Lügen mit Zahlen - Gerd Bosbach - E-Book

Lügen mit Zahlen E-Book

Gerd Bosbach

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Beschreibung

»Es gibt drei Arten von Lügen: Lügen, infame Lügen und Statistiken.« Benjamin Disraeli

Wie kommt eigentlich eine Wahlprognose zustande? Wer ermittelt, wie hoch das Wirtschaftswachstum ist oder wann die Deutschen aussterben? Immer erwecken Statistiken den Eindruck von Objektivität und Exaktheit, dabei lässt sich mit ihnen alles und das Gegenteil davon beweisen. Die Autoren decken auf, wie wir täglich belogen und manipuliert werden, wie repräsentativ Umfragen tatsächlich sind, was eine gefühlte Inflation ist und wie Medikamenten-Studien geschönt werden. Spannend, unterhaltsam und voller Aha- Erlebnisse!

Zahlen lügen nicht – oder etwa doch? Laut Statistik hat ausgerechnet die Vatikanstadt die höchste Kriminalitätsrate der Welt. Statistisch gesehen steigt Ihr durchschnittliches Einkommen, sobald ein Millionär in Ihre Nachbarschaft zieht. Und der Anstieg der Krankenkassenbeiträge von 14 auf 15 Prozent beträgt tatsächlich nicht ein Prozent, sondern sieben! Statistiken begleiten uns den ganzen Tag, denn ständig wird etwas in Zahlenreihen erfasst, ausgewertet und verglichen. Das Problem: Mit kleinen Tricks lässt sich fast jede Statistik so frisieren, dass sie nahezu jede Aussage bestätigt – oder widerlegt. Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff tauchen mit uns ein in die Welt der Zahlen und Statistiken und erklären, wie leicht man mit ihnen lügen und belogen werden kann – und wie wir die verzerrte Wirklichkeit durchschauen und unser Bewusstsein für Zahlen und deren Interpretation schärfen. Ein verständliches und witziges Buch für alle, die Zeitung lesen, die Nachrichten und Wetterprognosen verfolgen und wählen gehen.

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Seitenzahl: 312

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Inhaltsverzeichnis

Prolog - Kriminelle ZahlenKapitel 1 - Yang ohne YinKapitel 2 - Ein Bild lügt schneller als tausend ZahlenKapitel 3 - Auf der Suche nach dem WarumKapitel 4 - Absolut Spitze oder relativ egal?Kapitel 5 - Die Grofse Freiheit der ProzentistenKapitel 6 - Die Guten ins Töpfchen …Kapitel 7 - Die glatt gebügelte SonntagsfrageKapitel 8 - Die Magie der PrognoseKapitel 9 - Wunder der StatistikKapitel 10 - Der Sack der RosstäuscherKapitel 11 - Die konstruierte ExplosionKapitel 12 - Stiftung Warentest im RenditerauschKapitel 13 - Die bösen ArmenExkurs: Gespräche über den Kult der ZahlKapitel 14 - Die Dummen und die BösenKapitel 15 - Resigniert wird nichtKapitel 16 - Übung macht den MeisterEpilogHinweis zu den Zitaten und AbbildungenDanksagungLiteraturhinweiseRegisterCopyright

Prolog

Kriminelle Zahlen

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, bitte raten Sie mal: Wo ist das gefährlichste Pflaster der Welt? Welche Stadt hat die höchste Kriminalitätsrate?

New York? Nein, New York hat sich aus dieser Spitzengruppe schon lange verabschiedet.

New Orleans? Rio de Janeiro? Kairo? Kapstadt? Bagdad?

Ja, Sie kommen der Weltmetropole des Verbrechens immer näher.

Vielleicht Mogadischu? Ciudad de Juárez?

Respekt! Da kennt sich jemand in den Abgründen der Welt aus. Diese beiden Städte streiten sich tatsächlich um den Spitzenrang der Welt bei den Morden. Wir meinen aber hier die gesamte Kriminalität, einschließlich Diebstahl und Betrug.

Und da ist der Spitzenreiter die Città del Vaticano, die Vatikanstadt! Das musste uns der päpstliche Generalstaatsanwalt Nicola Picardi auch für das Jahr 2009 wieder einmal vermelden.1

Wie ist das möglich?

Das liegt an der Definition: Die Anzahl der ermittelten Delikte (beziehungsweise der eingeleiteten Strafverfahren) in einer Stadt geteilt durch deren Einwohnerzahl ergibt die Kriminalitätsrate. Bei rund 18 Millionen Pilgern und Touristen, die jährlich den Vatikan aufsuchen, kommt es auch zu vielen Diebstählen, Betrügereien und Ähnlichem. Und die werden in dieser Rechnung auf die knapp fünfhundert offiziellen Einwohner der Vatikanstadt umgelegt. Leider ist dieses Beispiel für Irreführung durch Statistik kein theoretisches. Beim Berechnen der sogenannten Ausländerkriminalität verfahren deutsche, österreichische und Schweizer Nationalisten auf dieselbe Art: Sie legen alle von ausländischen Touristen begangenen Diebstähle auf die ansässige Bevölkerung um und tun rechnerisch so, als hätten die ansässigen Bürger ausländischer Herkunft diese Taten begangen.

Sie glauben, auf so etwas fallen Sie nicht herein? Schau’n wir mal! Stellen Sie sich vor, Sie bekommen sechs Wochen lang jede Woche einen Werbebrief eines Anlageberaters, jedes Mal mit einem Aktientipp für die nächsten Tage, und jedes Mal kann der Folgebrief berichten: Unser Tipp letzte Woche war richtig, die Aktie X ist tatsächlich gestiegen (oder gefallen). Wen würden Sie danach als Erstes fragen, wenn Sie mit Aktien spekulieren wollten? Sechs Treffer hintereinander – das kann doch kein Zufall sein!

Tja, reingefallen! Das kann nämlich doch eine Art Zufall sein. Welche Art, werden wir Ihnen gleich erklären. Davor schauen wir uns, natürlich fiktiv, eine Liste der Entscheidungen an, die Sie letztes Jahr getroffen haben. Da finden wir zum Beispiel so etwas: Aufgrund einer Statistik über die Schadstoffe haben Sie Produkt A vorgezogen, und Versicherung B hat Sie mit ihren »Fakten« überzeugt. Bei der Übersicht über die Gebühren war der Handy-Anbieter C Ihr Gewinner. Dazu kommt eine Liste von Entscheidungen anderer, die Sie später ausbaden mussten: Ihr Arzt kannte die beste Therapie nicht, weil deren Entwickler, ein kleiner Fisch, die Vorteile nicht geschickt genug »nachgewiesen« hatte. Große Pharmakonzerne haben dafür einen ganzen Stab von Fachleuten. Die Regierung hat Ihnen eine Sozialleistung weggekürzt, weil gewisse Experten ihr vorgerechnet haben, dass ohne diese »Reform« Deutschland spätestens 2030 nicht mehr konkurrenzfähig sei. Bei all diesen Entscheidungen spielten Statistiken eine wichtige Rolle.

Jetzt aber zur Auflösung der rätselhaften Aktientipps! Der Anlageberater hat einfach Folgendes gemacht: In der ersten Woche hat er 16 000 Briefe verschickt mit dem Tipp: Aktie X wird steigen. Und 16 000 Briefe mit dem Tipp: Aktie X wird sinken. An die 16 000 Adressen, die den richtigen Tipp bekommen hatten, hat er danach 8000 Briefe verschickt mit dem Tipp: Aktie Y wird steigen. Und 8000 Briefe mit dem Tipp: Aktie Y wird sinken. Und so weiter. Am Ende der Übung blieben 500 Adressaten übrig, die sechsmal hintereinander den richtigen Tipp bekommen hatten. Der Zufall liegt darin, dass Sie zu diesen letzten 500 gehörten. Das wollen wir aber nur als Zahlenspiel verstanden wissen, als eine Art »Wunder der Statistik«. In Wirklichkeit ist dieses Szenario unwahrscheinlich, weil eine solche Beratungsfirma außer den Kosten der Werbebriefe auch die negative Imagewirkung der vielen falschen Prognosen berücksichtigen muss.

Wie kommt es eigentlich, dass so viele Menschen gleich Ja und Amen sagen, sobald jemand exakte Zahlen in den Raum wirft? Es ist immer wieder verblüffend: Sagen wir, dass im Jahre 2050 etwa jeder Dritte in Deutschland fünfundsechzig und älter sein wird, ernten wir skeptische Blicke. Sprechen wir dagegen von 32,5 Prozent Senioren, glaubt man uns andächtig. Das ist seltsam, denn in Wirklichkeit kann niemand auch nur ungefähr wissen, wie viele junge und ältere Leute es in vierzig Jahren geben wird. Was man 1970 für heute prognostiziert hat, ist schon lange Makulatur. Aber trotzdem glauben die meisten einer unehrlichen exakten Zahl eher als einer ehrlichen Schätzung.

Ein anderes Beispiel: Jahrelang haben Klimaforscher, Umweltschützer, Meeresbiologen und Wasserexperten gewarnt: Die Erderwärmung wird Überschwemmungen, Dürren und andere Katastrophen auslösen, unermessliche Schäden verursachen und viele Menschen das Leben kosten. Die Reaktion? Allgemeines Schulterzucken in den verantwortlichen Ländern. Dann kam eines Tages ein Ökonom und legte eine Rechnung vor: Der Klimawandel wird, wenn er nicht gebremst wird, bis 2050 wahrscheinlich Kosten von mindestens 5 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts verursachen, während wirksame Gegenmaßnahmen nur etwa 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten würden.2 Und schon wurde der Klimawandel zum großen Thema auf dem nächsten Weltwirtschaftsgipfel.

Sind Dinge erst dann real, wenn sie in Zahlen angegeben werden? Sind Zahlenangaben stets etwas Rationales? Warum glauben so viele Menschen an Zahlen, als ob sie eine Religion wären? Auch auf solche Fragen wollen wir hier eingehen. Der Philosoph und Aufklärer Voltaire resignierte schon im 18. Jahrhundert: »Je häufiger eine Dummheit wiederholt wird, desto mehr bekommt sie den Anschein von Klugheit.« Dass Dummheit sich auch ins Gewand von Parametern, Tabellen und Graphen kleiden kann, war damals noch kaum üblich. Voltaires grantiges Fazit soll aber nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit bleiben.

Wir versprechen Ihnen: Bald werden Sie wissen, mit welchen Tricks der statistischen Schönfärberei, Aufbauscherei, Ausblenderei und Lügerei sogenannte Sachzwänge konstruiert und wichtige Entscheidungen beeinflusst werden. Sie denken, »die da oben« sind kluge Leute, die sich nicht so leicht hinters Licht führen lassen? Das hatten wir auch gehofft – bis wir sie näher kennengelernt haben.

Wir stützen uns dabei auf jahrzehntelange Erfahrung, gesammelt in der Beratung von Ministerien und Bundestagsabgeordneten (in der Bonner Beratungsstelle des Statistischen Bundesamts), in der Statistikschmiede einer großen bundesweiten Ärzteorganisation und nicht zuletzt durch unseren jahrzehntelang geschärften Blick auf öffentlich dargestellte Zahlen und Fakten.

Nach der Lektüre dieses Buches gehören auch Sie, so hoffen wir, zum Kreis der Aufklärer, die kritische Blicke hinter die Kulissen der Statistikmacher werfen und dabei selber erkennen oder zumindest erahnen, wo etwas »faul ist im Staate Dänemark«.

Doch bitte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten! Zahlen und Statistiken sind und bleiben – innerhalb gewisser Grenzen und Voraussetzungen, über die man offen sprechen muss – ein höchst nützliches Instrument, um wichtige Teile der Wirklichkeit zu beschreiben. Wer Statistiken an sich für Teufelszeug erklärt, dem sagen wir: Dummheit ohne Zahlen ist auch nicht besser als Dummheit mit Zahlen.

Damit dieses Buch trotz des trockenen und für manche Leser vielleicht einschüchternden Themas locker bleibt und stellenweise sogar vergnüglich ausfällt, schmücken wir es mit zahlreichen persönlichen Erlebnissen aus, die Gerd Bosbach als Statistiker in der merkwürdigen Welt der Zahlen und Diagramme erlebt hat und oft auf amüsante Art zum Besten gibt. Deshalb ist der Ich-Erzähler in den folgenden Kapiteln Gerd Bosbach. Coautor Jens Jürgen Korff sorgt für Lesefreundlichkeit und würzt als Historiker das Werk vor allem mit neugierigen und klugen Zwischenfragen, mit einigen Beispielen aus dem Umweltbereich sowie mit einem Abstecher in Philosophie und Psychologie der Zahlengläubigkeit (»Exkurs: Gespräche über den Kult der Zahl«).

Die Kapitel 1 bis 10 des Buches sind bestimmten Methoden gewidmet. Hier erläutern wir Statistiktäuschungen gleicher Struktur zunächst an Beispielen und dann prinzipiell. Die Kapitel 11 bis 13 stellen politische Komplexe wie Armut, Gesundheitswesen und Rentenversicherungen in den Mittelpunkt. Hier untersuchen wir, wer auf dem jeweiligen Feld welche der bereits bekannten Methoden einsetzt, um bestimmte Ziele durchzusetzen. Dabei werden aufmerksame Leser hier und da Beispiele wiedererkennen, die sie schon in den Methodenkapiteln kennengelernt haben. In den Kapiteln »Der Sack der Rosstäuscher« und »Die Dummen und die Bösen« haben wir weitere Beispiele zusammengetragen, die den Rahmen der übrigen Kapitel gesprengt hätten – wobei uns im Kapitel »Die Dummen und die Bösen« die Grundfrage interessiert: Wird da aus Dummheit oder aus böser Absicht getäuscht? Die Kapitel »Resigniert wird nicht!« und »Übung macht den Meister« liefern Ihnen praktische Tipps und Übungen, um selber Täuschungen entlarven zu können.

Wir wünschen Ihnen so manches Aha-Erlebnis bei der Lektüre und viel Spaß beim Lachen über Prozentisten und Sachzwangsneurotiker!

1

Laut heute.de Magazin, 10.1.2010, kamen 2009 in der Vatikanstadt auf 490 Einwohner 446 Strafverfahren; umgerechnet also 910 Strafverfahren pro 1000 Einwohner.

2

Stern Review on the Economics of Climate Change, vorgelegt von Nicholas Stern am 30.10.2006 (Wikipedia: Stern-Report).

Kapitel 1

Yang ohne Yin

Auch Sie haben wahrscheinlich eine Schokoladenseite. Wenn Sie sich an Ihr letztes Rendezvous oder Date (für die jüngeren Leser) erinnern, fällt Ihnen wahrscheinlich ein, dass Sie Ihrem Gegenüber ein nicht ganz vollständiges Bild von Ihrer Persönlichkeit präsentiert haben; die positiven Aspekte werden deutlich überwogen haben. Manchmal gibt es auch Menschen, die genau das Gegenteil tun und uns stets ihre Schattenseite zeigen. Aber eine von zwei Seiten fehlt oft vollständig.

Die vergessene zweite Seite

Bei der Auswahl von Passfotos ist es ähnlich; die meisten greifen zu denen, die dem vorherrschenden Schönheitsideal am nächsten kommen, und vernichten die anderen. Der Schwarzwald, das Sauerland, der Harz, das Allgäu, auch die Balearen, Kanaren und Seychellen haben eines gemeinsam: Die Bilder, die man im Internet oder Prospekt zuerst von ihnen zu sehen bekommt, zeigen immer einen blauen Himmel und fröhliche Menschen. Die andere Seite der Medaille würde Leute abschrecken und wird deshalb gerne versteckt. Allerdings gibt es auch die entgegengesetzte Verzerrung: Bilder von Afrika, die das deutsche Fernsehen präsentiert, zeigen – wenn dort nicht gerade die Fußballweltmeisterschaft stattfindet – fast immer traurige oder verzweifelte Menschen. Afrika interessiert deutsche Journalisten merkwürdigerweise nur dort, wo es gerade Krieg oder eine Katastrophe gibt.

Wir nennen diese Praxis hier »Yang ohne Yin«.

Das Symbol für Yin und Yang. © Vadim Cebaniuc – Fotolia.com

Die Idee von Yin und Yang stammt aus der altchinesischen Naturphilosophie. Sie besagt, dass die Welt von zwei entgegengesetzten kosmischen Grundkräften beherrscht werde: dem weiblichen Yin, dem die Erde und die gerade Zahl entsprechen, und dem männlichen Yang, mit dem der Himmel und die ungerade Zahl verbunden werden. Eine ganzheitliche Sicht der Welt muss stets beide Grundkräfte im Blick behalten.

So zu verfahren wie die Flirtenden oder die Bewerber im Vorstellungsgespräch ist menschlich, und niemand würde deshalb von Lüge sprechen. Dass Politiker genauso vorgehen, ist zwar nicht ehrlich, aber auch nicht verwunderlich. Allerdings sollten wir den Effekt, den sie damit erzielen, ernst nehmen. Auf einer Kundgebung zum 1. Mai in Köln sprach einmal der damalige Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen – nennen wir ihn Herrn Yang. Da in jenem Jahr Wahlen waren, nahm das Lob für die eigene, die Regierungspartei, einen großen Raum ein. Zum Schluss dann sein gewichtigstes Argument: sein persönlicher Einsatz für mehr Bildung. Er beschrieb unter Beifall, wie wichtig Bildung für den Arbeitsmarkt und die Zukunft sei, aber ebenso für die Entwicklung einer eigenen Persönlichkeit. Wer mochte ihm da widersprechen? Und deshalb verkündete er auch ganz stolz: »Im letzten Jahr haben wir an den öffentlichen Schulen unseres Landes 2200 vollzeitbeschäftigte Lehrer neu eingestellt.« Großer Beifall. Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte ich laut: »Und wie viele sind pensioniert worden?« Damit zog ich mir sofort den Unmut einiger Umstehender zu: »So ein Unsinn! Natürlich hat der die vorher abgezogen.« Doch genau das hatte Herr Yang bewusst unterlassen, wie ich anderntags bei einer kurzen Recherche feststellte. Das Land NRW hatte im Jahr davor in der Tat 2200 neue Vollzeitkräfte eingestellt, aber im gleichen Jahr waren 2500 ausgeschieden. Es ist also ratsam, das Eigenlob von Politikern auch dann zu überprüfen, wenn sie scheinbar unwiderlegbare Zahlen nennen.

Diesem Spiel mit der vergessenen zweiten Seite der Medaille begegnen wir ständig. Freute sich die Presse 2008 über eine Rentenerhöhung von 1,1 Prozent, so hatte sie übersehen, dass die Preise um 2,6 Prozent gestiegen waren. Im Wahljahr 2009 hatte die Regierung zwar das Glück, dass ihr Wahlgeschenk, eine Rentenerhöhung von 2,4 Prozent, nicht von den Preisen aufgefressen wurde. Aber sie »vergaß« darüber gerne die ersten drei Jahre Ihres Wirkens: Die Renten stiegen um insgesamt 1,6 Prozent, die Preise aber um 7 Prozent; die Rentner verloren also real über 5 Prozent Kaufkraft! Ähnlich geht es Arbeitern und Angestellten mit Lohnerhöhungen und Studierenden beim BAföG: Preissteigerungen und Verluste der Vorjahre werden in der Darstellung einfach unterschlagen.

Bei manchen Themen ist die Lücke nicht so schnell erkennbar, und die ums Yin gekürzte Sicht der Dinge erscheint den meisten Leuten auf den ersten Blick einleuchtend und vollständig.

Etwa im Gesundheitswesen. Dort bezweifelt kaum jemand, dass eine Kostenexplosion stattfinde und das Hauptproblem der Gesundheitsfinanzierung darstelle. Entsprechende Grafiken und Zahlen haben wir schon oft gesehen, und die mahnenden Worte der Politikerinnen und Professoren klingen uns in den Ohren. Seit meiner Zeit als Statistiker bei der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung verfolge ich die Fakten in diesem Bereich sehr genau, sodass mir bald auffiel, dass die Medaille noch eine andere Seite hat. Neben den Ausgaben, auch Kosten genannt, stehen die Einnahmen. Diese eigentlich banale Feststellung hat überraschende Konsequenzen. Während nämlich die Gesundheitsausgaben für die gesetzlich Versicherten ähnlich wie die gesamte Wirtschaft wuchsen, blieben die Einnahmen der Krankenversicherungen hinter diesem Wachstum deutlich zurück. Genaueres dazu erfahren Sie im Kapitel »Die konstruierte Explosion«.

Auch wenn die folgende Grafik andere Tücken hat, die wir auf Seite 291 aufgreifen werden, zeigt sie, wo das wirkliche Problem ist: Das Aufkommen an Krankenkassenbeiträgen ist notorisch im Sinkflug, weil die Löhne stagnieren und es immer weniger gut bezahlte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte gibt. Wie Sie sehen, wird ständig an der falschen Seite herumgedoktert, und das eigentliche Problem wird nicht gelöst – obwohl es dazu gute Ideen gibt, wie die Bürgerversicherung. Aber so ist Politik.

Datenquelle: Statistisches Bundesamt; Bundesministerium für Gesundheit; ver.di

Die Grafik zu den Gesundheitskosten der gesetzlich Versicherten zeigt ausnahmsweise Yin und Yang: Einnahmen, Ausgaben und parallel die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Mafs für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit.1

»Deren Politik«, sagt mein Freund Jens, während er sich eifrig Notizen macht, und vage nach Südosten (Frankfurt?) und Nordosten (Berlin?) zeigt. Dabei lässt er offen, ob die Bankmanager oder gewisse Politiker gemeint sind.

Um ihn abzulenken, frage ich ihn: »Woran denkst du beim Thema technischer Fortschritt im Gesundheitswesen?«

»Der Kostentreiber, klar.« Seine Antwort kommt spontan und reflexhaft.

Ja, da ist sie wieder, die allgegenwärtige Angst vor der Unbezahlbarkeit, wenn es um Gesundheit geht. Dass technischer Fortschritt nicht nur teure Apparate bedeutet, sondern auch dem Menschen dient und die Behandlungen oft sogar preiswerter machen kann, dieser Yin-Aspekt, ja, wo ist er hin? Eine Krampfaderoperation zum Beispiel bedeutete noch vor zwanzig Jahren: zwei Wochen Krankenbett, Schwitzen im Stützstrumpf und Dutzende von Anti-Thrombose-Spritzen. 2003 wurde die OP bei mir, dank fortgeschrittener Technik, ambulant vorgenommen – eine Sache von vier Stunden. Das nenne ich technischen Fortschritt mit eingebauter Kostendämpfung. Dazu noch eine beeindruckende Zahl: 1960 lag die durchschnittliche Liegedauer in westdeutschen Krankenhäusern bei 28,7 Tagen, 2004 nur noch bei 8,7 Tagen.2

Bei anderen Themen ist man mit Kosten nicht so zimperlich. Im Streit um die Waldschlösschenbrücke, die neue geplante Straßenbrücke über die Elbe bei Dresden, zählen die Befürworter meist nur die Fahrminuten, die die Brücke zwischen Johannstadt und Albertstadt einsparen soll, und die Staukilometer, die dann, so hoffen sie, verschwinden. Über Yin-Aspekte wie die Landschaftszerstörung und den Verlust des Weltkulturerbe-Titels wurde viel diskutiert; dafür fiel hier zur Abwechslung der Kosten-Aspekt meist unter den Tisch. Geplant waren (mit Stand 2003) Baukosten von 160 Millionen Euro für Brücke, Tunnel und Kreuzungsbauwerke. Was heißt das? Die Befürworter erwarten für 2015 45 000 Autos pro Tag auf der Brücke.3 Wenn wir eine industrieübliche Abschreibung über zehn Jahre vornehmen und Finanzierungs- sowie Unterhaltskosten für diese Zeit mitberücksichtigen, ergeben sich daraus Kosten von 1,40 Euro pro Elbüberquerung.4 Ein Berufspendler, der an zweihundert Tagen im Jahr zweimal täglich die Brücke passiert, hätte 560 Euro im Jahr zu berappen, wenn die Kosten der Brücke auf ihre Benutzer umgelegt würden. Wahrscheinlich noch deutlich mehr, da Projekte dieser Art fast immer viel teurer werden als erwartet, und da die Zahl der Nutzer angesichts sinkender Einwohnerzahl und massiv steigender Spritpreise wohl deutlich geringer sein wird.

Einmal in Fahrt, bringt Jens noch eines seiner Lieblingsthemen ein: die guten bösen Steuern. Der Wiener Kabarettist Georg Kreisler hat für das leidige Problem einmal einen Lösungsvorschlag erdichtet. Sagen Sie dem Finanzamt, wenn es Sie zum Steuernzahlen überreden will, einfach Folgendes:

Ich hab ka Lust! Ich hab jetzt grad nichts in bar.Ich hab ka Lust! Ich zahl im folgenden Jahr.Denn erstens kostet Zahlen Überwindung,und zweitens hab ich folgende Begründung:

Ich hab ka Lust! Ich geb das Geld nicht gern her.Ich hab ka Lust, und es verdient sich so schwer.Vielleicht sagt das Finanzamt gar, ich brauch nicht,denn schließlich zahl ich andern Leuten auch nicht …

Und nach diesem Motto werden kräftig und mit bestem Gewissen Steuern hinterzogen. Je größer die Firma, je reicher die Person, desto erfolgreicher meist. Dass dabei mancher sich modern und dynamisch dünkender Kleinunternehmer mehr für Steuerberater, Anlageberater und Unternehmensberater ausgibt, als er an Steuern einspart, zeigt den krankhaft einseitigen Blick auf die »bösen Steuern«. Ist es denn wirklich so viel angenehmer, Zinsen, Mieten, Versicherungsbeiträge, Honorare oder Provisionen zu zahlen?

Sie ahnen es schon, auch die »bösen Steuern« haben eine Yin-Seite, die meist im Dunkeln bleibt: Das sind die Dienstleistungen des Staates. Sie mögen den Staat nicht? Gut, dann stellen Sie sich einfach mal vor, was passieren würde, wenn er plötzlich weg wäre. Sie fahren mit dem Auto zügig die Hauptstraße entlang und verlassen sich darauf, dass der aus der Nebenstraße kommende Wagen stehen bleibt. Tut er aber nicht; der Fahrer hatte keine Lust, auf die Bremse zu treten. Wenn Sie Ihr kaputtes Auto an den Straßenrand geschoben haben und zu Fuß nach Hause gehen, werden Sie vielleicht einem Staat nachtrauern, der Verkehrsschilder aufstellt, Fahrprüfungen abnimmt, Verkehrspolizisten auf die Straße schickt und eine Verkehrssünderkartei führt. Wenn Ihr achtjähriges Kind sich hartnäckig weigert, Lesen, Schreiben oder Rechnen zu lernen, könnte der Moment kommen, in dem Sie denken, dass das Verschwinden der Schulen, Lehrerinnen und Sozialarbeiter vielleicht doch keine so gute Idee war. Und wenn Ihr Kunde Ihnen nach der dritten Mahnung immer noch eine Nase dreht und sagt: »Ich hab halt keine Lust, diese blöde Rechnung zu bezahlen …« Dann kriegen Sie vielleicht plötzlich Lust auf ein Bürgerliches Gesetzbuch samt Amtsgericht und Gerichtsvollzieher. Doch von dieser Seite des Staates ist in der »Steuern runter!«-Propaganda fast nie die Rede.

Wenn FDP, Unternehmerverbände und Wirtschaftsprofessoren »Mehr Netto vom Brutto« schreien, verschweigen sie geflissentlich zwei Tatsachen: Mehr Brutto wäre noch viel besser für die Gehälter der Arbeiter und Angestellten; und was sie heute nicht in die Kranken- oder Rentenversicherung einzahlen, wird ihnen morgen, wenn sie krank sind oder in Rente gehen, fehlen. 1995 bis 2007 ist die Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter in Deutschland gegenüber dem Durchschnitt der anderen Euro-Länder um 10 Prozent zurückgeblieben. Im privaten Dienstleistungssektor zum Beispiel lagen die Arbeitskosten 2007 in Deutschland bei 24,50 Euro pro Stunde und damit ganz nah beim Durchschnitt der Eurozone, weit unter dem Niveau in Dänemark, Belgien, Frankreich und Holland.5 2003 bis 2009 sind die Reallöhne der Beschäftigten – also nach Abzug der Preissteigerungen – um 4 Prozent gesunken, trotz eines Wirtschaftsaufschwungs in den Jahren 2003 bis 2007.6

Yang ohne Yin hat aber nicht nur etwas mit Geld zu tun, wie die nächsten Beispiele zeigen.

In der Demografiedebatte geht es um das Problem, dass die Bevölkerung im Schnitt immer älter wird, immer weniger Menschen geboren werden und die Rentnerzahl steigt. Nur wenige können öffentlich über dieses Thema sprechen, ohne mit dramatischer Geste auf eine schreckliche Zukunft zu verweisen. Die Qualität der Prognosen, die dort bemüht werden, ist sehr zweifelhaft, worauf wir im Kapitel »Die Magie der Prognose« zu sprechen kommen. Doch selbst, wenn wir das beiseitelassen, bleibt es verwunderlich, wie konsequent hier die Yin-Seite ausgeblendet wird: nämlich der Blick zurück in die Geschichte. Dabei könnten wir dort sehen, dass wir in Deutschland im letzten Jahrhundert eine Alterung von über 30 Jahren, ein Absinken des Jugendanteils von 44 auf 20 Prozent der Bevölkerung und eine satte Verdreifachung des Rentneranteils fast problemlos gemeistert haben. Und allen Kassandrarufen zum Trotz, an denen es schon viel früher, etwa in den 1920er-Jahren, nicht gefehlt hat, hat sich die Gesellschaft ökonomisch und sozial sehr gut dabei entwickelt. Dieses Yin lehrt uns: Alterung führt keineswegs zwangsläufig zu sozialen Problemen .7

In den Jahren um 2000 geisterten die Parolen Bürokratieabbau und Deregulierung fast täglich durch Politik und Verwaltung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Überall wurden angeblich wirtschaftshemmende Vorschriften und vermeintlich überflüssige Behörden abgeschafft – besonders gern im Umweltschutz. Auch die Konzerne waren betroffen: Dort schaffte man sogenannte mittlere Hierarchieebenen ab und schuf »flache Hierarchien«. Im Eifer des Auslichtens und Durchforstens übersahen die zuständigen Minister, Vorstände und ihre Berater so allerlei: zum Beispiel, dass der Abbau von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst die Arbeitslosigkeit vergrößert, also gegen das so häufig propagierte Ziel Nummer eins sämtlicher Wirtschaftspolitik verstößt. Oder dass es plötzlich kaum noch möglich war, den Gewässer- und Hochwasserschutz für den Rhein, die Elbe und die Donau zu koordinieren. Man hatte nämlich, obwohl diesen Flüssen Landesgrenzen ziemlich egal sind, alle einschlägigen Kompetenzen auf Landesebene verlagert, und damit nicht genug: Auch einige Fachbehörden der Bundesländer hatte man kurzerhand aufgelöst und deren Kompetenzen auf noch tiefere Ebenen abgeschoben. Die Folgen waren zum Teil katastrophal: Als sich beim Elbehochwasser 2002 die Behörden Sachsens und Sachsen-Anhalts mit denen von Niedersachsen koordinieren wollten, fanden sie dort keine kompetenten Ansprechpartner mehr. Die plötzliche Überflutung des Städtchens Hitzacker ist nach Meinung einiger Experten mit auf diese Panne zurückzuführen.8

Ähnliche Phänomene gab und gibt es in der deutschen Justiz oder bei der Studienplatzvergabe nach Auflösung der früher dafür zuständigen Zentralstelle (ZVS).9 Und natürlich bei der Deregulierung der Finanzmärkte, die 2007 bis 2009 die Welt des Kapitals in die große Finanzkrise führte. Wie viel die modische Abschaffung von Kompetenzebenen in den Konzernen mit den großen Produktpannen der 2000er-Jahre zu tun hatte (wir erinnern an Toll-Collect 2003/04, Daimler/Bosch 2005, Airbus 2006, Siemens/ICE 2008, Toyota 2010), harrt noch der Erforschung. Wenn Sie planen, ein Amt, eine Abteilung, eine Norm oder auch nur eine Statistik abzuschaffen, ist es also ratsam, nicht nur das Yang der Kosten anzuschauen, sondern auch das Yin des Nutzens, den Ihnen diese Institution bringt.

Mein Zickzack-Kurs? Ach, das dürfen Sie nicht so ernst nehmen, Herr Wachtmeister. Ich bin Manager.

Jetzt aber genug der politischen und ökonomischen Beispiele! Auch der Alltag hat Yang-ohne-Yin-Phänomene zu bieten. Wenn bei der Freitagabend-Alkoholkontrolle vor Ihrer Stammkneipe von 500 Autofahrern letzte Woche 10 und diese Woche 15 unangenehm aufgefallen sind, kann die örtliche Zeitung tief empört titeln: »Immer mehr betrunkene Autofahrer: Polizei erwischte 50 Prozent mehr.« Alkohol am Steuer soll auch kritisiert werden, da kennen wir kein Pardon. Aber Frau Yin möchten wir Ihnen doch noch kurz vorstellen, wenn Sie sie nicht schon selber erkannt haben: »Verantwortungsbewusste Autofahrer fahren fast alle nüchtern: Waren es letzte Woche 98 Prozent, so hat sich der Anteil diese Woche nur minimal auf 97 Prozent verringert.«

Der Verkehr ist überhaupt eine ergiebige Quelle. Wer kennt es nicht, das Phänomen der »vielen Raser auf der Überholspur«? Wenn Sie auf der Autobahn die Richtgeschwindigkeit einhalten und Tempo 120 oder 130 fahren, haben Sie den Eindruck, dass fast alle anderen Autofahrer schneller sind und Sie überholen. Doch dieser Eindruck täuscht. Sie können nämlich das Yin, also die Autos, die genauso schnell fahren wie Sie, gar nicht sehen; oder höchstens zwei davon: Ihren Vordermann und den einen Hintermann, der Sie nicht überholt. Machen Sie sich das Phänomen mit folgendem Beispiel deutlich: 20 Autos fahren mit Tempo 120 und jeweils 100 Metern Abstand von Yangheim nach Yinningen. Gleichzeitig fahren 5 Raser mit Tempo 200 und überholen dabei alle »Normalos«. Dann sieht jeder der 20 »Normalos« 2 Autos, die genauso schnell fahren wie er, und 5 Autos, also mehr als doppelt so viele, die ihn mit Tempo 200 überholen – und denkt sich: »Typisch! Die anderen fahren alle viel schneller als ich … «

Eine eklatante Yin-Blindheit kennt Jens aus Gesprächen, bei denen Autofahrer zu beweisen versuchen, dass Bahnfahren teurer sei als Autofahren. Im Frühjahr 2010 behauptete das sogar ein Marketingfachmann, ein studierter Betriebswirt, bei einem Messevortrag in Bielefeld. Wie viele andere verglich er die Kosten einer Bahnfahrkarte mit den reinen Benzinkosten der Autofahrt. Jens fragte ihn nach diversen Yins: Was ist mit dem Wertverlust des Autos, mit Versicherungsbeiträgen, Reparaturen, Ersatzteilen, Parkgebühren, Knöllchen? Nein, die werden merkwürdigerweise häufig auf Konten verbucht, die nach Meinung der Autofahrer nichts mit den Kosten einer Autofahrt zu tun haben, oder sie werden komplett verdrängt. Auch Wertverlust, Reparaturen oder Bußgelder hängen von den gefahrenen Kilometern ab, legen sich also auf jede einzelne Fahrt um.

Nach so vielen fehlenden Yins darf am Ende das Lob nicht fehlen. Positive Verstärkung nennen wir das in der Pädagogik und probieren das gleich an Ihnen aus.

Die beiden Seiten der Medaille Migration. So oder ähnlich erschien die Grafik 2004 in mehreren Tageszeitungen.

Diese Grafik über den Zuzug und Wegzug von Ausländern nach und aus Deutschland war 2004 der Presse zu entnehmen. Dankenswerterweise hat sie nicht einseitig mit den Zuzügen nach Deutschland die Panik vor der »Überfremdung« geschürt, sondern mit den Fortzügen auch die Yin-Seite gezeigt, insgesamt also ein realistisches Bild gegeben. (Auf den Make-up-Effekt in dieser Grafik kommen wir auf Seite 39 zu sprechen.)

Für weitere positive Beispiele haben frühere Regierungen und Bundestage gesorgt. Pharmaunternehmen wurden 1976 per Arzneimittelgesetz gezwungen, neben den positiven Wirkungen auch alle unerwünschten Nebenwirkungen auf die Packungsbeilagen der Medikamente zu schreiben. 1985 hat die damalige Bundesregierung Kohl mit der Preisangaben-Verordnung sogar die Banken in ihre Schranken verwiesen. Da bei Krediten eine Angabe des Jahreszinses die tatsächliche Belastung des Kreditnehmers verschleiert, wenn die Raten monatlich zurückgezahlt werden, sorgte die Verordnung dafür, dass die Banken zusätzlich den sogenannten effektiven Jahreszins ausweisen müssen.

»Das war ja eine tolle bunte Mischung! Und was lernen wir jetzt aus alledem? Dass du ein Schnellmerker, Frechdachs und überhaupt ein toller Hecht bist, wussten zumindest die Eingeweihten schon vorher«, fragt Jens ketzerisch, aber mit freundlichem Lächeln. »Eigentlich ist es ganz leicht: Man muss nur gucken, welche wichtigen Fakten noch zum Thema gehören und nach diesen vergessenen Seiten fragen«, antworte ich, ohne auf die Stichelei einzugehen. »Zum Beispiel bei der ständigen Klage über die hohe Staatsverschuldung. Da wird ja regelmäßig übersehen, dass die Schulden der einen Partei immer auch Guthaben einer anderen Partei … « – »Stopp!« Jens wird energisch und verbannt mein nächstes Beispiel gnadenlos ins Kapitel »Übung macht den Meister« (siehe Seite 287).

1

Gerd Bosbach/Klaus Bingler: »Demografische Entwicklung und technischer Fortschritt: Droht eine Kostenlawine im Gesundheitswesen? Irrtümer und Fakten zu den Folgen einer alternden Gesellschaft«, in: Soziale Sicherheit 1/2008, S. 7.

2

Ebenda, S. 10.

3

Angaben nach Wikipedia: Waldschlösschenbrücke (Stand April 2010); dresden.de: Stadtentwicklung: Brennpunkte: Waldschlösschenbrücke (Stand April 2010).

4

Finanzierungskosten von 60 Millionen Euro (bei 7 Prozent Kreditzinsen pro Jahr) und Unterhaltskosten von 1 Million Euro pro Jahr.

5

Ver.di: Wirtschaftspolitik aktuell, Nr. 18, September 2007.

6

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), laut Ver.di: Wirtschaftspolitik aktuell, Nr. 17, Aug. 2009.

7

Ausführlich dazu Gerd Bosbach: »Demographische Entwicklung – Realität und mediale Aufbereitung«, in: Berliner Debatte Initial 3/2006.

8

Jens Jürgen Korff: »Umweltbehörden unter Druck«, in: Harenberg Aktuell 2007. Mannheim 2006, S. 476f. Der Beitrag stützt sich u. a. auf ein Gutachten des deutschen Sachverständigenrates für Umweltfragen vom Februar 2006. Zum Fall Hitzacker: mündliche Auskunft aus dem Umweltbundesamt (2006).

9

Zur Justiz: Neue Westfälische (NW) 5.10.2007, 10.1.2009; Stellungnahme von Klaus Tolksdorf, Präsident des Bundesgerichtshofs, laut Neue Westfälische, 31.1.2009, 14. u. 17.8.2009. Zur ZVS siehe Neue Westfälische, 4.2.2010.