Lukas Resetarits - Kabarett und Kottan - Lukas Resetarits - E-Book

Lukas Resetarits - Kabarett und Kottan E-Book

Lukas Resetarits

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Beschreibung

Seit dem Nationalfeiertag 1977 steht Lukas Resetarits als Solo-Kabarettist auf der Bühne. Er erntete dafür viel Lob, viel Empörung und sämtliche dafür relevante Würdigungen - vom Salzburger Stier bis zum Deutschen Kleinkunstpreis. In etlichen Rollen von "Kottan" bis "Burschi Leitner" im "Kaisermühlenblues" schrieb er Film- und Fernsehgeschichte. Dabei inspirierte er internationaleZeitungskritiker zur Vergabe unterschiedlicher Kosenamen : Eine Zeitung nannte ihn "un second Pierre Richard", eine andere einen "milchrahmstrudelgemästeten Ottakringer Wohnküchen-Redford". Wie in seinem Bestseller "Krowod" erzählt Lukas Resetarits auch im zweiten Teil seiner Memoiren packende und amüsante Hintergrundgeschichten. Fritz Schindlecker setzt sie in den zeitgeschichtlichen Rahmen und in literarische Form. "Ich durfte mit Lukas Resetarits heuer auf der Bühne das eine oder andere aus seinen Kinder- und Jugendtagen besprechen, und merke jetzt, das war eine kleine Probe auf diese Prosa. Da ist ordentlich was draus geworden, Zeit- und Ortsgeschichte unaufdringlich eingemischt. […]. Lesen Sie das Buch, und hoffen Sie mit mir auf eine Fortsetzung." (Armin Thurnher, Falter, zu Lukas Resetarits – Krowod) Über 12.000 verkaufte Exemplare des ersten Bandes "Lukas Resetarits - Krowod!

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Über das Buch

Seit dem Nationalfeiertag 1977 steht Lukas Resetarits als Solokabarettist auf der Bühne. Er erntete dafür viel Lob, viel Empörung und sämtliche dafür relevanten Würdigungen – vom „Salzburger Stier“ bis zum „Deutschen Kleinkunstpreis“. In etlichen Rollen von „Kottan“ bis „Burschi Leitner“ im „Kaisermühlen Blues“ schrieb er Film- und Fernsehgeschichte.

Dabei inspirierte er internationale Zeitungskritiker zur Vergabe unterschiedlicher Kosenamen: Ein Magazin in Montreux nannte ihn „un second Pierre Richard“, ein deutsches Blatt bezeichnete ihn als „milchrahmstrudelgemästeten Ottakringer Wohnküchen-Redford“.

Wie in seinem Bestseller „Krowod“ erzählt Lukas Resetarits auch im zweiten Teil seiner Memoiren packende und amüsante Hintergrundgeschichten. Und wieder werden diese von Fritz Schindlecker in den zeitgeschichtlichen Rahmen gesetzt und in literarische Form gebracht.

Für mich persönlich warst du der große Wegweiser, der definiert hat, wie Kabarett gemacht werden muss. Erstens von einer politischen Haltung aus, weil man sonst nur jemand ist, der für Geld lustige Sachen erzählt. Und zweitens in gesunder Distanz zur hohen Politik und zur sogenannten besseren Gesellschaft. (Josef Hader)

Gewidmet meiner Enkelin Jana,die mit ihrer Liebe und ihrem Lachenmein Leben erhellt

INHALT

VORWORT

ES IST BITTE FOLGENDES …

Der Straßenbahner als Zoologe

In der Arena ist der Bär los

Schluss mit Panik – Neubeginn mit Jubel

ALLEIN AUF WEITER BÜHNE

Links, aber lustig

Allerhöchster Besuch

Team-Bildung

Kleinkunst und Avantgarde

INSPEKTOR GIBT’S KAN

„Äktschn“ fast wie in Hollywood

Der Dritte wird zur Nummer eins

Kottan’s Kapelle

Making of „Kottan“

Der Papst und Kottan

Mord an einem Taxifahrer

Der Papa ist ein Star

I ODER I – ZWIESPALT UND PRIORITÄT

Ein neues Publikum

Jobangebote

Kabarettist sein verpflichtet

DER MAI IST VORBEI – DIE 1980ER

Lustig durch die ernsten Zeiten?

Die Szene wird größer, die Familie auch

Auf dem Kü-Berg ist der Teufel los

GRÜN-WEISS VIOLETT

1990 – ENDE DER GESCHICHTE?

Frei – wie ein Hamster im Radl

Als Autoren-Duo durch die 1990er

KLEINKUNSTFILM UND KAISERMÜHLEN BLUES

Kleinkunst ist kein’ Kunst

„Romy“ für Burschi

Mit frischem Wind ins neue Jahrtausend

ÜBER LEBEN IM UNRUHESTAND

Pandemie und Politik

Je älter, desto geehrter

Die Freiheit über den Wolken

Familiengeschichten

VORWORT

von Josef Hader

Lieber Erich Lukas,

es muss im Frühjahr 1981 gewesen sein, da bin ich dir zum ersten Mal begegnet. Ich bin schüchtern vor dir gestanden. Du hast mich nur halb angeschaut. Und dann hast du den perforierten Streifen von meiner Eintrittskarte abgerissen. Damals warst du gern dein eigener Kartenabreißer und ich war ein Schüler aus Melk auf Wien-Woche, der gerade die vom Lehrer organisierte Vorstellung im Burgtheater schwänzte und stattdessen zu dir ins Theater im Konzerthauskeller gegangen ist.

Das Programm hieß „Nur kane Wellen“ und handelte davon, dass man in Österreich nicht gern einen Aufruhr macht, sondern lieber still und leise, ohne Wellen zu erregen, unter der glatten Wasseroberfläche für sich herausholt, was geht. Das kann man über dich nicht sagen. Du machst seit vielen Jahren ordentlich Wellen und bist auch keiner, der über die Zeit ruhiger und leiser geworden wäre. Dein Zorn ist sehr jung geblieben. Es ist ein heiliger Zorn, wie es sich für einen ehemaligen Ministranten gehört, und es ist ein gerechter Zorn, weil er niemanden verschont, auch dich selber nicht und deinen Blutdruck. Du regst dich immer noch auf und lässt dich aufregen, und das ist vielleicht das Beste, was man in unserem Beruf erreichen kann: dass man kein kalter Zyniker wird, dem schön langsam alles wurscht ist.

Für mich persönlich warst du der große Wegweiser, der definiert hat, wie Kabarett gemacht werden muss. Erstens von einer politischen Haltung aus, weil man sonst nur jemand ist, der für Geld lustige Sachen erzählt. Und zweitens in gesunder Distanz zur hohen Politik und zur sogenannten besseren Gesellschaft. Von dir hab ich gelernt: Wer Kabarett macht, hat keine Minister in den Premieren sitzen (auch keine Ministerinnen), verhabert sich nicht mit den Reichen und Schönen und macht grundsätzlich keine Werbung für irgendetwas, von dem die Wirtschaft glaubt, dass es konsumiert werden soll.

Bei einer anderen Art von Werbung hast du aber immer gern und unaufgefordert aufgezeigt: wenn es darum gegangen ist, sich für gescheite und menschliche Anliegen einzusetzen und gegen unmenschliche und depperte.

Lieber Erich Lukas, das und noch einiges mehr hast du einer ganzen Generation und jetzt langsam schon einer zweiten vorgemacht und wir haben es versucht nachzumachen, naja, sagen wir, die meisten. Und dafür sage ich jetzt einmal, auch für alle anderen stellvertretend, Dankeschön.

Dein Josef

ES IST BITTE FOLGENDES …

… der, der was eigentlich heute da sein sollte, ist noch nicht da … ich weiß auch nicht, ob er kommen wird … Ich bin schon do, jo … Owa ich bin nur der reine Billeteur … der Kartenabreißer …

Rechts Mitte Links

Einen Tag vor dem österreichischen Nationalfeiertag 1977 herrschte im „Kleinen Theater im Wiener Konzerthaus“ hektische Stimmung.

Mit Kärntner Akzent äußerte sich der Vortragende zur politischen Lage im südlichsten österreichischen Bundesland wie folgt:

„Ortstofeln aufstölln, jugoslawische! Homa bis heit kane ghobt, und hot trotzdem noch a jeda hamgfundn! Mia kennan do net als Intanationalistn dem slowenischen Nationalismus nochgebn!

Wal mia seima nämlich a offene Partei. Sehgn S’, dewegn bin i so a ibazeigta Sozialist!“

„Sozialist“ war das Stichwort für ein Blackout.

Doch die wenigen Scheinwerfer des „Kleinen Theaters“ fokussierten allesamt weiter den Darsteller, der sichtlich zornbebend in Richtung des Beleuchters starrte. Der rührte keinen Finger.

„Das war das STICHWORT!!!“, brüllte Regisseur Dieter Haspel in den kleinen Raum, so laut, dass die Wände wackelten.

Sofort versenkte der Lichtmeister die Bühne eilfertig in tiefste Finsternis.

„War gut?!“, fragte er mit serbischem Akzent, während er nun nach dem Blackout wieder das Arbeitslicht einschaltete.

Es war unfassbar. Der Kerl hatte bisher gezählte dreizehn-, gefühlte hundertmal bei dieser Generalprobe die Blackouts verschlafen. Und anstatt anständigerweise Selbstmord zu begehen, oder wenigstens den Zerknirschten zu spielen, stellte er immer wieder mit dämlichem Grinsen fest:

„War gut?!“

Doch jetzt platzte Lukas der Kragen. Er sprang von der Bühne und rannte hinaus in die winzige, etwa zwei mal drei Meter große Künstlergarderobe. Dort breitete er auf dem Boden die Livree aus und legte sich darauf. „Livree“ hieß jenes Kleidungsstück, das die Kartenabreißer in den Wiener Hochkulturtheatern damals trugen. In diesem Outfit pflegte er in seinem ersten Programm in der Rolle eines Billeteurs den Publikumseinlass selbst vorzunehmen.

Jetzt lag Lukas auf diesem elenden Bühnenkostüm und fühlte mit Schrecken, wie ihm der Zorn das Wasser in die Augen trieb. Schon nach wenigen Augenblicken entrang sich ein Schluchzen seiner Brust. In diesem Moment tauchte sein Bruder Willi auf. Der legte sich wortlos neben ihn auf den Boden und begann ebenfalls zu weinen. Bei Willi aber waren die Tränen keine Früchte des Zorns, sondern Ausdruck einer aus tiefster Seele kommenden brüderlichen Solidarität.

So lagen die beiden bereits durchaus bühnenerfahrenen jungen Männer auf dem Garderobenboden des Konzerthauskellertheaters nebeneinander und heulten redewendungskonform gemeinsam wie die Schlosshunde.

Warum taten sie das? Eine mögliche Erklärung dafür liefert ein altes Klischee. Dieses besagt, dass die meisten burgenländischen Kroaten, obwohl sie weder nah dem Neusiedlersee und schon gar nicht in Donaunähe geboren wurden, offenbar „nahe am Wasser gebaut seien“.

„Das ist kein Klischee“, sagt Lukas. „Bei uns gibt’s viele Gründe zu weinen! Man kann das aus unglücklicher Liebe machen, aus glücklicher Liebe, aus unbändiger Freude und um die Trauer zu bändigen, aus furchtbarer Angst und aus nicht minder furchtbarem Zorn.“

In diesem Fall war es eindeutig Zorn, der sich allerdings auch allmählich mit einem gerüttelt Maß an Verzweiflung zu mischen begann.

„Des Soloprogramm geht den Bach owe“, sagte Lukas zu seinem Bruder.

„Das wird schon, das krieg ma schon in den Griff!“, erwiderte der.

„Na! Ich bin a Kicker. I war immer a Teamspieler! A Solo zu machen war a blöde Idee!“

Willi hatte diese Idee von Anfang an ausgesprochen gut gefunden. Es lag also nahe, dass er sie nun auch verteidigte.

„Geh bitte! Vor drei Jahr hast du bei uns doch auch dauernd Soloauftritte hingelegt!“

„Schon“, erwiderte Lukas. „Aber da war i net alan auf der Bühne. Da ist die ganze Schmetter-Band rund um mich g’standen.“

FLASHBACK – drei Jahre vorher.

DER STRASSENBAHNER ALS ZOOLOGE

Die Schmetterlinge hatten gerade ihren damaligen Hit „500 Dollars“ zu Ende gespielt, als ein dynamischer hellblonder 26-jähriger angeblicher „Straßenbahner“ die Bühne betrat.

Er machte zwischen den Songs das, was heutzutage auch hierzulande als „Stand-up-Comedy“ bezeichnet wird: halb vorbereitete, halb im Dialog mit dem Publikum improvisierte Erzählungen, die den Zuschauern regelmäßig die Lachtränen wie kleine Bächlein aus den Augen fließen ließen.

Keine Frage – der junge Mann war für die Bühne geboren.

Und deren Bretter, die angeblich die Welt bedeuten, standen in diesem Fall im Wiener Folkclub „Atlantis“, dem damaligen Mekka der „Folknics“ und der gerade im Entstehen begriffenen Liedermacherszene.

Die Schmetterlinge gab es damals schon seit gut vier Jahren. Ihre Musik war anfänglich stark von der US-amerikanischen Folk- und Countrymusik beeinflusst gewesen. Seit Kurzem nannten sie ihren neuen Musikstil „Madrigal-Rock“.

Was Rockmusik ist, das wissen wir.

Aber what the heck ist ein Madrigal?

„Das Madrigal ist ein mehrstimmiges Vokalstück meist weltlichen Inhalts und eine wichtige musikalische Gesangsform der Renaissance und des Frühbarock.“

So weit Wikipedia.

Im Fall Schmetterlinge bedeutete dies, dass sie zu rhythmisch akzentuierter Musik meist sehr komplexe Chorsätze sangen. Die „weltlichen Inhalte“ stammten meist von dem großartigen Wiener Poeten Heinz R. Unger.

Damals, als dieser angebliche Straßenbahner auf der „Atlantis“-Bühne erschien, spielten in der Band folgende Musiker: die aus Großbritannien stammende Lead-Vokalistin Pippa Armstrong-Tinsobin, die von Lukas’ Bruder Willi – bezugnehmend auf ihre schlanke Erscheinung – gerne „Bin-so-dünn“ genannt wurde, sowie der Gitarrist und Keyboarder Georg Herrnstadt. An der Leadgitarre wirkte Herbert Tampier, am Bass und am Akkordeon Erich Meixner. Leadsänger war Willi Resetarits, der auch auf den Congas trommelte und für die Conférencen sorgte.

An jenem Abend kündigte er während des Konzerts einen „Straßenbahner“ an, „der in seinen Urlauben weltweit als Tierforscher tätig ist“.

Der Straßenbahner erklomm die Bühne und erzählte von seinen Abenteuern und wie er sie finanzieren konnte. Er sei sehr sparsam, sagte er und die internationale Vernetzung des Welt-Straßenbahnertums ermögliche es ihm, kostengünstig zu reisen. Sämtliche Straßenbahnnetze von Kairo bis Neu-Delhi stünden ihm kostengünstig zu Verfügung. Und in die jeweils anliegenden Wüsten- oder Dschungellandschaften dringe er dann per pedes oder per Anhalter vor.

„Welche exotischen Tiere hast du denn als Hobby-Tierforscher damals dem Publikum nähergebracht?“

Lukas lächelt und meint: „Jede Menge. Die drei interessantesten waren die Brüllameise, die Mörderdrossel und Muntjak, der reißende Zwerghirsch.“

„Und die gibt’s wirklich, die Viecher?“, frage ich interessiert. Denn ich bin im Bereich der Flora und Fauna ein absoluter Analphabet.

„Den Muntjak gibt es“, erwidert Lukas. „Die beiden anderen sind frei erfunden.“

Und was machte die drei so besonders?

„Die Mörderdrossel“, so weiß es Lukas zu berichten, „war auf dem afrikanischen Kontinent beheimatet. Sie gehörte zur Familie der ‚Zeckenpecker‘. Das sind jene Vögel, die häufig auf den Köpfen von Elefanten sitzen und dort Zecken und andere insektenartige Tiere aus der dicken Haut herauspicken. Das ist eine Symbiose zwischen Zeckenpeckern und Dickhäutern: Die Elefanten werden von den lästigen Parasiten befreit und die munteren Vöglein finden in den Insekten proteinreiche Nahrung!“

„Ja, das kennen wir aus der beliebten Sendereihe ‚Universum‘!“, sage ich und füge mit einem leichten Anflug von Ungeduld hinzu: „Und was ist jetzt das Neue an dieser Mörderdrossel, verglichen mit den anderen Zeckenpeckern?“

„Darauf wollte ich ja gerade kommen!“, meint Lukas ein wenig ungnädig und fügt dann hinzu: „Im Zuge der Evolution, deren Existenz in jüngerer Zeit von Großexperten der Schwurbelei abgestritten wird, hat die Mörderdrossel einen derart harten Schnabel entwickelt, dass sie mit ihren Schnabelhieben die lederharte Elefantenhaut durchstoßen und bis zum Blut des Großsäugers vordringen konnte.“

„Und daraufhin hat der Elefant mit seinem Rüssel die Drosseln blitzartig gepackt, zum Maul geführt und zusammengefressen?“

„Nein!“, erwidert Lukas. „Dann würde sie ja nicht Mörderdrossel heißen. Umgekehrt ist es gelaufen: Die Vöglein wurden nicht gefressen, sondern haben sich vom Blut des Elefanten ernährt. Ganzen Schwärmen von Mörderdrosseln soll es gelungen sein, durch dieses Blutabsaugen Elefanten sogar zu töten! Die von der Großwildjäger- und Elfenbeinverarbeitungslobby in Umlauf gebrachte These, der afrikanische Elefant sei weniger durch die Wilderer und Jäger vom Aussterben bedroht als vielmehr durch das massenhafte Auftreten der Mörderdrossel, diese These muss wohl trotzdem als unhaltbares Gerücht bezeichnet werden. Wenngleich man sagen muss“, fügt Lukas mit listigem Lächeln hinzu, „zum Teil wurde meine damalige Mörderdrossel-Theorie schon bestätigt. Einige dieser kleinen Vöglein, welche die Elefanten von der Madenplage befreien, sollen tatsächlich so nebenbei auch Blut von den Dickhäutern absaugen. Umbringen tut die das natürlich nicht. So etwas Ähnliches wie lästig juckende Gelsenstiche werden die Elefanten aber vielleicht davon schon auch kriegen.“

Das nächste Tier, das Lukas in seiner damaligen zoologischen Vortragsreihe vorstellte, die Brüllameise, hatte ebenfalls eine Mutation im darwinschen Sinne hinter sich.

Dazu Lukas: „Vor Tausenden von Jahren, als diese besonders kleine Ameise vom Aussterben bedroht war, entwickelte sie eine höchst interessante Selbstschutzfähigkeit: Immer dann, wenn sich ihr ein Fress- oder auch ein Zusammentret-Feind näherte, stieß sie ein derart ohrenbetäubendes Gebrüll aus, dass der Feind sofort davonlief oder gar vor Angst starb!“

Das dritte Tier, das der Tramway-Tierexperte beschrieb, war der Muntjak.

Über die chinesische Version dieses speziellen Hirschtyps – der in der Lukas-Variante übrigens besonders stark ausgebildete Reißzähne besitzen soll – weiß Wikipedia unter anderem Folgendes zu berichten:

„Die Art kommt in der zentralen und südlichen Volksrepublik China sowie in Taiwan vor (…) Der Chinesische Muntjak erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von 70 bis 80 cm, zuzüglich eines 12 bis 13 cm langen Schwanzes und eine Schulterhöhe von 45 bis 50 cm.“

Man kann also in der Tat mit Fug und Recht von einem sehr kleinen Hirschen reden. Trotzdem lieferte er sich in den Erzählungen des Tramway-Zoologen meist siegreiche Auseinandersetzungen mit einer der gefährlichsten Raubkatzen, dem Tiger.

Momenterl! Trifft dies auch auf den Chinesischen Muntjak zu? Oder anders gefragt: Gibt’s in China überhaupt Tiger?

Einmal mehr weiß Wikipedia die Antwort:

„Der Südchinesische Tiger (Panthera tigris amoyensis), auch Amoytiger, ist eine sehr seltene Unterart des Tigers. Nach WWF-Angaben gibt es, wenn überhaupt, nur noch ein paar vereinzelte Individuen in freier Wildbahn. Seit mehreren Jahrzehnten wurde er wissenschaftlich belegbar nicht mehr gesichtet.“

Gut. Es ist fast fünfzig Jahre her, dass Lukas seinen Straßenbahn-Wildtierexperten ins Leben rief. Damals kann durchaus noch der eine oder andere Südchinesische Tiger die freie Wildbahn durchstreift haben. Und der war dann – zwar keine leichte, aber doch – eine Beute für den cleveren oder, wie es der Engländer sagen würde: den smarten Zwerghirsch.

Wie er das tat, das haben wir schon im Schlusskapitel des Buches „Krowod“ beschrieben, in dem sich Lukas an seine Kindheit und Jugend erinnert.

Sollten Sie dieses Buch nicht haben oder Ihnen die packende Muntjak-Geschichte nicht mehr präsent sein – was kaum vorstellbar ist –, dann gibt’s hier jetzt ein Dacapo:

„Wenn sich so ein Muntjak auf Tigerjagd machte, dann hatte er zuerst ausgekundschaftet, wo sich der nächste Tigerwechsel befand“, erzählt Lukas. „Sobald sich der Tiger nähert, verbeißt sich der Zwerghirsch zuerst in seine Genitalien, dann in seine Gedärme. Wenn der Tiger daraufhin in Panik flüchtet, lässt der Muntjak immer noch nicht los. Das Hirschlein macht das erst, wenn die Gedärme komplett abgewickelt sind, das Raubtier zu Boden fällt und ihm nicht mehr gefährlich werden kann.“

Zurück in die Künstlergarderobe des Kleinen Theaters.

Lukas erhob sich vom Boden, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und schnäuzte sich. Willi stand ebenfalls auf, als ein breit grinsender Dieter Haspel aus dem Theatersaal kam.

„Alles nur ein Missverständnis!“, sagte er. Dabei wedelte er mit dem Manuskript für den Kabarettabend herum – und zwar mit jenem, in das der aus Rumänien stammende Beleuchter mit serbischem Migrationshintergrund die Blackouts eingetragen hatte.

Überall dort, wo man ihm gesagt hatte, dies sei das „Stichwort“ für ein Blackout, hatte er sich eine Bleistiftnotiz gemacht: „STIHWORD“. Er wartete also jedes Mal verzweifelt darauf, dass der Schauspieler auf der Bühne „Stichwort“ sagte – was dieser aber leider nie tat. So kam das Blackout immer erst dann, wenn Dieter Haspel zuerst sanft rügend, später dann zornerfüllt brüllend das Zauberwort in Richtung Beleuchterkammerl geschleudert hatte.

Zur Ehrenrettung des Mannes an den Scheinwerfern muss festgehalten werden, dass er kein Profibeleuchter war, sondern der Saalwart des Kellertheaters. Davon ausgehend, dass ein Kabarett-Soloprogramm keine aufwendige Lichtshow benötigte, hatte man aus Einsparungsgründen auf einen Profi verzichtet.

Jetzt war das Missverständnis aufgeklärt und die Generalprobe konnte weitergehen. Dem Saalwart fiel ein Stein vom Herzen. Den anderen Beteiligten auch.

In der darauffolgenden Nacht stellte sich bei Lukas allerdings wieder Panik ein. Er hatte kein Vertrauen in seine „Solokarriere“. Das Ganze war aus der Not geboren und keineswegs der krönende Abschluss einer langen Planung.

Begonnen hatte alles im Frühsommer, etwas mehr als ein Jahr zuvor.

IN DER ARENA IST DER BÄR LOS

Der ORF-Wetterbericht hatte für das kommende Wochenende Schönwetter vorhergesagt. Und tatsächlich strahlte an diesem Sonntag, dem 27. Juni 1976, die liebe Sonne am azurblauen Himmel, als neben Wiens legendärem Naschmarkt eine Open-Air-Veranstaltung stattfand.

Das Ganze nannte sich „Anti-Schleifer-Fest“ und neben anderen Künstlern traten hier die Schmetterlinge und die Kabarettgruppe „Keif “ auf. Bei dieser Truppe spielte damals neben Erich Demmer, Alfred Rubatschek, Erwin Steinhauer und Wolfgang Teuschl auch Lukas. Er hatte ein Jahr zuvor Erich Bernhard ersetzt.

Dieses Fest richtete sich nicht gegen die ehrbare Berufsgruppe der Messer- und Scherenschleifer, sondern gegen Bundesheerausbildner, die Jungmänner so übereifrig trainierten, dass diese gesundheitliche Schäden davontrugen.

Zwei Jahre davor war ein besonders krasser Fall bekannt geworden: In der Julius-Raab-Kaserne in Mautern an der Donau war der Präsenzdiener Kurt Wandl bei einer Übung zusammengebrochen. Er starb am nächsten Morgen. Die Obduktion ergab, dass er einen Hitzeschlag erlitten hatte. Der Ausbilder und seine Vorgesetzten wurden vor Gericht gestellt, weil sie zu spät für ärztliche Hilfe gesorgt hatten. Die Strafen nach der Verurteilung fielen äußerst glimpflich aus.

Nachdem damals wieder einige Fälle von „Schleiferei“ bekannt geworden waren, sollte dieses Fest die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Missstände im Heer lenken.

Einige wesentliche demokratische Reformschritte in Richtung moderner Demokratie hatte die SPÖ-Alleinregierung bereits durchgesetzt:

Im Jänner 1976 war das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch insofern geändert worden, als der „Ehemann“ nicht mehr alleiniges Familienoberhaupt war; dies bedeutete zumindest eine rechtliche Gleichstellung der Frau. Und die ist im heutigen Rechtsverständnis ja wohl eine Grundvoraussetzung für das, was wir als „liberale Demokratie“ verstehen; im Gegensatz übrigens zu jener Staatsform, die in Orbáns Ungarn als „illiberale Demokratie“ und in Putins Russland als „souveräne Demokratie“ bezeichnet wird. Beide Konzepte lehnen Gender-Gleichstellung genauso ab wie das Einräumen von Freiheiten der sexuellen Orientierung und definieren sich bewusst als „Gegenmodelle“ zur „westlichen“, sprich: liberalen Demokratie, der sie „Dekadenz“ unterstellen.

Aber zurück ins Jahr 1976, zum „Anti-Schleifer-Fest“.

Dort sollte nämlich neben dem Protest gegen die Übergriffe bei der Soldatenausbildung zusätzlich auch noch eine „Initialzündung“ für etwas anderes stattfinden.

Einige Zeitzeugen berichten, Lukas habe damals nicht nur bei „Keif “ an dieser Veranstaltung mitgewirkt, sondern auch als Moderator durch das Programm geführt. Und dabei habe er am Schluss zu einem „Spaziergang zum Auslandsschlachthof “ aufgerufen.

Andere Quellen hinwiederum schwören Stein und Bein, sein Bruder Willi habe zur Besetzung der „Arena“ aufgerufen.

Was stimmt nun?

„Richtig ist, dass ich Moderator bei dem ‚Anti-Schleifer-Fest‘ war“, erzählt Lukas. „Zum Spaziergang habe ich auch aufgerufen – genauso wie der Willi und andere Künstler. Unsere Ausführungen wurden übrigens penibel von Herren mitgeschrieben, die man sofort als Staatspolizisten erkennen konnte. Denn sie notierten sich auffällig alles mit unauffälligen, kleinen Bleistiften auf unauffällige, kleine Notizblöcke. Aber selbst ohne diese zwergenhaften Notizgeräte wären sie für die routinierte Demonstrantin und ihr männliches Pendant unschwer als Beamte der Staatssicherheit erkennbar gewesen: Denn sie alle waren in grelle Schockfarbenhemden gehüllt, um sich als jugendliche Protestierer zu tarnen. Schockfarbenhemden waren aber damals längst aus der Mode. Die Einzigen, die sie trugen, waren Undercover-Polizisten. Die Idee für eine Besetzung des Arena-Geländes wurde allerdings nicht auf diesem Anti-Schleiferfest geboren, sie war schon lang vorher da und stammte von Architekturstudentinnen und -studenten.“

Gut. Aber alles der Reihe nach.

Was war diese Arena überhaupt?

Das „Haus der Geschichte Österreich“ bietet dazu im Internet unter anderem folgende präzise Kurzinformation:

„Seit 1970 gab es im Programm der Wiener Festwochen die alternative Veranstaltungsschiene Arena. Diese ‚Festwochen für junge Leute‘ gastierten 1975 erstmals am Gelände des ehemaligen Auslandsschlachthofes St. Marx, der von der Stadt Wien zum Verkauf und Abriss bestimmt war. 1976 fand die Arena neuerlich hier statt.“

Das Team um Festwochen-Intendant Ulrich Baumgartner hatte auch in diesem Jahr wieder ein sehr spannendes Programm zusammengestellt: Neben internationalen Produktionen wie „The Ik“, einer Inszenierung des britischen Kult-Regisseurs Peter Brook, und „Les grands sentiments“, das Jérôme Savary mit seinem „Le Grande Magic Circus“ zur Aufführung brachte, wurde auch die später legendär gewordene „Proletenpassion“ der Schmetterlinge mit Texten von Heinz R. Unger uraufgeführt. Bei dieser Produktion wirkten neben den damaligen Bandmitgliedern auch Beatrix Neundlinger, Christine Jirku, Erwin Steinhauer und Lukas als Schauspieler und Sänger sowie die Schlagzeugerin Angela Berann mit.

Bei den Proben zur „Proletenpassion“ gab es neben viel Stress auch einige kuriose Erlebnisse, welche die Herren Steinhauer und Resetarits bis heute gerne erzählen. Zwei dieser Geschichten haben direkt etwas mit der in der „Wiener Zeitung“ in einer Kritik als „begabte Diseuse“ beschriebenen Christine Jirku zu tun und mit ihrem geliebten Dackel. Die erste Anekdote stammt von Erwin und ich habe sie schon einmal nacherzählt – im biografischen Porträt „Erwin Steinhauer – Der Tragikomiker“.

Hier nochmals in geraffter Form:

Das Verhältnis zwischen dem eigentlich als Jagdhund von deutschen Waidmännern im 19. Jahrhundert gezüchteten „Dachshund“ und seinem Frauerl Christine Jirku war ein äußerst inniges. Gelegentlich soll das liebe Tier sogar das Gesicht der Diseuse abgeleckt haben, wie Zeitzeugen zu berichten wissen.

Erwin wurde damals von einer lästigen Tierhaarallergie gequält. Immer, wenn Frau Jirkus vierbeiniger Freund ihn schwanzwedelnd umtanzte, bekam er Nies- oder Hustenanfälle, die sich im schlimmsten Fall bis zu einer virulenten Erstickungsangst steigern konnten.

Schließlich riss ihm der Geduldsfaden und er forderte die Kollegin auf, in Zukunft ihre übel riechende Bestie zu Hause zu lassen. Zumal sie selbst durch die andauernden Hundeschmusereien bereits ein dackelartiges Odeur ausströme.

Frau Jirku wurde erst kreidebleich, dann krebsrot im Gesicht und stürzte wutentbrannt auf die Bühne.

Hier wurde gerade eine Szene geprobt.

Von heiligem Zorn erfüllt rief Frau Jirku dröhnend in den Saal:

„Der Steinhauer ist ein so ein blödes Arschloch! Ich lasse mir solche Unverschämtheiten nicht bieten! ICH STEIG AUS!“

Kaum waren ihre Worte verklungen, da schleuderte der Chefbeleuchter sein Technik-Buch auf die Bühne, in dem die Stichworte für die Lichtstimmungs-Änderungen eingetragen waren, und brüllte:

„Schon wieder a neiches Stichwort?! Jetzt scheiß i drauf!“

Was beweist, dass nicht nur Saalwarte, sondern auch Profibeleuchter mit den Lichtstimmungsänderungs-Stichworten ihre liebe Not haben können.

Nachdem Erwin sich entschuldigt hatte, konnte Frau Jirku überredet werden, doch nicht zu kündigen. Im Gegenzug versprach sie, den Dackel in Hinkunft zu Hause zu lassen, sofern es ihr möglich sei, für das geliebte Wesen eine Teilzeitbetreuung zu finden. Einige Probentage lang klappte das hervorragend. Doch bald war wieder alles beim Alten. Und die Hundefreundinnen und -freunde im Probenteam der „Proletenpassion“ erfreuten sich am herzerfrischenden Gebell des lebensfrohen Dackels.

Lukas gehörte nicht zu ihnen. Denn der ist zwar Tierfreund und begabter Hobbyzoologe und er war dies auch schon damals in seinen Zwanzigern. Doch in der Grundsatzfrage bei Haustierfans: Hund oder Katze? entspricht damals wie heute seine Entscheidung jener der alten Ägypter. Denn auch die zogen die Katze dem Hund vor, wie wir einem „Welt-online“-Interview mit der Ägyptologin Salima Ikram, Professorin an der Amerikanischen Universität Kairo, entnehmen konnten.

Lukas’ Toleranzschwelle für bellende Hunde ist deutlich niedriger als jene für miauende Katzen. Ja selbst das „Katzengerau“ – also das durch Mark und Bein gehende Geheul während der Brunftzeit – ist ihm erträglicher als das keifende Gebell von Dackeln. Unnötig zu betonen, dass Frau Jirkus Dackel ein Virtuose in der Kunst des Kläffens war.

Der Zufall wollte es, dass zur selben Zeit auch der bis heute erfolgreiche Zirkus Roncalli – damals noch unter Leitung des Direktorenduos Bernhard Paul und André Heller – auf dem Schlachthofgelände probte. Das Zirkusprogramm trug den Titel „Die größte Poesie des Universums“, worin sich unverkennbar die notorische Bescheidenheit des Heller-Franzi widerspiegelte.

Trotz des Probenortes fand die Premiere aber nicht im Rahmen der Festwochen statt, sondern am 18. Mai in der bundesdeutschen Hauptstadt Bonn. Den damaligen Zirkusgepflogenheiten entsprechend, die weit davon entfernt waren, heutigen tierschützenden Vorgaben zu entsprechen, gab es neben anderen Attraktionen auch eine Bären- und eine Löwennummer.

Als einmal in einer Probenpause Lukas vor dem Löwenkäfig stand und dem Dompteur zusah, wie der mit dem Löwen übte, näherte sich ohrenbetäubendes Dackelgekläffe. Vor dem Käfig hielt der Hund dann inne und das Frauchen folgte seinem Beispiel. Beide beobachteten nun ebenfalls mit Interesse das Training für die Löwennummer. Dies hielt aber das offensichtlich multitaskingfähige Hundchen nicht davon ab, Lukas unermüdlich weiter zu verbellen, bis dem schließlich der Geduldsfaden riss. Er nahm sich einen an der Wand lehnenden Strohbesen mit sehr langem Stiel und sagte mit gefährlich ruhiger Stimme:

„Wenn das Hundsviech net sofort mit der hysterischen Bellerei aufhört, dann bind i eam an das Besenstangel und halt eam eine zum Löwen.“

Frau Jirkus Miene verdüsterte sich schlagartig und sie setzte ganz offensichtlich zu einer scharfzüngigen Gegenbemerkung an. Doch der Dompteur kam ihr zuvor.

„Um Gottes willen!“, sagte er besorgt zu Lukas. „Tun S’ das nicht! Mein Leo hat eine panische Angst vor Hunden. Der kriegt an Herzinfarkt, wenn er den Dackel da so nah vor sich sieht!“

Frau Jirku musste herzlich lachen, der Dackel stellte aus Rücksicht auf den sensiblen Löwen sein hundsordinäres Gebell ein und alle waren zufrieden. Bevor wir uns den dramatischen ersten Stunden der Arena-Besetzung zuwenden, wollen wir noch eine zweite, entspannende Zirkusanekdote erzählen.

„Beim „Arena-Wirt“ konnte man schon in der ersten Maihälfte in den Probenpausen im Schanigarten sitzen“, erzählt Lukas. „Einmal kommt ein Mann angerannt, quietscht sich vor uns ein und schreit:

‚Hat einer von euch einen Bären gesehen?‘

‚Is er dir schon wieder davongrennt, der Petzi?‘, fragt der Wirt, dreht sich zu uns und sagt dann laut, wobei er vor Lachen kaum reden kann: ‚Der rennt eam dauernd davon, der Bär!‘

Der Bärendompteur machte eine wegwerfende Handbewegung, stieß einen derben Fluch aus und rannte weiter.“

Nach einer halben Stunde trottete der Bär einträchtig neben seinem „Herrl“ wieder zurück in Richtung Zirkuswagen.

Ein paar Tage später erzählte man sich beim „Arena-Wirt“ allerdings eine höchst eigenartige Geschichte: In einer nahe gelegenen Simmeringer Schrebergartensiedlung hätten die Leute dort tags zuvor einen Mann beobachtet, der über die Schrebergartenumzäunung nach draußen geklettert sei. Da er Mitte Mai in einen dicken Pelzmantel gehüllt war, vermutete man einen Diebstahl ebendieses Mantels und verständigte die Polizei. Die Polizisten nahmen die Spur des Einbrechers auf und sahen kurz darauf einen Bären, der sich Richtung Donaukanal davonmachte. Während die Gesetzeshüter Verstärkung, möglicherweise in Gestalt von geschulten Bärenfängern der Einsatztruppe Cobra anforderten, sprang Meister Petz ins Wasser und entfernte sich mit routinierten Kraulbewegung gegen Westen, also interessanterweise stromaufwärts, Richtung Wiener Innenstadt.

Als dann die Cobra-Männer eintrafen, soll die Situation bereits geklärt gewesen sein.

Einer der Streifenbeamten hatte in einem nahe gelegenen KONSUM-Markt eine Kilo-Dose Honig erworben. Damit habe man den Bären aus den Fluten locken können.

Nun saß er friedlich am Kanalufer, leckte den letzten Honig auf und ließ sich widerstandslos vom Sonderkommando festnehmen.

„Na, das war hundertprozentig unser Bär!“, sagte der Arena-Wirt begeistert. „Ich mein – wie viele Bären gibt’s sonst noch in Simmering!“

„Eigentlich nur mehr den Hustinetten-Bär!“, sagte einer, der das originell fand.

Trotzdem klingen beide Erklärungen, jene des Wirten und die des Originellen, bis heute stichhaltig.

Allerdings: Nachprüfbar war das damals nicht mehr – den Bärendompteur konnte man nicht mehr fragen. Denn der Zirkus Roncalli war tags zuvor per Eisenbahn Richtung Bonn abgefahren.

Wir Heutigen, die wir geschult sind in der Abwehr von Fake-News, haben allerdings berechtigte Zweifel am Wahrheitsgehalt der ganzen Geschichte.

Denn trotz intensiver Internet-Suche ist uns kein im Donaukanal schwimmender Bär untergekommen. Man findet vielerlei aus dem 1976er-Jahr, viel Wichtiges und auch viel Schmarren, aber keinen Hinweis auf diese Geschichte.

Solange wir keine stichhaltigen Beweise finden, ordnen wir sie also wohl am besten den sogenannten Urban Legends zu. Das sind jene moderne Sagen und Märchen, die manche von uns sehr gerne glauben. Zum Beispiel, dass weiße Krokodile im Kanalnetz von New York herumschwimmen, Elvis in einem Altenheim in Acapulco lebt oder dass Herbert Kickl ein ernst zu nehmender Politiker ist.

Doch am Abend des 27. Juni war in der Arena dann wirklich der Bär los. Bereits eine Woche vorher waren Flugblätter mit dem Titel „Der Schlachthof darf nicht sterben“ verteilt worden, auf denen zur Besetzung des Geländes aufgerufen wurde. Den Text hatten vier Student*innen der Gustav-Peichl-Klasse für Architektur an der Akademie der Bildenden Künste verfasst.

Hierzu sei ergänzend angemerkt, dass es damals in Wien kaum größere Veranstaltungsräume für Jugendkultur gab, jedenfalls keine in Selbstverwaltung. Und zu dieser Zeit war „Fristad Christiania“ in aller Munde. Dieses Viertel in Kopenhagen galt damals als Vorzeigeprojekt für Alternativkultur, gesellschaftliche Experimentierfreude und Toleranz einer Stadtverwaltung, die nicht auf „Dauerkontrolle“, sondern auf Selbstverwaltung von Bürgerinnen und Bürgern setzte. Später sah die Wirklichkeit in „Christiania“ zwar ziemlich anders aus – aber damals träumte man noch davon, aus der „alten Gesellschaft eine neue zu gewinnen“.

Der damalige Wortführer der Architekturstudentengruppe, Dietmar Steiner, der von 1993 bis 2016 das Wiener Architekturzentrum leitete, beschrieb später in der Stadtzeitung „Falter“ den Start der Initiative so:

„Jedes Semester gab es eine ‚Klausurwoche‘, in der man ein sogenanntes Schnellprogramm entwickeln musste. Wir wählten als Thema: ‚Strategien zur Rettung des Auslandsschlachthofes‘. Und wir begannen, dafür zu agitieren. Schnell wurden Partner am Areal gefunden. Treffen fanden im Wirtshaus statt. Mit Lukas und Willi Resetarits, Joachim Riedl und anderen. Ich hatte ein Flugblatt getextet und gezeichnet, und dieses wurde dann verteilt.“

Die Wirkung des Flugblatts und der Moderator-Aufforderung beim „Anti-Schleifer-Fest“ übertraf alle Erwartungen: Denn an diesem lauen Sonntagabend strömten viele Menschen auf das Gelände und es wurden immer mehr. Die Veranstalter*innen fürchteten, dass es an diesem letzten Tag dieser höchst erfolgreichen Festwochenarena noch zu Konflikten kommen könnte, und riefen nach den Ordnungshütern. Die Polizei kam und riegelte die Veranstaltungshalle ab, in der die Gruppe Misthaufen ihr Naschmarkt-Musical „Schabernack 2“ spielte. Vor der Halle wurde heftig über eine mögliche Besetzung diskutiert.

Einer der Bühnenarbeiter, der Lukas von den Proben und Aufführungen der „Proletenpassion“ gut kannte, machte ihn dezent darauf aufmerksam, dass eine Seitentüre offen war.