir alle profitieren.

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UM/WELTNR.1

MARIA KAPELLER

LOVELYPLANET

MIT DEM HERZEN REISENUND DIE WELT BEWAHREN

INHALT

ZUM ANFANG

1 WARUM REISEN WIR SO MASSLOS?

2 WELCHE FOLGEN HAT UNSERE REISELUST?

3 WARUM DÜRFEN WIR UNS IN DANKBARKEIT VERNEIGEN?

4 WIE ERSCHAFFEN WIR EINEN NEUEN REISE REALISMUS?

5 WELCHE WEGE GIBT ES, UM UMWELTVERTRÄGLICHER ZU REISEN?

6 WIE WACHSEN WIR BEIM REISEN INNERLICH?

7 WAS, WENN WIR DAS REISEN NEU DEFINIEREN?

ANHANG

Mein großer Dank geht an all jene Menschen,die daran mitgewirkt haben,dieses Buch zum Leben zu erwecken.

ZUM ANFANG

Wenn die verheißungsvolle Ferne ruft, können wir kaum widerstehen. Reisen, das ist das Rauschen des Meeres, die Wärme der Sonne, der Geschmack von Orangen. Beim Unterwegssein entfernen wir uns von unserem angestammten Ort und kommen zugleich ein Stück weit in uns selbst an. Zumeist werfen wir dabei jedoch routiniert alle ökologischen und sozialen Überzeugungen über Bord. Es scheint fast, als hätten unser Herz, unser Verstand, unsere Menschlichkeit und unser Umweltbewusstsein im Gepäck keinen Platz. Reisen, das ist folglich auch: Konsum, zugemüllte Strände, Vielfliegerei, Klischee-Erfüllung, das Heischen um Status. Die Erde als Lonely Planet1, den wir einst auf der Suche nach Individualität und Erlebnissen abseits der Massen bereisten, ist längst nicht mehr „einsam“. Sie ist überlastet, überfordert, überanstrengt. Was sie immer bleiben wird: unvergleichlich, großartig, entzückend, voller Wunder – ein wahrer Lovely Planet. Wenn wir diesen einzigartigen Lebensraum für uns und unsere Nachwelt bewahren wollen, ist es Zeit, genauer hinzuschauen und zu fragen: Reisen in Zukunft – wie wird das sein? Gewiss ist: Das Corona-Virus hat der vom Bereist-Werden erschöpften Welt eine Atempause gegönnt. Jetzt dürfen wir das dadurch freigesetzte Potenzial nutzen und in uns hineinhören: Was haben wir mit unserer bisherigen Art zu reisen erreicht? Was haben wir angerichtet? Hat es uns tatsächlich erfüllt? Und, vor allem: Was wollen und können wir künftig besser machen?

Das Reflektieren setzt meistens dann ein, wenn man merkt, dass man nicht stimmig handelt. Meine persönliche Reisegeschichte begann mit einem einmonatigen Aufenthalt in den USA und einem mehrmonatigen Trip nach Großbritannien, bei denen ich vor Ort arbeitete und ein Stück weit ins Alltagsleben eintauchte. Es folgten unzählige Reisen in Europa (ich erinnere mich an einen Billigflug um zehn Eurocent von Stockholm nach Riga), mehrere Fernreisen (nach Barbados gelangte ich per Flug-Lotterie) und eine halbe Weltreise, die mich bis nach Neuseeland führte. Schon während des Studiums begann ich, gelegentlich als Reisejournalistin zu arbeiten und gründete später ein kleines, alternatives Online-Reisemagazin. Ich gehörte zu jenen, die regelrecht süchtig nach der Ferne waren. Gleichzeitig vernahm ich tief in mir eine Erdung, etwas, das mich vor Ort stets dazu brachte, in Züge und Busse zu steigen, Rad zu fahren, viel zu Fuß zu gehen, den Kontakt zu Einheimischen zu suchen und zu probieren, einen winzigen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Bei meinem fünfmonatigen Aufenthalt im konfessionell tief gespaltenen Nordirland hatte sich mir eingeprägt, dass es niemals Schwarz oder Weiß gibt, sondern stets unzählige Nuancen von Grau. Als aufmerksame Beobachterin tauchte ich beim Unterwegssein weiterhin in das „Buch der Welt“ ein. Darin eröffnete sich mir nach und nach vieles, was mir zu denken gab. Von der „Langhals-Frau“ in Birma (Myanmar), die – als Fotomotiv drapiert – mit Stolz und zugleich Verachtung in ihren Augen in die Kameras der Touristinnen und Touristen schaute (auch in meine). Über die jungen Einheimischen in Vietnam, mit denen ich auf kleinen Stühlen in Freiluftbars Bier trank und englische Konversation übte. Sie erzählten mir mit traurigem Blick, dass sie auch gerne verreisen würden, aber die Verpflichtungen ihren Eltern gegenüber Vorrang hätten. Bis hin zu hitzebedingt knapp gefüllten Trinkwasserreservoirs in Andalusien, von denen ich in der lokalen Zeitung las, während meine Schwester und ich in unserem Ferienhaus am Pool lagen und durch bewässerungsintensive Avocado-Plantagen wanderten. Nach einigen Jahren des Vielreisens wurde mein eigenes Reiseverhalten mit der Zeit bewusster, langsamer und ökologisch verträglicher. Die zahlreichen Fragen blieben. So habe ich mich für die Entstehung dieses Buches auf den Weg gemacht, ja auf eine geistige Reise begeben, um mögliche Antworten zu finden. Gesucht habe ich sie bewusst nicht vorrangig in der Touristikbranche und Tourismusforschung, sondern da, wo man sie vielleicht weniger erwartet: in Disziplinen wie der Philosophie, der Psychologie oder der Zukunftsforschung. Die unterschiedlichen Erkenntnisse und Eindrücke meiner Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bilden das Herzstück dieses Buches.

Jedes Kapitel startet mit einer kurzen Erzählung oder Reisegeschichte, es folgen kritische Betrachtungen, mögliche Erklärungen und Lösungsansätze. Jene mitunter paradoxen Verhaltensweisen, die uns selbst, anderen Menschen und der Umwelt schaden, werden dabei nicht selten überspitzt und stets aus eurozentrischer Sichtweise (denn als Mitteleuropäerin ist mir nichts anderes möglich) dargestellt. Kritik an unseren touristischen Strukturen und Verhaltensweisen ist übrigens keine neue Erscheinung, auch wenn sie erst in Zeiten des Übertourismus wieder publikumstauglich wurde: Viele Reiseziele werden heute von Menschen aus aller Welt regelrecht gestürmt, was Probleme wie Umweltzerstörung, Lärmbelästigung oder überteuerte Preise mit sich bringt. Laut dem Sozialwissenschaftler Christoph Hennig setzte die Verachtung von „Massentouristen“ bereits vor mehr als 200 Jahren ein, als das Reisen plötzlich nicht mehr nur den oberen Schichten vorbehalten war. Der Ferienmensch, schreibt er, sei der Watschenmann der „besseren Reisenden“.2 Kritik, wie sie in diesem Buch gehandhabt wird, ist jedoch nicht als Herabwürdigung zu verstehen, sondern als prüfende Betrachtung und Beurteilung. Sie soll uns nicht zu besseren oder schlechteren Reisenden machen, uns nicht gegeneinander aufhetzen oder gar lähmen, aber sie könnte uns voranbringen.

Gewiss: Reisen ist eine höchst emotionale Angelegenheit. Niemand will sich etwas vorschreiben lassen und nicht alle haben die gleichen Möglichkeiten. Ein Vorschlag für den Anfang: Erkennen wir, wie privilegiert wir sind und welche Werte wir in uns tragen. Machen wir uns auf die Suche, das zu finden, wonach wir uns beim Reisen insgeheim sehnen. Wer ist mit „wir“ gemeint? Grob gesagt: Die vielreisende Weltgesellschaft. „Wir“ steht für jenen Teil der Bevölkerung, der sich das Reisen überhaupt leisten kann. Das in diesem Buch verwendete „Wir“ unterscheidet dabei nicht, wie es die traditionelle Tourismuskritik gerne tut, zwischen Touristinnen und Touristen einerseits sowie Reisenden andererseits3. „Wir“ meint uns Menschen, die wir uns zum Vergnügen fortbewegen. Egal, ob Cluburlaub, Studienreise oder Rucksack-Trip: Wir alle nutzen dieselben Infrastrukturen und wollen uns erholen, Spaß haben, Neues entdecken, eine innere Leere füllen oder Freiheit spüren. „Wir“, das vereint alle, die gerne und häufig in die Ferne schweifen, und zu anderen Zeitpunkten womöglich selbst zu Bereisten werden. Zusammengefasst: „Wir“ ist die Summe aller reisenden Menschen, mit all dem, was sie tun und unterlassen, wie sie sich verhalten und geben, wie sie selbst handeln und zugleich über ihresgleichen den Kopf schütteln. „Wir“, das schließt mich als reisende Autorin mit ein, die weder alles richtig macht noch weiß, wie das denn ginge. Letztendlich meint dieses „Wir“, dass wir alle miteinander verbunden sind – und mit der Welt, die wir „bereisen“. Die Gehirnforschung zeigt, dass unsere Gehirne nur überleben und sich entwickeln können, wenn sie mit den Gehirnen unserer Mitmenschen vernetzt sind. Dafür brauchen wir Beziehungserfahrungen. Kein Mensch kann allein überleben.4 Wir sind voneinander abhängig und wachsen aneinander. Wir haben dieselben Bedürfnisse, Ängste und Hoffnungen.5

Zu diesen Bedürfnissen zählt auch das Unterwegssein, das Sich-Ausdehnen, das Dem-eigenen-Leben-Entkommen. Das Dilemma dabei: Reisen ist meistens auch mit großem Ressourcenverbrauch und sozialen Ungerechtigkeiten verbunden. Ist uns das bewusst? Verdrängen wir es? Oder haben wir bisher schlichtweg noch keinen Weg gefunden, zufriedenstellend damit umzugehen? Dieses Buch ist eine Einladung zu erkennen: Wir zerreißen die Welt, indem wir sie „zer-reisen“. Wir können entweder weitermachen wie bisher, sobald (oder solange) die Grenzen offen sind und die Flieger im Minutentakt abheben. Oder wir blicken ehrlich auf dieses große Sehnsuchtsthema und übernehmen Verantwortung. Das gelingt, indem wir Fragen stellen und nach Antworten suchen. Wir müssen das Reisen nicht abschaffen, aber uns bewusst machen, wie es anders gehen könnte – und uns Schritt für Schritt auf diesem neuen Weg bewegen. „Wenn wir das Reisen gänzlich aus dem Leben herausnehmen, dann bleibt uns nicht dasselbe Leben zurück“, formuliert es der Philosoph Peter Vollbrecht. Immer nur zu Hause zu bleiben ist demnach keine Lösung. Aber: Wir können zum Reisen einen anderen Zugang entwickeln, weg von „Traumdestinationen“, Statuswünschen, Klischees und Exotismen. Und hin zum Reisen als Gespräch auf Augenhöhe, Reisen als interessiertes Eintauchen in andere Lebensrealitäten, Reisen in die Stille der Meditation oder Reisen als Begegnung mit uns selbst. Natürlich auch als Unterwegssein, aber nicht nur. Reisen muss nicht sozial und ökologisch schädlich sein. Es kann achtsam, reduziert, langsam, bewusst, genussvoll, dankbar, begegnend, sinnstiftend, ethisch, respektvoll, regenerativ und sehr intensiv sein. Dem Reisen eine neue Qualität zu verleihen, die weniger vom Konsum- und Wachstumsgedanken getrieben ist und mehr von Zufriedenheit, Genügsamkeit und Entschleunigung geleitet, ist kein Verzicht, sondern ein Gewinn für uns alle und die Welt, in der wir leben (und die wir künftig noch bereisen möchten). Alles, was es dafür braucht, tragen wir bereits in unseren Herzen – wir müssen es nur erkennen.

Als Ausgangspunkt für diesen neuen Reiseweg bietet sich das Wort „Reisen“ selbst an. Es stammt vom althochdeutschen Wort „risan“. Und es hat dieselbe Bedeutung wie das englische Verb „to rise“: „sich von unten nach oben bewegen“, „aufsteigen“, „sich erheben“. Eine Reise zu machen heißt, aufzubrechen.6 Reisen bedeutet: die eigene Position verändern, neue Wege erkunden, offen sein für andere Einflüsse, den eigenen Horizont erweitern. Wenn wir uns in diesem Sinne als Reisende betrachten, lade ich uns alle gemeinsam dazu ein, die Werkzeuge der Reisenden – Neugierde, Offenheit, Einfühlsamkeit und Lernfähigkeit – zu nutzen. Brechen wir gemeinsam zu einer geistigen Reise auf, setzen wir unsere Köpfe in Bewegung, um unsere eigenen Gewohnheiten zu hinterfragen, neue Denkräume zu öffnen und uns auf diese Weise zu Neuem aufzumachen.

1

WARUM REISEN WIR SO MASSLOS?

„Die Kunst der Weisheit besteht darin, zu wissen,

was man übersehen muss.“

William James

Das denkmalgeschützte Haus mit der zartrosa Fassade muss unbedingt mit aufs Foto! Der farbenfroh leuchtende Blumenstock vor dem Fensterbankerl! Der urige Holzbalkon! Die anmutig über den See gleitenden Schwäne! Und jetzt schnell noch rauf aufs Boot und ein Selfie machen, mit dem kitschig-schönen Ortsbild im Hintergrund! Jubel, Trubel und Begeisterung. Ich war da! Ich war in Hallstatt! Schaut doch her, ich habe Urlaub in einer zur Realität gewordenen Traumkulisse gemacht!

Die 800-Seelen-Gemeinde Hallstatt ist in Österreich zum Synonym für Übertourismus geworden. Vor der Corona-Pandemie erkundeten täglich bis zu 10.000 Besucherinnen und Besucher aus Fernost den in einen Berghang gebauten Ort am Hallstätter See, der zur UNESCO-Welterberegion Dachstein-Salzkammergut gehört. Schwer bepackt mit Kameras und Selfie-Sticks waren sie quasi schon Teil des Ortsbilds. Sie knipsten, was das Zeug hielt. Die Frauen lächelten lieblich in die Kameras. Die Freunde und Ehemänner hatten den Fotoapparat stets griffbereit, wenn die Liebste sich in eine neue Pose warf.

Ganze Fernsehsendungen und unzählige Zeitungsartikel widmeten sich der Frage, wie die touristischen Auswüchse in den Griff zu bekommen seien, ohne auf zu viele Einnahmen zu verzichten. Von Österreicherinnen und Österreichern wurde der Wahn um Hallstatt meist belächelt. Viele mieden einen Ausflug dorthin – zu überlaufen, zu überteuert. Man mochte sich denken: Warum bloß klappern asiatische Touristinnen und Touristen das ab, was ohnehin tausendfach in Reiseführern gezeigt wird? Muss immer alles fotografisch festgehalten werden? Ist Sightseeing in Ländern wie China wirklich ein derart wichtiges Statussymbol? Und wo, bitte schön, bleibt die Individualität?

Dann kam Corona. Die Grenzen waren plötzlich dicht, die internationalen Flüge wurden gestrichen. Hallstatt wurde wieder zu dem menschenleeren, idyllischen Ort, der vorher nur noch in alten Bildbänden zu finden gewesen war. Und dann? Dann kamen die Österreicherinnen und Österreicher selbst angereist. In Scharen. Sie erkundeten, sie posierten, sie knipsten und posteten; jahrhundertealte Hausfassaden, Blumenstöcke, Fensterbankerl, Holzbalkone, den See, die Schwäne. Sie mieteten sich Boote und schipperten raus, ein Selfie schießen, das ästhetische Ortsbild im Rücken. Jubel, Trubel und Begeisterung. Die Österreicherinnen und Österreicher spielten jetzt Touristinnen und Touristen im eigenen Land. Endlich hatten sie „ihr“ Hallstatt zurück.

An vielen Orten der Welt ging es vor Ausbruch der Corona-Pandemie ähnlich zu wie in Hallstatt: Menschenmassen und Selfiesticks schwingende Touristinnen und Touristen fand man in der Inka-Ruinenstadt Machu Picchu in Peru genauso wie am Times Square in New York oder rund um die Tempelanlagen von Angkor in Kambodscha. Und auch wenn die Corona-Krise das internationale Reisegeschehen vorübergehend auf ein Minimum reduziert hat: Das Werben um Besucherinnen und Besucher wird rasch wieder angekurbelt, Flugverbindungen werden aufgenommen und Grenzen geöffnet. Das Reiseleben mag vielleicht noch für längere Zeit auf den Kopf gestellt sein. Trotzdem steht fest: Millionen Menschen wollen und werden wieder reisen. Was wir dabei liebend gern vergessen: Nicht selten sind auch wir ein Teil dieser fast hysterisch wirkenden Touristenmassen, von denen wir uns so gerne abgrenzen. Das Beispiel Hallstatt aus dem eigenen Land zeigt: Wenn andere bei uns „einfallen“ und unsere Sehenswürdigkeiten stürmen, finden wir das im harmlosesten Fall lustig oder leicht befremdlich. Im schlimmsten Fall nehmen wir es sogar als derart nervig und schädigend wahr, dass wir gegensteuern – Stichwort: Übertourismus. Andersherum, wenn wir selbst die Reisenden sind, fällt uns vielleicht gar nicht auf, wie ähnlich wir uns verhalten. Wann immer uns die Reiselust ergreift, packen wir unsere Koffer, steigen ins Auto oder in ein Flugzeug – und tun es denen gleich, die wir zuvor schief angeschaut oder gar kritisiert haben. Wir erfüllen uns unsere Urlaubsträume, wir reisen eine, zwei oder drei Wochen durch ein fremdes Land, wir grasen ab, was uns die Tourismusindustrie vorgibt und wir knipsen, was das Zeug hält. Zurück in der Heimat schwärmen wir von den „netten Menschen“, der „authentischen Küche“ und zeigen stolz und braun gebrannt her, was wir alles gesehen haben. Frei nach dem Motto „Ich reise, also bin ich“ jetten wir um die Welt und beamen uns von Wien nach Paris, von New York nach Tokio, als gäbe es kein Morgen. Erst wenn die Reisewelt virusbedingt nahezu auf unser kleines Land schrumpft, bemerken wir, dass auch die eigene Heimat das Potenzial für herzeigbare Bilder hat – und knipsen eben hierzulande drauflos.

VOM „GEREIST-WERDEN“

Weil das Reisen heute so einfach geworden ist, schlichten wir die Destinationen wie Waren in den Urlaubs-Einkaufswagen, ohne die Produktbeschreibung zu lesen. Wenn es sein muss, machen wir uns mit Schutzmaske, Desinfektionsspray und Sicherheitsabstand auf, um in die verheißungsvolle Ferne zu schweifen. Oft wissen wir gar nicht, worauf wir uns da einlassen. Sich genauer zu informieren ist nicht nötig. Aber auch das stört nicht. Die Klischees, für deren Erfüllung wir bezahlen, kennen wir ohnehin schon aus der Werbung oder von Instagram. Wir surfen auf einer Welle von Oberflächlichkeiten; was darunter liegt, ist uns egal. Wir lassen uns den Urlaub auf einem Silbertablett servieren, alles ist vorgebucht, vorgeplant, vorbestellt. Dieses „Gereist-Werden“ beanstandete ein österreichischer Schriftsteller schon im Jahr 1926. Als der leidenschaftliche Zugfahrer Stefan Zweig in Paris auf Reisebusse („große Gesellschaftsautomobile“) stieß, war ihm klar: Das Reisen würde sich verändern. Er beobachtete, was vor sich ging und beschrieb detailliert, wie das Reisen in der Masse damals ablief (und bis heute abläuft): Man braucht sich um nichts zu kümmern, sich nicht vorzubereiten, alles ist bis ins kleinste Detail vorberechnet, in der fremden Stadt steht das Mittagessen schon auf dem Tisch und die Museumstür ist bei Ankunft geöffnet. Jeder erlebe bei so einer organisierten Gruppenreise das Gleiche, in die Tiefe würden solche Reisen aber nicht gehen.7 Zweig formulierte das mit folgenden Worten: „Jene aber, die so gereist werden, fahren nur an vielem Neuen vorbei und nicht ins Neue hinein, alles Sonderbare und Persönliche eines Landes muß ihnen notwendig entgehen, solange sie geführt werden und nicht der wahre Gott der Wanderer, der Zufall, ihre Schritte lenkt.“ Schon damals bemerkte er, dass bei solchen Reisen eher Rekorde aufgestellt würden, als dass eine innere Bereicherung stattfände. Was Menschen von solchen Reisen heimbrächten, sei „nichts als der sachliche Stolz, diese Kirche, jenes Bild tatsächlich vor Augen gehabt zu haben“.8

SEHT NUR HER, WO ICH VERWEILE!

Auch einst als alternativ angesehene Reiseformen wie der Backpacking-Trip nach Thailand oder der Nationalpark-Besuch in Kenia sind zu Konsumgütern verkommen. Denn im Endeffekt geben wir Geld aus und bekommen dafür eine Leistung. Egal, ob eine Woche Pauschalurlaub auf Mallorca oder eine Safari in Südafrika. Egal, ob wir nun fotowütige Asiatinnen und Asiaten sind oder um Anerkennung heischende Europäerinnen und Europäer: Wir wählen die Reisen wie Waren aus einem Regal, gehen damit zur Kassa und bezahlen. So einfach ist das. Wir kaufen uns Ansehen, Status und Prestige. Und auch wenn Reisen auf viele Arten bilden, Selbstfindung ermöglichen und den eigenen Horizont erweitern kann, ist der Ausbruch aus dem Alltag heute doch derart einfach geworden, dass keinerlei Hingabe, Neugierde oder Anstrengung mehr dafür nötig sind. Wer verreist, kann sagen: Ich war da. Und das schindet Eindruck (bei sich selbst und bei anderen). Natürlich würde wohl kaum jemand zugeben, dass er oder sie ausschließlich oder mitunter deshalb reist, um vor sich selbst und anderen gut dazustehen. Lieber behaupten wir, uns für andere Kulturen zu interessieren oder Zeit in der Natur verbringen zu wollen. Insgeheim geht es aber offensichtlich nicht wenigen Reisenden auch darum, möglichst viele Länder und Orte abzuhaken, um damit möglichst viel Eindruck zu schinden. Das lässt sich besonders gut an den Personenbeschreibungen von Accounts in den „sozialen“ Netzwerken erkennen. Die Gänsefüßchen deshalb, weil Instagram, Facebook und Co., was das Reisen betrifft, zu Augen und Verstand gleichermaßen blendenden Prahlinstrumenten geworden sind: Likes werden oft nur mit dem Hintergedanken vergeben, im Gegenzug selbst ein „Daumen hoch“-Symbol für das eigene Urlaubsfoto zu erhalten. Unter Reisefreudigen haben „soziale“ Medien einen enorm hohen Stellenwert, frei nach dem Motto „Sehen und gesehen werden“ gibt es eine Flut von unzähligen, stets neuen Bildern und Videos. In Profilen von Vielreisenden ist häufig gleich auf den ersten Blick zu lesen, mit welchem Reisekaliber man es zu tun hat: „world traveller“, „visited 101 countries“ oder „going to travel every country in the world“ steht da zum Beispiel. Man bekommt den Eindruck: Die Anzahl der besuchten Länder ist wichtiger als das, was vor Ort erlebt wird. Anders gesagt: Wer viel reist, hält viel von sich (oder wünscht sich zumindest, dass andere viel von ihm oder ihr halten).

Instagram eignet sich wie kein anderes Medium dafür, Sehnsüchte zu schüren und einzigartige Reiseerlebnisse vorzutäuschen. Es wird geshootet und gepostet, was das Zeug hält. Um möglichst idyllische Fotos ohne andere Touristinnen und Touristen im Bild herzustellen, nehmen Instagrammerinnen, Instagrammer & Co. viel auf sich. Sie takten ihre Fotosessions akribisch durch oder schleppen in Modelmanier Kleidung zum Wechseln mit. Sie werfen sich in Yogaposen, blicken anmutig in die Ferne oder räkeln sich wie bei einem professionellen Fotoshooting. Ein typisches, aber weniger bekanntes Beispiel für diesen Hype ist Chefchaouen, die „blaue Stadt“ im marokkanischen Rif-Gebirge. Die Häuser sind blau angestrichen, um vor dem „bösen Blick“ zu schützen. Unter dem Hashtag #chefchaouen sind mehr als 800.000 Beiträge auf Instagram zu finden. Das ist zwar weniger als bei weltbekannten Hotspots wie Santorin mit sieben Millionen Beiträgen. Trotzdem zeigt es: Selbst in den Bergen Marokkos ist der „Online-Kampf ums beste Bild“ angekommen. Ein betagter Einheimischer, der Touristinnen und Touristen herumführt, erklärt mir vor Ort auf Englisch: „Für die chinesischen Instagrammer muss ich früh aufstehen. Sie wollen schon um sieben Uhr morgens hier an dieser blauen Treppe stehen, damit auf ihren Fotos keine anderen Menschen zu sehen sind.“ Weitere Auswüchse, die dem regelrechten Kult um Instagram zuzurechnen sind: Findige Touristikerinnen und Touristiker prüfen Orte heute auf ihre „Instagrammability“ und preisen sie dann als besonders fotogen an. Der Anbieter eines kleinen, weiß getünchten Ferienhauses mit blauen Türen und Fensterläden auf der griechischen Kykladeninsel Folegandros bewirbt seine Unterkunft auf einer Online-Buchungsplattform etwa mit den Worten „most instagrammable seaview hideaway“. Wirtschaftlich gesehen sicher ein schlauer Schachzug: Mittlerweile gibt es tatsächlich gar nicht wenige Menschen, die ihre Urlaubswahl von der „Instagramfähigkeit“ der Destination abhängig machen. Eine im Jahr 2017 veröffentlichte Studie aus Großbritannien zeigt: Gerade für jüngere Menschen ist das sogar das Hauptkriterium. Eine Umfrage des Ferienhaus-Versicherers Schofields Insurance unter Reisenden im Alter von 18 bis 33 Jahren ergab, dass 40,1 Prozent die „Instagrammability“ als größten Motivator bei der Urlaubsplanung sehen.9

BEEN THERE, DONE THAT

Ein weiteres Phänomen: Die bucket list. Dabei handelt es sich um eine geschriebene oder imaginäre Liste jener Reiseziele und Erlebnisse, die man unbedingt einmal im Leben sehen oder machen will. Auf der Online-Plattform www.bucketlist.org kann jede ihre eigene Wunschliste hochladen und mit der Welt teilen. Oder man lässt sich von knapp acht Millionen Vorschlägen inspirieren. Darunter finden sich viele Klassiker des Massentourismus: Einmal in einer Gondel durch Venedig fahren, das Nordlicht sehen oder am Times Square in New York stehen. Das Motto der Plattform lautet: „Your dreams, made possible“. Bei jedem Erlebnis sieht man die Anzahl an Personen, die das „To-do“ tatsächlich schon „erledigt“ haben.10 Auch in den „sozialen“ Medien gehört der Begriff bucket list zum bevorzugten Sprachgebrauch von Reisebegeisterten: Jemand erfüllt sich einen Wunsch und lässt die Online-Community dann gleich wissen, dass er ein weiteres Häkchen auf seine Liste setzen konnte: „Taj Mahal – gesehen und abgehakt.“ Touristinnen und Touristen, vor allem jene, die sich als wahre Reisende betrachten, streichen gerne ihre Individualität hervor. Letztendlich scheint es aber oft nur darum zu gehen, zu tun, was alle tun und in möglichst kurzer Zeit möglichst viel aufzunehmen. Auf die Spitze treibt das Länder-Sammeln der weltweite „Travelers’ Century Club“ (www.travelerscenturyclub.org). Jeder, der mehr als 100 Länder der Welt bereist hat, ist willkommen. Auf der Website findet man eine laufend erweiterte Liste mit aktuell 330 Ländern und Territorien, die man besuchen sollte. Neben den offiziellen 193 von den Vereinten Nationen anerkannten Staaten sind weitere Regionen dabei.11 Im Jahr 2019 neu hinzugekommen sind zum Beispiel Südossetien, das völkerrechtlich zu Georgien gehört, oder die Austral-Inseln, eine südpazifische Inselgruppe in Französisch-Polynesien.12 Knapp 30 der rund 1500 Mitglieder haben alle Ziele der zum jeweiligen Zeitpunkt existierenden Länderliste besucht. Die damals aktuelle Zahl von 329 Reisezielen hat nach schriftlicher Auskunft des Europa-Verantwortlichen vom Frühjahr 2020 noch niemand geschafft. Wie lange man vor Ort war, ist Nebensache. Schon eine Zwischenlandung reicht. Hauptsache, man hat einmal den Fuß auf den Boden des Landes gesetzt. Noch mehr Abenteuerlust verlangt die Website „Most traveled people“ (mtp. travel) ihren Besucherinnen und Besuchern ab. Der Club ist für Reisende, die „überall“ hinwollen. Um die Tausend Reiseziele – von Ländern über Inseln bis hin zu Top-Restaurants und Stränden – stehen bisher auf der To-do-Liste. Wer mehr als 500 Orte beziehungsweise Sehenswürdigkeiten abgegrast hat, kommt in die virtuelle „Hall of Fame“.13

PRAHLEND UM DIE WELT

Es scheint, als wäre es heute die normalste Sache der Welt, mit seinen Reisen zu beeindrucken. Natürlich nicht vordergründig, aber ein gewisses Prahlen auf der einen und Staunen auf der anderen Seite schwingt häufig mit. Wer nirgendwo hinfliegt, vermittelt den Eindruck, er oder sie könne sich keinen Urlaub leisten. Mit simplen Reisen im eigenen Heimatland oder an die kroatische Adriaküste kann man längst nicht mehr angeben. Auch einst als exotisch geltende Reiseziele wie Thailand oder Sri Lanka sind Teil des weltweiten Reise-Büfetts geworden. Nur bei weit entfernten Sehnsuchtsorten wie der Karibik, der Südsee oder der Antarktis macht das Gegenüber vielleicht noch große Augen. In Pandemiezeiten wird zwar wieder mehr auf Heimaturlaub und Ferien in den Nachbarländern gesetzt. Aber vermutlich nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Die gute alte Sommerfrische an österreichischen Seen ist mehr eine Notlösung als ein Zeichen für echtes Umdenken. Sobald internationale Reisen wieder möglich sind, werden sie auch gemacht. Ein Anzeichen dafür ist die Reaktion von Medien, Vielreisenden und Reisebloggern auf die virusbedingte Isolation. Man tauscht sich in den „sozialen“ Medien aus: Wohin würdet ihr euch beamen, wenn ihr einen Reisewunsch frei hättet? Man schickt einander Bilder von tropischen Stränden, um die Sehnsucht ein kleines bisschen zu stillen. Man streamt „virtuelle Reisen ans Meer“, um sich zumindest vom Sofa aus auf die Strandliege zu träumen. Und man erstellt Listen und Aufzählungen, welche Länder man schon bereist hat oder wo die „schönsten Orte“ der Welt liegen. Auch die klassische Weltreise ist heute schon fast zum Must-Have geworden. Spätestens nach dem Abitur, der Matura oder dem Studienabschluss brechen junge Menschen auf, um die Welt da draußen zu erkunden. Die Routen sind immer dieselben, zum Beispiel Europa–Singapur–Auckland–Rarotonga–Los Angeles–Europa. So ein Rundum-Ticket ist ab 1500 Euro zu haben. Länger in Asien zu bleiben ist besonders beliebt, weil es sich dort am günstigsten leben lässt und die Region vergleichsweise sicher ist. Wird uns beim Reisen nicht ohnehin schon alles abgenommen, so muss man heute nicht einmal mehr für die Durchführung einer Weltreise den kleinen Finger rühren. Manche Reisebüros haben sich auf Weltreisende spezialisiert und bieten den Trip des Lebens sozusagen im All-Inclusive-Paket an. „Eine Weltreise bedeutet die ultimative Freiheit. Ein Jahr lang reisen, für nur 15.000 Euro“, heißt es zum Beispiel auf der Plattform www.weltreise.jetzt der Reiseagentur „Reiss aus“.14 Dass der Aufbruch in die große, weite Welt in jungen Jahren als mutiges Verlassen der eigenen Komfortzone wahrgenommen wird, das zu Weitblick und innerem Wachstum führen mag, ist nur eine Seite der Medaille. Denn mit der Kreditkarte in der Geldtasche und der damit gegebenen Möglichkeit, sich jederzeit in die Sicherheit eines Hotelzimmers, einer Botschaft oder des nächsten Fliegers nach Hause begeben zu können, wird die Komfortzone doch nur so weit verlassen, wie es für ein bequemes und sicheres Reisevergnügen notwendig erscheint.

VERFÜHRERISCHE WERBUNG

Neben Hochglanzmagazinen, Reiseblogs sowie Influencerinnen und Influencern trägt nach wie vor auch die Tourismuswerbung dazu bei, wie wir das Unterwegssein heute wahrnehmen und was wir uns davon erträumen. Wer wünscht sich nicht an diesen verheißungsvollen Palmenstrand auf dem Plakat in der Auslage eines Reisebüros, während er oder sie bei Regenwetter frustriert von der Arbeit heimmarschiert? Solche Sehnsuchtsorte werden geschickt und lauthals angepriesen, gleichzeitig kauft man das Versprechen: Dort, an diesem wunderschönen, fernen Ort ist alles besser. Dir ist nicht mehr kalt, sondern warm. Du brauchst keinen Regenschirm, sondern genießt die Sonne auf deiner Haut. In deinem Kopf sind keine To-do-Listen mehr abgespeichert, sondern maximal die Cocktailkarte der Strandbar. Die Werbung sagt uns, wo wir hinfahren sollen. Sie sagt uns, was wir dort tun, essen und erleben sollen. Ja, sie vermittelt uns sogar, wie wir uns zu fühlen haben, wenn wir im exklusiven Boutique-Hotel auf Ibiza oder am filmbekannten Strand in Thailand unsere Ferien verbringen. Die Werbung macht aus uns fremdbestimmte, ferngesteuerte Konsumentinnen und Konsumenten, die viel Geld auf den Tisch legen, um die vermeintlich kostbarste Zeit im Jahr als Statistinnen und Statisten in jenem Werbekatalog zu verbringen, den wir ein paar Wochen zuvor noch selbst durchgeblättert haben. In einer Zeit, in der so viel Wert auf Persönlichkeit und Individualität gelegt wird, besuchen wir die immer gleichen Orte, um die immer gleichen Dinge zu tun und alles auf den immer gleichen Erinnerungsfotos zu verewigen. Der italienische Fotograf Oliviero Toscani, bekannt für seine aufsehenerregenden Arbeiten für die Modemarke Benetton, setzte sich schon Mitte der Neunziger Jahre in seinem Buch mit dem plakativen Titel „Die Werbung ist ein lächelndes Aas“ mit den Schattenseiten der Werbung auseinander. Seine Kritik lautete unter anderem, dass sie Unsummen an Geld verschwende, sozial nutzlos sei, lüge, heimlich verführe und eine „Verherrlichung der Dummheit“ sei. Außerdem bezeichnete er Werbung als ein Verbrechen gegen die Intelligenz, den inneren Frieden und als „hemmungsloses Ausplündern“.15 Toscani schreibt: „Saftlos, kraftlos, sinnlos. Ohne irgendeine andere Botschaft als die der grotesken Verherrlichung eines Yuppie-Lebensstils, alles so schön bunt hier, lebenslängliche Party-Time.“16 Als Fotograf war Toscani zwar selbst Teil dieser Branche, aber er hatte eigenen Angaben zufolge das Ansinnen, das Werbesystem „von innen heraus“ zu erschüttern.17 Nun hat sich die Werbebranche in den vergangen 25 Jahren zwar ein Stück weit verändert und weiterentwickelt. Sie kann uns informieren, inspirieren und im Idealfall auch zu sozial und ökologisch verträglichen Reisen einladen. Aber wenn wir darüber nachdenken, wie Werbebotschaften unser eigenes Reiseverhalten prägen, sind Toscanis Ansätze nach wie vor eine genauere Betrachtung wert. Schon damals wunderte er sich, warum man in Zeiten knapper Ressourcen ständig dazu aufgefordert wird, noch mehr zu konsumieren.18

All diese Auswüchse und Paradoxien führen zu unzähligen Fragen: Was treibt uns dazu an, die Welt im Eiltempo besichtigen zu wollen? Warum ist es so wichtig, dass andere wissen, in wie vielen Ländern wir schon waren? Was sagt die Zahl der besuchten Orte über jemanden aus: Dass er ehrgeizig ist, dass sie es sich leisten kann herumzukommen, dass er wirklich was draufhat? Sollte es beim Reisen nicht um Qualität gehen statt um Quantität? Wäre es nicht erstrebenswerter, wenn das Erlebte zählt, und nicht das Beweisfoto? Wie kann es uns gelingen, unser Streben nach Ansehen und Status zu überwinden? Vor allem aber: Was hemmt uns, diese vorgefertigten Reiseerlebnisse links liegen zu lassen, und uns zu fragen: Was tut mir wirklich gut?

REISEN ALS MOBILE KONSUMKULTUR

Vielleicht hilft uns beim Reflektieren folgender Versuch: Lernen zu verstehen, warum wir so reisen, wie wir reisen und wieso das Fernwehstillen zur Supermarktware geworden ist (wortwörtlich, denn sogar Diskonter verticken mittlerweile „Traumreisen“)19: Wir werden sozusagen in eine immer noch im Entstehen begriffene „Globalkultur“ hineingeboren. Denn in den vergangenen Jahrhunderten sind räumlich begrenzte Kulturen durch die Schaffung von Straßen, durch Transfer und Handel in zunehmendem Maße aufgebrochen und miteinander verknüpft worden. Unsere gemeinsamen Rahmenbedingungen basieren im 21. Jahrhundert auf Verbindung und Austausch, aber immer mehr auch auf Beschleunigung, Digitalisierung und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Wir leben in einem System von Waren, Dienstleistung und Produktion und gehen arbeiten, um als Konsumierende an diesem System teilhaben zu können. Das wirkt sich nicht nur auf unseren Alltag aus, sondern auch auf die Art und Weise, wie wir verreisen oder Urlaub machen. „Der Tourismus bietet eine ideale Struktur, um die räumliche Ausdehnung der Welt direkt mit dem Konsum zu verbinden“, erklärt der Tourismusforscher und -ethiker Harald A. Friedl. Heute konsumieren wir nicht mehr nur daheim, sondern auch in anderen Ländern. Tourismus ist demnach eine „Universalisierung des Konsums“. Wie immer gibt es dabei auch den Versuch einer Gegenbewegung, etwa jener Menschen, die zu Fuß und mit dem Zelt die Welt erkunden. Im Prinzip ist Reisen aber eine „mobile Konsumkultur“, sagt Friedl. Aus soziologischer und sozialpsychologischer Sicht handelt es sich dabei um ein kollektives Verhaltensmuster, das erlernt wird, weil es mit positiver Symbolik und Ansehen aufgeladen ist. „Wir tun diese Dinge, weil wir zutiefst davon überzeugt sind, dass sie richtig sind. Warum? Weil es alle tun“, erläutert Friedl. Der Mensch könne gar nicht anders. Kultur sei immer ein kollektives Verhalten: Menschen, die ähnlichen Rahmenbedingungen unterliegen, spielen sich aufeinander ein und entwickeln ein gemeinsames Verhaltensmuster. Und so urlauben die Schweden traditionell in ihren rot gestrichenen Ferienhäuschen im Wald, während die Österreicher zu Pfingsten in langen Autokolonnen in Richtung Adria rollen. „Aus neurobiologischer Sicht geht das gar nicht anders“, sagt Friedl. „Man nimmt immer das, was man schon kennt, als Bezugssystem.“ Unsere neuronalen Netzwerke, also die Verschaltungen im Gehirn, sind von Kindheit an geprägt. Deshalb folgen alle Urlauberinnen und Urlauber wie Roboter einem Programm, ganz unabhängig davon, ob sie kulturell interessiert sind, nur zum Einkaufen kommen, Berge erklimmen oder sich als „Massenware“ durch Barcelona oder Venedig zwängen. Dieses Programm besteht aus Mustern, die jeder Mensch in seiner Bezugsgruppe erlernt und symbolisch als erstrebenswert erfahren hat. Das Gehirn reproduziert die meiste Zeit diese Muster, um möglichst energiesparend arbeiten zu können. „Außerdem garantiert das Befolgen von Mustern auch ein Minimum an Berechenbarkeit und Gemeinsamkeit in einer zunehmend diversen, individualisierten Welt“, ergänzt Harald Friedl.

DIGITALE SEHNSÜCHTE UND GESCHRUMPFTE ENTFERNUNGEN

Als Teil dieser globalisierten Medienkultur sind wir daran gewöhnt, uns eine Online-Präsenz zu verschaffen, mit anderen auszutauschen und zu netzwerken. Was wir dabei oft vergessen: Die Werbe- und die Tourismusindustrie profitieren davon, wenn wir als „gläserne Bürgerinnen und Bürger“ genau verraten, welche Orte uns begehrlich erscheinen und wo unsere Reisesehnsüchte liegen. Wir sind verführbar und werden immer weiter verführt, weil die Tourismusindustrie in uns wie in einem offenen Buch liest. Wir posaunen unsere Träume in die Welt und die Werbung schnürt daraus Angebote, denen wir nicht widerstehen können. Bilder, Filme, Videos und Postings wirken sich auf unsere Reiseerwartungen aus. Informationen über Reiseziele sind quasi immer und überall verfügbar, wir tauschen uns digital mit anderen Reisenden aus und geben Bewertungen für Hotels und andere Services ab. Vor allem aber hat sich unser Raumgefühl durch das Nutzen von Tablet, Handy und Co. verändert. Distanzen von mehreren tausend Kilometern scheinen in jenem Moment, in dem uns eine Freundin oder ein Freund übers Smartphone ein Foto vom Palmenstrand in Thailand oder vom Eishotel in Norwegen schickt, wie aufgehoben. Entfernung verliere zunehmend an Bedeutung, konstatiert die Soziologin Kerstin Heuwinkel. Der Grund dafür seien zuerst Transportmittel gewesen, die uns schneller von A nach B brachten. Jetzt trage die digitale Erreichbarkeit ihren Teil dazu bei, dass wir Entfernungen anders wahrnehmen würden.20